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Die Heuchelei des Puritanismus (Emma Goldman 1917)

Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.
Die Heuchelei des Puritanismus (Emma Goldman 1917) Erstmals veröffentlicht: Emma Goldman, Anarchism and Other Essays (Dritte überarbeitete Auflage), New York: Mother Earth Publishing Association, 1917.
Als er über den Puritanismus in Bezug auf die amerikanische Kunst sprach, sagte Gutzon Borglum: „Der Puritanismus hat uns so lange egozentrisch und heuchlerisch gemacht, dass uns Aufrichtigkeit und Ehrfurcht vor dem, was in unseren Impulsen natürlich ist, regelrecht herausgezüchtet wurden, mit dem Ergebnis, dass es in unserer Kunst weder Wahrheit noch Individualität geben kann.“ Herr Borglum hätte hinzufügen können, dass der Puritanismus das Leben selbst unmöglich gemacht hat. Mehr als die Kunst, mehr als der Ästhetizismus, stellt das Leben die Schönheit in tausend Variationen dar; es ist in der Tat ein gigantisches Panorama des ewigen Wandels. Der Puritanismus hingegen beruht auf einer festen und unverrückbaren Vorstellung vom Leben; er basiert auf der calvinistischen Idee, dass das Leben ein Fluch ist, der dem Menschen durch den Zorn Gottes auferlegt wurde. Um sich zu erlösen, muss der Mensch ständig Buße tun, jeden natürlichen und gesunden Impuls verleugnen und sich von Freude und Schönheit abwenden. Der Puritanismus feierte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in England seine Schreckensherrschaft und zerstörte und zermalmte jede Manifestation von Kunst und Kultur. Es war der Geist des Puritanismus, der Shelley seine Kinder raubte, weil er sich nicht dem Diktat der Religion beugen wollte. Es war derselbe engstirnige Geist, der Byron von seinem Heimatland entfremdete, weil das große Genie gegen die Eintönigkeit, Langweiligkeit und Kleinlichkeit seines Landes rebellierte. Es war auch der Puritanismus, der einige der freiesten Frauen Englands in die konventionelle Lüge der Ehe zwang: Mary Wollstonecraft und später auch George Eliot. Und vor kurzem hat der Puritanismus einen weiteren Tribut gefordert – das Leben von Oscar Wilde. Tatsächlich ist der Puritanismus seit jeher der schädlichste Faktor im Reich von John Bull, der als Zensor der künstlerischen Ausdrucksformen seines Volkes fungiert und nur die Dumpfheit der mittelständischen Respektabilität absegnet. Es ist also purer britischer Jingoismus, der Amerika als das Land des puritanischen Provinzialismus bezeichnet. Es stimmt, dass unser Leben durch den Puritanismus verkümmert ist und dass dieser das Natürliche und Gesunde in unseren Impulsen abtötet. Aber es ist auch wahr, dass wir es England zu verdanken haben, dass dieser Geist auf amerikanischem Boden Einzug gehalten hat. Er wurde uns von den Pilgervätern vermacht. Auf der Flucht vor Verfolgung und Unterdrückung errichteten die Pilger der Mayflower in der Neuen Welt eine Herrschaft der puritanischen Tyrannei und des Verbrechens. Die Geschichte Neuenglands und insbesondere von Massachusetts ist voll von den Schrecken, die das Leben in Düsternis, Freude und Verzweiflung, Natürlichkeit in Krankheit, Ehrlichkeit und Wahrheit in abscheuliche Lügen und Heuchelei verwandelt haben. Der Entenschemel und der Peitschenpfahl sowie zahlreiche andere Foltermethoden waren die beliebtesten englischen Methoden zur Reinigung der Amerikaner. Boston, die Stadt der Kultur, ist in die Annalen des Puritanismus als „blutige Stadt“ eingegangen. Sie rivalisierte sogar mit Salem, was die grausame Verfolgung nicht genehmigter religiöser Ansichten anging. Auf dem berühmten Common wurde eine halbnackte Frau mit einem Baby auf dem Arm wegen des Verbrechens der freien Meinungsäußerung öffentlich ausgepeitscht; und an der gleichen Stelle wurde 1659 Mary Dyer, eine weitere Quäkerin, gehängt. Tatsächlich war Boston der Schauplatz von mehr als einem mutwilligen Verbrechen, das der Puritanismus begangen hat. In Salem wurden im Sommer 1692 achtzehn Menschen wegen Hexerei getötet. Massachusetts war auch nicht der einzige Staat, der den Teufel mit Feuer und Schwefel vertrieb. Wie Canning zu Recht sagte: „Die Pilgerväter haben die Neue Welt heimgesucht, um das Gleichgewicht der Alten Welt wiederherzustellen.“ Die Schrecken dieser Zeit haben ihren höchsten Ausdruck in dem amerikanischen Klassiker Der scharlachrote Buchstabe gefunden. Der Puritanismus benutzt zwar nicht mehr die Daumenschraube und die Peitsche, aber er hat immer noch einen äußerst schädlichen Einfluss auf den Verstand und die Gefühle des amerikanischen Volkes. Nichts anderes kann die Macht eines Comstocks erklären. Wie die Torquemadas der Vor-Bellum-Zeit ist Anthony Comstock der Alleinherrscher der amerikanischen Moral; er diktiert die Maßstäbe für Gut und Böse, für Reinheit und Laster. Wie ein Dieb in der Nacht schleicht er sich in das Privatleben der Menschen, in ihre intimsten Beziehungen. Das Spionagesystem, das dieser Mann Comstock aufgebaut hat, stellt die berüchtigte Dritte Abteilung der russischen Geheimpolizei in den Schatten. Warum duldet die Öffentlichkeit einen solchen Angriff auf ihre Freiheiten? Ganz einfach, weil Comstock nur der lautstarke Ausdruck des Puritanismus ist, der den Angelsachsen im Blut liegt und von dem sich selbst Liberale noch nicht vollständig emanzipieren konnten. Die visionslosen und bleiernen Elemente der alten Young Men’s and Women’s Christian Temperance Unions, der Purity Leagues, der American Sabbath Unions und der Prohibition Party mit Anthony Comstock als Schutzpatron sind die Totengräber der amerikanischen Kunst und Kultur. Europa kann sich zumindest einer kühnen Kunst und Literatur rühmen, die sich tief in die sozialen und sexuellen Probleme unserer Zeit hineinbegeben und eine scharfe Kritik an all unseren Betrügereien üben. Wie mit dem Messer eines Chirurgen wird jeder puritanische Kadaver zerlegt und so der Weg für die Befreiung des Menschen von den toten Lasten der Vergangenheit geebnet. Aber mit dem Puritanismus als ständiger Kontrolle des amerikanischen Lebens ist weder Wahrheit noch Aufrichtigkeit möglich. Nichts als Düsternis und Mittelmäßigkeit diktieren das menschliche Verhalten, schränken die natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein und unterdrücken unsere besten Triebe. Der Puritanismus ist im zwanzigsten Jahrhundert genauso ein Feind von Freiheit und Schönheit, wie er es war, als er auf dem Plymouth Rock landete. Er lehnt sie ab, aber da er die wahren Funktionen der menschlichen Gefühle nicht kennt, ist der Puritanismus selbst der Urheber der unsagbarsten Laster. Die gesamte Geschichte der Askese beweist, dass dies nur zu wahr ist. Sowohl die Kirche als auch der Puritanismus haben das Fleisch als etwas Böses bekämpft; es musste um jeden Preis unterdrückt und versteckt werden. Das Ergebnis dieser bösartigen Haltung wird erst jetzt von modernen Denkern und Erziehern erkannt. Sie erkennen, dass „Nacktheit sowohl einen hygienischen Wert als auch eine spirituelle Bedeutung hat, die weit darüber hinausgeht, dass sie die natürliche Neugierde der Jugendlichen besänftigt oder krankhaften Gefühlen vorbeugt. Sie ist eine Inspiration für Erwachsene, die längst über ihre jugendliche Neugierde hinausgewachsen sind. Der Anblick der essenziellen und ewigen menschlichen Gestalt, die uns in ihrer Kraft, Schönheit und Anmut am nächsten ist, ist eines der wichtigsten Stärkungsmittel des Lebens.“1 Aber der Geist des Purismus hat den menschlichen Geist so verdorben, dass er die Schönheit der Nacktheit nicht mehr zu schätzen weiß und uns zwingt, die natürliche Form unter dem Vorwand der Keuschheit zu verbergen. Die Keuschheit selbst ist jedoch nur eine künstliche Auferlegung der Natur, die eine falsche Scham über die menschliche Gestalt zum Ausdruck bringt. Die moderne Vorstellung von Keuschheit, besonders in Bezug auf die Frau, ihr größtes Opfer, ist nichts anderes als die sinnliche Übertreibung unserer natürlichen Triebe. „Die Keuschheit hängt von der Menge der Kleidung ab“, und deshalb beeilen sich Christen und Puristen stets, den „Heiden“ mit Fetzen zu bedecken und ihn so zu Güte und Keuschheit zu bekehren. Der Puritanismus mit seiner Pervertierung der Bedeutung und Funktionen des menschlichen Körpers, insbesondere in Bezug auf die Frau, hat sie zum Zölibat, zur wahllosen Zucht einer kranken Rasse oder zur Prostitution verdammt. Die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit wird deutlich, wenn wir die Folgen betrachten. Der unverheirateten Frau wird absolute sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt, mit der Folge, dass sie als unmoralisch oder abgefallen gilt. Dies führt zu Nervenschwäche, Impotenz, Depressionen und einer Vielzahl von Nervenleiden, die mit verminderter Arbeitsfähigkeit, eingeschränkter Lebensfreude, Schlaflosigkeit und der Beschäftigung mit sexuellen Wünschen und Vorstellungen einhergehen. Das willkürliche und verderbliche Diktum der totalen Kontinenz erklärt wahrscheinlich auch die geistige Ungleichheit der Geschlechter. So glaubt Freud, dass die intellektuelle Unterlegenheit so vieler Frauen auf die Denkhemmung zurückzuführen ist, die ihnen zum Zweck der sexuellen Repression auferlegt wurde. Nachdem der Puritanismus die natürlichen sexuellen Wünsche der unverheirateten Frau unterdrückt hat, segnet er andererseits ihre verheiratete Schwester für ihre unkontinuierliche Fruchtbarkeit in der Ehe. Er segnet sie sogar nicht nur, sondern zwingt die durch die vorherige Repression übersexualisierte Frau, Kinder zu gebären, ungeachtet ihrer geschwächten körperlichen Verfassung oder ihrer ökonomischen Unfähigkeit, eine große Familie zu gründen. Verhütung, selbst mit wissenschaftlich sicheren Methoden, ist absolut verboten; ja, schon die Erwähnung des Themas wird als kriminell angesehen. Dank dieser puritanischen Tyrannei sind die meisten Frauen schon bald am Ende ihrer körperlichen Kräfte. Krank und erschöpft sind sie völlig unfähig, ihre Kinder auch nur ansatzweise zu versorgen. Zusammen mit dem ökonomischen Druck zwingt das viele Frauen dazu, lieber das Äußerste zu riskieren, als weiter Leben zu gebären. Der Brauch, Abtreibungen vorzunehmen, hat in Amerika so große Ausmaße angenommen, dass es kaum noch zu glauben ist. Jüngste Untersuchungen haben ergeben, dass auf hundert Schwangerschaften siebzehn Abtreibungen entfallen. Dieser erschreckende Prozentsatz bezieht sich nur auf die Fälle, die den Ärzten bekannt sind. In Anbetracht der Geheimhaltung, in die diese Praxis notwendigerweise gehüllt ist, und der daraus resultierenden Ineffizienz und Vernachlässigung, fordert der Puritanismus ständig Tausende von Opfern für seine eigene Dummheit und Heuchelei. Obwohl die Prostitution gejagt, eingesperrt und in Ketten gelegt wird, ist sie dennoch der größte Triumph des Puritanismus. Sie ist sein liebstes Kind, ungeachtet aller heuchlerischen Scheinheiligkeit. Die Prostituierte ist die Furie unseres Jahrhunderts, die wie ein Wirbelsturm über die „zivilisierten“ Länder hinwegfegt und eine Spur von Krankheit und Unheil hinterlässt. Das einzige Heilmittel, das der Puritanismus für dieses ungeborene Kind anbietet, ist eine noch stärkere Repression und eine noch gnadenlosere Verfolgung. Der neueste Frevel ist das Page-Gesetz, das dem Staat New York das schreckliche Versagen und Verbrechen Europas auferlegt, nämlich die Registrierung und Identifizierung der unglücklichen Opfer des Puritanismus. Auf ebenso dumme Weise versucht der Puritanismus, die schreckliche Geißel seiner eigenen Schöpfung einzudämmen – die Geschlechtskrankheiten. Besonders entmutigend ist, dass dieser Geist der stumpfen Engstirnigkeit sogar unsere so genannten Liberalen vergiftet und sie dazu verleitet hat, sich dem Kreuzzug gegen genau das anzuschließen, was aus der Heuchelei des Puritanismus entstanden ist – Prostitution und ihre Folgen. In vorsätzlicher Blindheit weigert sich der Puritanismus zu sehen, dass die wahre Präventionsmethode diejenige ist, die allen klar macht, dass „Geschlechtskrankheiten keine mysteriöse oder schreckliche Sache sind, die Strafe für die Sünde des Fleisches, eine Art schändliches Übel, das durch puristische Verleumdung gebrandmarkt wird, sondern eine gewöhnliche Krankheit, die behandelt und geheilt werden kann.“ Der Puritanismus hat mit seinen Methoden der Verdunkelung, Verschleierung und Verheimlichung günstige Bedingungen für das Wachstum und die Verbreitung dieser Krankheiten geschaffen. Die Bigotterie des Puritanismus zeigt sich am deutlichsten in der sinnlosen Haltung gegenüber der großen Entdeckung von Prof. Ehrlich, der das wichtige Heilmittel gegen Syphilis mit vagen Anspielungen auf ein Mittel gegen „ein bestimmtes Gift“ verschleierte. Die fast grenzenlose Fähigkeit des Puritanismus zum Bösen ist darauf zurückzuführen, dass er sich hinter dem Staat und dem Gesetz verschanzt. Unter dem Vorwand, das Volk vor „Unmoral“ zu schützen, hat er den Staatsapparat imprägniert und seiner Anmaßung der moralischen Vormundschaft die gesetzliche Zensur unserer Ansichten, Gefühle und sogar unseres Verhaltens hinzugefügt. Kunst, Literatur, das Theater, das Postgeheimnis, ja sogar unsere intimsten Vorlieben sind diesem unerbittlichen Tyrannen ausgeliefert. Anthony Comstock oder ein anderer ebenso ignoranter Polizist hat die Macht erhalten, das Genie zu entweihen und die erhabenste Schöpfung der Natur – die menschliche Gestalt – zu beschmutzen und zu verstümmeln. Bücher, die sich mit den wichtigsten Fragen unseres Lebens befassen und versuchen, Licht in gefährlich verdunkelte Probleme zu bringen, werden gesetzlich als Straftaten behandelt und ihre hilflosen Autoren ins Gefängnis geworfen oder in die Zerstörung und den Tod getrieben. Nicht einmal im Herrschaftsbereich des Zaren wird die persönliche Freiheit täglich in einem solchen Ausmaß beschnitten wie in Amerika, der Hochburg der puritanischen Eunuchen. Hier ist der Sonntag, der einzige Tag der Erholung, der den Massen bleibt, abscheulich und völlig unmöglich gemacht worden. Alle Autoren, die sich mit primitiven Bräuchen und der antiken Zivilisation befassen, sind sich einig, dass der Sabbat ein Tag der Feste war, frei von Sorgen und Pflichten, ein Tag der allgemeinen Freude und des Frohsinns. In allen europäischen Ländern sorgt diese Tradition für eine gewisse Erleichterung im Vergleich zur Eintönigkeit und Dummheit unseres christlichen Zeitalters. Überall füllen sich Konzertsäle, Theater, Museen und Gärten mit Männern, Frauen und Kindern, vor allem mit Arbeiterinnen und Arbeitern und ihren Familien, die voller Leben und Freude sind und die normalen Regeln und Konventionen ihres Alltags vergessen. An diesem Tag zeigen die Massen, was das Leben in einer gesunden Gesellschaft wirklich bedeuten könnte, in der die Arbeit von ihrem gewinnbringenden und seelenzerstörenden Zweck befreit ist. Der Puritanismus hat den Menschen sogar diesen einen Tag geraubt. Natürlich sind nur die Arbeiterinnen und Arbeiter davon betroffen: Unsere Millionäre haben ihre luxuriösen Häuser und ausgeklügelten Clubs. Die Armen hingegen sind zur Monotonie und Langweiligkeit des amerikanischen Sonntags verdammt. Die Geselligkeit und der Spaß des europäischen Lebens unter freiem Himmel werden hier mit der Düsternis der Kirche, der stickigen, keimgesättigten Landstube oder der verrohenden Atmosphäre des Hinterzimmersaloons vertauscht. In den Prohibitionsstaaten fehlt es den Menschen sogar an letzterem, es sei denn, sie können ihren mageren Verdienst in gepanschten Schnaps investieren. Was die Prohibition angeht, weiß jeder, was für eine Farce sie ist. Wie alle anderen Errungenschaften des Puritanismus hat auch sie den „Teufel“ nur noch tiefer in das menschliche System getrieben. Nirgendwo sonst trifft man so viele Trunkenbolde wie in unseren Prohibitionsstädten. Aber solange man den fauligen Atem der Heuchelei mit Duftbonbons lindern kann, ist der Puritanismus siegreich. Angeblich ist die Prohibition aus Gründen der Gesundheit und der Ökonomie gegen den Alkohol, aber da der Geist der Prohibition selbst abnormal ist, schafft sie nur ein abnormales Leben. Jede Anregung, die die Fantasie beflügelt und die Lebensgeister weckt, ist für unser Leben so notwendig wie Luft. Er belebt den Körper und vertieft unsere Sicht auf die menschliche Gemeinschaft. Ohne Anreize in der einen oder anderen Form ist schöpferische Arbeit unmöglich, ebenso wie der Geist der Freundlichkeit und Großzügigkeit. Die Tatsache, dass einige große Genies zu oft ihr Spiegelbild im Kelch gesehen haben, rechtfertigt nicht den Versuch des Puritanismus, die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle zu fesseln. Ein Byron und ein Poe haben die Menschheit tiefer bewegt als alles, was Puritaner je zu tun hoffen können. Erstere haben dem Leben Sinn und Farbe gegeben; letztere verwandeln rotes Blut in Wasser, Schönheit in Hässlichkeit, Vielfalt in Gleichförmigkeit und Verfall. Puritanismus, in welcher Form auch immer, ist ein giftiger Keim. Oberflächlich betrachtet mag alles stark und kraftvoll aussehen, doch das Gift bahnt sich beharrlich seinen Weg, bis das gesamte Gewebe dem Untergang geweiht ist. Mit Hippolyte Taine hat jeder wahrhaft freie Geist erkannt, dass „Puritanismus der Tod der Kultur, der Philosophie, des Humors und der guten Gemeinschaft ist; seine Merkmale sind Stumpfheit, Monotonie und Düsternis.“
1The Psychology of Sex, Havelock Ellis.

Zu einer Geschichte der Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit

Gefunden bei Etcetera, die Übersetzung ist von uns.
Zu einer Geschichte der Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit: Barcelona während der Spanischen Revolution, 1936-38, Michael Seidman
Die Untersuchung der Abneigung gegen die Arbeit – Absentismus (A.d.Ü., von der Arbeit fern bleiben), Verspätungen, Unpünktlichkeiten, Delikte, Sabotage, langsames Arbeitstempo, Disziplinlosigkeit und Gleichgültigkeit – kann dazu dienen, unser Verständnis zweier zeitgleicher politischer Ereignisse zu vertiefen: der Spanischen Revolution und der französischen Volksfront1. Eine Analyse der Abneigung gegen die Arbeit in den Fabriken von Paris und Barcelona während der Volksfrontregierung in Frankreich und während der Spanischen Revolution zeigt wesentliche Kontinuitäten im Leben der Arbeiterklasse. Absentismus, Disziplinlosigkeit und andere Formen der Arbeitsverweigerung gab es schon vor dem Sieg der Volksfront in Frankreich und dem Ausbruch von Krieg und Revolution in Spanien. Es ist jedoch bezeichnend, dass dieser Widerstand auch noch Jahre später anhielt, nachdem die Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, die für sich in Anspruch nahmen, die Arbeiterklasse zu vertreten, in beiden Fällen die politische und – auf unterschiedlichen Ebenen – die ökonomische Macht übernommen hatten. Tatsächlich wurden die linken Parteien und Gewerkschaften/Syndikate in beiden Situationen, der reformistischen wie der revolutionären, in zahllose Konfrontationen mit Arbeitern gezwungen, die sich weigerten zu arbeiten. Die Abneigung gegen die Arbeit im 20. Jahrhundert wurde von vielen marxistischen Arbeitshistorikern und Modernisierungstheoretikern, zwei wichtigen, wenn auch nicht dominierenden Schulen der Arbeitshistoriografie, ignoriert und/oder unterschätzt2. Trotz der Unterschiede, die in vielen Fällen bestehen, teilen die beiden Richtungen eine fortschrittliche Sicht der Geschichte. Viele Marxisten sehen die Arbeiterklasse als allmählich klassenbewusst, sie entwickelt sich von „an sich zu für sich“, formiert sich und strebt manchmal nach der Enteignung der Produktionsmittel. Modernisierungstheoretiker sehen, dass sich die Arbeiter an die Art, die Struktur und die allgemeinen Anforderungen der Industriegesellschaft anpassen. Weder Marxisten noch Modernisierungstheoretiker haben die anhaltende Kultur der Arbeiterklasse ausreichend berücksichtigt, die ihren unbändigen Wunsch, nicht zu arbeiten, offenbart. Aber diese fortschrittliche Sichtweise der Arbeiterklasse kann das Fortbestehen von Absentismus, Sabotage und Gleichgültigkeit nicht angemessen analysieren. In beiden Fällen kann diese Haltung auch nicht als „primitiv“ oder als Beispiel für „falsches Bewusstsein“ abgetan werden. Das Fortbestehen vieler Formen der Abneigung gegen die Arbeit kann eine verständliche Reaktion auf die langfristigen Härten im Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter und eine gesunde Skepsis gegenüber den von Rechten und Linken vorgeschlagenen Lösungen darstellen. In diesem Aufsatz wird die revolutionäre Situation in Barcelona untersucht und versucht, die Divergenz im Klassenbewusstsein zwischen militanten linken Arbeitern, die die Entwicklung der Produktivkräfte während der Spanischen Revolution unterstützten, und der großen Zahl nicht-militanter Arbeiter, die sich weiterhin gegen die Arbeit wehrten, zu zeigen, oft genauso wie sie es zuvor getan hatten. So wurden während der Spanischen Revolution verschiedene Arten von Klassenbewusstsein gegeneinander ausgespielt. Es geht nicht darum zu bestimmen, welches die „wahre“ Form des Klassenbewusstseins war, sondern darum zu zeigen, wie die Abneigung gegen die Arbeit die revolutionären Bestrebungen der Militanten untergrub und ihre Rechte als Vertreter der Arbeiterklasse in Frage stellte. * * * * * Zweifelsohne hat die Abneigung gegen die Arbeit eine lange Geschichte, die weit vor dem Bürgerkrieg und der Revolution zurückreicht. Im 19. Jahrhundert hielten die katalanischen Arbeiter wie ihre französischen Kollegen die Tradition des dilluns sant (Heiliger Montag) aufrecht, eines inoffiziellen Feiertags, den viele Arbeiter ohne Genehmigung als Fortsetzung ihrer sonntäglichen Ruhezeit nahmen. Die Kämpfe um den Arbeitskalender dauerten bis ins 20. Jahrhundert an, sogar während der Zweiten Republik. Im Jahr 1932 zum Beispiel wollten die Arbeiter am zweiten Maitag nicht zur Arbeit gehen, da der erste Tag ein Sonntag gewesen war. Noch wichtiger war der ständige Kampf gegen die „Wiedererlangung“ von Feiertagen mitten in der Woche, wenn es sich um traditionelle Feiertage handelte. Trotz ihrer Abneigung gegen den Klerus und ihrer tiefen Entchristlichung hielten die katalanischen Arbeiterinnen und Arbeiter daran fest, diese Feste zu feiern. 1927 stellte der Arbeitgeberverband (Fomento del Trabajo Nacional) mit Sitz in Barcelona fest, dass Arbeitgeber, die versuchten, ihre Beschäftigten zu zwingen, andere Feiertage als die Sonntage nachzuholen, trotz des Gesetzes in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten3. In der Praxis kam es im Frühjahr und Sommer 1927 zu mehrtägigen Streiks, um gegen die Feiertagsregelung zu protestieren. Im Jahr 1929 kämpften die Arbeiterinnen und Arbeiter erneut für die Beibehaltung ihrer traditionellen Feiertage. In der Provinz Barcelona war der Konflikt besonders heftig, da „der Druck der Arbeiterklasse die Wiedererlangung der gesetzlichen Feiertage unter der Woche behinderte“4. Die „sozialen Spannungen“ in Barcelona machten die Wiedererlangung dieser Feiertage unmöglich. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in Barcelona kämpften hart für eine kürzere Arbeitswoche und dies war der Hauptgrund für die zahlreichen Streiks während der Zweiten Republik. Ende 1932 und Anfang des darauffolgenden Jahres streikten die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Holzindustrie für eine 44-Stunden-Woche. 1933 streikten die in der CNT organisierten Bauarbeiter fast drei Monate lang für eine 40-Stunden-Woche und erreichten Ende August eine 44-Stunden-Woche anstelle der zuvor geforderten 48 Stunden. Im Oktober 1933 setzten die Wasser-, Gas- und Elektrizitätsbranchen der CNT und der UGT die 44-Stunden-Woche durch, ohne dass Streiks nötig waren5. Als die 48-Stunden-Woche im November 1934 wieder eingeführt wurde, kam es zu Streiks, bei denen die Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabriken nach 44 Stunden verließen. Die Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit während der Zweiten Republik äußerte sich nicht nur kollektiv in Form von Arbeitsniederlegungen und Streiks, sondern auch in individuellen Aktionen wie Fernbleiben von der Arbeit, vorgetäuschten Krankheiten und Gleichgültigkeit. 1932 warfen Industrielle in der Textilindustrie ihren eigenen Vorarbeitern ungerechtfertigtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz vor6. Der Stolz der mechanischen Bauindustrie Barcelonas, La Maquinista Terrestre y Marítima, behauptete, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter während eines Brückenbauprojekts in Sevilla ihre Wunden durch Selbstverstümmelung infizierten, um von ihrem Krankengeld zu profitieren. Daraufhin stieg die Versicherungsgesellschaft von La Maquinista aus. Die katalanischen Unternehmer lehnten eine allgemeine Unfall- und Entschädigungsversicherung generell ab, weil sie befürchteten, dass diese die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu verleiten könnte, ihre Krankheit zu verlängern. Sie verließen sich auf die Erfahrungen der Versicherungsgesellschaften, die hinreichend bewiesen hatten, dass es vorgetäuschte Krankheiten gab, zu denen noch die Selbstbeschädigung hinzukam7. Die Äußerungen der katalanischen Industriellen während der rechtsgerichteten Bienio Negro (1934-35), dass die Arbeiterinnen und Arbeiter oft „den geringsten Arbeitswillen“ zeigten, könnte man als einen überraschenden Zufall bezeichnen. Während der gesamten 1930er Jahre kämpften die Bosse hart gegen die ständigen Forderungen der CNT und der UGT, die Akkordarbeit abzuschaffen. Die anarchosyndikalistischen Militanten der CNT schafften die Akkordarbeit in ihren Kollektiven ab, als die Revolution ausbrach, als Reaktion auf den Putsch, aber fast sofort waren die anarchosyndikalistischen und marxistischen Militanten, die die Kontrolle über die Fabriken übernommen hatten, gezwungen, auf den Widerstand der Arbeiter zu reagieren. Nach der Niederlage der Generäle am 18. Juli, in den Tagen vor der Revolution, forderte die CNT die Arbeiterinnen und Arbeiter wiederholt auf, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Am 26. Juli rief eine Notiz in der CNT-Zeitung Solidaridad Obrera die Busfahrer dazu auf, ihr Fernbleiben von der Arbeit zu rechtfertigen. Am 28. Juli forderte ein anderer Artikel alle Arbeiterinnen und Arbeiter der Hispano-Olivetti eindringlich auf, zur Arbeit zurückzukehren, und warnte, dass Sanktionen gegen diejenigen verhängt würden, die keinen guten Grund für ihr Fernbleiben von der Arbeit hätten. Obwohl Solidaridad Obrera am 30. Juli verkündete, dass die Arbeit in fast allen Branchen wieder aufgenommen worden war, rief die anarchosyndikalistische Zeitung am 4. August zur „Selbstdisziplin“ auf. Einen Tag später erinnert die Friseurgewerkschaft alle ihre Mitglieder daran, dass sie verpflichtet sind, 44 Stunden pro Woche zu arbeiten, und dass sie keine Verkürzung der Arbeitszeit zulassen wird. Von Beginn der Revolution an war die Abneigung gegen die Arbeit ein Problem für die Militanten der Gewerkschaften/Syndikate, die die Fabriken und Geschäfte in Barcelona verwalteten. Diese Abneigung gegen die Arbeit widersprach natürlich der anarchosyndikalistischen Theorie der Selbstverwaltung, die die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu aufforderte, mit Beginn der Revolution die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz zu übernehmen. Mit anderen Worten: Sowohl anarchosyndikalistische als auch marxistische Militante forderten die Arbeiterinnen und Arbeiter enthusiastisch auf, sich für ihre Rolle als Arbeiter einzusetzen. Sie wehrten sich auch gegen die Forderungen der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Militante, die sich manchmal über die mangelnde Aufmerksamkeit für die Fabrikvollversammlungen und die fehlenden finanziellen Beiträge an die Gewerkschaften/Syndikate beschwerten. Tatsächlich argumentierten die Aktivisten, dass die einzige Möglichkeit, die Arbeiterinnen und Arbeiter an den Vollversammlungen teilnehmen zu lassen, darin bestand, sie während der Arbeitszeit und damit auf Kosten der Produktion einzuberufen. Das Kollektiv Construcciones Mecánicas änderte beispielsweise seine Pläne, Vollversammlungen sonntags abzuhalten, mit der Begründung, dass „niemand kommen würde“, und wählte stattdessen den Donnerstag8 aus. Im revolutionären Barcelona schienen die Arbeiterinnen und Arbeiter manchmal zu zögern, sich an ihrer eigenen Demokratie zu beteiligen. Nach seinen eigenen Berechnungen (die mit Vorsicht zu genießen sind) vertrat die CNT im Mai 1936 nur 30 % der Industriearbeiterinnen und -arbeiter (gegenüber 60 % der Industriearbeiterinnen und -arbeiter im Jahr 1931). So traten die „Hunderttausende“ von Arbeiterinnen und Arbeitern, die angeblich wenig „Klassenbewusstsein“ hatten, auf der Suche nach sozialem Schutz und stabiler Arbeit in die Gewerkschaften/Syndikate ein9. H. Rudiger, ein Vertreter der I. Internationale (IAA)10 in Barcelona, schrieb im Juni 1937, dass die CNT vor der Revolution nur zwischen 150.000 und 175.000 Mitglieder in Katalonien hatte. In den Monaten nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs stieg die Zahl der CNT-Mitglieder auf fast eine Million an. Rüdiger kam zu dem Schluss, dass: „Vier Fünftel von ihnen sind neue Mitglieder. Ein großer Teil von ihnen kann nicht als Revolutionäre angesehen werden. Du kannst jede Gewerkschaft/Syndikat als Beispiel dafür nehmen. Viele von ihnen könnten in der UGT sein.“11 Die militanten Syndikalisten versuchten, bestimmte Wünsche ihrer Mitglieder zu erfüllen. Wie bereits erwähnt, ging die Textil- und Bekleidungsgewerkschaft der CNT zu Beginn der Revolution auf eine Forderung ein, die schon Jahre zuvor erhoben worden war: die Abschaffung der Produktionsanreize, insbesondere der Akkordarbeit, die laut der Gewerkschaft/Syndikat „eine der Hauptursachen für die miserablen Arbeitsbedingungen“ der Arbeiterinnen und Arbeiter war. Ob es nun an der geringen Produktivität oder an der Gleichgültigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter lag, die Abschaffung der Akkordarbeit wurde jedoch bald von der Gewerkschaft/Syndikat selbst kritisiert: „In den Industriezweigen unserer Gewerkschaft/Syndikat (CNT), in denen früher viel im Akkord gearbeitet wurde, ist die Produktivität mit der Einführung des festen Wochenlohns gesunken. Angesichts dessen können wir unsere Ökonomie nicht auf eine solide Basis stellen und erwarten von allen Arbeiterinnen und Arbeitern (…), dass sie die Werkzeuge und neuen Materialien mit äußerster Sorgfalt einsetzen und ihre maximale produktive Leistung erbringen.“12 In den Gewerkschaften/Syndikate der Bekleidungsindustrie gab es während der gesamten Revolution immer wieder Probleme mit der Akkordarbeit. Das Schneiderkollektiv F. Vehils Vidals mit fast 450 Beschäftigten, das Hemden und Strickwaren herstellte und verkaufte, führte im Februar 1937 ein ausgeklügeltes Anreizsystem ein, um die Beschäftigten zu motivieren. 1938 wurde die Akkordarbeit in der neu gegründeten Gruppe der Schneiderwerkstätten wieder eingeführt und ein Schuhmacher, der Mitglied der Textilgewerkschaft,- syndikat CNT war, protestierte gegen die Wiedereinführung und drohte, die Arbeit niederzulegen. Im Mai 1938 wurden die Eisenbahnarbeiter und -arbeiterinnen in Barcelona über die fast vollständige Wiedereinführung der Akkordarbeit informiert. „Die Anordnungen der Vorarbeiter müssen befolgt werden. Die Arbeiter erhalten einen angemessenen Lohn pro gefertigtem Stück. Sie dürfen die Grundregel der Zusammenarbeit nicht vergessen und dürfen nicht versuchen, den Vorarbeiter zu betrügen. Eine Liste der geleisteten Arbeit (…) muss monatlich vorgelegt werden, zusammen mit einem Bericht, der die erzielten Ergebnisse mit denen der Vormonate vergleicht und die Ausführung der Arbeit und ihre Abweichungen begründet.“13 Im August 1937 schlug der Technische Verwaltungsrat der Baugewerkschaft CNT eine Revision der anarchosyndikalistischen Lohntheorien vor. Der Vorstand stand vor folgendem Dilemma: Entweder die Arbeitsdisziplin wiederherstellen und den Einheitslohn abschaffen oder eine Katastrophe erleben. Der Vorstand erkannte die „bourgeoisen Einflüsse“ der Arbeiterinnen und Arbeiter an und sprach sich für die Wiedereinführung von Anreizen für Facharbeiter und Vorarbeiter aus. Kurzum, er empfahl, nur noch „rentable Arbeit“ zu verrichten: Die Arbeit sollte kontrolliert werden, die „Massen müssen moralisch umerzogen werden“ und ihre Arbeit sollte nach Wert und Qualität entlohnt werden. Im Juli 1937 wurde in einer gemeinsamen Erklärung der CNT und der Gewerkschaft/Syndikates des Baugewerbes vereinbart, dass die Löhne proportional zur Produktion sein sollten. Die Techniker jeder Sektion würden eine „Mindestleistungsskala“ festlegen. „Wenn ein Kamerad dieses Minimum nicht einhält, wird er sanktioniert und anschließend rausgeworfen, falls er rückfällig wird.“ Der CNT-UGT-Bericht empfahl die Veröffentlichung von Leistungstabellen sowie Propaganda, um die Moral zu steigern und die Produktivität zu erhöhen. Dies führte oft dazu, dass die Bauarbeiter zu wenig leisteten und nach Abschluss eines Projekts arbeitslos wurden. Sowohl öffentlich als auch privat verteidigte die marxistische UGT die Position, die Löhne an die Produktion zu koppeln und Verstöße gegen die Regeln zu bestrafen. Am 1. Februar 1938 forderte die UGT ihre Mitglieder auf, keine Kriegsforderungen zu stellen, und mahnte sie zu härterer Arbeit. Außerdem berichtete die Gewerkschaft/Syndikat der Maurer der UGT am 20. November 1937, dass der Lohnkonflikt im Baugewerbe die Arbeit zum Stillstand gebracht hatte und sogar sabotiert worden war. Sie berichtete auch, dass einige Arbeiter sich weigerten zu arbeiten, weil ihr Lohn weniger als 100 Peseten pro Woche betrug. Die Gewerkschaft/Syndikat der Maurer bezeichnete diese Haltung der Arbeiter als „katastrophal und unzeitgemäß“14. Am 15. Dezember 1937 erklärte sie, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter mit den niedrigsten Löhnen sie mit den anderen gleichstellen wollten und dass die Festlegung von Mindestlöhnen zwischen ihnen und der CNT diskutiert wurde. Im Januar 1938 berichtete die Baugewerkschaft der UGT, dass der Präsident der CNT-Bauföderation die vorgeschlagene Lohnerhöhung von einer Verbesserung der Arbeitsdisziplin abhängig machen wollte. Angesichts der zahlreichen Lohnforderungen wendeten die Gewerkschaften/Syndikate verschiedene Taktiken an, um die Produktivität zu steigern, und versuchten, die Löhne von der Produktion abhängig zu machen. Wenn die Löhne in gewerkschaftlich/syndikalistisch kontrollierten Kollektiven oder Betrieben erhöht wurden, wurde dies an eine entsprechende Produktionssteigerung geknüpft. Im Juli 1937 forderte die Gewerkschaft der Zinngießer der CNT, die Löhne an die Produktion zu koppeln. Die Gewerkschaft der CNT für Metallbau meldete am 11. Juni 1938, dass die Lohnerhöhungen proportional zum Anstieg der geleisteten Arbeitsstunden sein würden. Die kleine Bekleidungsfirma J. Lanau mit ihren 30 Arbeiterinnen und Arbeiter befand sich in einer ähnlichen Situation. Laut dem Buchhaltungsbericht vom November 1937 waren die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter im Falle von Unfall, Krankheit und Mutterschaft versichert. Die Arbeiterinnen und Arbeiter behaupteten, ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef zu haben und verfügten über einen Kontrollkomitee, das aus zwei Vertretern der CNT und einem der UGT bestand. Die Produktion lag jedoch unter 20%, und um das Problem zu lösen, empfahl der Buchhalter dem Betrieb, „die Produktionsquoten“ in den beiden Werkstätten und in der Verkaufsabteilung zu klären. Lohnkonflikte und Diskussionen über die Akkordarbeit waren nicht die einzigen Probleme, die die Unzufriedenheit der Arbeiterinnen und Arbeiter offenbarten, und auch die Gewerkschaften/Syndikate sahen sich – genau wie die Bosse vor der Revolution – mit ernsten Problemen in Bezug auf das Arbeitsprogramm konfrontiert. Während der Revolution respektierte die katalanische Arbeiterklasse, der die Religion so gleichgültig war, weiterhin die traditionellen Feiertage in der Mitte der Woche. Die anarchosyndikalistische und kommunistische Presse kritisierte oft die starke Verteidigung dieser Traditionen, die – wie wir gesehen haben – in der Kultur der Arbeiterklasse verankert zu sein schienen. Solidaridad Obrera im Januar 1938 und Síntesis (die gemeinsame Publikation des Cros-Kollektivs CNT-UGT) vom Dezember 1936 verkündeten, dass religiöse und traditionelle Feiertage nicht als Vorwand für Arbeitsausfälle genutzt werden dürfen. Die Feier religiöser Feiertage an Arbeitstagen (Beobachter sahen nie einen nennenswerten Einfluss der Sonntagsmesse unter den Arbeiterinnen und Arbeiter in Barcelona) sowie Absentismus und Unpünktlichkeit deuteten jedoch auf einen ständigen Wunsch hin, der Fabrik zu entfliehen, auch wenn sie rationalisiert oder demokratisiert wurde. Kämpfe um die Arbeitszeiten und Feiertage waren häufig. Im November 1937 weigerten sich mehrere Eisenbahner, am Samstagnachmittag zu arbeiten und wurden von der UGT sanktioniert. Der Zentrale Kontrollkomitee der Gas- und Elektrizitätsarbeiter wollte eine Liste der Arbeiterinnen und Arbeiter, die am Neujahrstag 1937 ihre Arbeit niedergelegt hatten, um gegen sie vorgehen zu können15. Am 4. Oktober 1937 gaben CNT-Vertreter auf einer offiziellen Sitzung des Rates für Gas und Elektrizität zu, dass einige ihrer Mitglieder den Arbeitsplan nicht einhielten. Als einer der UGT-Delegierten fragte, ob die Konföderation (A.d.Ü., gemeint ist die CNT) den Arbeitskalender erfüllen könne, antwortete der CNT-Vertreter: „Ich fürchte nicht. Sie (die undisziplinierten Arbeiter) werden die gleiche Haltung wie immer beibehalten und keine Kompromisse eingehen wollen (…) Es ist sinnlos, irgendetwas zu versuchen, denn sie ignorieren die Vereinbarungen und Anweisungen der Komitees, der Sektionskommissionen usw. Sie schenken keine Beachtung, ob die Anweisungen von der einen (anarchosyndikalistischen) oder der anderen (marxistischen) Gewerkschaft/Syndikat kommen“. In vielen Industriezweigen waren die Gefährtinnen und Gefährten oft „krank“. Im Februar 1937 erklärte die Gewerkschaft/Syndikat der Metallarbeiter freimütig, dass einige Arbeiterinnen und Arbeiter von Arbeitsunfällen profitierten. Im Dezember 1936 beschwerte sich ein führender Militanter der der Gewerkschaft für Blech (A.d.Ü., hojalata) über „die Unregelmäßigkeiten, die in fast allen Werkstätten in Bezug auf Krankheitsurlaub und Arbeitszeiten begangen werden“. Im Januar 1937 berichtete ein anderer Blechschmied von „Zügellosigkeit“ in mehreren Werkstätten: „Es gibt viele Arbeiter, die einen Tag oder einen halben Tag ausfallen lassen, nur weil es ihnen gefällt und nicht weil sie krank sind.“16 Die technische Kommission der Maurer der CNT machte auf den Fall eines Arbeiters aufmerksam, der mit einem „Epileptiker“-Zertifikat bei einem Besuch von Mitgliedern dieser Kommission erwischt wurde, während er seinen Garten reparierte17. Diebstähle wurden in Werkstätten und Kollektiven verzeichnet. Die Gewerkschat/Syndikate für nicht eisenhaltiges Metal der CNT behauptete, dass ein Gefährte, der in einer von der CNT kontrollierten Fabrik arbeitete, Werkzeuge mitnahm, als er zur Armee ging. Im Dezember 1936 meldete die mechanische Abteilung der berühmten Durruti-Kolonne der Gewerkschaft/Syndikat der Metallarbeiter von Barcelona, dass ein Gefährte „vielleicht versehentlich“ Arbeitswerkzeuge mitgenommen hatte, und forderte die Gewerkschaft/Syndikat auf, ihn dazu zu bringen, die gestohlenen Geräte so schnell wie möglich zurückzugeben. Die Gewerkschaft/Syndikat der Schuhmacher der CNT registrierte weitere Diebstähle. Einige militante Gewerkschaftler/Syndikalisten und Vorarbeiter der Kollektive wurden häufig der Unterschlagung und Veruntreuung von Geldern beschuldigt18. Angesichts von Sabotage, Diebstahl, Fehlzeiten, Unpünktlichkeit, angeblichen Krankheiten und anderen Formen des Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit und den Arbeitsplatz arbeiteten die Gewerkschaften/Syndikate und Kollektive zusammen, um strenge Regeln und Vorschriften aufzustellen, die der kapitalistischen Kontrolle der Unternehmen gleichkamen und sie sogar übertrafen. Am 18. Juni 1938 verzeichneten die CNT- und UGT-Vertreter des Kollektivs Gonzalo Coprons y Prat, das Militäruniformen herstellte, einen gravierenden Produktionsrückgang, für den sie keine „zufriedenstellende Erklärung“ hatten. Die Gewerkschaftsvertreter forderten die Einhaltung der Produktionsquoten, des Arbeitsplans, eine strenge Kontrolle der Abwesenheiten und „die Festigkeit der moralischen Autorität der Techniker“19. Das Schneiderkollektiv F. Vehils Vidal, das ein ausgeklügeltes Anreizsystem für seine 450 Beschäftigten eingerichtet hatte, verabschiedete auf der Generalvollversammlung am 5. März 193820 bald ein strenges Maßnahmenpaket. Ein Arbeiter war für die Überwachung der Fehlzeiten zuständig, und mehrfaches Zuspätkommen bedeutete die Entlassung. Die Gefährtinnen und Gefährten, die krank waren, wurden von einem Vertreter des Kollektivrats besucht. Wenn sie nicht zu Hause waren, wurden sie entlassen. Es war verboten, das Kollektiv während der Arbeitszeit zu verlassen, und alle Arbeiten, die im Kollektiv erledigt wurden, waren für das Kollektiv erforderlich, sodass persönliche Projekte verboten waren. Gefährtinnen und Gefährten, die die Läden mit Paketen verließen, waren verpflichtet, diese den Wachleuten zu zeigen, die sie kontrollierten. Wenn ein Arbeiter Diebstahl, Betrug oder etwas anderes Unehrliches beobachtete, musste er es melden, wenn er nicht im Falle einer Unterlassung dafür verantwortlich gemacht werden wollte. Die Techniker mussten wöchentlich einen Bericht über Mängel und Verstöße in ihren Abteilungen erstellen. Es war nicht erlaubt, die „Ordnung innerhalb oder außerhalb des Unternehmens“ zu stören, und alle Beschäftigten, die nicht an den Vollversammlungen teilnahmen, wurden entlassen. Andere Kollektive in der Bekleidungsindustrie führten ähnliche Maßnahmenpakete ein. Im Februar 1938 legte der CNT-UGT-Rat von Pantaleoni Hermanos ein intensives Arbeitsprogramm und Sanktionen für diejenigen fest, die zu spät zur Arbeit kamen. Ein Gefährte sollte für das Ein- und Auschecken zuständig sein. Zugewiesene Aufgaben und Regeln mussten ohne „Kommentare“ und innerhalb der vorgegebenen Zeit akzeptiert werden. Alle Bewegungen, auch innerhalb der Fabrik, mussten vom Sektionsleiter genehmigt werden, und bei Verstößen konnten Sanktionen verhängt werden, indem die Arbeiterinnen und Arbeiter suspendiert und 3 bis 8 Tageslöhne abgezogen wurden. Werkzeuge durften nicht ohne die Genehmigung des Kollektivs mitgenommen werden, und für alle Arbeiterinnen und Arbeiter wurde eine Probezeit von einem Monat festgelegt. Der Kontrollkomitee der CNT-UGT in der Firma in Rabat warnte, dass jeder Gefährte und jede Gefährtin, der der Arbeit fernblieb und nicht krank war, seinen Lohn verlieren würde. Die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Firma, die meisten von ihnen Frauen, wurden gewarnt, dass Ungehorsam zum Verlust ihres Arbeitsplatzes führen könnte, und das in einer Branche, in der die Arbeitslosenquote bekanntlich hoch ist. Die Firma warnte alle Arbeiterinnen und Arbeiter, dass sie unter Androhung der Entlassung an Vollversammlungen teilnehmen müssten und dass sich Gespräche während des Arbeitstages nur auf die Arbeit beziehen dürften. Andere Kollektive wie Artgust, die ihre Beschäftigten erfolglos aufgefordert hatten, die Produktion zu erhöhen, verschärften ebenfalls ihre Regeln und verboten Gespräche, Zuspätkommen und sogar das Telefonieren. Im August 1938 verbot die Vollversammlung der Casa A. Lanau in Anwesenheit von Vertretern der CNT, der UGT und der Generalitat ausdrücklich das Fernbleiben von der Arbeit, das Vortäuschen von Krankheiten und das Singen während der Arbeitszeit. Die Lagerhäuser von Santeulália kontrollierten alle Pakete, die in ihrem Werk ein- und ausgingen. Die Gewerkschaften/Syndikate UGT und CNT in Badalona – einer Stadt im Industriegürtel Barcelonas – initiierten eine Krankenstandskontrolle und vereinbarten, dass alle Arbeiterinnen und Arbeiter Abwesenheiten begründen mussten, die angesichts der auf 48 Stunden verkürzten Arbeitswoche „unverständlich“ und missbräuchlich waren21. Die Strenge dieser Regeln und Vorschriften war möglicherweise eine der Folgen des Rückgangs der Produktion und der Disziplin in vielen Textil- und Bekleidungsbetrieben. Am 15. Juni 1937 erstellte der CNT-UGT-Buchhalter von Casa Mallafré einen Bericht über die Schneidereien. Er kam zu dem Schluss, dass die Leitung des Kollektivs ehrlich war und ethisch gehandelt hatte, dass aber die Produktion „der heikelste Teil des Problems“ war und dass „in der Produktion das Geheimnis des kommerziellen und industriellen Scheiterns oder Erfolgs liegt“. Die Produktion in den Werkstätten blieb also auf einem extrem niedrigen Niveau, und der Buchhalter warnte, dass sie – selbst wenn sie kollektiviert oder sozialisiert würde – scheitern könnte. Die normale Produktion reichte immer noch nicht aus, um die Wochenlöhne zu decken, und müsste erhöht werden, wenn das Unternehmen überleben sollte. Ein anderes Kollektiv der CNT-UGT-Bekleidungsindustrie, Artgust, schrieb am 9. Februar 1938: „Trotz unserer ständigen Forderungen an das Fabrikpersonal ist es uns noch nicht gelungen, die Produktion zu verbessern“22. Artgust forderte die CNT und die UGT auf, vor dem Missverhältnis zwischen hohen Kosten und niedriger Produktivität zu warnen. In vielen Kollektiven wurden Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen oder suspendiert. Ein Gefährte in einer CNT-Schuhwerkstatt wurde wegen der niedrigen Produktion aufgefordert, seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Ein unzufriedener Schneider, der darum gebeten hatte, an einen anderen Arbeitsplatz versetzt zu werden, griff einen Kollegen körperlich an, beleidigte den Betriebsrat und bedrohte den Geschäftsführer und einen Techniker. Er wurde im Juni 1938 von seinem Job suspendiert23. Eine Militante der Gruppe Mujeres Libres der CNT wurde der Unmoral, des ungerechtfertigten Fernbleibens und sogar der Kuppelei unter ihren Gefährtinnen beschuldigt, die Disziplinarmaßnahmen gegen sie forderten. Dieser Vorwurf der „Unmoral“ war während der Spanischen Revolution häufig zu hören und zeigt, dass für Syndikalistinnen und Syndikalisten Misserfolge oder Fehler bei der Arbeit „unmoralisch“ oder einfach pervers waren. Auch Aktivitäten, die nicht direkt mit der Produktion zusammenhingen, wurden als schädlich angesehen. Die Militanten der CNT wollten der „Unmoral“ ein Ende setzen, indem sie die Schließung von Vergnügungsstätten wie Bars oder Musik- und Tanzlokalen um zehn Uhr nachts erzwangen24. Prostituierte sollten durch Arbeitstherapie reformiert werden, um die Prostitution wie in der Sowjetunion zu beseitigen. Sex und Schwangerschaften sollten bis nach der Revolution in den Hintergrund verdrängt werden25. Die Gewerkschaften der Metallarbeiter CNT-UGT versuchten, die Disziplinlosigkeiten, die in mehreren Kollektiven aufgetreten waren, zu kontrollieren. Im Jahr 1938 wurde erneut ein Arbeiter aus einem Kollektiv wegen „Unmoral“ entlassen, d.h. weil er unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben war. Ein anderes Kollektiv wollte eine „gewissenlose“ Frau entlassen, die wiederholt falsche Entschuldigungen für ihr Fernbleiben von der Arbeit angegeben hatte26. Im August 1936 warnte die Gewerkschaft der Metallarbeiter der CNT Gefährten, die die ihnen zugewiesenen Aufgaben nicht erfüllten, dass sie „ohne jede Rücksicht“ ersetzt würden. Wie in der Textilbranche gaben mehrere Kollektive in der Metallbranche Kontrollblätter für den Krankenstand heraus: „Der Rat ist verpflichtet, den Krankenstand durch einen Gefährten zu kontrollieren, den jeder in seine Wohnung einlassen muss (…) Die Kontrolle kann mehrmals am Tag erfolgen, so oft der Rat es für notwendig hält.“27 Das Kollektiv der Aufzugs- und Industrieanlageninstallateure erklärte, dass jeder Versuch, den Krankenstand zu betrügen, mit einem Rauswurf bestraft würde. Am 1. September 1938 wies die Vollversammlung des Unternehmens Masriera i Carreras, das eine UGT-Mehrheit hatte, darauf hin, dass „einige Gefährten die Angewohnheit haben, jeden Tag 15 Minuten zu spät zur Arbeit zu kommen“, und beschloss einstimmig, für jede fünf Minuten Verspätung eine halbe Stunde Lohn pro Tag abzuziehen. Im Januar 1937 legte die Gewerkschaft/Syndikat der Lampenarbeiter fest, dass ein Arbeiter, der eine halbe Stunde zu spät kommt, die Hälfte seines Lohns verliert. Im Juli 1937 legte das Kollektiv Construcciones Mecánicas eine Strafe von 15 Minuten Lohnabzug für das Händewaschen oder Anziehen vor Ende des Arbeitstages fest. Im öffentlichen Dienst waren die Probleme ähnlich gelagert. Am 3. September 1937 stellte der Generalrat der Gas- und Elektrizitätsindustrie einen Produktionsrückgang fest und erklärte, dass das Gemeinwohl gegen eine Minderheit verteidigt werden müsse, der es an „Moral“ fehle. Bei häufigem Fernbleiben oder Unpünktlichkeit konnten Arbeiterinnen und Arbeiter suspendiert oder entlassen werden. Arbeitervollversammlungen waren während der Arbeitszeit ausdrücklich verboten, und der Rat erklärte, dass er bei Bedarf disziplinarische Maßnahmen ergreifen würde. Im Januar 1938 legte der Ökonomische Rat der CNT „die Pflichten und Rechte des Produzenten“ fest: „Bei allen Tätigkeiten ist die Person, die die Arbeit verteilt, offiziell verantwortlich (…) für die Quantität, die Qualität und das Verhalten der Arbeiter.“ Diese verantwortliche Person war befugt, einen Arbeiter wegen „Faulheit oder Unmoral“ zu entlassen, und andere Vorarbeiter sollten die kleinsten Vorfälle „verdächtigen Ursprungs“ daraufhin überprüfen, ob sie echt oder „vorgetäuscht“ waren: „Alle Arbeiter und Angestellten müssen eine Karte haben, in der die Einzelheiten ihres beruflichen und sozialen Charakters eingetragen werden.“28 Die Gewerkschaften/Syndikate ergänzten ihre Zwangsvorschriften und -regelungen mit umfangreichen Propagandakampagnen, um ihre Mitglieder zu überzeugen und zu zwingen, härter zu arbeiten. Diese Propaganda machte deutlich, dass niedrige Produktivität und Disziplinlosigkeit weit verbreitet waren. Das Kollektiv Vehils Vidal rief eindringlich zu „Liebe zur Arbeit, Aufopferung und Disziplin“ auf. Das CNT-UGT-Kollektiv Pantaleoni Hermanos rief seine Beschäftigten auf, „sich der Arbeit zu widmen“. Die Schuhmacher forderten „Moral, Disziplin und Aufopferung“29. Im April 1937 veröffentlichte die Zeitschrift des großen Textilunternehmens Fabra i Coats eine ganze Seite, in der sie ihre Arbeiterinnen und Arbeiter aufforderte, „zu arbeiten, zu arbeiten und zu arbeiten“30. Die CNT warnte ihre Mitglieder oft davor, Freiheit mit Zügellosigkeit zu verwechseln und wies darauf hin, dass diejenigen, die nicht hart arbeiteten, Faschisten seien31. Die Konföderation erkannte, dass Arbeiterinnen und Arbeiter oft eine bourgeoise Mentalität hatten, weil sie nicht so hart arbeiteten, wie sie sollten. Nach Ansicht der CNT mussten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter zwischen sofortigen Vorteilen und echten Verbesserungen in der Zukunft entscheiden. Die Zeit der Selbstdisziplinierung war gekommen. Im Februar 1937 erklärte das Kollektiv Marathon CNT-UGT, ein Hersteller von Automotoren, in seiner Zeitung Horizontes: „Es gibt viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Kollektivierung nichts anderes sehen als einen einfachen Wechsel der Begünstigten und die vereinfachend glauben, dass sich ihr Beitrag zur Fabrik (…) darauf beschränkt, ihre Dienste in der gleichen Weise zu erbringen wie zu Zeiten, als die Fabrik privat war. Sie sind nur an den Löhnen am Ende des Monats interessiert“. Im Mai 1937 versuchten die Militanten von Marathon, ihre Mitglieder davon zu überzeugen, dass sie das Beste aus den Maschinen machen sollten, die sie einst verabscheuten. Im Januar 1938 veröffentlichte die CNT-Zeitung Solidaridad Obrera einen Artikel mit dem Titel: „Strenge Disziplin wird am Arbeitsplatz durchgesetzt“, der von den Zeitungen der CNT und UGT mehrfach nachgedruckt wurde: „Leider gibt es einige, die die Bedeutung des heroischen Kampfes, den das spanische Proletariat führt, verwechselt haben. Sie sind weder Bourgeois, noch Militärs, noch Priester, sondern Arbeiter, echte Arbeiter, Proletarier, die es gewohnt sind, brutale kapitalistische Repression zu ertragen.… Ihr undiszipliniertes Verhalten am Arbeitsplatz hat das normale Funktionieren der Produktion gestört (…) Früher, als die Bourgeoisie zahlte, war es logisch, ihren Interessen zu schaden, die Produktion zu sabotieren und so wenig wie möglich zu arbeiten (…) Aber heute ist es ganz anders (…) Die Arbeiterklasse beginnt mit dem Aufbau einer Industrie, die als Grundlage für die neue Gesellschaft dienen kann.“ In einem vertraulichen Gespräch mit CNT Mitgliedern des Optikerkollektivs stimmte Ruiz y Ponseti, einer der wichtigsten UGT-Anführer und ein prominenter Kommunist, zu, dass das Verhalten der Arbeiterinnen und Arbeiter der schädlichste Faktor für die Kollektive sei. Laut diesem UGT-Anführer waren die Arbeiterinnen und Arbeiter, auch wenn er es nicht öffentlich erklärte, einfach nur „Massen“, deren Kooperation leider für den Erfolg der Unternehmen notwendig war32. Im revolutionären Barcelona waren die Anführer und Militanten der Organisationen, die behaupteten, die Arbeiterklasse zu vertreten, also gezwungen, den hartnäckigen Widerstand der Arbeiter zu bekämpfen. Der anhaltende Kampf der Arbeiter gegen die Arbeit in einer Situation, in der Arbeiterorganisationen die Produktivkräfte lenkten, wirft die Frage auf, inwieweit diese Organisationen wirklich die Interessen der Arbeiterklasse vertraten. Es scheint, dass die CNT, die UGT und die PSUC (Katalanische Kommunistische Partei) den Standpunkt derjenigen widerspiegelten, die diese Organisationen als „bewusste“ Arbeiter betrachteten. Diejenigen, denen das „Klassenbewusstsein“ fehlte und die in der Überzahl waren, hatten keine formelle oder organisierte Vertretung. Diese Arbeiterinnen und Arbeiter schwiegen aus naheliegenden Gründen weitgehend über ihre Arbeitsverweigerung. Schließlich war ihre Arbeitsverweigerung subversiv in einer Revolution und einem Bürgerkrieg, in dem eine neue herrschende Klasse eifrig an der ökonomischen Entwicklung arbeitete. Das Schweigen der Arbeiterinnen und Arbeiter war eine Form der Verteidigung und eine bestimmte Art des Widerstands, aber das verhindert seine Quantifizierung. Ein großer Teil dieses Widerstands wurde nicht gezählt oder aufgezeichnet. Die Geschichte ihrer Arbeitsverweigerung lässt sich zum Teil aus den Protokollen der Vollversammlungen der Kollektive rekonstruieren und paradoxerweise auch aus der Kritik der Organisationen, die behaupteten, die Klasse zu vertreten. Die Kämpfe gegen die Arbeit offenbaren eine Distanz und Trennung zwischen den Militanten, die sich für die Entwicklung der Produktionsmittel einsetzten, und der großen Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich nicht für das Ideal der Militanten aufopfern wollten. Während die Militanten das Klassenbewusstsein mit der Kontrolle und Entwicklung der Produktivkräfte, der Schaffung einer produktivistischen Revolution und der übermenschlichen Anstrengung, den Krieg zu gewinnen, gleichsetzten, bestand der Ausdruck des Klassenbewusstseins vieler Arbeiterinnen und Arbeiter darin, die Arbeit und ihre Zeitpläne zu meiden, wie es vor der Revolution oft der Fall gewesen war.
1In diesem Artikel wurde die Untersuchung der französischen Volksfront beiseite gelassen, da sie als weiter von unserer Geschichte entfernt gilt. In jedem Fall ist die Schlussfolgerung dem Fall von Barcelona während der spanischen Revolution sehr ähnlich. 2Zur marxistischen Geschichtsschreibung vgl. Georg Lukacs, History and Class Consciousness (Cambridge, Mass. 1971), 46-82; Georg Rudé, Ideology and Popular Protest (New York, 1980), 7-26; vgl. auch die jüngste Neuformulierung von Lukacs‘ Position in Eric Hobsbawn, Workers: Worlds of Labor (New York, 1984), 15-32. Die Ansichten der Modernisierungstheoretiker finden sich in Peter N. Stearns, Revolutionary Syndicalism and French Labor: A Cause without Rebels (New Brunswick, NJ 1971) und idem, Lives of Labour: Wolk in a Maturing Industrial Society (New York, 1975). Für eine Kritik an Lukacs‘ Ansatz siehe Richard J. Evans (Hrsg.), The German Working Class (London 1982), 26-27. 3Fomento del Trabajo Nacional, actas, 15 abril 1932; Fomento, actas, 14 febrero 1927 4Federación de Fabricantes de Hilados y Tejidos de Cataluña, Memoria (Barcelona 1930) 5Albert Balcells, Crisis económica y agitación social en Cataluña de 1930 a 1936 (Barcelona 1971), 218 6Federación de Fabricantes, Memoria (Barcelona 1932) 7Alberto del Castillo, La Maquinista Terrestre y Marítima: Personaje histórico, 1855-1955 (Barcelona 1955), 464-65. Fomento, Memoria, 1932, 143 8Actas de Juntas de los militantes de las Industrias Construcciones Mecánicas, 25 febrero 1938, carpeta (a partir de ahora c.) 921, Servicios Documentales, Salamanca (a partir de aquí SD). 9Balcells, Crisis, 196; Albert Pérez Baró, 30 meses de colectivismo en Cataluña (Barcelona 1974), 47 10Hier verwechselt der Autor die I. Internationale die 1864 gegründet wurde mit der anarchosyndikalistischen Internationale die 1922 in Berlin gegründet wurde, beide tragen auf Spanisch dasselbe Akronym, nämlich AIT. 11H. Rudiger, „Materiales para la discusión sobre la situación española“. Rudolf Rocker Archives, nº 527-30, Instituto Internacional de Historia Social, Amsterdam. El muestreo por mi realizado sobre 70 trabajadores dio resultados algo diferentes. El 54% de los obreros escogidos se afilió a la CNT después de junio de 1936. De cualquier modo, casi todos los demás, el 42%, se afilió a la Confederación después de marzo de 1936. Solo el 4% estaba ya afiliado antes de 1936. Este fenómeno ha sido analizado por Balcells como la «recuperación sindical bajo el Frente Popular». 12Boletín de Información, 9 abril 1937 13Red Nacional de Ferrocarriles, Servicio de Material y Tracción, Sector Este, mayo 1938, c. 1043, SD.11 1051, SD. 14Libro de actas del Comité UGT, Sociedad de Albañiles y Peones, 20 noviembre 1937, c. 1051, SD. 15Carta del Consejo Obrero, MZA, Sindicato Nacional Ferroviario UGT, 24 noviembre 1937, c. 467, SD; Actas de la reunión del Pleno, 1 enero 1937, c. 181, SD. 16Sindicato de la Industria Sidero-Metalurgia, Sección lampista, Asamblea General, 25 diciembre 1936, c. 1453, SD. 17Boletín del Sindicato de la Industria de Edificación, Madera y Decoración, 10 noviembre 1937. 18Actas de la reunión de Junta de Metales no-ferrosos CNT, 18 agosto 1938, c. 847, SD; Sección mecánica, CNT-FAI, Columna Durruti, Bujaraloz, 13 diciembre 1936, c. 1428, SD; Actas de la Sección de Zapatería, 15 mayo 1938, c. 1436, SD. 1099, SD. 19Gonzalo Coprons y Prat, Empresa Colectivizada, Vestuarios militares, c. 1099, SD. 20Esta información está basada en el Projecte de Reglamentació interior de l’empresa, c. 1099, SD. 21Projecte d’estatut interior per el cual hauran de regir-se els treballadors, c. 1099, SD; Assemblea ordinaria dels obrers de la casa «Artgust», 6 setiembre 1938, c. 1099, SD; Acta aprobada por el personal de la casa «Antonio Lanau», 15 agosto 1938, c. 1099, SD; Magetzems Santeulália, c. 1099, SD; Boletín del Sindicato de la Industria Fabril y Textil de Badalona y su radio, febrero 1937. 1099, SD. 22Carta de Artgust a la Sección Sastrería CNT, 9 febrero 1938, c. 1099, SD. 23Actas de la Sección de Zapatería, 29 setiembre 1938, c. 1436, SD; Carta del Consejo de Empresa al Sindicato de la Industria Fabril CNT, Sección sastrería, 23 junio 1938, c. 1099, SD. 24Las diez de la noche es una hora bastante temprana para Barcelona. Actas de los metalúrgicos de CNT, 11 marzo 1937, c. 1179, SD. Carta del Comité de la fábrica nº 7, (n.d.) c. 1085, SD. 25Dr. Félix Martí Ibáñez, Obra: Diez meses de labor en sanidad y asistencia social (Barcelona 1937), 77; «Ruta», 1 enero 1937. 26Carta del Comité de Control, 16 julio 1938, c. 505, SD; Carta fechada el 29 noviembre 1938, c. 505, SD. 27Fábrica de artículos de material aislante, Normas para el subsidio de enfermedades, 1937, Archivos Pujol, Barcelona. 28José Peirats, La CNT en la Revolución española, 3 vols. (París 1971), 3; Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937.21. 29Projecte Reglamentació Interior, 5 marzo 1938, c. 109, SD; Projecte d ́estatut interior per el cual hauran de regir-se els treballadors, febrero 1938, c. 1099, SD; Actas de la Sección zapatería, 15 mayo 1938, c. 1436, SD. 30Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 31Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937. 32Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937.Véase Informe Confidencial, 27 enero 1938, c. 855, SD.

Reformgruppe der Reformgruppe Süd-Ost – Für einen neuen Aufbruch in die Fröste der Freiheit

AutorIn: Reformgruppe der Reformgruppe Süd-Ost Titel: Für einen neuen Aufbruch in die Fröste der Freiheit Untertitel: [Erste Fassung] Datum: 2009 Bemerkungen: Ein Diskussionspapier für für den autonom kongress 2009 (vom 9. bis 11. Oktober) in Hamburg. Quelle: Entnommen am 19.05.2023 von http://autonomerkongress.blogsport.de/images/diskussionspapier_froestederfreiheit.pdf
Die Zeit der Selbstvergewisserung muss ein Ende haben.
Einige empfinden unseren Tonfall möglicherweise als harsch. Das kann er leicht werden, wenn es um geliebte Menschen geht, um diejenigen, mit denen wir in der Vergangenheit eine Menge befreiende Überlegungen angestellt und Wege ausprobiert haben, uns und die Welt zu verändern. Gemeinsame Versuche, die uns, so klein sie auch gewesen sein mögen, mehr als nur am Herzen liegen. Falls die eine oder andere Kritik euch trifft, versucht das im Kopf zu haben und geht nicht gleich in Verteidigungsstellung. Wir wollen weiter miteinander, sonst gäbe es diesen Text nicht. Wir wollen uns die Mühe machen, uns zusammenzuraufen. In einer gemeinsam geführten Debatte am Anfang des Treffens herauszufinden, welche Ideen, Kritiken und Vorschläge für das »Wie weiter?« im Raum sind, und wie wie wir diese praktisch zu einer Diskussion zusammenzuschrauben können. Schließen sich manche Positionen tatsächlich aus, dann sollten wir das feststellen und entsprechende Schlüsse ziehen: Das kann auch heißen, sich zu trennen. Es kann einen Punkt geben, an dem der gemeinsame Grund uns wie Sand durch die Finger rinnt, eine gemeinsame Diskussion nirgendwo mehr hinführt als in die übliche traurige Wüste. Die GenossInnen, die den Kongress vorbereitet haben, haben klar gemacht, dass sie keine ExpertInnenrunden wollen zu einzelnen Themen, kein Podium. Wir würden hinzufügen: Kein bezugsloses, und vor allem folgenloses Nebeneinander immer wieder neu entdeckter Widersprüche. Fast 20 Jahre nachdem der Text »3:1 - Klassenwiderspruch, Rassismus, Sexismus« das Problem der Tripple Oppression in unseren Kreisen aufgeworfen hat, können wir uns nicht länger darin ausruhen, stets aufs Neue zu beschreiben, dass es den einfachen Hauptwiderspruch nicht gibt. Die Erkenntnis allein reicht nicht, das Problem liegt sowohl in der Aufsplitterung in Teilbereiche und dem daraus entstehenden SpezialistInnentum, als auch darin, dass diese Puzzelstückchen danach nicht wieder zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Aber auch das ist irgendwie nicht alles. Wir schaffen es hier nur ein paar Schwierigkeiten anzureißen. Auch sind wir zu wenige, um das auf umfassendere Weise tun zu können. Auf dem Kongress in Hamburg sind wir zu mehreren, wenn es gut läuft könnten wir stellenweise so etwas wie kollektive Intelligenz entwickeln. Denn nur so kann es funktionieren, die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven einzubeziehen. Aber auch ein Wochenende ist zu kurz, um wirklich eine umfassendere Strategie auszuhecken. Was ist Kritik auf Höhe der Zeit? Wie mogeln sich manche von uns mit einem »Zerstört alles!« bisweilen darum herum, dass Staat und Kapital Gesellschaftlichkeit an sich nicht abschaffen wollen, sondern alle unkontrollierte Kollektivität nur deshalb in kleine Stückchen zerschlagen, um sie in ihrem Sinne wieder zusammenzusetzen? Transformation eben. Wie mogeln sich andere von uns mit immer ausgefeilteren Aufschlüsselungen dieser Prozesse nicht weniger einseitig darum herum, entsprechend dieser Erkenntnisse zu handeln? Ziel des Kongresses könnte sein, sich auf zwei bis drei Fragen zu einigen, die wir alle im Lauf des kommenden Jahres diskutieren. Daran geknüpft eine konkrete Struktur für diese Diskussion zu entwickeln, was nichts anderes heißt, als einen Organisierungsvorschlag zu entwickeln: lokale und überregionale Treffen, haufenweise Diskussionszirkel,kritische Rückkopplung der Diskussionen an unser eigenes Handeln, Einigung auf einen Debattenkanal. Wie verallgemeinern wir die Diskussion, wie verbreiten wir unsere Ideen und Texte, die wir wichtig finden, um zu einer gemeinsamen Basis zu kommen und unser Wissen zu kollektivieren, um überhaupt über das Gleiche diskutieren zu können. Uns schwebt zum Beispiel vor, Texte und weitere Diskussionspapiere aus diesen Zirkeln – aber auch aus anderen – in regelmäßigen Abständen in unseren Medien zu veröffentlichen. Wir sind ohnehin der Ansicht, dass wir mehr Zeit und Energie in unsere eigenen Ausdrucksformen und -mittel investieren sollten, statt uns der bürgerlichen Berichterstattung anzubiedern. Ein solcher Organisierungsvorschlag beinhaltet auch,über potentielle WeggefährtInnen nachzudenken. Es gibt diverse Leute, die wir auf der Straße treffen, die sich in unseren Strukturen aber nicht wiederfinden. Unsere selbstorganisierten Strukturen sind oft geschlossen und wirken elitär. Man muss schon eine ganze Menge »klar haben«, die Codes kennen und sich dementsprechend verhalten, um akzeptiert zu werden. Ebenfalls gibt es vermutlich Leute, mit denen wir gerne diskutieren würden, fühlen sich von der Definition autonom vermutlich nicht angesprochen. Wir selbst sind hin und her gerissen: Autonome stehen für eine weitgehende Abkapselung von der Gesellschaft – und paradoxerweise zugleich für lebhafte Kontakte zu Grünen und Linkspartei, für Pressekonferenzen und Stiftungswesen. Andererseits stehen Autonome noch immer für eine gewisse Entschlossenheit und Unversöhnlichkeit dem Staat und dem Kapitalismus gegenüber, für die Konfrontation auf der Straße, für alle sichtbar militant im Schwarzen Block oder auch als Unsichtbare in der Nacht. Sie stehen für Strategien der Provokation und eine Perspektive der Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse - aber auch immer für die Suche nach dem ganz anderen Ganzen. Für die Schaffung und kämpferische Wiederaneignung von Beziehungen, Freiräumen und Strukturen, die sich staatlicher Kontrolle nach Möglichkeit entziehen, um aus diesen Fäden perspektivisch ein ganz anderes soziales Gewebe zu schaffen. Wenn es das ist, was Leute noch immer mit dem Begriff Autonomie verbinden, dann finden wir das gut.

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Anonym – Weder Sieg noch Niederlage

AutorIn: Anonym Titel: Weder Sieg noch Niederlage Datum: 15. Juli 2018 Bemerkungen: Originaltitel: „Sans victoire ni défaite“ erschienen in „Avis de Tempetes - Bulletin anarchiste pour la guerre social“, Nr. 7, 15 juillet 2018. Englische Übersetzung in „The Local Kids“, Nr. 2, Autumn 2018. Übersetzt aus dem Englischen, überarbeitet mit dem französischen Original. Quelle: Entnommen aus: „In der Tat – Anarchistische Zeitschrift“, Nr. 2, Hamburg, Januar 2019, S. 1-4.
Die Anarchisten haben immer schon verloren, niemals etwas gewonnen“. Nicht selten hört man diese Worte, auch aus den widerwilligen und reuigen Mündern von Feinden der Autorität. Diese sehr endgültigen Sätze beenden so manche Diskussion über aktuelle Kämpfe und tauchen quasi unvermeidbar in den Diskussionen über die Beiträge von Anarchisten zu vergangenen Aufständen, Unruhen und Revolutionen auf. In grüblerischer Bitterkeit denken wir an die siegessicheren Milizionäre, die im Juli 1936 von Barcelona auszogen. Ein nostalgischer Seufzer, der uns direkt in die Melancholie führt – charakteristisch für so viele Anarchisten – um mit den fatalistischen Worten eines berühmten Sängers zu schließen: „Wir verlieren immer, wir sind die schwarzen Schafe der Geschichte.“ Dennoch, auch wenn die Hoffnung immer wieder in der Lage war, ihre liebevollen Herzen zu entzünden, sollten wir nicht vergessen, dass viele Reisen der Anarchisten von Verzweiflung begleitet waren. Verliebt in die Idee und mit mindestens ebenso starkem Hass auf die Unterdrückenden. So ging mit der leidenschaftlichen Liebe, die ihre Leben in Brand setzte, ein grausamer Hass einher, der ohne Rücksicht und Skrupel das Blut von Tyrannen, ihren Lakaien und Verehrern zu vergießen imstande war. Aber warum sprechen wir in der Vergangenheitsform? Haben sich dieses Universum, dieses Vokabular, diese innere Welt der Anarchisten wirklich verändert? Sind nicht während der Aufstände Hunderttausender gegen die Herrschenden vieler Länder, dem sogenannten „arabischen Frühling“, die Hoffnungen wieder entflammt? War es nicht die Verzweiflung, diese Aufstände durch eine mannigfaltige Reaktion niedergeschlagen zu sehen, die viele von ihnen wieder bewaffnete, um abermals zuzuschlagen? Der Fatalismus lauert an anderer Stelle, wie wir sehen werden… Wenn die anarchistische Idee die Zerstörung der Autorität und der auf ihr begründeten sozialen Beziehungen vorschlägt, impliziert das nicht notwendigerweise den Glauben an den berühmten, irreversiblen „Anbruch der Freiheit“. Tatsächlich ist die Anarchie, entgegen der Logik von Sieg und Niederlage, vor allem eine Spannung, eine praktische Idee, die fortwährend auf der Zerstörung der Macht beharrt. Das hat mit „Glauben“ nichts zu tun. Wenn der Horizont der Anarchie nicht bei der Revolte endet, sondern sich in Richtung der sozialen Revolution öffnet, dann weil jegliche Macht zerstört werden muss – und dafür reicht eine Aneinanderreihung individueller Revolten nicht aus. Sicherlich, wer von der „sozialen Revolution“ spricht und von der individuellen Revolte schweigt, hat einen Kadaver im Mund und wird sich vermutlich als einer der ersten das Maul zerreissen, wenn ein Individuum – oder eine Handvoll Individuen – Ideen und Praxis zu verbinden wissen. Allerdings davon auszugehen, dass die Perspektive einer sozialen Revolution bedeuten muss, dem blinden Glauben an eine endgültige Lösung zu verfallen, führt uns nur wieder in die gleiche Logik von Sieg und Niederlage und verneint jegliche Spannung – oder adaptiert den gefährlichen marxistischen Determinismus (wegen dem die kommunistischen Proletarier im letzten Jahrhundert das schlimmste ausgehalten haben, ganz im Geiste der „unvermeidbaren historischen Notwendigkeit“). Wenn ein Aufruhr, ein Aufstand imstande ist, die Spannung in Richtung der Freiheit zu akzentuieren, zu vertiefen und möglicherweise sogar zu generalisieren, warum sollten wir darauf verzichten diesen Prozess zu beschleunigen, anzutreiben? Können wir im Angesicht der historischen Amnesie, der technologisierten Abstumpfung und der Verflachung von Herz und Bewusstsein nicht umso mehr auf der Notwendigkeit und den Verlockungen der Revolte beharren, sie als begehrenswerter denn je verteidigen, um den Dingen wieder eine Perspektive zu verleihen? Der Refrain über die veränderten materiellen und sozialen Bedingungen, die in der Tat nicht mehr die gleichen sind wie zu Anfang des letzten Jahrhunderts, oder die angeblich finale Überlegenheit des Staates bringen die Diskussion allzu häufig zum Erliegen, anstatt sie voranzubringen. Die Anarchisten wurden melancholisch, bis zu einem Punkt, an dem sie nur noch die Hindernisse auf ihrem Weg sehen, dadurch vergessend, dass es darum gehen muss, ihnen eigenhändig im Hier und Jetzt eine anarchische Perspektive entgegenzustellen. Andernfalls würde es weder Kampf noch Revolte noch irgendetwas heißen ausser – im marxistischen Jargon gesprochen – dem alten, langsam sterbenden Maulwurf beim Graben zuzusehen. ([Anm. aus der englischen Version] Der „alte Maulwurf“ war eine von Marx in einer Rede gebrauchte Metapher für die sozialen Kräfte, die an der Revolution wirken).
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Doch lasst uns zur ursprünglichen Frage zurückkehren – sind die Anarchisten, mit ihrer Idee der Freiheit und der Zerstörung der Autorität, zum Scheitern verurteilt? Dazu verdammt, zuzusehen, wie all ihre Mühen, Opfer und Initiativen dahingerafft werden, in verhältnismäßig friedlichen wie revolutionären Zeiten? „Es war schon immer so“, sagen die Pragmatischen. „Man soll eben nicht an die Massen oder die Revolution glauben“, sagen die Zynischen. Nichtsdestotrotz mag eine weitere Möglichkeit den Anarchisten näher sein: Im Gegensatz zu Katzen haben wir nur ein Leben, und wir wagen zu behaupten, dass es in diesem einen Leben darum geht, zu kämpfen, diese Spannung hin zur Zerstörung der Autorität zu leben. Wir realisieren uns selbst, wir werden wir selbst, indem wir uns bewegen und indem wir Pfade beschreiten, für die wir uns selbst entschieden haben. Es ist die Qualität, die in unser Leben eindringt, die Qualität von Handlungen und Ideen, die zusammenkommen. Sieg oder Niederlage haben nichts verloren, wo es nur Beharrlichkeit oder Aufgabe, Durchhalten oder Resignation, leidenschaftliche Liebe und Hass oder politische Auslöschung gibt. „Zu Handeln bedeutet nicht bloß mit dem Hirn zu denken – es geht darum, das ganze Wesen zum Denken zu bringen. Zu Handeln bedeutet, sich dem Traum zu verschließen, um sich der Wirklichkeit zu öffnen, wo die tiefreichendsten Quellen zum Wissen zu finden sind“, sagte Maeterlinck. In der Tat Träumen Anarchisten mit weit geöffneten Augen – und bewaffnen so ihre Leidenschaften, Überzeugungen und Entscheidungen, um sie zu realisieren. Es kann passieren, das andere Ausgebeutete, nachdem sie ihren Durst nach zerstörerischer Wut gestillt haben, zum Anbeten von Führern zurückkehren, sich wieder einem Gott beugen und eine neue Macht festigen. Das kann passieren, und die Reaktion wird alles tun, um dies geschehen zu lassen. Aber das macht den ursprünglichen Versuch, die Brüche zu vertiefen, die Autorität an ihrer Wurzel zu zerstören, nicht zunichte. Auch wenn es sich bloß um einige Tage, Wochen oder Monate handelt. Diese Gelegenheit diese Aufregung zu erleben, in voller Qualität zu Leben kann gar nicht anders als die leidenschaftlichen Liebhaber der Freiheit anzuziehen.

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Textsammlung: Dekomposition – Für einen Aufstand ohne Avantgarde

” Reformismus ist zweifellos die beste Option, um Nischen innerhalb des Bestehenden zu arrangieren, und die Partisanen der alternativen Konfliktualität haben einen historischen Vorsprung in Bezug auf die Integration und Wiederaufnahme von Kämpfen. Was die anderen anbelangt, so gibt es immer noch eine ganze Welt, die angegriffen werden muss, in der autonome und auf Affinität…

Der Anarchist Alfredo Cospito hat seinen seit dem 20. Oktober andauernden Hungerstreik beendet.

Per Mail erhalten, aus la nemesi.
Der Anarchist Alfredo Cospito hat seinen seit dem 20. Oktober andauernden Hungerstreik beendet. Am Mittwoch, den 19. April 2023, beendete der Anarchist Alfredo Cospito seinen Hungerstreik, den er 181 Tage zuvor, am 20. Oktober 2022, im Gefängnis von Bancali auf Sardinien begonnen hatte. Der Gefährte, der derzeit in der Abteilung für Gefängnismedizin des Krankenhauses San Paolo in Mailand inhaftiert ist, hatte seinen Hungerstreik sechs Monate lang bis zum bitteren Ende durchgehalten. Er richtete sich gegen die Haftbedingungen, gegen den Artikel 41bis der Strafvollzugsordnung (am 5. Mai 2022 wurde er in das Isolationshaftregime verlegt) und gegen die lebenslange Freiheitsstrafe ohne Bewährung, die am Ende des Prozesses Scripta Manent das endgültige Urteil für den Gefährten zu sein drohte. Die Unterbrechung des Hungerstreiks erfolgte nach der Anhörung vor dem Verfassungsgericht am 18. April in Rom, bei der mildernde Umstände für Wiederholungstäter bei allen Verurteilungen zu lebenslangen Freiheitsstrafen anerkannt wurden. Dies ist bei Alfredo der Fall, da mit der Neueinstufung (durch das Kassationsgericht am Ende des Verfahrens Scripta Manent) der Anklage wegen des doppelten Sprengstoffanschlags auf die Kadettenkaserne der Carabinieri in Fossano am 2. Juni 2006 von einem „gewöhnlichen Massenmord“ (Art.422 des italienischen Gesetzbuch ) in einen „politisch motivierten Massenmord“ (d.h. „Massenmord mit dem Ziel, die Sicherheit des Staates anzugreifen“, Art.285 des italienischen Strafgesetzbuches) umzuwandeln, drohten Alfredo Cospito und Anna Beniamino auf Antrag der Turiner Staatsanwaltschaft lebenslange bzw. 27 Jahre Haft. Was in den letzten Tagen geschehen ist, ist sicherlich kein „Sieg“ für den Rechtsstaat oder eine „Rückkehr“ zu den Prinzipien der Verfassung, sondern vielmehr das Ergebnis des Hungerstreiks und der internationalen Solidaritätsbewegung, die sich in den letzten 11 Monaten entwickelt hat. Der Staat wollte Alfredo Cospito mit der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe und dem 41bis lebenslang im Gefängnis begraben. Heute, obwohl der Gefährte weiterhin im 41bis einsitzt, haben der Staat und seine Repressionsapparate dieses Ziel nicht erreicht. In den letzten Monaten hat der Gefährte sein Leben riskiert und riskiert es immer noch in dieser neuen und heiklen Phase, in der seine Fähigkeit, sich selbst zu ernähren, langsam wiederzuerlangen beginnt. Der Gefährte hat bereits wahrscheinlich bleibende neurologische Schäden erlitten, insbesondere im peripheren Nervensystem (wo er die volle Sensibilität in einem Fuß verloren, der andere Fuß hat eine verminderte Sensibilität und eine Hand hat begonnen, ähnliche Symptome zu zeigen). Die Fortsetzung des Hungerstreiks in der Art und Weise, wie er seit vielen Monaten durchgeführt wurde, brachte ihn objektiv nicht in die unmittelbare Gefahr eines plötzlichen Todes, der wahrscheinlich durch die Überwachung im Krankenhaus hätte vermieden werden können. Er brachte sich jedoch in die Gefahr eines fortschreitenden und dauerhaften körperlichen Verfalls mit mehr oder weniger schwerwiegenden Folgen, die vor allem in einer weiteren Beeinträchtigung des Nervensystems bestehen. Während dieses Hungerstreiks hat Alfredo immer wieder betont, dass er nicht nur für sich kämpft, sondern für alle Gefangenen im 41bis und darüber hinaus, um Solidarität mit den inhaftierten Anarchisten, Kommunisten und Revolutionären auf der ganzen Welt zu entwickeln. Und in diesen sechs Monaten des Streiks wurde die Solidarität mit Alfredo in Gefängnissen auf der ganzen Welt zum Ausdruck gebracht, vor allem von anarchistischen und revolutionären Mitgefangenen, die sich in Italien, Frankreich, Chile, Griechenland, Großbritannien, Spanien und Deutschland solidarisierten und kämpften, indem sie ihrerseits in den Hungerstreik traten, Solidaritätsinitiativen, Erklärungen und Analysen veröffentlichten. Eine Solidarität, die insbesondere in Italien auch von anderen Gefangenen – nicht nur von inhaftierten Anarchisten und Revolutionären – in vielfältiger Form zum Ausdruck gebracht wurde. Die autoritäre Wende, Ausdruck des Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausprägung, der sich derzeit in der Krise befindet, hat zu einer starken Repression gegen Anarchisten geführt und wird dies auch weiterhin tun; eine Repression, die – wie wir in den letzten Jahren beobachten konnten – auf die ausgebeuteten sozialen Schichten übergegriffen hat, die am meisten unter der sozialen und ökologischen Krise leiden. Aber die Warnung, die der italienische Staat der anarchistischen Bewegung geben wollte, wurde mit Entschlossenheit und Konsequenz an den Absender zurückgeschickt. Der sechsmonatige Hungerstreik hat verhindert, dass Alfredo und alle inhaftierten Gefährten isoliert bleiben. In diesen langen Monaten ist eine internationale revolutionäre Solidaritätsbewegung entstanden, die – vor dem 20. Oktober und, da sind wir sicher, auch nach diesem 19. April – in der Lage war und sein wird, den Sinn und die Perspektive unserer Ideen und unserer Praxis zu bekräftigen. Eine Bewegung, die vom Beginn des Hungerstreiks bis zum bitteren Ende konsequent gewachsen ist und alle Kompromisshypothesen zurückgewiesen hat, wird das Bewusstsein der Solidarität weiter entwickeln. DIE GEFANGENEN DES SOZIALEN KRIEGES ZU VERGESSEN BEDEUTET, DEN KRIEG SELBST ZU VERGESSEN: REVOLUTIONÄRE SOLIDARITÄT MIT ALFREDO COSPITO UND ALLEN INHAFTIERTEN ANARCHISTEN UND REVOLUTIONÄREN. 20. April 2023

Broschüre von: Gegen alle Kriege … außer den „gerechten“ Kriegen?

Wir veröffentlichten am 01.03.2023 die Übersetzung des Textes Gegen alle Kriege … außer den „gerechten“ Kriegen?“, nun hat die Gruppe Klassenkrieg/Tridni Valka diesen im Form von einer Broschüre layoutiert/gestaltet und allen zur Verfügung gestellt die es drucken und verbreiten wollen. Hier den Link zum PDF Format der Broschüre. KRIEG DEM KRIEG! GEGEN DIE KRIEGE DES KAPITALISMUS, LAUTET UNSERE ANTWORT SOZIALER KRIEG UND KLASSENKRIEG! FÜR DIE ANARCHIE

Vom Ernten toter Elefanten – Die falsche Opposition der Animal Liberation

Dieser Text erschien im März 2007 in der anarchistischen Publikation ‚A Murder of Crows #2 for social war and the subversion of daily life‘. Der Text wurde vor vielen Jahren übersetzt und kursierte auch als Broschüre. Wir haben ein paar Korrekturen vorgenommen, nur dass was uns als Rechtschreibfehler aufgefallen sind. Ansonsten handelt es sich hier um eine Kritik an die Ideologie und die Moral. Spezifisch an jene die mit Tierbefreiung und Veganismus zu tun hat. Es handelt sich also nicht um eine Kritik ‚gegen‘ Tierbefreiung und Veganismus, sondern die, von manchen, daraus resultierende Ideologie und Moral, die es als Grundpfeiler ihrer falschen Haltung und Argumentation zu kritisieren gilt.
Vom Ernten toter Elefanten – Die falsche Opposition der Animal Liberation von Aden Marcon Ich hab noch nie jemanden getroffen, der als Kind sagte ‘Wenn ich groß bin, will ich Kritiker werden.’ – Richard Prior Wir glauben, dass es einige gibt, die unter dem sehr breiten Banner der Animal Liberation Aktionen machen, denen es ebenso wie wie uns darum geht, diese auf Ausbeutung und Elend basierende Gesellschaft komplett umzuwälzen. Nichts desto trotz sehen wir, dass viele in radikalen und anarchistischen Kreisen die Philosophie der Animal Liberation und des Veganismus auf unkritische Art begrüßen. Diese Ideen werden mit Beharrlichkeit und Ausdauer beibehalten und wurden unglücklicherweise selten in Frage gestellt, zumindest nicht in Nordamerika. Wir hoffen mit dieser Kritik einige Ansatzpunkte für kritischeres Denken und theoretische Reflexion bereitzustellen, Werkzeuge, die wir für effektive Aktionen gegen Herrschaft und Unterdrückung brauchen werden. Animal Liberation: Ein kurzer Überblick Animal Liberation entwickelte und radikalisierte sich als Bewegung in den 1970er Jahren in Großbritannien und in geringerem Maße in den USA. Ihre Philosophie entwickelte sich aus der Tierrechtsidee, mit der es häufig Überschneidungen gibt. Animal Rights geht davon aus, dass alle Tiere das Recht auf ihr eigenes Leben haben, sie moralische Rechte besitzen sollten, und dass einige der Rechte für Tiere gesetzlich festgeschrieben werden sollten, wie beispielsweise das Recht nicht eingesperrt, verletzt oder getötet zu werden. Peter Singer ist einer der ideologischen Gründer Animal Liberation. Sein Zugang zum moralischen Status der Tiere basiert nicht auf dem Konzept von Rechten, sondern auf dem utilitaristischen1 Prinzip der Abwägung von Interessen. In seinem Buch Animal Liberation argumentiert er 1975, dass Menschen ihre moralische Überlegungen anderen Tieren gegenüber nicht abhängig machen sollten von Intelligenz, der Fähigkeit zu moralisieren, oder anderen menschlichen Attributen, sondern vielmehr von der Fähigkeit Leid zu erfahren. Die Ideologie der Animal Liberation besteht darauf, dass Menschen im Unterschied zu Tieren moralische Entscheidungen treffen können, dass die Wahl der Menschen daher in der Vermeidung bestehen muss Leid zu verursachen. Seit den philosophischen Anfängen von Animal Rights und Animal Liberation sind weltweit viele Animal Liberation Gruppen entstanden, jede mit ihrem eigenen Zugang, und doch arbeiten alle grundsätzlich für das gleiche Ziel. Entsprechend wurde Veganismus – der Lebensstil, der darin besteht keine tierischen Produkte zu konsumieren oder zu nutzen, ebenso wenig Produkte, die an Tieren getestet wurden – immer populärer. Meine Absicht ist es an dieser Stelle nicht, das Thema erschöpfend darzustellen. Wer mehr über die Animal Liberation Bewegung lernen möchte, sei auf die Fülle [englischsprachiger] Bücher und Webseiten zum Thema verwiesen2. Manipulationen, Repräsentationen und Abstraktionen Animal Liberation ist…ein Krieg. Ein langer, harter, blutiger Krieg, in dem es all die zahllosen Millionen Opfer immer nur auf einer Seite gab, die unschuldig und ohne Verteidung waren, deren einzige Tragödie es war, nicht als Mensch geboren zu sein. – Robin Webb, Britischer ALF Pressesprecher …der abstrakteste der Sinne, und der am leichtesten zu täuschende… – Guy Debord, Gesellschaft des Spektakels Um irgendetwas kritisieren zu können, müssen wir verstehen, wie es von seinen FürsprecherInnen repräsentiert wird. Die Animal Liberation Bewegung bezieht sich zuerst und vor allem auf verschiedene unkritisch angenommene Klischees, die es – wie in der Gesellschaft auch – bei AktivistInnen der Bewegungen im Überfluss gibt. Die Sprache der Animal Liberation spielt mit Konzepten von Niedlichkeit, Mitleid und Philanthropie, die in uns hinein sozialisiert wurden, die als zivil, verantwortlich und gut gelten. Animal Liberation stellt sich selbst als moralische und zivile Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft dar, als Prozess, in dem wir „unseren Kreis des Mitgefühls ausweiten“3. Uns wird gesagt, dass Menschen Schmerz und Leid für Tiere vermeiden können und sollen, dass die Menschheit durch dieses Handeln auf den richtigen Weg zu einer freundlicheren und friedlicheren Welt kommen wird. Diese Konzentration auf das Leid und die angenommene Notwendigkeit seiner Beseitigung ist höchst problematisch. Unter dem Kapitalismus werden Tiere als Waren benutzt – als Objekte, deren einziger Zweck es ist, gekauft und verkauft zu werden – und als Objekte, die gezählt, kommerzialisiert und ausgepreist werden. TierbefreierInnen reduzieren indes all diese Dinge auf eine breite Kategorisierung: Leid. Diese Reduzierung beseitigt alle Kniffligkeiten und Spezifika dessen, wie Tiere im gegenwärtigen sozialen Kontext benutzt werden, sie verflacht die Natur ihrer Ausbeutung. Für TierbefreierInnen ausschlaggebend ist das Ausmaß des Schmerzes, der Tieren zugefügt wird und die Anzahl der getöteten Tiere. Dies führt allgemeinen zu lächerlichen Übervereinfachungen von allen, die Tiere töten. JägerInnen sind schlecht, weil sie Tiere töten, genau wie die industrielle Landwirtschaft, genau wie HaustierbesitzerInnen, die ihre Tiere misshandeln; für TierbefreierInnen ist das nur eine graduelle Frage. Ihr Fokus ist es einfach Leid zu beenden – eine komplette Absurdität in sich. Wir sollten hier keinen Fehler machen: Tiere fühlen Schmerz und alle, die das Gegenteil behaupten sind dumm. Zugleich ist die Behauptung, dass Schmerz und Leid beendet werden können nicht weniger dumm. Schmerz ist ein unabtrennbarer Teil des Lebens. Tiere können in der Wildnis verhungern, sich die Knochen brechen oder von einem anderen Tier in Stücke gerissen werden. Schmerz ist dann ein biologischer Indikator von Gefahr, Verwundung und Krankheit. Er stößt Tieren dann ohne jede menschliche Einflussnahme zu. Dennoch präsentiert Animal Liberation den Schmerz und Tod von Tieren als Konsequenz einer den Menschen unterstellten moralischen Rückständigkeit, wo Tiere immer benutzt und beherrscht werden, weil wir sie nicht gleichermaßen berücksichtigen; wir uns nicht weiterentwickelt haben. TierbefreierInnen gehen auf diese Art von der widersprüchlichen und gefährlichen Behauptung aus, dass Leid und Schmerz zumindest für Tiere beendet werden können, entweder in Gänze oder sofern es von menschlichem Handeln verursacht wurde. Dabei ist die Idee das Leid zu beenden so albern wie zu versuchen die Traurigkeit abzuschaffen und überall herumzulaufen und zu versuchen die Leute zum Lachen zu bringen. Es wäre eine sinnlose Übung. Wir sind auf intime Weise in einem Kreislauf aus Leben und Tod verbunden, der Schmerz und Leid ebenso notwendig beinhaltet wie Traurigkeit und Freude. Dann erzählen sie uns, dass wir von ihrer Sache überzeugt wären, wenn wir nur nicht länger wegsehen würden. Entsetzliche Bilder voller Blut und Tod in der Massentierhaltung und der Verrohung der Versuchslabors kommen reichlich vor in der Propaganda der Animal Liberation. Diese Bilder werden genutzt, um das Elend zu repräsentieren und auszubeuten – sie sind nicht anders als jene, mit denen wir von den Nachrichtenmedien schockiert werden. Während uns die Medien mit Bildern der globalen Misere schockieren und uns so zugleich daran als Normalität gewöhnen, stellt die Animal Liberation Bewegung das Elend dar, um zu manipulieren und mit Schuldgefühlen zur restlosen Einnahme ihrer Perspektive zu bewegen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass TierbefreierInnen die Ausbeutung der Tiere mit dem Holocaust vergleichen, während sie zugleich implizieren, dass was Tiere durchmachen müssen tatsächlich weit schlimmer ist als alles, was Menschen erleben können. Diese Analogie spielt mit unserem Mitgefühl, während sie das Leid der Tiere quantifiziert und uns mit dem schieren Gewicht der Zahlen überzeugen will. Schmerz und Tod werden abstrahiert und bemessen, repräsentiert in einer Weise, die der ideologischen Werbung dient. Wenn uns die Millionen Tiere, die jedes Jahr sterben nicht kümmern, dann sind wir grausam und gefühllos. Wenn wir uns nicht kümmern, dann sind wir verantwortlich. Animal Liberation liefert uns keinerlei kritische Einschätzung sozialer Herrschaft. Sie verspricht Befreiung, während sie tatsächlich fast alles auf die quantifizierende Logik einengt, die überall in der Gesellschaft zu finden ist. Die abstrahierende Sprache und manipulativen Bilder der Animal Liberation Bewegung liefern den Nachweis für ihre weitreichendere Logik, und definitiv für eine ihrer größten Schwächen. Das Elend in Schlachthaus und Versuchslabor zu messen ist ein Aufruf, der auf eine bestimmte Anzahl kapitalistischen Horrors aufbaut. Der Horror, der Tieren angetan wird, wird dadurch über alle anderen erhoben, dass immer wieder auf Leichenzählungen und Maßeinheiten des Leids verwiesen wird. Elend und Ausbeutung können jedoch nicht gemessen werden; sie wird nicht dadurch schlimmer, dass sie häufiger oder von mehr Lebewesen erfahren wird. Wir haben genau deshalb einen Bezug dazu, weil wir es jeden Tag erleben und sehen, dass es überall auf der Welt erlebt wird. Wenige von uns würden gleichgültig auf das Gemetzel des Schlachthauses reagieren. Unsere Gesellschaft behandelt Tiere genauso, wie sie Menschen oder Bäume oder Gene behandelt. Alle werden als Einheiten ökonomischen Werts behandelt, so effizient wie möglich verarbeitet und dann in vermarktbare Waren verwandelt. Aber unsere Abscheu kommt nicht aus irgendeiner Fantasie über das Ende des Leids. Wir wollen die revolutionäre Zerstörung dieser Gesellschaft der Ausbeutung. Wir hassen die Erniedrigung und das Elend von allem, was in Objekte zum Verkauf verwandelt wird, bewertet entlang des kapitalistischen Diktats der modernen Welt. Wir wollen über unser Leben und unsere Beziehungen selbst entscheiden, außerhalb des Marktes. Es ist diese Perspektive, aus der wir Ausbeutung und Versklavung als eine Bedingung sozialer Herrschaft analysieren – eine Bedingung die umgewandelt werden kann. Aus dieser Perspektive kritisieren wir auch Animal Liberation und ihre dubiosen Versprechungen. Dies, Das und das Gleiche: Die Widersprüche des grausamkeits-freien Konsums Willkommen, EinkäuferInnen! Wir danken Ihnen, dass sie ein mitfühlender Konsument sind! Indem Sie nur grausamkeits-freie Produkte kaufen, können Sie helfen Kaninchen, Mäuse, Meerschweinchen, Ratten und andere Tiere zu retten. – von PETAs Caring Consumer Webseite Animal Liberation versucht die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse zum Teil dadurch zu reformieren, dass sie „grausamkeits-freien“ und „mitfühlenden“ Konsum bewirbt. Indem sie sich für diese Art ökonomischen Konsums einsetzen, beanspruchen sie, das Leiden der Tiere zu reduzieren. Die Logik lautet, kein Tier werde verletzt oder getötet, wenn keine Produkte von Tieren benutzt oder konsumiert werden. Die Idee der KonsumentInnen-Reform basiert auf dem Glauben, dass das System fehlerhaft und unnötig grausam ist und lediglich einer Reparatur bedarf. Diese Bewegung steht offenkundig nicht in Opposition zum Kapitalismus an sich, ganz gleich was einige von ihnen behaupten. Wie dem auch sei, die Realität ist, dass das Elend eine unvermeidbare Konsequenz von kapitalistischer Konsumtion Willkommen, EinkäuferInnen! Wir danken Ihnen, dass sie ein mitfühlender Konsument sind! Indem Sie nur grausamkeits-freie Produkte kaufen, können Sie helfen Kaninchen, Mäuse, Meerschweinchen, Ratten und andere Tiere zu retten.und Produktion ist. Alles was wir kaufen ist Objekt und Ware – quantifiziert, reduziert, einzig nach seiner Rolle in der Ökonomie bewertet. Elend ist einfach ein weiteres Nebenprodukt, wie Umweltverschmutzung, das keinen ökonomischen Wert hat und deshalb frei verbreitet wird. Der Kult des Veganismus ist insofern effektiv, als er die falschen Argumente der KonsumentInnen-Reform in aller Kürze zusammenfasst. Die Widersprüche der veganen Ethik werden schmerzhaft offensichtlich, wenn wir die Herkunft aller Produkte und Waren in unserer Gesellschaft betrachten. Das Pfund Tofu oder die Flasche grausamkeits-freies Shampoo verbergen die Künstlichkeit des Anspruchs hinter dem Etikett. Die Behauptung, dass vegane Produkte nicht direkt zum Töten von Tieren beigetragen haben ist eine der vielen vermarkteten Illusionen, beworben von Konzernen, die von diesem Nischenmarkt profitieren. Die kapitalistische Produktion, angetrieben vom massenhaften Konsum, bedarf enormer Mengen von Ressourcen. Diese Ressourcen werden mit billigsten und zerstörerischsten Methoden aus der Erde herausgeholt, was massiv zur Zerstörung von Lebensräumen von Tieren und zum Tod von Tieren beiträgt. Die brutale Realität der Produktion liegt unter dem Glitter des Marktplatzes begraben. Ihr braucht nur darüber nachzudenken, wie die Produktion funktioniert. Die Herstellung von Plastik basiert auf Öl, somit bringt die Verpackung veganer Produkte die üblichen Umweltverschmutzungen und „Unfälle“ der Ölindustrie mit sich. Im Jahr werden etwa im Durchschnitt etwa 455 Millionen Liter Industrieöl ins Meer gekippt4. Davon stammen nur etwa 5% aus großen Tankerdhavarien wie dem Exxon Valdez Desaster5. Der Rest stammt aus Lecks und Routineverklappungen des normalen Betriebs der Ölförderung und des Öltransports. Dieses Öl schädigt die Nistplätze von Vögeln, erstickt Strandhabitate in Schlamm, vergiftet und tötet direkt Fische, Vögel und andere Meerestiere. Der Bau von Pipelines zerstört Lebensräume von Tieren. Ölraffinerien verschmutzen die Wasserwege, vergiften Tiere und zerstören ihre Brutstätten. Nicht mit eingerechnet die Kriege um diese Ressource Öl, die hunderttausende das Leben gekostet haben und das nach wie vor tun – in Afghanistan, im Irak und in Afrika – die auch die ökologische Integrität dieser Regionen zerstören. Tatsache ist, dass Bio-Sojabohnen für die Tofuproduktion, Tempeh und Fleischersatzprodukte das gleiche industrielle Distributions-System nutzen wie jedes andere Produkt im Laden, das enorme Mengen an Öl und anderen Ressourcen für Verpackung, Lagerung, Transport und Verteilung von food und non-food Waren über die ganze Welt verbraucht6. Dies übersetzt sich in zerstörte Berghänge und Flüsse durch den Bergbau fossiler Brennstoffe, den Kahlschlag von Wäldern zur Herstellung von Verpackungsmaterial, chemische Verschmutzung bei der Herstellung von Farbe, Kleber und Schmiermitteln, und so weiter, und so fort. All diese industriellen Prozesse vergiften Tiere und zerstören ihre Lebensräume. Die kapitalistische Ökonomie wird nichts tun, diese massive Zerstörung zu vermeiden, denn solche Vorkehrungen würden die Kosten der Produktion in die Höhe treiben und die Profite verringern. Was nichts anderes heißt, als dass der kapitalistische Konsum von der uneingeschränkten Ausweitung des Konsums von Ressourcen und der Zerstörung der Umwelt abhängig ist, was sein Wachstum betrifft. Der Kapitalismus muss sich ausweiten oder sterben. Durch seine Ausweitung muss die Welt sterben. Der Veganismus präsentiert eine falsche Alternative zum kapitalistischen Elend. Weder für uns noch für die Tiere hat er und wird er je die Dinge ändern. Der Kapitalismus definiert die Bedingungen unseres Leidens und diktiert, wie wir leben werden, und wie wir ultimativ nicht werden leben können. Die Produktionsprozesse, die in vegane Produkte eingehen sind die gleichen wie für jedes andere Produkt auf dem Markt. Die Massenproduktion ist Teil einer globalen Arbeitsteilung, die weltweit Millionen Menschen ausbeutet. Ressourcen verwandeln sich nicht von selbst in Waren. Menschen produzieren sie. Sie werden ausgebeutet, um die Ökonomie in Schwung zu bringen, sie in Gang zu halten und funktionieren zu lassen. So nimmt es nicht wunder, dass KapitalistInnen Tiere wie Menschen als entbehrliche Objekte behandelt. Animal Liberation würde zwar für die Zerstörung oder Abschaffung von industrieller Tierhaltung und Metzgereien sprechen, dafür aber tierfreie Arbeitshäuser an ihre Stelle setzen. Dies ignoriert das Leid, das die Lohnarbeit mit ihrer Zerstörung der Körper und Abstumpfung der Köpfe verursacht. Wir Menschen werden vielleicht nicht für die Produktion von Nahrungsmitteln aufgezogen und getötet, für die Produktion als solche werden wir allemal genauso aufgezogen und getötet. Das morgendliche Pendeln zur Arbeit, Schulden und Miete, die Erschöpfung, die Langeweile und das Ausbleiben von Befriedigung – all das wird weiterexistieren in einer Welt, in der ausschließlich vegane Produkte verkauft werden. Es gibt keinen grausamkeits-freien Kapitalismus, nur Kapital für KapitalistInnen. Die Ökonomie sagt, wie es läuft, sie nimmt, was sie braucht und zerstört den Rest. Um dem kapitalistischen Elend etwas entgegenzusetzen, müssen wir uns gegen das Ganze wenden, die Illusion mundgerechter Halb-Maßnahmen und KonsumentInnen-Reform-Kampagnen zurückweisen. Dringender noch bedarf die kohärente Analyse sozialer Herrschaft einer unbeirrbaren Kritik der moralischen und ideologischen Kräfte, die genau diese Analyse zu verhindern suchen. Verdammt, wenn Du es tust – Moral als Falle des Geistes Seine Heiligkeit ist erfreut dazu berufen zu sein…barbarische und grausame Tendenzen aus den Herzen der Menschen zu löschen – Papst Pius X Moral ist der Herdeninstinkt des Individuums – Friedrich Nietzsche Moral ist ein System von Regeln, ein auf „objektiv“ Richtigem und Falschem aufgebautes Set rigider Codes, die ihrerseits auf Konzepten von Gut und Böse beruhen. Diese Codes können angeblich an allen Orten und zu allen Zeiten angewendet werden. Was unter einem moralischen Code als „richtig“ oder „falsch“ erachtet wird, bezeichnet nicht einfach das korrekte oder nicht korrekte Verhalten einer Person an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Kultur, sondern vielmehr das korrekte oder nicht korrekte Verhalten aller Personen an allen Orten zu allen Zeiten. MoralistInnen beanspruchen, dass ihre Verengung universeller Standard sei, nach denen ihr Handeln und das anderer zu beurteilen ist. Diese Moral selbst ist autoritär, da wir uns ungeachtet unseres eigenen Willens konform zu ihr verhalten müssen. Moral kommt von einer Autorität über uns. Diese Autorität kann Gott sein, der Staat, die Familie, oder verschiedene für wahr gehaltene Ideen und Einheiten, die der angenommenen Objektivität einer bestimmten Moral Geltung verschaffen. Moralische Codes definieren eine zu treffende Auswahl und richten sie aus. Sie dürfen nicht verletzt werden, da sie absolut und unbewegbar sind. Auf diese Art werden Entscheidungen nicht auf Grundlage dessen getroffen, was ein Mensch für seine Situation und Wünsche als angemessen empfindet, vielmehr werden diese Entscheidungen durch ein moralisches System vorbestimmt. Zwar brechen viele MoralistInnen gelegentlich aus ihrer Schublade aus, doch ist dies begleitet von Gefühlen der Scham und der Schuld, da sie Regeln gebrochen haben, von denen sie glauben, dass sie gerecht und gut sind. Damit ist Moral für all jene Antithese, die versuchen auf eine Art und Weise in der Welt zu denken und zueinander zu handeln, in der sich ihr Begehren wiederfindet. Entsprechend sind moralische Argumente nicht auf kritisches theoretisches Denken gegründet. Moralische Argumente oder Ansprüche können nur durch dagegen stehende moralische Ansprüche widerlegt werden. Fleisch essen mag für eine VegetarierIn falsch sein, für eine FleischesserIn ist es das nicht. Die Behauptung von richtig und falsch kann immer weiter gehen, bis der Mund müde und die Zunge trocken ist. Wie dem auch sei, die Moral ist entsprechend der Kultur der sie entspringt 7. Auffassungen von richtig und falsch werden von der Gesellschaft gesetzt, insbesondere von denjenigen, die die Gesellschaft kontrollieren. Wer sagt, das die in Stammesgesellschaften lebenden Jäger und Sammlerinnen MörderInnen sind, weil sie Fleisch essen ist mehr als alles andere in den eigenen arroganten moralischen Urteilen befangen. Es ist genau dieser Mangel an kritischem Denken, der vor dem Erkennen gemeinsamer Interessen der Menschen Barrieren errichtet. Manche TierbefreierInnen erzählen jenen, die Fleisch essen, voll gerechter Entrüstung wie böse ihre Nahrung ist. Diese indifferenten oder apathischen FleischesserInnen müssen darauf hingewiesen werden, dass sie zum Mord an unschuldigen Wesen beitragen. Wenn sie nicht zuhören, machen sie sich schuldig. Wenn sie zuhören aber nicht handeln, machen sie sich noch schuldiger. Die schwarzen und weißen Schatten der Moral fallen wie der Hammer des Richters. Kampagnen zur „Bildung“ der Menschen über Grausamkeit an Tieren oder Veganismus werden wie Missionsprojekte durchgeführt. Fromme Verurteilungen des Versagens anderer Leute, sich dem „Beenden des Leids“ zu verschreiben ähneln allzu sehr dem Priester auf seiner Kanzel, der diejenigen tadelt, die sich noch von ihren Sünden zu befreien haben. Diese Schuld führt einfach nur dazu, dass sich die Leute scheiße fühlen für ihre ohnehin machtlose Position in der Gesellschaft, eingeschränkt auf die Auswahl, die der Kapitalismus uns aufnötigt. Sie befördert keine kritische Bewertung der sozialen Bedingungen, die zur Ausbeutung der Tiere beiträgt, sondern ermuntert zu blindem Gehorsam im vorbestimmten Richtig und Falsch. Verschiedene soziale Institutionen – Religion, Schule, Arbeit, Familie – vermitteln moralischen Gehorsam, um unser Denken und Handeln intern zu regulieren und verschiedene Institutionen sozialer Herrschaft durchzusetzen. Die Moral ist der Bulle in unseren Köpfen, eine Fessel individueller und kollektiver Verwirklichung, und ein Hindernis für alle, die den Wunsch haben ihr Leben frei zu bestimmen. Wenn wir beginnen, für uns selbst zu entscheiden, was wir wollen und wie wir leben wollen, und es anderen erlauben dies auch zu tun, werden wir Riesenschritte dahingehend machen, uns von den unsichtbaren Gefängnissen zu befreien. Ideologie, verlässliche Fessel Da die Ideologie immer die Form ist, welche die Entfremdung in der Sphäre des Denkens annimmt, verstehen wir umso weniger unsere reale Situation, je mehr die Entfremdung zunimmt… Und je weniger wir unsere eigene autonome Existenz beanspruchen, umso greifbarer wird unsere Existenz mit dem Kapitalismus, mit den gefrorenen Bildern unserer Rollen in all den verschiedenen sozialen Hierarchien und Transaktionen des Warentauschs. – Lev Chernyi, „Eine Einführung der Kritischen Theorie“ Die Ideologie arbeitet auf ähnliche Art wie die Moral. Anstatt die Regeln objektiver Wahrheiten über richtig und falsch zu befolgen, werden rigide Programme und Perspektiven angenommen, die in einer Idee oder einem Konzept enthalten oder verbunden sind. Es gibt keinen Raum für irgendeine Beweglichkeit. Die Ideologie umschließt einen Aspekt des Lebens gänzlich und regiert unser Verhältnis dazu. Solcherart findet das ideologische Denken anstelle des kritischen Denkens statt. Die Welt, oder Aspekte der Welt, werden durch den Filter der Ideologie verstanden. So unterhält zum Beispiel die demokratische Ideologie die Idee, sozialen Wandel durch Wahlen, politischer Repräsentation und Gesetzgebung zu erreichen. Sie propagiert den Glauben in formale Politik in gleichem Maße, wie sie autonome direkte Aktionen verhindert. Die Kraft dieser Ideologie, wie aller Ideologie, liegt darin, das Denken in begrenzte Möglichkeiten und Perspektiven zu leiten und daran anzupassen. Die Ideologie steht einer kritischen theoretischen Analyse entgegen, die uns Situationen und Ideen auf der Grundlage ihrer tatsächlichen Brauchbarkeit für unsere Praxis zugänglich zu machen8. Animal Liberation fällt nicht aus diesem Rahmen; sie ist von Grund auf ideologisch. Sie ordnet alles der Sache der Tiere unter. Die Ausbeutung der Menschen und die Zerstörung der Umwelt mögen der TierbefreierIn noch immer wichtig sein, aber sie werden als getrennte Themen gesehen. Die Ideologie macht Menschen unfähig, außerhalb von ihr stehende Dinge im Zusammenhang zu sehen oder zu verstehen. Alles wird unter der Maßgabe eingeordnet, wie es sich zur Sache der Tiere verhält. Ein Versuchslabor ist in der Hauptsache ein Ort der Folter an Tieren, die Verletzungen, die pharmazeutische Tests Menschen zufügen, die Millionengewinne, und das unhinterfragte Fortschreiten der Technologie werden vernachlässigt. Ein Fleischhauer schneidet jeden Tag Tiere in Stücke. Wir hassen, was mit den Tieren gemacht wird, wenn sie reihenweise nebeneinander verbluten, übereinander, an Haken. Aber die Ideologie der Animal Liberation erlaubt es nicht, die gleichen Überlegungen über die menschlichen ArbeiterInnen anzustellen, die Gefahren und Verletzungen, denen sie in dieser Tofu-Fabrik oder jener Sojamilch-Anlage ausgesetzt sind. Ihre Degradierung zu ersetzbaren Rädchen im Produktionssystem wird nicht als gleichermaßen bedenkenswert erachtet, denn Tier und Mensch werden als getrennte Kategorien gesehen, von denen die erste über die zweite gesetzt wird. Der Veganismus demonstriert deutlich die alles umschließende Kraft der Ideologie. Einige VeganerInnen kümmert es wenig, wie gut sie essen, solange sie keine Tierprodukte konsumieren. Scheiße zu essen (z.B. stark behandelte, mit Chemie beladenen veganen Junk-Food) und den eigenen Körper zu zerstören ist akzeptabel, solange es vegan ist. Es ist in Ordnung die eigene Gesundheit zu zerstören, denn das zerstört nicht die Gesundheit eines Tieres – eine Illusion in sich. So wird alles zur einer Sache im Interesse von Tieren, werden andere Faktoren ausgeklammert. Die Absolutheit der Führung eines veganen Lebensstils erlangt Priorität über alle anderen Belange und nährt die Illusion, dass veganer Konsum nicht zum Leiden der Tiere beitragen würde. Sie macht die Leute blind für die Realität dessen, was sie konsumieren, erlaubt es, die Voraussetzungen dessen auf behagliche Art anzuerkennen ohne sie kritisch zu bewerten. Wir müssen Animal Liberation und Veganismus in einen sozialen Kontext stellen, um sie in Ausmaß und Bedeutung verstehen zu können. Die Ideologie der Animal Liberation und der daraus entspringende vegane Lifestyle sind fragmentierte Oppositionen, die den Weg, auf dem das kapitalistische System Wandel konzeptualisiert völlig übernehmen. Sie geben der Idee Kraft, dass die Auswahl, die ein Mensch als KonsumentIn trifft zentrale Bedeutung hat – dass sie nicht nur die Identität eines Menschen bestimmt, sondern auch der Weg ist Wandel herbeizuführen. Die Versprechungen des „grausamkeits-freien“ Veganismus propagieren eine abstrahierte Sichtweise sozialen Wandels, bei dem das „Retten“ zahlreicher Tiere durch Konsum im Mittelpunkt steht. Diese falsche Opposition wendet sich gegen einen Aspekt von Unterdrückung, während er nichts dazu beiträgt, dessen systemische Ursachen zu zerstören, in diesem Fall die Herrschaft des Kapitalismus. Einige VeganerInnen argumentieren, dass ihre Lifestyle-Entscheidungen besser sind als nichts, ganz so wie einige sagen, dass die Demokraten immer noch besser sind als die Republikaner. Daraus spricht das fragmentierte Verständnis des Veganismus von sozialer Ordnung, der einzig auf das „Reduzieren des Leids der Tiere“ gerichtete Tunnelblick. Währenddessen werden Tiere weiter zu Fleischmaschinen gemacht, verarbeitet von Leuten, die gezwungen sind als Arbeitsmaschinen zu funktionieren – beide unter monetären Erwägungen hin und her gehandelt, ausgebeutet, zu kapitalistischen Zwecken genutzt. Der Kapitalismus definiert die gesellschaftlichen Rollen von Mensch und Tier, während der Veganismus diese Beziehung vor allem verschleiert, indem er einen illusionären „mitfühlenden“ Konsum anpreist. Eine verwandte Ideologie, verbreitet unter radikalen TierbefreierInnen, grünen AnarchistInnen und UmweltaktivistInnen ist es, die Schuld am Schaden, der Tieren und Umwelt zugefügt wird, allen Menschen zuzuschreiben, speziell der menschlichen Natur. Dies ist nur leicht verkleideter Menschenhass. Animal Liberation erhöht das Dasein der Tiere, weil sie als wehrlos, friedlich und unschuldig gesehen werden, während Menschen nicht über diese Qualitäten verfügen. Ein Menschenfeind würde sagen, dass einige oder alle Menschen im Innersten schlecht und grausam sind, sich nicht kümmern, oder sogar, dass einige Menschen es lieben zu töten, zu foltern und zu verletzen9. Sie würden sagen, das dies die Natur des Menschen sei. Aber diese Handlungen sind nicht das Produkt unserer Natur; wir werden weder von unseren Instinkten regiert noch von einer abstrakten Idee einer menschlichen Natur. Noch gibt die menschliche Geschichte Anlass zu vermuten, dass Menschen im Innersten grausam und zerstörerisch sind. Dieses Debakel von aufgezwungenem Elend und Herrschaft sind ein Produkt der menschlichen Gesellschaft, nicht einer menschlichen Natur, die unterdrückt oder moralisiert werden müsste. Die verschiedenen Institutionen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt, regieren unser Handeln in ihrem Innern. Wir sind nicht einfach Individuen, die tun was immer sie wollen. Wir haben sehr wenig Wahlmöglichkeiten in der Frage wie wir überleben, die alle regiert sind davon, Produkte der Ausbeutung zu kaufen und selbst ausgebeutet zu werden, um sie herzustellen. Uns wird ununterbrochen gelehrt dieses Leben zu akzeptieren, nicht viel anders als Gefangene daran gewöhnt werden ihre Zellen zu akzeptieren. Menschenhass kann hierarchische und ausbeuterische soziale Beziehungen weder erklären noch erhellen. Er ist nichts als eine faule ideologische Entschuldigung dafür, über die gegebenen Probleme nicht kritisch nachzudenken. Wenn wir das kapitalistische System und seine Folgen angreifen wollen, müssen wir es als systematisches Ganzes verstehen und als solches dagegen handeln. Sonst nimmt die Opposition die übliche Form an, spielt der Ideologie von Reform und Radikalismus in die Hände, ohne eine kritische Theorie darüber im Gepäck zu haben, wie wir was angreifen müssen. Ideologie macht Schafe aus den Menschen. Dass uns gesagt wird, oder dass wir uns sagen, dass wir frei sind heißt nicht, dass wir es tatsächlich sind. Wir werden aller Theorie, Ideologie und Praxis gegenüber kritisch sein müssen, wenn wir bestimmen wollen, wie brauchbar sie dafür sind diese Gesellschaft der Ausbeutung zu transformieren, oder besser noch, sie zu zerstören. Mach es einfach: Die AktivistIn Ich glaube fest daran, dass wir alles daran setzen müssen, das Leiden und Sterben so schnell und so effeizient wie möglich zu beenden. Wenn wir alle soviel tun wie wir können, WIRD das 21. Jahrhundert die Befreiung der Tiere bringen. – Anonym10 Die angeblich revolutionäre Aktivität der AktivistIn ist stumpfe und sterile Routine – die kostante Wiederholung einiger weniger Handlungen ohne jedes Potential zur Veränderung. – Andrew X. „Give up Activism“ AktivistInnen spielen eine besondere Rolle in unserer Gesellschaft. Ebenso wie KünstlerInnen die SpezialistInnen für Kultur sind, sind sie die SpezialistInnen für sozialen Wandel. Diese Spezialisierung separiert eine Gruppe von Leuten vom Rest der Gesellschaft. Dieser Zustand ist nicht zufällig, denn es liegt in der Natur der Spezialisierung exklusiv zu sein. Die AktivistIn verwaltet und repräsentiert soziale Kämpfe, verengt sie auf Teilbereiche und rekrutiert Mitglieder für ihr Anliegen. Aus revolutionärer Perspektive, in der es darum geht die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse umzuwälzen statt sie zu reproduzieren ist das problematisch. Animal Liberation reproduziert die Rolle der AktivistIn, indem sie sich über und außerhalb des Bereiches der Kämpfe stellt, die für die Ausgebeuteten Relevanz haben und sie mit einbeziehen. Der Animal Liberation Aktivismus verschreibt sich besonderen Anliegen und schließt diejenigen aus, die sich nicht an seine moralischen Codes und den entsprechenden Lifestyle halten11. Gleichermaßen glorifiziert er die Selbstaufopferung, eine Idee, die jeglicher Befreiung diametral gegenüber steht12. AktivistInnen sehen in Opfer und Leiden eine Art Fähigkeit, die den meisten Leuten abgeht. Die AktivistIn muss die Gesellschaft für andere verändern, für den angenommenen Vorteil anderer. Die Massen müssen erzogen, die Wichtigkeit einer Sache oder eines Themas muss ihnen aufgezeigt werden. Animal Liberation würde jeden Menschen zu einer VeganerIn machen, dessen ungeachtet ob dies tatsächlich irgendwem dabei hilft, die Bedingungen seines oder ihres Lebens selbst zu bestimmen. Die ArbeiterInnen, die versuchen ihre Familien zu unterstützen werden eine vegetarischen Diät nur in geringem Maße für anregend halten, solange diese nichts an der ökonomischen Schlinge ändert, die ihr Leben einschnürt. Keine vegane Diät macht die Unzufriedenheit genießbarer. Dies ist nicht der einzige Grund, warum viele Leute Animal Liberation nicht besonders ernst nehmen. Die Subkultur der Animal Liberation AktivistInnen begrenzt den Austausch und die Beziehungen mit Nicht-AktivistInnen und verstellt ein Verständnis der Kämpfe anderer. Subkulturen, seien sie aktivistisch oder nicht, schaffen Trennungen und Hindernisse zwischen den Ausgebeuteten. Sie verlangen von anderen das Befolgen ihrer Codes des Denkens, des Verhaltens, der Mode, und entfremden sich letztlich selbst von der Möglichkeit sich auf andere einzulassen, Affinity13 und Solidarität zu anderen aufzubauen. Wer möchte ständig gesagt bekommen was zu tun ist, wie zu denken, was anzuziehen? Eine AktivistInnen Gruppe kann sich von dieser Welt isolieren, aber sie sollten nicht erwarten, dass irgendwer sonst ihre selbst auferlegte Isolation teilen möchte. Einige AktivistInnen mögen diese Isolation als weiteres selbstloses Opfer im Dienste des guten Sache sehen. Opfer müssen gebracht werden für jemand anderes, irgendein Tier, irgendeine Abstraktion, irgendein Thema oder irgendeine Sache. Dabei handelt man nicht in eigenem Interesse sondern im Interesse von jemand oder etwas anderem. Für die Befreiung von Tieren kannst Du ganz schön auf die Fresse kriegen oder in den Knast gehen. Die AktivistIn wird sagen, dass dies notwendige Opfer für eine gerechte Sache sind und dass Dein persönliches Leid dazu führen wird, dass andere weniger leiden müssen. Hier repräsentiert sich der Mythos der MärtyrerIn in Aktion. Leid wird nicht dadurch gemildert, dass ich mehr Leid für mich selbst verursache. Das moderne Leben wird schon jetzt durch Opfer aufrecht erhalten – auf Arbeit, in der Schule, unter dem Kapitalismus. Das soll nicht heißen, dass wir Risiken vermeiden und passiv werden sollen, wenn wir etwas sehen das uns krank macht. Wir sollten vielmehr zur Tat schreiten und aktiv werden weil wir es wollen und nicht weil wir das Gefühl haben, dass wir es müssen. Dann ist das Risiko, das wir eingehen das Risiko das es mit sich bringt unser Leben zu leben, nicht sich für eine Idee zu opfern14. Schließlich ist Jesus ja schon für unsere Sünden gestorben. Wir sollten nicht in den Fußstapfen dieses Toren wandeln und ebenfalls dafür sterben. Was die tatsächliche Praxis betrifft, suchen die Animal Liberation AktivistInnen eher danach erfolgreiche Reformkampagnen zu starten als einen weitreichenden Angriff auf das System als Ganzes. Sie sind begeistert davon, ihre selbst verkündeten Erfolge zu feiern. Eine Pelzfarm schließt. Ein Versuchslabor ist aus dem Geschäft. Aber später kehrt die Pelzfarm zurück, an einem anderen Ort mit einem neuen Besitzer, sobald die Modeindustrie Pelze wieder erfolgreich vermarkten kann15. Die Produktion beginnt wieder wie immer. Und die Kosmetikindustrie muss weiter Chemikalien in die Augen von Kaninchen reiben und Ratten Pharmazeutika spritzen, um potenzielle Klagen zu verhindern. Also eröffnet ein neues Versuchslabor irgendwo im Ausland oder ein bestehendes weitet seinen Betrieb aus, was schließlich dazu führt, dass mehr Tiere brutal behandelt und getötet werden. Die „Straße zum Erfolg“, die von vielen Animal Liberation AktivistInnen gefeiert wird, besteht in einer Reihe unbedeutender Zugeständnisse, vom System sparsam verteilt16. Der Kapitalismus ist flexibel genug sich zu reformieren, solange er in seiner Gesamtfunktion nicht beeinträchtigt wird. Solange werden Tiere immer weiter zur Ware gemacht und ausgebeutet. Lasst uns nun einen genaueren Blick auf die Dynamik und Praxis von Animal Liberation werfen. Verloren im Nebel des Krieges: Ein Blick auf Animal Liberation „Radikale“ TierbefreierInnen Es gibt viele Kampagnen von AktivistInnen, die sich damit brüsten radikal und basisdemokratisch (grassroots) zu sein. Radikalismus selbst ist ein Begriff, der dazu dient einige Methoden von anderen unterscheiden. Er ist ambivalent und positioniert den oder die Radikale keinesfalls in einer klaren Perspektive, die mehr besagen würde, als dass er oder sie extreme Taktiken anwendet. Es gibt viele, die von der Faszination des Radikalismus angezogen werden, weil er sich selbst als Alternative zu den reformistischen Tendenzen anderer Gruppen darstellt. Diese Darstellung ist ein Irrtum. Animal Liberation steht ganz auf Seiten der Reform, auch wenn manche sie aufgrund ihrer verwendeten Taktiken als radikal darstellen. PETA und SHAC sind sich in den meisten Punkten einig. Sie verwenden nur unterschiedliche Taktiken und Strategien, um die gleichen Ziele zu erreichen17. Aber „radikale“ Taktiken sollten nicht mit radikalen Zielen verwechselt werden. Sozialer Wandel wird nicht bloß mit eingeworfenen Scheiben und Demos vor der Haustür erreicht. Um radikal aus dem Existierenden aufzubrechen bedarf es der Dekonstruktion des „Radikalismus“ und nicht die Verwechslung von Taktik mit Philosophie. Animal Kommandos Die Animal Liberation Front (ALF) hat über die Jahre für ihre Kommandoaktionen der Tierbefreiung, der Sabotage und der Brandanschläge viel Unterstützung erhalten. Diese ALF Zellen setzen sich aus kleinen, dezentralen Gruppen vegetarischer oder veganer Leute zusammen, die entlang gewisser Richtlinien Aktionen durchführen. So kann eine Aktion beispielsweise als der ALF zugehörig bezeichnet werden, wenn damit entweder Tiere befreit oder Eigentum der tierverwertenden Industrie zerstört wird, ohne dass irgendein Leben in Mitleidenschaft gezogen wird. Ihr kurzfristiges Ziel ist es, so viele Tiere wie möglich zu retten, ihr langfristiges Ziel ist „das Leid der Tiere zu beenden“, indem die tierverwertende Industrie aus dem Markt gedrängt wird18. Damit steht die ALF ganz klar für das gleiche ideologische und quantifizierende Denken wie der Rest der Animal Liberation. Die Faszination für die ALF ist zum Teil ihrem Kommando-Image geschuldet, im Schutz der Nacht Gesetze zu brechen. Die gängigen Bilder verleihen der ALF eine engelsgleiche Qualität. Sie retten die Unschuld vor dem Bösen, ganz so wie in den langweiligen Märchen, mit denen wir als Kinder zwangsernährt wurden. Aus dem Blickwinkel der Animal Liberation ist die Direkte Aktion zwar praktisch zum Befreien von Tieren, bleibt aber rein taktisch, wird nicht als Ethik der Interaktion mit der Welt jenseits von Repräsentation und Vermittlung verstanden. Das Brechen des Gesetzes wird dabei auf ähnliche Weise rationalisiert wie Gandhi es rationalisierte und für legitim erklärte das Gesetz zu brechen. Diese Perspektive hält moralisch an der Gewaltfreiheit fest und wird einzig in der Absicht durchgeführt, Gesetze anzufechten, die einen Aspekt der sozialen Herrschaft schützen, während sie die restlichen unberührt lassen. Für gewöhnlich vergleicht die ALF und ihre AnhängerInnen die ALF mit der Underground Railroad, dem Netzwerk von Leuten, die SklavInnen bei ihrer Flucht aus dem Süden der USA halfen, bevor die Sklaverei dort offiziell abgeschafft wurde. Dieser Vergleich dient vor allem sich selbst und verstärkt den HeldInnenkult – führt zu mehr größenwahnsinnigen Illusionen. Das Justice Department (JD) und die Animal Rights Militia (ARM) stehen für eine militantere, gewaltbereitere Haltung. Auch wenn diese Gruppen weit weniger in Erscheinung treten als die ALF, lohnt es sich doch ihre Entwicklung innerhalb der Animal Liberation zur Kenntnis zu nehmen. ARM ist bekannt dafür Jäger in England zusammenzuschlagen, das JD ist dafür bekannt Rasierklingen and Pelzfarmer zu verschicken und Versuchslabore zu bedrohen19. Anstatt wie die ALF die Gewaltfreiheit zu verherrlichen, glorifizieren diese Gruppen die entgegengesetzte taktische Form: die Gewalt. Hier entwickelt sich eine taktische Ideologie, die noch immer in ihrem eigenen Tunnelblick gefangen bleibt. Sie positionieren sich gegenüber der Gewaltfreiheit, die als gescheiterte Methode gesehen wird, die nicht schnell genug „Erfolge bringt“, womit sie den sozialen Wandel selbst quantifizieren. Sie sehen sich selbst as diejenigen, die die Sache „einen Schritt weiter“ bringen. Dies ist die gleiche Argumentation, wie die von Black Liberation Army und dem Wheather Underground, die in einigen spektakulären Akten kulminierte und nichts dazu beitrug, die Ausbeutung von irgendwem zu verringern und stattdessen politische Gewalt glorifizierte. Ihr Herangehen demonstriert die Frustration und Ohnmacht „radikaler“ Aktion, die von alltäglicher revolutionärer Praxis getrennt ist. Statt einen qualitativen Bruch mit einer Gesellschaft zu vollziehen, die auf Rollen und ExpertInnen basiert, stützen diese Gruppen das instrumentelle Verhältnis von Individuen, die sich einer Sache geweiht haben, und nicht die tatsächliche Umwälzung des Lebens für alle Beteiligten. Engel der Gnade: Verliebt in HeldInnen, Märtyrer und Militante Denen, die ihr Leben im Kampf gegen den Missbrauch der Tiere verloren haben und denen, die sich selbst das Leben genommen haben, wenn der Horror nicht länger zu ertragen war; denen, die ihre Freiheit gaben… Danke. – Robin Webb, Britischer ALF Pressesprecher Viele TierbefreierInnen lieben das Märtyrertum der ALF. Sie werden als selbstlos und mutig verehrt, werden Opfer, weil sie sich zu sehr kümmern und leiden unter ihrem Mitgefühl nahezu wie Mutter Teresa und Jesus. Eine Verkörperung dessen stellt Ingrid Newkirks Buch Free the Animals dar, das die Geschichte einer Gruppe von Leuten erzählt, die das Gesetz brechen und Gefängnis riskieren, um Tiere aus Versuchslaboren zu retten. Dieses Buch ist seit den 80er Jahren bei Animal Liberation AktivistInnen weit verbreitet. Seine Attraktivität liegt im Porträt von Leuten, die irgendwie besser sind als der Rest von uns – edler, mutiger, mitleidender. Wie Figuren aus einem einfachen Märchenbuch, so riskieren ALF KriegerInnen alles, um Tiere vor dem Bösen zu retten. Animal Liberation genießt ihre HeldInnen auf die gleiche Weise wie die Medien es tun, festigt damit soziale Beziehungen nach dem Schema AnführerIn-und-Gefolgsleute. Dennoch vermeiden viele die illegale direkte Aktion aufgrund der Konsequenzen des Gesetzesbruchs. Das Risiko der persönlichen Auswirkungen verstärkt dann den Mythos des Opfers, das der oder die KriegerIn bringt. Das Gesetz zu brechen wird zur Aufgabe für Übermenschen, nicht für den Rest von uns. ALF Mitglieder scheinen mit besonderen Fähigkeiten auf die Welt gekommen zu sein, einer Furchtlosigkeit, die wir nicht besitzen. Wie anzubetende Götzen sitzen sie auf einem Sockel. Sie sind die HeldInnen der Animal Liberation. Unterhalb stehen die Leute, die nur applaudieren können wie es Leute tun, die ein Kunstobjekt betrachten, das nur jemand produzieren konnte, von dem angenommen wird, dass er außerordentlich talentiert sei. Die soziale Umwälzung braucht keine MärtyrerInnen, HeldInnen oder Militante. Revolutionäre Aktion muss eine bewusste Anstrengung beinhalten, die Rollen zu zerrütten, die unseren Ausschluss und unsere Ohnmacht definieren. Je schneller wir Heldenverehrung und Märtyrertum ins Feuer werfen, umso früher können wir für unsere eigene Freiheit kämpfen. Die Revolution beginnt mit jedem und jeder von uns. Wir sind die VollstreckerInnen des Schicksals. Wir müssen über unsere eigene Zukunft entscheiden, damit niemand sonst es tun kann. Du kannst über die Freiheit keine Gesetze erlassen Du müsstest verrückt sein vom Staat Schutz zu erwarten… Und ich bin keine Idiotin. – Andrea Dorea, N´drea Animal Liberation glaubt, dass Tieren gesetzlicher Schutz und Rechte gegeben werden sollten. Das Verbot von Hahnenkämpfen, einer wirklich unbedeutenden Institution im großen Programm des Missbrauchs von Tieren, wird begrüßt, weil es als Hilfe für die Tiere gesehen wird, und weil es die Anzahl der angeblichen Erfolge erhöht. Andererseits kritisieren sie Gesetze, die tierverwertende Konzerne schützen. Sie stützen damit zuallererst die Logik des Staates, die Gründe für die Existenz der Gesetze in Allgemeinen, und ignorieren, dass das Rechtssystem die Gesellschaft reguliert, sie effizient und ordentlich macht, sie kontrolliert. Gesetze bestätigen die soziale Kontrolle, ächten die Unregierbaren und beschützen die Mächtigen. Gesetze und ihre HüterInnen hoffen uns davon abzuhalten die industrielle Landwirtschaft mit unseren eigenen Händen in Stücke zu reißen. Der Staat schützt die tierverwertende Industrie und andere kapitalistische Unternehmen; er ist das Rückgrat und die brutale Kraft des kapitalistischen Systems. Das Gesetz kriminalisiert all jene, die sich gegen das ruhige Funktionieren des Kapitalismus stellen. Gesetzbücher bewahren die sozialen Beziehungen im Kapitalismus; das Konzept vom Eigentum wird durch sie geheiligt. Jeder Ruf nach zusätzlichen Gesetzen stärkt die Macht des Rechtssystems und seiner Mythologie von Gerechtigkeit und Fairness. Der Glaube ans Gesetz ist der Glaube an die kapitalistische Ausbeutung, wie sie von Bullen, BürokratInnen, RichterInnen und GesetzgeberInnen gewaltsam durchgesetzt wird. Sie haben kein Interesse daran, die soziale Ordnung zu verändern, deren Vorteile sie einheimsen. Ein Gesetz zu erlassen gegen Grausamkeit an Tieren hier, gegen Tiere im Zirkus dort, ändert daran sehr wenig – außer, dass es als Erfolg bilanziert werden kann. Die Fabriken fahren damit fort, tagtäglich mehr Tiere in der Produktion zu vernutzen. Das Elend geht weiter und der rechtliche Apparat des Staates gewährleistet, dass es so bleibt. Wenn wir die Tiere aus dem entwürdigenden Produktionssystem befreien wollen, müssen wir alle angeblichen Mittel der Abhilfe zurückweisen, die von den staatlichen Mechanismen der Wahl und Gesetzgebung zur Verfügung gestellt werden. Das Rechtssystem hilft nur, wenn die Mächtigen Probleme haben. Das Gesetz wendet sich gegen alle, die sich gegen die soziale Ordnung wenden. Wenigstens soviel ist der ALF klar. Wir tun besser daran, das gesamte System entfremdeter politischer Macht zu zerstören, als nach weiteren altbackenen Krümeln und leeren Zugeständnissen zu fragen. Wenn wir gegen den Kapitalismus opponieren, für das, was er den Tieren antut, so sollten wir ebenfalls gänzlich gegen die Staaten opponieren, die sicherstellen, dass dieses System damit weitermacht, die Welt unter ihrer Logik zu versklaven. Direkte Aktion, nicht Ideologie Animal Liberation hat ihr größtes Potential als direkter Akt, nicht als Ideologie. Die Befreiung von Tieren verletzt deren Status als Eigentum. Sabotage und Zerstörung von Anlagen der tierverwertenden Industrien kann sich gegen die Kommodifizierung von Tieren richten. Wie auch immer, solange diese Aktionen mit dem ultimativen Ziel der Animal Liberation gemacht werden, bleiben sie auf eine Perspektive beschränkt, die sich nur für Tiere interessiert. Zum Beispiel konzentrieren sich viele Bekennerschreiben zu Überfällen auf Tierversuchslabore einzig auf die Schinderei von Tieren, üblicherweise in moralischen und ideologischen Begriffen, während sie all die anderen ausbeuterischen und ekelhaften Aspekte eines Forschungslabors in einer Universität oder einem Pharmakonzerns ignorieren. Statt Grenzen des Verständnisses sozialer Herrschaft niederzureißen, werden sie von solchen Aktionen errichtet. Sie fördern eingeschränkte Perspektiven, welche die Gründe, die dazu führen, Tiere in Waren zu verwandeln nicht berücksichtigen. So wird das Potential dieser Aktionen durch die Beschränkung auf ein einzelnes Thema verkrüppelt, statt ein Akt der Solidarität mit anderen sozialen Kämpfen zu sein. Es gibt nichts desto trotz bemerkenswerte Ausnahmen von Leuten, die Tiere befreien und tierverwertende Unternehmen sabotieren, ohne ihre Aktionen in den Zusammenhang der Animal Liberation zu stellen. Sie sollten nicht unerwähnt bleiben, da sie deshalb positiv sind, weil sie ihre Aktionen nicht selbst dahingehend abgrenzen, nur in einem Herrschaftsaspekt relevant zu sein, sondern sie als Angriffe auf eine Form unter vielen verstehen. Wenn wir überall Herrschaft und Unterdrückung erkennen, dürfen wir uns nicht selbst begrenzen; wir müssen sie überall angreifen, wo wir sie finden. Gegen Aktivismus, hin zum aktiven Aufstand Was wir sind und was wir wollen beginnt mit einem nein. Aus ihm kommt der einzige Grund am morgen aufzustehen. Aus ihm kommt der einzige Grund bewaffnet zum Angriff auf eine Ordnung überzugehen, die uns erstickt. – Anonym, „At Daggers Drawn“ Das Gefängnis, das diese Gesellschaft ist, muss zerstört werden, wollen wir über Freiheit sprechen. Die industielle Landwirtschaft ist nur ein Ort, an dem sich ihr Elend zeigt. Dieses System der Ausbeutung profitiert von Schweiß und Blut der Tiere und Menschen. Es ist unser gemeinsamer Feind. Wir werden nichts ändern, wenn wir die Regierenden fragen, ob sie das Elend erträglicher macht oder uns freundlicher ausbeutet, wir werden nichts bekommen, außer bessere Löhne und größere Käfige. Wir müssen über unser Leben und unsere Beziehungen in der Welt zu unseren eigenen Bedingungen entscheiden. Um das zu tun, haben wir eine schwierige Aufgabe vor uns. Lassen wir uns nicht mit falschen Versprechungen, moralischen Codes und ideologischen Verblendungen abspeisen. Lasst uns stark werden durch scharf geschliffene Ideen und selbstbestimmte Aktionen. Einige würden sagen, dass etwas getan werden muss. Die Welt wird schlimmer und wir müssen handeln. Sie würden uns sagen, dass wir Dinge tun müssen, die uns das Gefühl vermitteln, dass wir etwas verändern können. Warum, dann, nicht für die Befreiung der Tiere arbeiten? Wenn unsere Aktionen Ausdruck unserer Wünsche sind, liegt die Hoffnung nicht in der Anzahl konvertierter VeganerInnen oder befreiter Hennen. Revolution bedeutet zu aller erst und vor allen Dingen eine Veränderung dessen, wie wir in der Welt zueinander in Beziehung treten – qualitative soziale Veränderung, nicht quantifizierte aktivistische Siege. Wir müssen auf die Appelle an die Herrschenden spucken und uns selbst auf direkte Art für das einsetzen, was wir wollen. Revolution muss eine tägliche Praxis sein, wenn wir irgendein tatsächliches Potential haben wollen. Etwas muss getan werden. Aber wir brauchen Feuer im gleichen Maße wie wir Ideen brauchen20. Um tatsächlich in irgend einer Art soziale Veränderung herbeizuführen, müssen die sozialen Beziehungen über das Festhalten an Ideologien mit ihren falschen Oppositionen hinausgehen, über geschichtete Entscheidungsfindungen und fromme Bekanntmachungen hinaus. Wir wollen etwas davon radikal verschiedenes, eine Welt in der wir frei sein können, so zu leben wie wir wollen. Dies ist nur möglich, wenn wir außerhalb der Rolle der AktivistIn oder der KonsumentIn handeln, ohne politische Parteien mit ihren hohlen Verlautbarungen, ohne nicht-kommerzielle Organisationen mit ihren Kampagnen zu Einzelthemen. Wir müssen BerfreierInnen unserer selbst sein, nicht Sklaven einer Sache, getrieben von religiösem Eifer und ideologischer Blindheit. Diese Kritik an der Animal Liberation kann gleichermaßen auf alle falschen Oppositionen und Missionen übertragen werden – und davon gibt es viele. Wir suchen nicht nach KonvertitInnen, die unsere Sichtweise übernehmen. Wir rufen niemanden dazu auf die Ausbeutung der Tiere zu vernachlässigen oder einfach damit zu beginnen, Fleisch zu essen. Vielmehr wollen wir zu mehr kritischem Denken und analytischen Diskussionen anregen was unsere eigene tägliche Praxis angeht ebenso, wie was die Theorie und Praxis sozialer Bewegungen betrifft. Um uns selbst davon zu befreien in der Scheiße zu wühlen und Scheiße zu fressen, müssen wir zu aktiven TeilnehmerInnen in einem Aufstand gegen Ideologie, Moralismus, Kapitalismus, und den Würgegriff des Staates werden. In einem Wort müssen wir alles zerstören was uns beherrscht, denn die Welt wird immer mehr zu einem gigantischen Drecksgefängnis. Das Elend der industriellen Landwirtschaft und der Versuchslabors ist überall. So sind denn auch unsere Ziele überall. Wir werden die Beziehungen zerstören müssen, die diese Gesellschaft reproduzieren und ihr erlauben zu existieren und mit einem Ungehorsam beginnen, der weder zivil noch verblendet ist. Wie ein toter Guerilla es einmal sagte: Mach kaputt was Dich kaputt macht. Die Welt wird sich entwirren, wenn wir unseren Wünschen freien Lauf lassen. Für uns ist die destruktive Rebellion gegen diese beschissene Gesellschaft die einzige Sache, die irgendein Versprechen auf Befreiung beinhaltet. Wir wollen keine größeren Käfige. Wir wollen sie alle komplett zerstören.
Es sind nicht nur die Tiere, die davon abhängig sind, dass wir sie aus dieser Welt befreien. Wir selbst sind es schließlich, die den Wind der Freiheit in unseren Gesichtern spüren müssen. 1Utilitarismus – Im 18. Jahrhundert aufkommende sozialphilosophische Anpassung der Sichtweise von Gesellschaft an kapitalistische Prinzipien von Nützlichkeit. Auf den ersten Blick scheint die von UtilitaristInnen behauptete gesellschaftliche Zielrichtung „Maximierung des gesellschaftlichen Glücks“ außerhalb des Marktes zu liegen – was sie im Gezerre der gesellschaftlichen Verhältnisse umso tauglicher dafür machte, recht unauffällig in umgekehrter Richtung zu wirken und persönliche wie kollektive Vorstellungen von Glück zu ökonomisieren, d.h. auf die Idee erwirtschaftbarer Erträge zu reduzieren. In der Gründungscharta der USA wird der „pursuit of happiness“ vornehmlich als Recht auf Streben nach materiellem Wohlstand verstanden – eine Formulierung nebenbei, die im Englischen einen klar militärischen Sound hat. 2Für Infos über die Animal Liberation Front ALF: www.animalliberationfront.com. Für Infos zur radikalen Animal Liberation Bewegung: www.nocompromise.org. Für Nachrichten über illegale direkte Aktionen für Tiere: www.directaction.info. Wie üblich quillt das Netz über mit Informationen, vermutlich mehr als ihr je zu irgend einem Thema lesen wollt. 3Dieses Zitat stammt von Albert Einstein. Gruppen wie Vegan Outreach und PETA verwenden dieses und andere berühmte Zitate nicht nur, weil wir diesen verehrten Leuten trauen sollen, sondern um zu beweisen, dass auch sie an Animal Rights glauben und wir es daher auch tun sollten. 4Der weltweite Konsum von Öl beträgt pro Tag 12, 42 Milliarden Liter. Jeden Tag werden mehr als 143 Milliarden Liter Öl übers Meer transportiert. Nicht alles Öl, das ins Meer läuft stammt von Tankern. Einiges davon kommt aus Tanklagern, Pipelines, Förderpumpen, der Reinigung der Tanks von Tankern und anderen Schiffen. In diese Rechnung nicht mit einbezogen sind die Millionen Liter Öl die KonsumentInnen in die Umwelt kippen, einer weiteren Konsequenz des Kapitalismus, der die Kosten für die Natur nicht in die Preise einberechnet [www.environmental-research.com/publications/pdf/spill_statistics/paper4.pdf] 51989 lief die Exxon Valdez im Prince William Sound, Alaska auf Grund. Nahezu 50 Millionen Liter Öl liefen ins Meer. Das Unglück war der Größe nach nur Nummer 34, war aber das größte in US-Gewässern. Massive Umweltschäden führten z.B. zum Tod von etwa 35.000 Seevögeln, 2800 Seeottern, 300 Seehunden, 250 Weißkopfseeadlern, 22 Orkas und Milliarden von Lachsen und Heringseiern, was auch die Fischerei stark in Mitleidenschaft zog. 6Das industrielle Prudukt-Distributions-System ist deshalb wie es ist, weil mit einem Produkt umso mehr Gewinne erzielt werden könen, je größer sein Markt ist. Diese Tatsache demonstriert das Wachstum der Profite durch die Ausdehnung der Märkte von KonsumentInnen im Kapitalismus. 7Die Tatsache, dass die Wahrnehmung von Wahrheit und Moral nicht absolut, sondern relativ sind, sich in den sie für wahr haltenden Personen und Gruppen unterscheiden wird von der Theorie des Relativismus beschrieben. Was in einer Kultur falsch ist, muss es in einer anderen nicht sein. Dies wird von vielen Kulturen überall auf der Welt klar demonstriert. Einige Kulturen waren vegetarisch und einige sind es noch immer. Andere, wie die Inuit, ernähren sich ausschließlich von Fleisch. Die meisten dieser Ernährungsgewohnheiten entwickelten sich aus Umweltbedingungen und der Verfügbarkeit von Ressourcen und wurden zu einer Tradition. 8Ihr findet mehr über Kritisches Denken und das Essay von Chernyi unter… 9Dies lassen die MenschenfeindInnen freilich üblicherweise nicht für sich selbst gelten. Meist sehen sie sich selbst als irgendwie besser und fürsorglicher als die allermeisten anderen. Fortschreitende Misanthropie führt zu [repulsive] Formen der Arroganz. 10Von der ALF Webseite, aus dem Artikel „Fortschritt der Tierrechtsbewegung“ 11Es ist in Kreisen von TierbefreierInnen nicht selten zu hören, dass über den „Ausverkauf“ des Veganismus getratscht wird, sobald einzelne irgendwelche Tierprodukte der ein oder anderen Art essen. Diese Art der Unterhaltung spiegelt nur die Banalität so vieler Unterhaltungen heute, in denen uns die Entfremdung nahelegt vorzuziehen, uns nicht mit der Realität unserer Entfremdung zu befassen. 12Dies soll nicht heißen, dass diejenigen, die für die soziale Umwälzung kämpfen nicht von den Mächtigen verwundet oder getötet würden. Vielmehr hat es einfach nichts befreiendes an sich Strafen als Ausdruck sozialer Kämpfe zu verherrlichen. Märtyrertum ist so scheiße langweilig und unkreativ. Wenn du tot bist, bist du tot. Alle Möglichkeiten und Träume deines Lebens verschwinden dann. 13Affinity – Die Bezugsgruppe autonom/anarchistischer Kreise kommt der affinity group ziemlich nahe. Eine direkte Übersetzung ohne die Gruppe gestaltet sich schon schwieriger: Zumindest potentiell ist affinity kollektiver als die Neigung, politischer als die Zuneigung und auf alle Fälle persönlicher und vielschichtiger als der Bezug. Vielleicht kann das Bild der physikalischen Affinität vereint mit den affektiven Qualitäten der Wahlverwandtschaft eine Ahnung davon geben… 14Es ist wert einen Moment darüber nachzudenken, wie viele Leute sich vom Aktivismus verabschiedet haben, nachdem sie sich wie Opferschafe fühlten. Leute, die ihre Mitangeklagten vor Gericht verraten haben, mögen gemerkt haben, dass lange Haftstrafen nicht das Opfer sind, das sie bereit sind zu bringen. Freilich sind Leute die andere reinreißen nichts desto trotz widerliche Arschlöcher. Aber um so was in der Zukunft zu vermeiden kann es nützlich sein zu versuchen zu verstehen, warum sie zu solchen Entscheidungen gekommen sind. 15Dies wird deutlich wenn wir uns die Trends in der jährlichen Pelztierproduktion in den USA und in Übersee anschauen. Fluktuationen auf dem Pelzmarkt sind zeitweise von Animal Liberation Aktivitäten beeinflusst, einen Rückgang der Pelzindustrie als solche haben sie noch nicht bewirkt. Wenn etwas verkauft werden kann, wird es vermarktet und produziert. Selbst wenn die Pelzindustrie zerstört werden würde, würde eine andere miserable Ausbeutung ihren Platz einnehmen. 16Der Begriff „Straße zu Erfolg, Road to Victory“ kommt aus der britischen Animal Liberation Bewegung, aber das dahinterstehende Konzept trifft genauso auf die nordamerikanische Perspektive zu. Die Idee, dass die ein oder andere erfolgreiche Kampagne in einem irgendwie großartigen Erfolg kulminiert ist, traurigerweise, eine Illusion – vermutlich verbreitet, um sich die völlige Desillusionierung vom Leib zu halten. 17Die Stoppt die Grausamkeit der Jagd, Stopp Hunting Animal Crualty (SHAC) Kampagne ist ein perfektes Beispiel dafür. Sie nutzen verschiedene Formen der Einschüchterung und Bedrohung für das Ziel ein einziges Versuchslabor stillzulegen. PETA arbeitet für das gleiche Ziel, wendet aber Taktiken an, die ihre loyalen Mitglieder nicht abschrecken. Es ist nichts radikales daran, ein einzelnes Versuchslabor zu schließen, wenn ein anderes die Nachfrage einfach erfüllen wird und gleichermaßen damit fortfährt Tiere zu töten. 18Quelle: ALF Webseite 19Das „Biteback Magazin“ (www.directaction.info) und andere sich für Tiere einsetzende, direkte Aktionen befürwortende Gruppen berichten häufig über solche Aktionen ohne sie von Aktionen zu unterscheiden, zu der sich die ALF bekannt. Sehr wahrscheinlich sehen sie jede Aktion, die in diesem Feld unternommen wird als Aktion, die auf Tierbefreiung zielt. Wir hingegen sehen direkte Aktionen für Tiere als positiv, wenn sie nicht mit den idiotischen Zielen der TierbefreierInnen einhergehen. 20Jemand anderes hat diesen feinen Punkt mal gemacht. Leider kann ich ihn oder sie nicht mehr dafür würdigen, denn ich hab vergessen wer es war. Doch bleibt es ein wichtiger Punkt. Praxis ist am stärksten, wenn sie von der Dynamik kritischer Ideen beflügelt wird. Gleichermaßen sind Ideen nur so stark wie ihre praktische Anwendung. Sonst wird Theorie nur zu einer weiteren hohlen intellektuellen Freizeitbeschäftigung.

Vegane Verirrungen

[Anm. d. Hrsg.: Dieser Text wurde uns nach einem anarchistischen Treffen zugespielt, bei dem es aufgrund eines Speiseangebots mit Nicht-Veganen Alternativen zu kontroversen Diskussionen um Ernährung und deren politische Korrektheit gekommen war.]

Warum die industrielle Lebensweise niemals ohne den Massenmord an Tieren funktionieren wird

oder

Ein Ausflug in die Welt des Ökofaschismus

Vielleicht gibt es gar nicht mehr besonders viel zum sogenannten Veganismus zu sagen, seit er dank der neuesten und möglicherweise letzten, “grünen” Phase des industriellen Todesmarschs zur staatlich und kapitalistisch verordneten Leitideologie geworden ist. Doch wie das mit subkulturellen und langjährig identitätsstiftenden Ideologemen innerhalb (vermeintlich) radikaler Szenen so ist, ist es nicht ganz so leicht, sich dieser wieder zu entledigen, wenn sie von der Herrschaft schließlich als zur Rekuperation tauglich angenommen werden. Haben sich erst einmal erfolgreich Identitäten rund um eine bestimmte Vorstellung kreiert, also in diesem Fall die des Veganers, müssen diese Vorstellungen mitsamt all ihrer fauligen Wurzeln herausgerissen werden und das ist ein nicht nur anstrengendes, sondern zuweilen auch schmerzhaftes Unterfangen.

Aber der Ökofaschismus ist in Deutschland bereits an der Macht und es gibt keine Zeit zu verlieren. Die Zeiten in denen man über die Politiker*innen einer Partei, die einst für die Abschaltung von Atomkraftwerken stand, sich heute jedoch für Atomenergie und dafür gegen Fleisch auf dem Speiseplan der armen Bevölkerung stark macht, nur herzlich lachen konnte, sind gewissermaßen vorbei. Nicht weil diese ihre Clownsmaske abgelegt hätten, sondern vielmehr weil ihre hässliche Fratze des Ökofaschismus den Ausgebeuteten heute von den Chefsesseln der Industrie und Regierung ins Gesicht grinst und alles darauf hindeutet, dass uns eben diese Fraktion der Herrschaft in den kommenden Jahren verstärkt gegenüberstehen wird. Aber es soll hier nicht der sehr gut vorhersehbare Werdegang jener Pseudo-Nonkonformisten verstanden werden, die einst mit Strickpullovern und Gummistiefeln in die Parlamente strömten, nur um heute Atomenergie, Windräder, Gasterminals, militärisches Gerät und eine Teuerung von Lebensmitteln zu verantworten und die hiesige Gesellschaft in einen Zustand einer beinahe Generalmobilmachung zu versetzen. Denn während bornierte Politiker*innenarschlöcher den Speiseplan in den Kantinen “ihrer” Lohnsklaven säubern, während diese selbstgefälligen Bonzen ihrer Verachtung für die ausgebeuteten Massen Luft machen, indem sie erklären, dass Lebensmittel ihrer Meinung nach zu billig sind und der dumme Michel durch Teuerungen von Fleischprodukten dazu gebracht werden soll, sich endlich verantwortungsbewusst zu ernähren, während all jene, die begeistert im Gleichschritt der Werbetrommeln dieser mittlerweile krawattetragenden Demagogen tanzen, sich wahlweise darin gefallen, ihren Müll zu trennen, im Biosupermarkt einzukaufen oder ein E-Auto zu fahren und eine Photovoltaikanlage auf dem Dach ihres Eigenheims oder gar ihrer Immobilienanlagen zu installieren, sind wir mit drängenderen Problemen konfrontiert. Denn wenn einem wohlgenährte, bio-gefütterte und aus historischen Gründen vielleicht nicht einmal allzu sehr atomar verstrahlte Bonzen das Fleischessen verbieten wollen, dann drängt sich eine simple Lösung dieses Problems förmlich auf: Eine bestimtme Form des sozialen Kanibalismus, nur eben spiegelverkehrt. Und die Chancen stehen gut, dass eine solche Lebensweise sogar gesünder sein könnte, als der Verzehr von Fleisch aus herkömmlicher industrieller Produktion, auch wenn die Auswirkungen gewisser medizinischer Vergiftungen, die sich solche Leute zumuten sicherlich ebenso in Betracht gezogen werden sollten, wie auch die schlechte Bekömmlichkeit und der störende Geschmack des diesem Nutztier eigenen Snobismus. Aber diese Lösung lässt sich schwerlich auf jene ausdehnen, die zwar vielleicht ein paar Ideologeme mit diesen Leuten teilen, jedoch weitestgehend davor zurückschrecken, diese in einen ausgewachsenen Ökofaschismus zu verwandeln. Man soll mir ja schließlich nicht nachsagen, ich würde es mir leicht machen.

Also widmen wir uns doch jenen, die heute noch die metaphorischen Strickpullover und Gummistiefel tragen, wenn sie die Manege des Streits um die politische Ordnung der neuen/befreiten Welt betreten und diese nicht längst gegen braune Hemden und grüne Armbinden eingetauscht haben. Was haben sie uns zu sagen?

Du sollst kein Fleisch und andere tierische Produkte essen.

Dies ist das zentrale Dogma des Veganismus, eine gewisse Variation von Gebot Nr. 5: Du sollst nicht töten. Wobei hier natürlich gleich der Einfluss der industriellen Gesellschaft deutlich wird. Während die archaische jüdische Gesellschaft bei aller Kritik an ihrer patriarchalen Verfasstheit und ihren vielen anderen autoritären Elementen das Individuum offensichtlich noch als jenseits von Konsumentscheidungen handelnd begriffen hat, liegt dem Veganer-Dogma die eigentlich absurde Vorstellung zugrunde, dass der Verzehr oder, präziser gesagt, der Konsum von Fleisch und anderen tierischen Produkten irgendwie mit dem Akt des Tötens oder der Versklavung von Tieren identisch wäre. Und noch absurder, dass nämlich umgekehrt, der Verzicht auf den Verzehr, bzw. Konsum von Fleisch bedeuten würde, dass Tiere nicht getötet oder versklavt werden würden. Kein Wunder, dass der Veganismus also vor allem unter jenen grassiert, die als Städter sowieso wenig bis gar keinen Bezug zu dem haben, was sie auf ihren Tellern wiederfinden, die um die Ironie perfekt zu machen, sich selbst in der relativen Eintönigkeit des Supermarkt-Gemüseregals ihres Smartphones bedienen müssen, um eine Artischocke von einer Bohne unterscheiden zu können. Man möge ihnen gemäß ihrer selbst gewählten biblischen Dogmensetzung also vergeben, denn sie wissen nicht, was sie tun? Nein, ich bin ja keine Paternalist*in.

Jaja, eigentlich finde ich es konsequent, dass diejenigen, die noch nie der Tötung eines Tieres beigewohnt haben, die noch nie einen Vogel gerupft haben, die nie erlebt haben, wie ein Fisch nach Betäubung durch einen Schlag auf den Kopf ein letztes Mal zuckt, wie ein Huhn steif wird, bevor man ihm mit einem Beil den Kopf abschlägt und sein Körper, während man ihn zum Ausbluten über einen Eimer hält, sich ein letztes Mal aufbäumt, wie man nach dem Schnitt durch den Hals einer Kuh binnen Sekunden beinahe Knöcheltief in Blut versinkt, wenn man es nicht mit dem Wasserschlauch wegspritzt, auch kein Fleisch essen. Genausogut finde ich es nachvollziehbar, dass jene, die einer solchen Schlachtung – und hier ist, wie der kundigen Leserin sicherlich aufgefallen sein wird, die Rede von Hausschlachtungen, nicht von industriellen Schlachtfabriken – einmal beigewohnt haben, fürs erste einmal kein Fleisch mehr essen wollen. Sowieso ist mir ja egal, was jemand isst, ich bin ja kein Ökofaschist. Ich denke außerdem, dass die Schlachtung genannte institutionalisierte Tötung von gefangen gehaltenen Tieren, nichts ist, das es zu romantisieren oder zu beschönigen gilt, sondern notwendigerweise immer auch die Widerwärtigkeit widerspiegelt, die auch der kleinbäuerlichen und heute, in Zeiten begrifflicher Verblödung als “artgerecht” verklärten Landwirtschaft und insbesondere Tierhaltung inne wohnt. Und doch wäre es absurd, nur weil sich der technologisch dressierte Mensch ein paar wenige Gefühlsregungen hinsichtlich der Abartigkeit der industriellen Todesmaschinerie, die seine Spezies stolz als “Errungenschaft” betrachtet, bewahrt hat, die angesichts des Anblicks einer Schlachtung als bloße Sentimentalitäten zutage treten, den nicht weniger abartigen Teil dessen, wovon die Tierhaltung eben bloß ein Element ist, zu vergessen. Der technologisch dressierte Mensch, er schreit auf, wenn er Blut sieht, je mehr, desto schlimmer, aber er ist gänzlich unempfänglich für die unsägliche Vernichtung von Leben, die im wahrsten Sinne des Wortes unblutig vonstatten geht oder deren Blutigkeit am anderen Ende der Welt, vor seinen Blicken verborgen, stattfindet.

Und aus dieser bestenfalls als halbgar oder auch medium raw zu bezeichnenden Analyse, die jene vor sich hertragen, die sich Veganer*innen nennen, resultiert zugleich eben auch die faktische Unterstützung der weniger offen – z.B. weil weniger blutig – zutagetretenden Vernichtung von Leben als “geringeres Übel”. Ich will hier der Kürze wegen und weil ich denke, dass mein Punkt dabei schon verstanden werden wird, grob schematisieren:

  • Landwirtschaft zur ausschließlichen Erzeugung von pflanzlichen Produkten wird gängigerweise als die Alternative einer Landwirtschaft mit Viehhaltung betrachtet. Dabei wird sich die kundige Leserin freilich unmittelbar fragen, wie das so universell funktionieren soll. Zumindest ohne dabei auf synthetisch hergestellte – und seit wann wären synthetische Produkte unabhängig von der Versklavung von Tieren, sei es zu experimentellen Zwecken oder weil der Herstellungsprozess auf tierisches Gewebe oder andere tierische Erzeugnisse angewiesen ist oder weil die zur Herstellung benötigte Maschinerie ohne die Versklavung von Tieren nicht denkbar wäre – Düngemittel zurückzugreifen, wie sie von der Agroindustrie für die industrielle Landwirtschaft vermarktet werden. Aber selbst wenn man diese Frage einmal beiseitelässt, ignoriert, dass von Demeter-Landwirtschaft bis hin zu selbst den meisten praktizierten Formen von Permakultur, immer auch die Gefangenschaft und Versklavung von Tieren integraler Bestandteil von eigentlich jeder Form nicht-industrieller Landwirtschaft ist, bleibt vor allem ein Makel: Landwirtschaft erfordert immer auch die Bekämpfung von tierischen “Schädlingen”, sprich von Tieren, die das was dort angebaut wird, auch gerne essen und die verhältnismäßige Futterdichte auf Feldern gerne für sich nutzen, sich dabei auch vermehren und schließlich regelrecht zur Plage für die Landwirte werden. Diese Bekämpfung findet heute unter anderem in Form von Insektiziden (die entweder bestimmte oder gar wahllos alle Insekten töten, die mit einer entsprechend behandelten Pflanze in Berührung kommen), dem Abschuss oder auch “der Entnahme” von Wild, das sich einen Bissen von den angebauten Leckereien gönnt, sowie der präventiven Regulierung des Wildbestands durch Jäger, Anwendung. Durch den Anbau von pflanzlichen Nahrungsmitteln werden also sowohl Millionen von Insekten getötet, als auch abertausende Tiere geschossen oder mithilfe von Fallen gejagt und getötet oder vergiftet und bis heute wurden zahlreiche Tierarten wegen ihrer “Schädlichkeit” für die Landwirtschaft ausgerottet oder an den Rand der Ausrottung gebracht bzw. lokal vollständig vernichtet, darunter nicht nur der Wolf und der Bär, die sogenannte “Nutztiere” reißen, sondern auch Fasane und Rebhühner, zahlreiche andere Vögel, regional Wildschweine, Feldhasen, Gämse, und viele mehr, allesamt Fresser von pflanzlichen Agrarprodukten. Auch lange ausgestorbene Arten wie wilde Rinderarten, z.B. Auerochsen, oder das so gut wie ausgestorbene Wiesent zählen zu den Opfern von Landwirtschaft. Neben dem gezielten Abschuss von Wildtieren, die landwirtschaftliche Erzeugnisse fressen trägt auch die Umwandlung von unbewirtschafteten oder weniger intensiv bewirtschafteten Flächen in Agrarland enorm dazu bei, dass ganze Tierarten aussterben, weil ihr Lebensraum vernichtet wird oder auf eine zu geringe Fläche zusammenschrumpft.
  • Technologische Innovationen auf dem Gebiet der Landwirtschaft, aber auch allgemein in der Lebensmittelindustrie sollen Tierhaltung angeblich unnötig machen. Das lässt natürlich – wie könnte es anders sein – außen vor, dass gerade auf dem Gebiet der Lebensmittelindustrie Tiere auch als Versuchsobjekte genutzt werden, um die Verträglichkeit eines Produkts oder eventuelle Langzeitfolgen von dessen Verzehr zu “testen”. Diese technologischen Innovationen sind also alles andere als unabhängig von der Versklavung und auch Ermordung von Tieren. Zudem werden durch technologische Innovationen auf dem Gebiet der Landwirtschaft nicht nur immer größere Teile der unbewirtschafteten Lebensräume von Tieren vernichtet, sei es durch deren Bewirtschaftung oder deren Vergiftung mittels Pestiziden, Düngemitteln, Verklappung von Industriemüll, usw., sondern allzu oft bestehen diese technologischen Innovationen auch darin, neue Methoden zur Vernichtung von Tieren, die als Schädlinge betrachtet werden, zu schaffen. Eine teilweise zur “leidfreien” Produktion von Fleisch auch von sogenannten Veganer*innen beworbene Methode besteht darin, dass das tierische Leben soweit weiter verstümmelt werden soll, dass das Steak in Zukunft gleich formgerecht in der Petrischale heranreifen soll, anstatt dass dafür erst ein Tier aufgezogen werden müsste. Wie man glauben kann, dass die biotechnologische Verstümmelung des Lebens weniger leidvoll sein soll, als selbst die niederträchtigste Versklavung eines gefangenen Tieres, müsste dabei eine*r der Fürsprecher*innen einer solchen Methode selbst beantworten; ich jedenfalls kann mir das nur mit der offensichtlich totalen Verblödung solcher Leute erklären.
  • Immer wieder und ständig wechselnd werden bestimmte Nahrungsmittel als Superfood entdeckt, die alle nicht leugnenbaren Probleme einer veganen Ernährung innerhalb der industriellen Nahrungsproduktion (Mängel, für die bspw. Vitamintabletten geschluckt werden müssen) – und natürlich heißt das nicht, dass eine nicht-vegane industrielle Ernährungsgrundlage nicht ebenfalls ihre Probleme hätte – angeblich aus der Welt schaffen würden oder die auch nur dem unerklärlicherweise vorhandenen1 Bedürfnis von vielen Veganer*innen nach Fleischersatzprodukten abhilfe verschaffen. Dadurch kommt es nicht selten zu regelrechten Umwälzungen der Landwirtschaft, aber selbstverständlich weniger in der westlichen Welt, sondern vor allem in den Kolonien des westlichen Ernährungssystems. Die dort errichteten Plantagen zum Anbau von sowohl exotischen Nahrungsmitteln, als auch von pflanzlichen Rohstoffen, die der industriellen Weiterverarbeitung zu Fleischersatzprodukten und ähnlichem dienen, werfen nicht nur schwerwiegende Umweltprobleme in diesen Regionen auf, darunter Zerstörung von Wäldern, Wassermangel, Umweltvergiftungen, usw., sondern auch soziale Probleme, die in Hunger, Kriegen, Völkerwanderungen und immer wieder auch in Genoziden enden. Sicher sind die spezifisch für Veganer*innen angebaute Nahrungsmittel nur einer von vielen Ursachen dafür, klar ist jedoch, dass auch derlei Folgen des um sich greifenden Veganismus nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden können und die allgemein vorherrschende Ignoranz von Veganer*innen diesem Leid von Menschen gegenüber als völlig widersprüchlich zu deren seltsam humanistisch anmutenden Interesse am Leid von Tieren betrachtet werden muss.

Mal angenommen die Versklavung von Tieren würde tatsächlich abhängig sein, von einer Konsumentscheidung, wie es die Veganer*innen letztlich theoretisieren – was ich angesichts der zahlreichen alternativen Verwertungsmöglichkeiten von Tieren und angesichts dessen, dass sich Tierbestände in der Viehhaltung schon heute nicht nach der Nachfrage danach richten, erheblich bezweifeln würde, aber darum soll es hier nicht gehen –, so wäre die moralistische Haltung eine vegane Lebensweise würde weniger Tierleid erzeugen – und sei daher ein allgemein anzustrebendes Ideal – alleine aus oben genannten Gründen vollkommen verlogen und heuchlerisch. Denn die Millionen und Milliarden Tiere, die infolge der Landwirtschaft pflanzlicher Nahrungsmittel getötet und verstümmelt, ausgerottet, vertrieben, an den Rand ihrer Fortexistenz und in ihrem Bestand kontrolliert werden, werden bei einer solchen Behauptung schlicht unterschlagen. Das ist insofern kaum verwunderlich, als dass sich schon bei einer Betrachtung dessen, wer sich dazu entscheidet Veganer*in zu werden, offenbart, um was für eine Art von Ideologie es sich hier handelt. Neben einer guten Hand voll politischer Wirrköpfe für die immerhin zutrifft, dass sie sich zu einem nicht geringen Anteil an den Akademien selbst herumtreiben oder aber im Dunstkreis derjenigen, die dies vornehmlich tun, handelt es sich bei der Mehrzahl der Veganer*innen um Angehörige wohlhabender Bevölkerungsschichten. Es ist im Grunde das gleiche Klientel, das seit einiger Zeit damit auffällt, dass es nicht nur Bio-Lebensmittel mit Vorliebe kauft, sondern auch andere Leute, denen das Geld fehlt, dieser Vorliebe nachzugehen, dafür beschämt. Jenes Klientel, das angesichts der dramatischen ökologischen und sozialen Auswirkungen eines Systems zu deren Kollaborateur*innen sie sich zählen müssen, Zuflucht bei “ökologischen”, “fairen”, “plastikfreien”, “biologischen”, “nachhaltigen” Konsumentscheidungen sucht. Kein Wunder. Denn das System jenseits solch (bestenfalls) reformistischen Quarks zu hinterfragen würde auch bedeuten, der behaglichen Sphäre des konformistischen (Bildungs-)bürgertums zu entsagen und nach wahrhaft konfrontativen Wegen zu suchen, die Herrschaft anzugreifen.

Die einzige Möglichkeit Veganismus vor diesem Hintergrund einer Ideologie des immer weiter um sich greifenden Ökofaschismus zu entziehen, bestünde meines Erachtens darin, ihn gegen das industrielle System selbst, zumindest aber gegen dessen kommerzielle Sphäre zu richten. Das kann niemals durch eine Kaufentscheidung gegen dieses, jedoch für jenes Produkt funktionieren, sondern nur durch den totalen Boykott des industriellen Systems selbst. Eine Möglichkeit dies zu erreichen wären beispielsweise Plünderungen von Lebensmitteln und deren (Ver-)teilung. Bio-Ernährung für alle, sozusagen. Kostenlos. Allerdings wäre dabei irrelevant, ob es sich bei den geplünderten Lebensmitteln um vegane oder nicht-vegane Lebensmittel handelt. Eine andere und gleichzeitige Möglichkeit wäre der aufrichtige Auszug aus diesem industriellen System, der nicht darin bestehen kann, aufgrund des Eigentums an Land irgendeine Nische innerhalb dieses Systems für sich zu finden, sondern ausschließlich in der auch gegen Eigentum gerichteten individuellen und kollektiven Aneignung des Territoriums bestehen könnte, also in der Besetzung von Land, auf dem dann ein nicht-landwirtschaftlicher, nicht-kommerzieller Anbau oder auch eine andere Lebensweise verfolgt werden kann, während dieses Territorium dem industriellen System dauerhaft entzogen bleibt, d.h. gegen die staatliche Rückeroberung verteidigt. Sicherlich sind auch andere Möglichkeiten denkbar … Veganer*innen jedoch, die keine derartigen radikalen (Auf-)Brüche vorzuschlagen haben, sondern allen Widersprüchen zum Trotz daran festhalten, die individuellen Handlungsmöglichkeiten auf Konsumentscheidungen einzuengen und als einzige Perspektive folglich die soziale (und oft auch repressive) Erzwingung der veganen Ernährung der Bevölkerung haben, sind ebenso reformistisch wie jene Politiker*innen, die uns mit ihrem Ökofaschismus in den kommenden Jahren noch den letzten Rest an Appetit vermiesen werden – und der Massenmord an Tieren, Menschen und Lebewesen im Allgemeinen wird obendrein unverändert weitergehen.

Begriffserklärungen

Es ergibt sich zwar aus der (insbesondere) wiederholten Verwendung im Text, aber um Missverständnisse zu vermeiden, seien hier drei Begriffe noch einmal präzisiert:

Veganismus

Eine zur “Lebensweise” erhobene Ernährungsweise innerhalb des Industriellen Systems und folglich eine Ideologie, die darauf basiert, auf tierische Produkte (im Bereich Nahrungsmittel und oft auch in ein paar wenigen anderen Bereichen wie Kosmetik, Haushalt, Bekleidung) dogmatisch zu verzichten. Die Definitionen des Umfangs dieses Verzichts variieren zum Teil stark, können aber bei genauerer Betrachtung eigentlich niemals Geltung für sich beanspruchen.

Veganer*in

Eine*r, die kein Fleisch und keine anderen Produkte, die unmittelbar aus Tierhaltung resultieren (eigentlich niemals ohne Ausnahmen, dafür oft gepaart mit der offensichtlich verlogenen Behauptung auch auf mittelbare Produkte aus Tierhaltung zu verzichten) verzehrt und daraus eine gewisse Obsession macht, die weit über ein informatorisch relevantes (z.B. weil jemand so freundlich ist, für diese Person mitzukochen und dabei Rücksicht auf deren Essgewohnheiten zu nehmen), sowie kommunikativ übliches Maß hinaus Bestandteil von Gesprächen dieser Person wird. Wesentlicher Beweggrund für den Produkt-Verzicht von Veganer*innen ist die moralische und leider auch irrtümliche Vorstellung, dass die eigenen Kauf-, bzw. Nicht-Kauf-Entscheidungen eine relevante Auswirkung darauf hätten, ob Tiere innerhalb des industriellen Systems versklavt werden oder nicht. Veganer*innen sind in der Regel missionarisch, d.h. sie versuchen direkt und indirekt andere davon zu überzeugen, sich der Ideologie des Veganismus (siehe oben) anzuschließen.

Ökofaschismus

Die politische Überzeugung, dass ganz bestimmte, industrielle und vor allem nur vermeintliche Lösungen für vom industriellen System verursachte ökologische Probleme, anderen mit autoritären Mitteln gegen ihren Willen aufgezwungen werden müssen, wenn diese nicht freiwillig aus eigenem Antrieb auf die gleichen “Lösungen” setzen. Eine wichtige Ökofaschistische Partei im deutschen Bundestag sind die Grünen. Beispiele für ökofaschistische Projekte sind die diversen CO2-Einsparungsverordnungen, die Mülltrennung in Deutschland, sowie der staatlich subventionierte und geförderte Veganismus.

Anmerkungen

1 Ganz so unerklärlich ist dieses Bedürfnis natürlich nicht. Es wird nicht nur aktiv von einer sich diversivizierenden Fleischindustrie geweckt, sondern dürfte mitunter auch aus Mängeln, die sich eben möglicherweise als Lust auf Fleisch einen Weg ins Unterbewusstsein bahnen, sowie kulturellen Essgewohnheiten und -gebräuchen resultieren.

Aktualisierte Neuauflage der Broschüre „Erhobenen Hauptes, Flammenden Herzens“

Letzten September erschien eine Broschüre in Solidarität mit dem Anarchisten Boris, der viele Texte rund um seinen Fall sowie Texte zum Kampf gegen Digitalisierung und technologische Herrschaft, an dem auch Boris Teil hat und der ihn in die Fänge der Repression brachte, versammelt. Nun gibt es eine aktualisierte Neuauflage, da kürzlich ein erneuter Aufruf zu seiner Unterstützung verbreitet wurde, zum am Bildschirm Lesen oder selbst Ausdrucken.

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