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Reformgruppe der Reformgruppe Süd-Ost – Für einen neuen Aufbruch in die Fröste der Freiheit

AutorIn: Reformgruppe der Reformgruppe Süd-Ost Titel: Für einen neuen Aufbruch in die Fröste der Freiheit Untertitel: [Erste Fassung] Datum: 2009 Bemerkungen: Ein Diskussionspapier für für den autonom kongress 2009 (vom 9. bis 11. Oktober) in Hamburg. Quelle: Entnommen am 19.05.2023 von http://autonomerkongress.blogsport.de/images/diskussionspapier_froestederfreiheit.pdf
Die Zeit der Selbstvergewisserung muss ein Ende haben.
Einige empfinden unseren Tonfall möglicherweise als harsch. Das kann er leicht werden, wenn es um geliebte Menschen geht, um diejenigen, mit denen wir in der Vergangenheit eine Menge befreiende Überlegungen angestellt und Wege ausprobiert haben, uns und die Welt zu verändern. Gemeinsame Versuche, die uns, so klein sie auch gewesen sein mögen, mehr als nur am Herzen liegen. Falls die eine oder andere Kritik euch trifft, versucht das im Kopf zu haben und geht nicht gleich in Verteidigungsstellung. Wir wollen weiter miteinander, sonst gäbe es diesen Text nicht. Wir wollen uns die Mühe machen, uns zusammenzuraufen. In einer gemeinsam geführten Debatte am Anfang des Treffens herauszufinden, welche Ideen, Kritiken und Vorschläge für das »Wie weiter?« im Raum sind, und wie wie wir diese praktisch zu einer Diskussion zusammenzuschrauben können. Schließen sich manche Positionen tatsächlich aus, dann sollten wir das feststellen und entsprechende Schlüsse ziehen: Das kann auch heißen, sich zu trennen. Es kann einen Punkt geben, an dem der gemeinsame Grund uns wie Sand durch die Finger rinnt, eine gemeinsame Diskussion nirgendwo mehr hinführt als in die übliche traurige Wüste. Die GenossInnen, die den Kongress vorbereitet haben, haben klar gemacht, dass sie keine ExpertInnenrunden wollen zu einzelnen Themen, kein Podium. Wir würden hinzufügen: Kein bezugsloses, und vor allem folgenloses Nebeneinander immer wieder neu entdeckter Widersprüche. Fast 20 Jahre nachdem der Text »3:1 - Klassenwiderspruch, Rassismus, Sexismus« das Problem der Tripple Oppression in unseren Kreisen aufgeworfen hat, können wir uns nicht länger darin ausruhen, stets aufs Neue zu beschreiben, dass es den einfachen Hauptwiderspruch nicht gibt. Die Erkenntnis allein reicht nicht, das Problem liegt sowohl in der Aufsplitterung in Teilbereiche und dem daraus entstehenden SpezialistInnentum, als auch darin, dass diese Puzzelstückchen danach nicht wieder zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. Aber auch das ist irgendwie nicht alles. Wir schaffen es hier nur ein paar Schwierigkeiten anzureißen. Auch sind wir zu wenige, um das auf umfassendere Weise tun zu können. Auf dem Kongress in Hamburg sind wir zu mehreren, wenn es gut läuft könnten wir stellenweise so etwas wie kollektive Intelligenz entwickeln. Denn nur so kann es funktionieren, die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven einzubeziehen. Aber auch ein Wochenende ist zu kurz, um wirklich eine umfassendere Strategie auszuhecken. Was ist Kritik auf Höhe der Zeit? Wie mogeln sich manche von uns mit einem »Zerstört alles!« bisweilen darum herum, dass Staat und Kapital Gesellschaftlichkeit an sich nicht abschaffen wollen, sondern alle unkontrollierte Kollektivität nur deshalb in kleine Stückchen zerschlagen, um sie in ihrem Sinne wieder zusammenzusetzen? Transformation eben. Wie mogeln sich andere von uns mit immer ausgefeilteren Aufschlüsselungen dieser Prozesse nicht weniger einseitig darum herum, entsprechend dieser Erkenntnisse zu handeln? Ziel des Kongresses könnte sein, sich auf zwei bis drei Fragen zu einigen, die wir alle im Lauf des kommenden Jahres diskutieren. Daran geknüpft eine konkrete Struktur für diese Diskussion zu entwickeln, was nichts anderes heißt, als einen Organisierungsvorschlag zu entwickeln: lokale und überregionale Treffen, haufenweise Diskussionszirkel,kritische Rückkopplung der Diskussionen an unser eigenes Handeln, Einigung auf einen Debattenkanal. Wie verallgemeinern wir die Diskussion, wie verbreiten wir unsere Ideen und Texte, die wir wichtig finden, um zu einer gemeinsamen Basis zu kommen und unser Wissen zu kollektivieren, um überhaupt über das Gleiche diskutieren zu können. Uns schwebt zum Beispiel vor, Texte und weitere Diskussionspapiere aus diesen Zirkeln – aber auch aus anderen – in regelmäßigen Abständen in unseren Medien zu veröffentlichen. Wir sind ohnehin der Ansicht, dass wir mehr Zeit und Energie in unsere eigenen Ausdrucksformen und -mittel investieren sollten, statt uns der bürgerlichen Berichterstattung anzubiedern. Ein solcher Organisierungsvorschlag beinhaltet auch,über potentielle WeggefährtInnen nachzudenken. Es gibt diverse Leute, die wir auf der Straße treffen, die sich in unseren Strukturen aber nicht wiederfinden. Unsere selbstorganisierten Strukturen sind oft geschlossen und wirken elitär. Man muss schon eine ganze Menge »klar haben«, die Codes kennen und sich dementsprechend verhalten, um akzeptiert zu werden. Ebenfalls gibt es vermutlich Leute, mit denen wir gerne diskutieren würden, fühlen sich von der Definition autonom vermutlich nicht angesprochen. Wir selbst sind hin und her gerissen: Autonome stehen für eine weitgehende Abkapselung von der Gesellschaft – und paradoxerweise zugleich für lebhafte Kontakte zu Grünen und Linkspartei, für Pressekonferenzen und Stiftungswesen. Andererseits stehen Autonome noch immer für eine gewisse Entschlossenheit und Unversöhnlichkeit dem Staat und dem Kapitalismus gegenüber, für die Konfrontation auf der Straße, für alle sichtbar militant im Schwarzen Block oder auch als Unsichtbare in der Nacht. Sie stehen für Strategien der Provokation und eine Perspektive der Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse - aber auch immer für die Suche nach dem ganz anderen Ganzen. Für die Schaffung und kämpferische Wiederaneignung von Beziehungen, Freiräumen und Strukturen, die sich staatlicher Kontrolle nach Möglichkeit entziehen, um aus diesen Fäden perspektivisch ein ganz anderes soziales Gewebe zu schaffen. Wenn es das ist, was Leute noch immer mit dem Begriff Autonomie verbinden, dann finden wir das gut.

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Anonym – Weder Sieg noch Niederlage

AutorIn: Anonym Titel: Weder Sieg noch Niederlage Datum: 15. Juli 2018 Bemerkungen: Originaltitel: „Sans victoire ni défaite“ erschienen in „Avis de Tempetes - Bulletin anarchiste pour la guerre social“, Nr. 7, 15 juillet 2018. Englische Übersetzung in „The Local Kids“, Nr. 2, Autumn 2018. Übersetzt aus dem Englischen, überarbeitet mit dem französischen Original. Quelle: Entnommen aus: „In der Tat – Anarchistische Zeitschrift“, Nr. 2, Hamburg, Januar 2019, S. 1-4.
Die Anarchisten haben immer schon verloren, niemals etwas gewonnen“. Nicht selten hört man diese Worte, auch aus den widerwilligen und reuigen Mündern von Feinden der Autorität. Diese sehr endgültigen Sätze beenden so manche Diskussion über aktuelle Kämpfe und tauchen quasi unvermeidbar in den Diskussionen über die Beiträge von Anarchisten zu vergangenen Aufständen, Unruhen und Revolutionen auf. In grüblerischer Bitterkeit denken wir an die siegessicheren Milizionäre, die im Juli 1936 von Barcelona auszogen. Ein nostalgischer Seufzer, der uns direkt in die Melancholie führt – charakteristisch für so viele Anarchisten – um mit den fatalistischen Worten eines berühmten Sängers zu schließen: „Wir verlieren immer, wir sind die schwarzen Schafe der Geschichte.“ Dennoch, auch wenn die Hoffnung immer wieder in der Lage war, ihre liebevollen Herzen zu entzünden, sollten wir nicht vergessen, dass viele Reisen der Anarchisten von Verzweiflung begleitet waren. Verliebt in die Idee und mit mindestens ebenso starkem Hass auf die Unterdrückenden. So ging mit der leidenschaftlichen Liebe, die ihre Leben in Brand setzte, ein grausamer Hass einher, der ohne Rücksicht und Skrupel das Blut von Tyrannen, ihren Lakaien und Verehrern zu vergießen imstande war. Aber warum sprechen wir in der Vergangenheitsform? Haben sich dieses Universum, dieses Vokabular, diese innere Welt der Anarchisten wirklich verändert? Sind nicht während der Aufstände Hunderttausender gegen die Herrschenden vieler Länder, dem sogenannten „arabischen Frühling“, die Hoffnungen wieder entflammt? War es nicht die Verzweiflung, diese Aufstände durch eine mannigfaltige Reaktion niedergeschlagen zu sehen, die viele von ihnen wieder bewaffnete, um abermals zuzuschlagen? Der Fatalismus lauert an anderer Stelle, wie wir sehen werden… Wenn die anarchistische Idee die Zerstörung der Autorität und der auf ihr begründeten sozialen Beziehungen vorschlägt, impliziert das nicht notwendigerweise den Glauben an den berühmten, irreversiblen „Anbruch der Freiheit“. Tatsächlich ist die Anarchie, entgegen der Logik von Sieg und Niederlage, vor allem eine Spannung, eine praktische Idee, die fortwährend auf der Zerstörung der Macht beharrt. Das hat mit „Glauben“ nichts zu tun. Wenn der Horizont der Anarchie nicht bei der Revolte endet, sondern sich in Richtung der sozialen Revolution öffnet, dann weil jegliche Macht zerstört werden muss – und dafür reicht eine Aneinanderreihung individueller Revolten nicht aus. Sicherlich, wer von der „sozialen Revolution“ spricht und von der individuellen Revolte schweigt, hat einen Kadaver im Mund und wird sich vermutlich als einer der ersten das Maul zerreissen, wenn ein Individuum – oder eine Handvoll Individuen – Ideen und Praxis zu verbinden wissen. Allerdings davon auszugehen, dass die Perspektive einer sozialen Revolution bedeuten muss, dem blinden Glauben an eine endgültige Lösung zu verfallen, führt uns nur wieder in die gleiche Logik von Sieg und Niederlage und verneint jegliche Spannung – oder adaptiert den gefährlichen marxistischen Determinismus (wegen dem die kommunistischen Proletarier im letzten Jahrhundert das schlimmste ausgehalten haben, ganz im Geiste der „unvermeidbaren historischen Notwendigkeit“). Wenn ein Aufruhr, ein Aufstand imstande ist, die Spannung in Richtung der Freiheit zu akzentuieren, zu vertiefen und möglicherweise sogar zu generalisieren, warum sollten wir darauf verzichten diesen Prozess zu beschleunigen, anzutreiben? Können wir im Angesicht der historischen Amnesie, der technologisierten Abstumpfung und der Verflachung von Herz und Bewusstsein nicht umso mehr auf der Notwendigkeit und den Verlockungen der Revolte beharren, sie als begehrenswerter denn je verteidigen, um den Dingen wieder eine Perspektive zu verleihen? Der Refrain über die veränderten materiellen und sozialen Bedingungen, die in der Tat nicht mehr die gleichen sind wie zu Anfang des letzten Jahrhunderts, oder die angeblich finale Überlegenheit des Staates bringen die Diskussion allzu häufig zum Erliegen, anstatt sie voranzubringen. Die Anarchisten wurden melancholisch, bis zu einem Punkt, an dem sie nur noch die Hindernisse auf ihrem Weg sehen, dadurch vergessend, dass es darum gehen muss, ihnen eigenhändig im Hier und Jetzt eine anarchische Perspektive entgegenzustellen. Andernfalls würde es weder Kampf noch Revolte noch irgendetwas heißen ausser – im marxistischen Jargon gesprochen – dem alten, langsam sterbenden Maulwurf beim Graben zuzusehen. ([Anm. aus der englischen Version] Der „alte Maulwurf“ war eine von Marx in einer Rede gebrauchte Metapher für die sozialen Kräfte, die an der Revolution wirken).
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Doch lasst uns zur ursprünglichen Frage zurückkehren – sind die Anarchisten, mit ihrer Idee der Freiheit und der Zerstörung der Autorität, zum Scheitern verurteilt? Dazu verdammt, zuzusehen, wie all ihre Mühen, Opfer und Initiativen dahingerafft werden, in verhältnismäßig friedlichen wie revolutionären Zeiten? „Es war schon immer so“, sagen die Pragmatischen. „Man soll eben nicht an die Massen oder die Revolution glauben“, sagen die Zynischen. Nichtsdestotrotz mag eine weitere Möglichkeit den Anarchisten näher sein: Im Gegensatz zu Katzen haben wir nur ein Leben, und wir wagen zu behaupten, dass es in diesem einen Leben darum geht, zu kämpfen, diese Spannung hin zur Zerstörung der Autorität zu leben. Wir realisieren uns selbst, wir werden wir selbst, indem wir uns bewegen und indem wir Pfade beschreiten, für die wir uns selbst entschieden haben. Es ist die Qualität, die in unser Leben eindringt, die Qualität von Handlungen und Ideen, die zusammenkommen. Sieg oder Niederlage haben nichts verloren, wo es nur Beharrlichkeit oder Aufgabe, Durchhalten oder Resignation, leidenschaftliche Liebe und Hass oder politische Auslöschung gibt. „Zu Handeln bedeutet nicht bloß mit dem Hirn zu denken – es geht darum, das ganze Wesen zum Denken zu bringen. Zu Handeln bedeutet, sich dem Traum zu verschließen, um sich der Wirklichkeit zu öffnen, wo die tiefreichendsten Quellen zum Wissen zu finden sind“, sagte Maeterlinck. In der Tat Träumen Anarchisten mit weit geöffneten Augen – und bewaffnen so ihre Leidenschaften, Überzeugungen und Entscheidungen, um sie zu realisieren. Es kann passieren, das andere Ausgebeutete, nachdem sie ihren Durst nach zerstörerischer Wut gestillt haben, zum Anbeten von Führern zurückkehren, sich wieder einem Gott beugen und eine neue Macht festigen. Das kann passieren, und die Reaktion wird alles tun, um dies geschehen zu lassen. Aber das macht den ursprünglichen Versuch, die Brüche zu vertiefen, die Autorität an ihrer Wurzel zu zerstören, nicht zunichte. Auch wenn es sich bloß um einige Tage, Wochen oder Monate handelt. Diese Gelegenheit diese Aufregung zu erleben, in voller Qualität zu Leben kann gar nicht anders als die leidenschaftlichen Liebhaber der Freiheit anzuziehen.

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Xosé Tarrío – Hau ab, Mensch

AutorIn: Xosé Tarrío
Titel: Hau ab, Mensch
Datum: 1998
Bemerkungen: Originaltitel in spanischer Sprache Huye, hombre, huye - Diario de un preso FIES
Erste Auflage 1997 bis Vierte Auflage 2007: Virus Editorial, Barcelona
Übersetzung ins Deutsche: David
Dezember 2007
Quelle: Entnommen aus „Xosé Tarrío: Hau ab, Mensch“; mit einem Vorwort von Gabriel Pombo da Silva und einem Interview mit den Müttern beider im Anhang, FUNDACION XOSE TARRIO P.O. Box 942; S.9-399.
Vorwort

Bakunin sagte, die Rebellion des Individuums gegen die Gesellschaft sei viel schwieriger als die Rebellion gegen den Staat, denn die Gesellschaft absorbiere das Individuum, dringe in es ein, umgarne es mit ihren Bräuchen und ihrer Moral, von Geburt an bis zum Tode.

Er sagte auch, unter tausend Menschen finde sich kaum einer, der eigene Maßstäbe besitze. Systematischer Disziplinierung unterworfen, mal subtil und dosiert, mal bestialisch und grausam; auf von der Herrschaft vorgeschlagene und definierte Ideen und Interessen konditioniert, physisch und mental erstickt, verweigert man dem Individuum ein Bewusstsein seiner selbst und seiner unwahrscheinlichen Möglichkeiten.

Diese Vorgaben internalisiert das Individuum dergestalt, dass sie sich auf die Entwicklung der Persönlichkeit auswirken, sich auswirken auf die Fähigkeit zur Reaktion auf die verschiedensten Situationen, denen sich das Individuum ausgesetzt sieht, das heißt, es wird diese Vorgaben überall mit hinschleppen, wo es interagiert.

Als die GenossInnen auf der Halbinsel mich darum baten, ein Vorwort zu dieser ersten deutschsprachigen Auflage des Buches von Xosé Tarrío zu schreiben, gestehe ich, dass mir viele Zweifel kamen: Was sollte ich schreiben? Wo anfangen? Ich denke, Xosés Buch bedarf keinerlei Einleitung, es spricht für sich selbst. Da mein Freund aber ermordet wurde, und sein Zeugnis uns dazu dient, die Realität im Gefängnis in ihrer ganzen Bandbreite aus der Nähe kennen zu lernen, kann ich diese Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, um einigen die Ehre zukommen zu lassen, die ihnen gebührt, und zwar denjenigen, die diese Realität nicht gleichgültig gelassen hat und die bis heute in Veröffentlichungen und Aktionen für das Ende dieses barbarischen Systems kämpfen, das uns alle zu weniger menschlichen und zivilisierten Wesen macht.

Das Buch Hau ab, Mensch öffnete vielen Personen und Kollektiven auf der iberischen Halbinsel die Augen. Niemand konnte oder wollte glauben, dass im »postfranquistischen« Spanien des so genannten »demokratischen Übergangs« die Folter andauerte, die das totalitäre Regime von Generalissimo Francisco Franco traurig berühmt gemacht hatte. Was viele nicht wahrnehmen oder verstehen wollten war, dass eine Diktatur nicht am Ende ist, weil ihr herausragendster Kopf stirbt. Die Diktatur ist ein System, in dem die Institutionen (speziell die repressiven) von straffen Parteigängern derselben geführt werden.

Und so war das, was wir im Gefängnis vorfanden, eine Legion Faschisten, in den Anstalten der »Demokratie«. Die Geschichte von COPEL inspirierte uns in gewisser Weise dazu, einen Kampf aufzunehmen, den wir von vornherein verloren wussten.

Viele Gefangene, die heute Kontakt zu Strafvollzugsgerichtsbarkeit, vis-a-vis-Besuche, Telefongespräche, Radioapparate und andere »Grundrechte« genießen, haben vergessen, dass all diese »Rechte« in Wirklichkeit Erfolge und Frucht der Kämpfe tausender Gefangener sind, die sich um COPEL organisierten. Überflüssig in Erinnerung zu rufen, dass diese Rechte uns viel Blut und Tränen gekostet haben.

Viele Kämpfe, die wir damals verloren glaubten, inspirierten nachkommende Generationen. Es gibt Verluste, die keine Niederlage bedeuten und Niederlagen, die uns dabei helfen können zu gewinnen.

Xosé war davon überzeugt, dass sein Buch den sofortigen Effekt zeigen würde, der spanischen Gesellschaft die Augen zu öffnen. Er vergaß, dass jeder Prozess Zeit braucht, Bewusstsein, Arbeit und Hingabe, um von anderen verstanden und verinnerlicht zu werden. Vielleicht war er es auch selbst, dem es an Zeit fehlte, besessen wie er war von dem verdammten Virus, das in seiner Blutbahn zirkulierte.

Xosé kam nach vielen Jahren aller möglicher Folter heraus. Er dachte, jetzt, da er frei war, konnte er noch viel mehr zum Kampf gegen das Gefängnis beitragen, in Antirepressionsgruppen. Doch seine Hoffnungen erfüllten sich nicht; er fand keine starke, bewusste Bewegung, organisiert und bereit, ernsthaft gegen eine derart perfekt geölte und wirksame Maschine zu streiten.

Nichtsdestotrotz fuhr er von einem Ende der Iberischen Halbinsel zum anderen, um über FIES zu reden, über die Folter und alles das, was er wusste vom Faschismus dieser Unterwelt.

Wenig später, im September 2003, wurden die GenossInnen aus Barcelona verhaftet, und er konnte den Mangel an Solidarität einiger selbst miterleben, die sich nicht mit denjenigen anderen solidarisieren wollten, die in aller Konsequenz und als Teil der Bewegung kämpften. Drei Monate später tauchte ich unter, das war für mich das einzig Sinnvolle. Ich versuchte so (wenigstens) dem Kampf von außen einen Anschub zu geben.

Xosé fühlte sich allein und verloren in einer Welt, die er nicht verstand, und schließlich ließ er sich fallen. Er wusste nicht mehr, was er in der Welt, die er vorfand, anfangen sollte. Alles hatte sich verschlimmert: Die menschlichen Beziehungen waren immer weniger menschlich, die revolutionären Bewegungen immer reformistischer und eingepasster in die Logik der Herrschaft.

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Anonym – INKOGNITO

AutorIn: Anonym
Titel: INKOGNITO
Untertitel: Erfahrungen, die sich der Identifizierung entziehen
Datum: 2003
Quelle: Entnommen aus „INKOGNITO - Erfahrungen, die sich der Identifizierung entziehen“, Edition Irreversibel, Herbst 2019, S. 4-118.

Vorbemerkung:

Der Begriff „klandestin“ bedeutet so viel wie „unbeobachtet“, „im Verborgenen befindlich“ oder „geheim gehalten“. Der Begriff kann sowohl als Adjektiv als auch als Adverb gebraucht werden. „Heimlich“, „diskret“ oder „geheim“ konnen als Synonyme fur klandestin verwendet werden. Klandestin ist auf das franzosische clandestin, beziehungsweise das lateinische clandestinus (heimlich) zuruckzufuhren.

Die italienische Erstausgabe dieses Buches erschien im September 2003 unter dem Titel In Incognito, Esperienze che sfiano l’identificazione (Cuneo) . Es existieren Übersetzungen auf Flamisch (ed. Typemachine), Englisch (Elephant editions), Franzosisc h (Nux-Vomica/Mutines Séditions) und eine Teilubersetzung auf Spanisch (Armiarma).

Diese Ausgabe basiert mehrheitlich auf der französischen Übersetzung. Ergänzend wurden die Texte «Auf der Flucht vor der Zukunft...» und «Ein Jahr vor ... und zwei zurück...» aufgenommen. Die erste Auflage von 400 Stuck wurde im Winter 2018 gedruckt, die zweite Auflage von 500 Stuck wurde im Herbst 2019 gedruckt.

INKOGNITO - Erfahrungen, die sich der Identifizierung entziehen
Einleitung zur Erstausgabe

Dieses Buch spricht von Der Klandestinität . Ein Lichtstrahl ins Dunkel, ein Sprung ins Unbekannte des Geheimnisses, in diese Paralleldimension, wo oft selbst das, was gesagt werden könnte, nicht gesagt wird. Aufgrund übertriebener Vorsichtsmaßnahmen, aufgrund von Angst oder weil man die Klandestinität wie eine Frage behandelt, die uns nicht betrifft. Oder auch in gewissen Milieus und im schlimmsten Falle aus rein politischem Kalkül.

Und dennoch, selbst wenn man diese Welt nur oberflächlich betrachtet, zeigt sie sich uns nicht wie eine trostlose Wüste, sondern vielmehr ist sie bevölkert von lebenden Wesen, von Erfahrungen und Ideen, ganz nah den unseren, in den miserabelsten und faszinierendsten Aspekten unseres Alltags, Seite an Seite mit unseren sehnsüchtigsten Verlangen und unseren leidenschaftlichsten Wachträumen.

Die hier zusammengestellten Texte erzählen von dieser Welt, bringen einige Stimmen unter vielen anderen hervor. Stimmen deren Ton, deren Emotionen und deren Aussagen gewisse Variationen in sich tragen, die sich aber alle in der Dimension der Klandestinität bewegen oder bewegt haben.

Erfahrungen, die selbstbestimmt, ebenso wie aus Gründen, die außerhalb des eigenen Willens liegen, gemacht wurden. Für einige waren es Erfahrungen, die aus einem Parcours revolutionärer Kämpfe resultierten, für so viele andere aber, die auf den Pfaden der Ausbeutung und der Gräuel der Grenzen nicht einmal mehr ihre Ausweispapiere zu verlieren haben, ist es eine soziale Bedingung.

Dass man die Namen der Autoren nicht auf dem Buchcover (und auch sonst nirgendwo in diesem Buch) findet, ist nicht an irgendeine beliebige Entscheidung aus Vorsicht oder Ideologie gebunden, sondern viel eher an eine Frage, die man als eine Frage des Geschmacks bezeichnen könnte. Im Kontext von Geheimnissen haben wir es bevorzugt vielmehr die gelebten Erfahrungen sprechen zu lassen, als die Identitäten der Schreibenden. Auch wenn oft, ja zwangsläufig (da Identität keine Frage persönlicher Daten ist), einige Spuren, die zum Autor oder zu den Autoren eines Textes führen können, zwischen den Zeilen durchsickern.

Über die „Architektur“ unseres Buches nachdenkend, sind wir uns bewusst geworden, dass die direkteste und aufrichtigste Art die Einzigartigkeit aller Wege zu begreifen, nicht in einer exklusiven theoretischen oder historischen Erläuterung der Klandestinität, nicht in dem Sinne, den man ihr normalerweise in revolutionären Bewegungen gibt, liegt. Wir haben uns vielmehr dafür entschieden, eine Gelegenheit zu bieten, damit sich die persönlichsten Aspekte des Lebens in der Klandestinität so frei wie möglich ausdrücken können: die erlebten Momente und Ereignisse, die Überlegungen und Vorschläge, Betrachtungen sowohl praktischer, wie auch theoretischer Natur, denen jeder ins Gesicht schauen musste.

Heraus kam nach und nach und aus den Tiefen von uns selbst (und nicht ohne Schwierigkeiten) eine Zusammenstellung von Elementen und Emotionen, die dem Leser eine Art „Leitfaden“ dazu bieten könnten, mit allen Informationen, selbst „technischen“, was es bedeutet, möglicherweise Bedingungen gegenüberzustehen, wie sie auf den folgenden Seiten beschrieben werden.

Ein „Leitfaden“ also. Aber auch eine Lupe, damit sich unser Blick mit einer immer komplizenhafteren Aufmerksamkeit auf die Ausgebeuteten, die selbst keine Namen mehr haben, auf die Banditen, auf die Verbannten, richten kann. Aber auch auf alle unfassbaren Agitatoren, die durch die Maschen dieses planetenumhüllenden Netzes hindurch, ihre Verlangen von einem freien Leben verfolgen und ihm Gestalt geben.


In die Scheiße treten [Vorwort der französischsprachigen Ausgabe]

„Illegalität ist nichts Besonderes. Das kann jedem passieren, wie ein Tritt in Hundescheiße.“

Dieses im Jahre 2003 publizierte Buch spricht von der Klandestinität, was vielleicht kein Zufall ist. In der Tat war diese Periode seit Mitte der 90er von zunehmenden repressiven Operationen gegen Anarchisten geprägt. In verschiedenen Städten wurde damals gegen Dutzende von ihnen aufgrund der x-ten „subversiven Vereinigung“ ermittelt, manche befanden sich im Knast, andere standen unter Hausarrest und wieder andere hatten sich ganz einfach dazu entschieden, sich abzusetzen. Kurz gesagt, sie waren auf der Flucht. Dennoch war die Situation auch nicht mit jener Ende der 70er Jahre zu vergleichen, nicht weil die Gefährten passiv geworden wären, sondern vielmehr, da in den Zeiten der Befriedung die Subversiven in den Augen des Feindes sichtbarer geworden waren und da der Staat nunmehr in der Lage war, eine weit angelegte präventive soziale Repression durchzuführen. Ein anderer italienischer Text, der im selben Jahr erschien, zeigte die düstere Situation auf: „Lasst uns mit einer Vorbemerkung beginnen. Die Tatsache, dass heute jeder Beliebige, der nicht bereit ist auf Kommando stillzustehen, ins Visier der Repression gerät, bedeutet, dass die Trennung zwischen den zu hätschelnden “Guten” und den zu strafenden “Bösen” ausgedient hat.

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Anonym – Ohne Umschweife

AutorIn: Anonym
Titel: Ohne Umschweife
Untertitel: Der Widerstand der italienischen Anarchisten in den Vereinigten Staaten gegen den Krieg mittels der Cronaca Sovversiva
Datum: 2019
Quelle: Entommen aus „Die Reihen durchbrechen. Gegen den Krieg, gegen den Frieden, für die soziale Revolution“, Hourriya internationalistische anarchistische pamphlets Nr. 5, 2019, S. 123-165.

Der Kampf, auf den sich das Proletariat vorbereitete, heißt nicht Krieg, sondern Revolution. Und wir wissen alle, wie unsere Ideen von den Mächtigen durch Waffengewalt und den Zwang der Gesetze bekämpft, durchkreuzt und bestraft werden. [...] Wir werden alleine sein. Wir stellen dies mit erbitterter und gewaltiger Freude fest. Alleine gegen den von der Bourgeoisie gewollten Krieg, aber vereint durch unsere Sache. Wir sind nicht neutral: Denn wir Anarchisten haben auch in den Momenten des für alle andern bequemen Friedens, immer gekämpft und unsere Ideen, unsere Flagge verteidigt.“

Per la causa nostra (Für unsere Sache),

Cronaca Sovversiva, 26. Dezember 1914


Erster August 1914. Die Zeitung Cronaca Sovversiva[1] feiert im ersten Artikel der wöchentlichen Ausgabe den 14. Jahrestag der Ermordung des Königs Umberto I. durch Gaetano Bresci. Ein Medaillon mit dem Abbild des anarchistischen Schützen, und ein paar Zeilen, die unter anderem daran erinnern, dass: „so lange es Tyrannen gibt, wird es Selbstjustiz geben; so lange es Unterdrückung gibt, wird der rebellische Unterdrückte den Unterdrücker herausfordern und sein Todesurteil vollstrecken. Das ist die Geschichte aller Zeiten, und so wird es immer sein, so lange der letzte Ausbeuter nicht in einem blutigen Röcheln verschwunden sein wird“. Eine absolute, unveränderbare Regel, eine vom Prinzip untrennbare Konsequenz: die Freiheit. Aber an diesem selben Tag riefen die gegenwärtigen Geschehnisse eine andere Regel in Erinnerung. Eine genau so absolute Regel, Konsequenz des entgegengesetzten Prinzips: so lange die Staaten und der Kapitalismus die Lebensbedingungen auf Erden bestimmen, wird es Kriege geben. Und in der Tat: vier Tage nachdem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt hatte, sprach Deutschland seine Kriegserklärung an Russland aus. Der erste Akt eines Konflikts, der in kurzer Zeit in einen totalen, großangelegten Krieg ausartete.

Wenn auch niemand im Unwissen über dieses organisierte Massaker ist, und wenn nur wenige Anarchisten, unter all den möglichen Tendenzen, den oben erwähnten Königsmord und dessen Autor nicht kennen, wie viele wissen hingegen, dass in den Vereinigten Staaten zwischen 1914 und 1920 eine große bewaffnete revolutionäre Offensive gegen die staatlichen, richterlichen, religiösen, industriellen und finanziellen Institutionen des wichtigsten kapitalistischen Landes des Planeten geführt wurde? Direkte Aktionen, die nicht von den kämpfenden Organisationen irgendeiner politischen Partei oder irgendeiner mehr oder weniger radikalen Massenbewegung ausgeführt wurden, sondern vielmehr von ein paar Handvoll italienischer Anarchisten, die am Anfang des 20. Jahrhunderts dort eingewandert waren. Während die Geschichtsschreibung der anarchistischen Bewegung im Großen und Ganzen von dieser Zeit nur den Verrat der anarchistischen Prinzipien, den das Manifest der Sechzehn darstellt, und die davon ausgelöste Polemik festhält, sind uns – bestenfalls – Ideen, Taten, Vorschläge und Perspektiven dieser in den Vereinigten Staaten eingewanderten Anarchisten, die doch sehr aktiv waren und eine gefährliche Entschlossenheit aufbrachten, unbekannt. Gefährten, die man in vielerlei Hinsichten nicht zu den „klassischen Antimilitaristen“ zählen kann, und auch nicht voll ins Bild der anarchistischen Opposition zum Krieg passen. Und wenn „vielleicht die wichtigste Aktivität jene ist, die im Schweigen vollbracht wurde und in Vergessenheit gerät“[2], so nimmt das den wenigen Spuren, die uns erreicht haben und die immer noch viel zu sagen haben, nichts weg.

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Wir berufen uns nicht auf die Vereinbarung und die Allianz der „freien und zivilisierten“ lateinischen und slawischen Völker gegen die barbarischen teutonischen Horden. Wir haben nie an die moderne Zivilisation geglaubt. Wir empfinden keine schmachtende Zuneigung für irgendwelche Gekrönten auf dieser Welt. Wir wollen die Vereinbarung und die Allianz jener, die den Drang und den Willen verspüren, das Bestehende zu zerstören, gegen jene, die aus Eigeninteresse, Starrsinn oder Unwissenheit diese Gegenwart aufrechterhalten wollen.“

Nell’attesa (In Erwartung), Umberto

Postiglione, Cronaca Sovversiva,

26. September 1914

Im Verlaufe dieses Herbstes 1914 bietet Cronaca Sovversiva Platz für Diskussionen und Debatten, welche die Gefährten während mehreren Wochen beschäftigten, und welche die Grundlage der kommenden Interventionen und Vorschläge darstellten. Einige sehen den Krieg mit Fatalismus und Kalkül als einen Krisenmoment, der, wie jede Krise, eine Transformationskraft besitzt. Der Krieg würde dem Proletariat die Ungeheuerlichkeiten der Regierungen vor Augen führen, es aufrütteln und somit zum Ausbruch der Revolution führen. Andere haben eine weniger mechanistische Vision und befürworten, angesichts der Hassentladungen und der fiktiven Feindseligkeiten, welche die Proletarier dazu bringen, in den Krieg zu gehen, die Wichtigkeit einer Propaganda, die daran erinnert, dass die „einzigen logischen Gegner in der gegenwärtigen sozialen Ordnung“ die Besitzenden sind, die ihre allgegenwärtige und vielgestaltige Herrschaft wahren wollen, und jene, die um eine weniger prekäre Existenz kämpfen. Die Kritiken seitens der Anarchisten gegen die Pazifisten, Christen und ihre Gefühlsduselei führen zu einer Ermahnung, dass die Gewalt

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Anonym – Postaktivistische Perspektiven

AutorIn: Anonym
Titel: Postaktivistische Perspektiven
Untertitel: Interview mit Leuten, die bei der Besetzung des Dannenröder Forst dabei waren. Über die Zerstörung, die uns umgibt. Und jene, die wir begrüßen und vorantreiben.
Datum: Frühling 2022
Quelle: Entnommen aus der Zeitschrift In der Tat. Anarchistische Zeitschrift. Nummer 14, Frühling 2022

Was hat euch ursprünglich motiviert zur Waldbesetzung dazuzustoßen?

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Ich hab schon seit ein paar Jahren als Landstreicher gelebt, aber ich wollte nicht nur außerhalb des Systems leben, sondern was gegen das System tun und der Zerstörung der Umwelt etwas entgegensetzen. Bevor ich in den Dannenröder Forst bin, war ich im Hambi, aber der Hambi war zu der Zeit nicht besonders aktiv und ich hatte nicht das Gefühl dort besonders viel machen zu können, deshalb hat es Sinn gemacht die neue Besetzung auszuchecken.

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Ich finde Besetzungen einen guten Weg Räume von der kapitalistischen Logik zu „befreien“. Es entsteht Raum für Spontanität, Kreativität und um ein anderes Miteinander auszuprobieren. Das wollte ich miterleben und den Cops die Räumung erschweren. Walder zu zerstören geht nicht klar und die staatliche Durchsetzung von Kapitalinteressen auch nicht. Wälder sind auch Rückzugsund Freiräume inmitten der durchgeplanten Welt. Der Wald bietet Schutz, ist weniger überwacht (Kameras etc.) und da es keine Straßen und Mauern gibt eröffnet es neue Wege, Verstecke und Lebensweisen.

Hattet ihr spezifische und greifbare Ziele als ihr in den Wald gekommen seid? Seid ihr mit bestimmten Projektualitäten in den Wald gekommen, die über den spezifischen Kampf (gegen die A49) hinausgehen? Haben sich diese Projektualitäten während euer Erfahrungen im Wald verändert?

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Ich hatte keine greifbaren Ziele. Also vor allem ging ich da auch nicht mit der Erwartung hin, dass wir den Wald „retten“ könnten, aber etwas gegen die Räumung zu tun. Ich finde eine gewisse Erwartungslosigkeit schafft Freiraum im Handeln. Die Besetzung geht für mich klar über den Kampf gegen die A49 hinaus, weil dort ein Momentum entsteht, das sich den Regeln des kapitalistischen Systems widersetzt und das kann viele Ausdrucksund Aktionsformen annehmen. An meinen Zielen Machtstrukturen anzugreifen, aufzubrechen und abzubauen hat sich nicht viel geändert die Motivation das zu tun hat sich durch die Erfahrungen im Wald, die so schön wie hart waren, noch weiter verfestigt.

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Nicht wirklich. Ich hatte keinen Plan. Als ich zur Besetzung dazugestoßen bin, bin ich nichtmal davon ausgegangen mehr als ein paar Wochen zu bleiben.

Was könnt ihr über soziale Beziehungen in solchen breit aufgestellten aktivistischen Kämpfen, wie Waldbesetzungen, sagen? Konntet ihr Affinitäten, die über den spezifischen Kampf hinausgehen, entwickeln?

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Auf jeden Fall. Für mich war der Danni der Beginn eines neuen Lebens. Die meisten Leute, mit denen ich Zeit verbringe und mit denen ich was zusammen mache, sind Freundinnen aus dem Danni. Nach der Räumung haben wir alle verschiedene Richtungen eingeschlagen, aber wenn ich an irgendeine Action oder ein Projekt denke, dann sind fast alle Leute, die mir einfallen, wenn’s darum geht wer mitmachen könnte, Leute aus dem Wald. Mit ein paar Freundinnen aus dem Wald wollen wir auch ein Stück Land kaufen und eine anarchistische Kommune gründen, wo wir länger leben können. Ich weiß auch, dass wenn ich irgendeine Form der Unterstützung brauche, dass es eine Menge Freundinnen aus dem Danni gibt, auf die ich zugehen kann. Im Danni zu leben und Widerstand gegen die Räumung zu leisten war eine einprägsame Erfahrung und wir wissen alle noch wer die Gefährtinnen waren, die an unserer Seite gestanden sind und bei vielen glaube ich, dass wir bis zu unseren letzten Tagen Freundinnen bleiben werden.

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Die Menschen im Wald hatten so ziemlich verschiedene Ansichten. Dafür gabs da auch gefühlt genug Raum. Es bildeten sich unterschiedliche „Barrios“ in welchen unterschiedliche politische Sichtweisen und Lebensarten fokussiert wurden (z.B. strictly-vegan, anti-deutsch, „we dont do dishes and plenaries“). Klar gabs kapitalismus- und herrschaftskritische Grundgedanken und gleichzeitig auch viel Diskussion und Reibung. Was alle irgendwie vereint hat war der gemeinsame Kampf und so pathetisch das klingt, auch die daraus entstandene Solidarität. Von Anwohner*Innen, die nachts um zwölf warmes Essen bringen oder vor den Gefangenensammelstellen warteten, zu den vielen Menschen, die sich morgens um fünf in die Bäume hängen um da den ganzen Tag rumzusitzen um sich am Ende einsacken zu lassen. Desto länger die Cops die Leute im und um den Wald terrorisiert haben, desto stärker wurde auch dieses Gefühl des gemeinsamen Kämpfens. Ich erinnere mich wie ich mal am Feuer saß, inmitten all der Zerstörung. Alle wussten, dass unser Barrio sehr bald komplett geräumt werden würde und ich sah schöne und mutige Menschen um mich rum, die sich all dem entgegenstellten und zusammenhielten. Diese Momente haben mein Herz gewärmt und mir auch weiter Kraft gegeben Nacht für Nacht Baumstämme durch den Wald zu tragen oder andere Dinge zu tun... Und genau das ist auch eine gefühlte und sehr erlebbare Einstellung, welche dieser Welt, die uns so voneinander entfremdet, entgegensteht. Ich möchte hier auch Ella erwähnen, die seit der Räumung im Knast sitzt: Du bist nicht allein. Im Wald sind für mich so einige tiefgehende Freund*Innenschaften entstanden. Menschen, mit denen ich sehr close und im Austausch bin. Was wir zusammen erlebt haben, verbindet uns auf jeden Fall sehr. Wir haben seitdem auch noch einige weitere Aktionen zusammen gemacht oder uns dabei unterstützt. Diese Affinitäten bestärken mich auch weiterhin, jetzt wo ich gerade wieder mehr in städtischen Strukturen eingebunden bin und versuche vieles, was mir im Kontext des Waldes leichter fiel, mehr in meinen Alltag zu integrieren.

Was bedeutet der Begriff „Aktivismus“ für euch? Hat sich eure Einstellung zum Aktivismus durch eure Erfahrungen geändert?

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Ich finde das Label „Aktivismus“ und „Aktivist?1 schwierig, als bräuchte es eine bestimmte Fähigkeit „aktiv“ zu werden. Und wo fängt „aktiv werden“ überhaupt an? Gleichzeitig schafft es eine Trennung zwischen denen die „nur“ Supporten oder unsichtbare Dinge tun und denen, die sich an die vorderste Front begeben (können), über was sich dann auch mehr profiliert werden kann. Es gibt schon öfters in Strukturen dieses mackerhafte „rein die Aktion zählt“. Mal im Ernst, ohne all die Arbeiten im Hintergrund wäre die ganze aktionistische Komponente gar nicht erst möglich. Strukturen aufbauen und stärken, sowie „Arbeit nach Innen“ ist für mich die Basis und wird auch zunehmend relevanter, besonders im Hinblick darauf, nachhaltig „aktiv“ bleiben zu können. Ich bin mir auch nicht mehr so sicher, ob und in wie weit ich mich den Cops in so einem Szenario noch „direkt aussetzen“ will. Keine Frage, dass wir unsere „körperliche Unversehrtheit“ den Bullen in den Weg stellen ist ein wichtiges Mittel für eine Besetzung. Jedoch sitzt eins dann dort oben auf den Bäumen so ziemlich in der Falle, die Cops bekommen dich, bekommen Informationen über dich, beladen dich mit Repressionen. Außerdem ist das alles zunehmend kein unvorhersehbarer Aktionsraum mehr für Cops. Neben der daily occupation routine gibt es noch ein ganzes Spektrum an überraschenden, unvorhersehbaren Aktionen. Ich denke, das wieder mehr in den Fokus zu rücken, das wird zunehmend wichtiger. Denn Cops rüsten ständig auf, sammeln eine Unmenge an Daten und bereiten sich noch weiter auf derartige Szenarien vor.

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Ich hasse den Begriff Aktivismus. Meinen Überzeugungen und meiner Moral zu folgen ist etwas ganz Normales und wenn wir damit anfangen das Aktivismus zu nennen, dann trennen wir das von unserem alltäglichen Leben. Aktivismus wird dann zu einer Handlung, die du nur manchmal machst und die nur Aktivistinnen machen. Einen Wald für eine Autobahn zu roden ist nach meinen Überzeugungen falsch und deshalb werde ich, wenn ich die Kapazitäten habe, versuchen etwas dagegen zu tun. Ich glaube, dieses ganze Aktivismus-Ding ist einer der vielen Gründe für die Passivität der Leute. Wir müssen mit diesem ganzen Aktivismus-Scheiß aufhören und eine Gesellschaft schaffen, in der alle versuchen nur Dinge zu tun, die sie richtig finden und mit Dingen aufzuhören, die sie falsch finden. Unser größtes Problem sind nicht die paar Leute an der Macht sondern die stille Mehrheit, die blind gehorsam ist und nicht Verantwortung übernimmt um das Richtige zu tun. Das zeigt sich auch stark darin, wenn Leute bei Waldbesetzungen in zwei Gruppen unterteilt werden: Aktivistinnen und Unterstützetinnen. Aktivistinnen sind jene Leute mit Aufnähern auf ihrer dunklen Kleidung, die in Bäumen leben. Die anderen Leute sind nur Unterstützetinnen, die ihnen Schokolade bringen oder sie zum Bahnhof fahren. Ich habe beobachtet, dass viele Leute in dieser Unterstützer*innen-Rolle bleiben wollen und nicht selbst direkte Aktionen setzen wollen. Aber wir Waldleute fordern sie darin oft auch und stecken alle, die nicht Teil unserer Subkultur sind, in die Unterstützer*innen-Rolle. Wir müssen diese Trennung loswerden und anstatt Aktivistinnen und Unterstützerinnen zu sein, sollten wir einfach Leute sein, die alle verschiedene Handlungen für ein gemeinsames Ziel setzen. Jede*r von uns die Art von Handlung, die zu uns passt. Das Erste, was wir tun können, ist aufzuhören uns Aktivistinnen und andere Leute Bürgis oder Unterstützerinnen zu nennen. Im letzten Wald, in dem ich gelebt habe, habe ich Leute, die mit uns gekämpft aber nicht im Wald gelebt haben, einfach Freundinnen genannt.

Wann immer wir spezifischen Kämpfen begegnen, finden wir eine starke Tendenz zu Aufrechnungen, z.B. wieviel Schaden wurde während der Aktionen angerichtet und wieviel Schaden verhindert. Was denkt ihr darüber? Denkt ihr außerdem, dass es einen Wert hat, eine Rechnung über den Schaden aufzustellen, der den „bösen“ Firmen zugefügt wurde?

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Die Räumung mit tausenden Cops kostet viel Geld, was auf der einen Seite natürlich auch Schadenfreude in mir auslöst — und gleichzeitig ist es wohl auch die Sprache unserer kapitalistischen Welt, eben alles einen Wert zu geben, denn nur dann ist es etwas „wert“. Jeder Baum bekommt einen Preis... Zumindest gabs schon einen kleinen „Aufschrei“ und es wurde ein überregionales Thema, aber inwieweit für die Leute rüberkam wie absurd der ganze Einsatz einfach ist, bleibt fraglich. Obwohl es offensichtlich ist, dass eine Autobahn einen uralten Wald und ein Trinkwasserreservat zerstört und der Staat sich für Kapitalinteressen durch Wälder prügelt. Währenddessen hetzt die „Bild-Zeitung“ gegen die nichtarbeitenden Waldbesetzis, die das Steuergeld der Arbeiterinnen verschwenden und dabei die „arme“ Polizei mit allerhand bewerfen. Es erschreckt mich immer wieder wie tief kapitalistisch bedingte Denkmuster vom Outcome und Wert einer Sache in uns sitzen. Oder wie es mir während den Monaten im Wald schwer viel, auch einfach mal nichts zu tun, nicht „produktiv“ zu sein. Klar, wurde der Druck von außen immer größer, das spielt da schon auch mit rein. Ich versuche mich zunehmend von dieser Sprache und Denke frei zu machen, die mir ein Leben lang eingetrichtert wurde und so Raum für Spontanität zu schaffen oder dafür, dass nicht alles was wir tun, „funktionieren“ muss. Es tut mir gut, Aktionen außerhalb ihrer „Effektivität“ zu sehen, sondern wie sie sich im Moment anfühlen, wie sie die Rahmenbedingungen unserer Welt mal kurz ins Wanken bringen, wenn auch nur für mich und einige wenige. Ich will mein Tun nicht daran bemessen, wie viele Leute es auf die Straßen / Bäume bringt, wie viele Euro Schaden es verursacht — klar, kann das ein Nebeneffekt sein. Aber ich habe Bock ganz in dem einzutauchen, was ich tue und mag es auch nur noch so ein kleiner Furz ins Angesicht dieser verödeten Welt sein.

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Ich glaube es macht immer Sinn darüber nachzudenken was unsere Aktionen mit sich bringen. Wenn ich zum Beispiel gekaufte Plastikseile benutze um damit zu verhindern, dass viele Tonnen Beton in einen Wald geschüttet werden um eine Autobahn zu bauen, dann macht das Sinn. Aber, wie gesagt, wenn wir Dinge wie Plastik oder andere zerstörerische Dinge benutzen, sollten wir immer nachdenken ob das Sinn macht und ob wir das nicht vermeiden können und vielleicht eher Recyclingmaterialien oder natürliche Materialien benutzen können. Im Dann! haben wir 40.000 Euro für Plastikseile ausgegeben. Die sind billig, also haben wir die Umwelt mit unheimlich viel Plastik belastet. Ich denke, es hat Sinn gemacht die Seile zu benutzen, aber was mir nicht gefallen hat war, dass oft verschwenderisch mit ihnen umgegangen werden ist. Wir hätten halb so viel Polyprop-Seile mit den gleichen Ergebnissen nutzen können, aber naja... Was den Schaden an Firmen betrifft: Ich denke jeder Schaden ist gut. Größerer Schaden ist natürlich besser als kleinerer Schaden, aber in jedem Fall sind wir bei Firmen wie der STRABAG weit davon entfernt sie durch den ökonomischen Schaden, den wir durch unsere Aktionen anrichten, zu zerstören. Deshalb denke ich, dass das was zählt, die Aktion selbst ist und nicht wieviel Euro diese Firmen verloren haben.

Jeglicher Struggle, der leichter zugänglich ist, zieht Menschen an, die gerne das Spiel der Medien mitspielen, z.B. darauf zu achten was für „die Öffentlichkeit“ gut oder schlecht aussehen könnte. Was denkt ihr darüber? Wie geht ihr mit diesen Menschen um?

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Solange wir das Spiel der Medien und Mehrheitsgesellschaft mitspielen, unterstützen wir das patriarchale System, das uns unterdrückt. Uns wurde ein Leben lang eingetrichtert, wie wir da reinpassen und auch welche Arten von „Ungehorsam“ und „Widerstand“ noch ok sind, nämlich unter anderem „gewaltfreie“. Es ist fast egal was die Medien schreiben, denn sie reproduzieren immer wieder die gleichen Denkmuster und so bleiben die Grundfesten dieses gewalttätigen Systems so ziemlich dieselben, ohne überhaupt als gewalttätig zu gelten. Cops haben Menschen auf 20 Metern Höhe gefasert, Seile wo Leben dranhängen durchgeschnitten und Leute eingesperrt was „gesellschaftlich toleriert“ wird. Solange alles was wir tun sich daran orientiert wie gut das für unser „Image“ ist, nur damit uns die Leute nett finden, bleiben wir stecken. Irgendwo im Wald stand ein Tag im Sinne von „An das pazifistische Arschloch, das meine Tags gegen die Cops durchstreicht: reflektiere deine Privilegien.“ Die „Pressearbeit“ übernahmen im Danni Menschen, die sich dazu aus irgendeinem Grund berufen fühlten. Da geschah auf jeden Fall ein einseitiges Framing, das den „öffentlichkeitswirksamen“ Teil der Meinungen innerhalb der Besetzungen abbildete. Klar diskutiere ich auch mal mit ihnen und kann ihre Punkte mehr Menschen auf gewissen Problematiken aufmerksam zu machen, ja auch irgendwo sehen. Ich möchte da persönlich aber eher die Absurdität unserer Verhaltensnormen aufzeigen. In einer anderen Besetzung haben wir während einem Interview mit einem Lokalpolitiker für eine Lokalzeitung eine „Flute-Rave“-Intervention gestartet und sind brüllend und tanzend durch das Interview gesprungen. In der Zeitung wurde dann unsere „Ernsthaftigkeit“ in Frage gestellt sehr gut. Es ist für mich befreiend Menschen zunehmend weniger von meinen Positionen überzeugen zu wollen, sondern diese in die Realität umzusetzen. In einer Welt, in der „Seriosität“ und „Professionalität“ (was auch immer das sein mag) gepriesen werden, macht es Leute oft rasend wenn das nicht eingehalten oder ins Lächerliche gezogen wird. Orte oder Momente zu kreieren, die eben anders funktionieren als die Norm haben deshalb eine solche Sprengkraft. Die Medien schreiben am Ende eh das was in ihre Agenda passt. Die Leute, die dann wirklich bei der Besetzung vorbeigeschaut haben und das waren tatsächlich einige mit denen kann ein Dialog entstehen und die waren oft auch geflasht oder schockiert von vielem was sie dort sehr direkt erlebt haben. Das kann dann der Ausgangspunkt für eine Veränderung sein.

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Ich war überrascht, wie sehr das bei uns im Danni passiert ist. Vor der Räumung sind Leute zur Besetzung gekommen um unser Presseteam zu werden. Ein paar von ihnen hatte ich noch nie dabei gesehen im Wald selbst irgendwas gemacht zu haben und das erste Mal, dass ich sie gesehen habe, war als sie uns angekündigt haben unser neues Presseteam zu sein. Das Ziel der meisten Medienarbeit im Danni war es eine große Reichweite in den kapitalistischen Medien zu bekommen und die Leute davon zu überzeugen, dass Autobahnen nicht gut sind. Das was wir gegenüber den Mainstream-Medien kommunizieren neigt dazu weniger radikal und reformistischer zu sein. Niemand würde dem Fernsehen gegenüber sagen, dass wir (oder zumindest viele von uns) wollen, dass alle Cops sterben, aber es wird immer Leute geben, die über die dumme Verkehrswende reden. Dieses ganze Verkehrswende-Dinge war ein wenig unglücklich. Aus der Besetzung heraus gab es viel Medienkommunikation, die sich um die Verkehrswende gedreht hat, ohne dass sich irgendwer darum gekümmert hat, dass es im Wald auch Leute gibt, denen die Verkehrswende und andere grüne Reformen egal sind. Ich stell mir vor, was wir das nächste Mal machen könnten, ist eine Kultur von „Keine reformistischen Forderungen“ zu schaffen und allgemein sehr kritisch gegenüber Medien zu sein. Wir sollten darüber reden ob wir mit kapitalistischen Medien überhaupt sprechen wollen und wenn ja unter welchen Bedingungen. Die netten Pressesprecherinnen werden immer zu einem offenen Umwelt-Kampf kommen sobald er viel mediale Aufmerksamkeit erhält und wir müssen uns ein Konzept überlegen bevor diese Leute kommen. Und wenn sie das Konzept nicht einhalten, müssen wir ihnen sagen, dass sie sich verpissen sollen.

Aus eurer Sicht: Was kann getan werden, um jegliche Reintegration in die Logik der Politik zu verhindern? Damit meinen wir, auf Politikerinnen zu hören, seien sie von einer politischen Partei oder außerparlamentarisch.

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In unserer Komunikation also konkret mit Bannern, Gesprächen, Artikeln und Zines haben wir versucht Patriarchat, Zivilisation, Kapitalismus, Demokratie und all die anderen Fratzen anzugreifen. Die Demokratie zu kritisiern führte zu super nervigen Diskussionen mit vielen „Bürgis“, aber insbesondere zu Konflikten mit Politikerinnen, Parteien, NGOs oder Massenorganisationen wie XR, FFF, Ende Gelände usw. Es ist schon erstaunlich, dass genau dort wo die Gewalt dieses „demokratischen“ Systems so offensichtlich ist, Leute dieses panisch versuchen zu verteidigen und behaupten wir müssten uns nur so oder so verhalten, damit sich etwas ändert und all die Bullen abziehen und die Zerstörung aufhört. In unseren Taten haben wir versucht die Gegenstände und diejenigen anzugreifen, welche dieses System und diese Logik repräsentieren. Ich denke da können wir nur weiter machen.

Einen Wald zu besetzen, hat viele archaische und primitivistische Aspekte. Was ist eure Sicht auf Technologie und die Benutzung von technischen Geräten für den Kampf?

:: Technologie ist ein zweischneidiges Schwert, denn auch darin manifestieren sich die herrschenden Verhältnisse. Wer profitiert von bestimmten Technologien? Wem nützen sie und wer darf sie benutzen? Viele der heutigen Technologien sind auch aus einem militärischen Kontext entstanden. Auch im Wald wurde Technologie genutzt, ob Internet, Solar-Panels oder die riesige Küfa Infrastruktur. Auch ohne Transportmittel hätte die Besetzung ganz anders ausgesehen. Und ohne Kletterstuff, Bohrer, Polyprop-Seile und Headlamps... Ich denke wir sollten uns damit auseinandersetzen wie Technologie auch anders gedacht werden kann, zum Beispiel im Sinne von Zugänglichkeit oder dem Reparieren und Umfunktionieren von Bestehendem. Und wie wir die Technologien der Cops umgehen oder lahm legen können. Klar sind technische Geräte im Kampf nützlich, aber wo wir ein Walkie Talkie, ein paar Steine, Stöcke und Laub haben, haben die Cops Funkmasten, Panzer, Helis und Wärmebildkameras. Also ein starkes technologischs Ungleichgewicht, dennoch hatten die Cops es nicht leicht und waren spürbar nervös. Deren Infrastruktur zu stören, kann ein gewisses Chaos und Unvorhersehbarkeit auslösen, deswegen wird das alles ja auch so streng bewacht. Eine recht sinnbildliche Szene, die mir zu dem Thema im Kopf geblieben ist, war als eine HightechDrohne der Cops über dem Barrio „Unräumbar“ abstürzte und direkt feierlich verbrannt wurde. Danach kamen sie mit all ihrem schweren Gerät und das Barrio wurde geräumt.

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Ich denke wir sollten so wenig Technologie wie möglich benutzen. Unglücklicherweise sind nicht alle bei Besetzungen gegen Technologie oder teilen meine antizivilisatorischen Ansichten, deshalb hatte ich zum Beispiel sehr oft die gleiche Diskussion mit einer Person, die in unserem Barrio Solarpanele anbringen wollte, WiFi installieren wollte und uns dazu bringen wollte blöde Funkgeräte zu benutzen. Die Technologie neigt dazu sich auszuweiten und diese Tendenz können wir auch in Waldbesetzungen feststellen. Glücklicherweise bringen Besetzungen genügend Autonomie für Individuen und Gruppen dahingehend mit sich, zu entscheiden wie technologisch oder primitiv sie Leben wollen, sodass wir nie die Solarpanele und auch kein WiFi in unserem Teil des Waldes bekommen haben.

Was könnt ihr über „alternative“ und „erneuerbare“ Energie sagen, die mit der Smartifizierung unserer Leben einhergeht?

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Grundsätzlich finde ich es gut nicht, nass und kalt im Wald sitzen zu müssen. Energie, sei es ein „renewable“ Lagerfeuer, das uns Wärme und Licht gibt oder auch mal der Strom, der das Soundsystem befeuert, ist schon fein. Ich finde es auch besser, wenn der Strom dafür aus Wasser, Feuer, Sonne oder Wind kommt statt aus Kohle oder Atomspaltung. Doch die sog. „Energiewende“ findet auf einer ganz anderen Ebene statt, da geht es nicht um Grundbedürfnisse, nicht um Menschen, sondern um die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Status Quo und der Profite; ein absurder Versuch einen immergierigen Schlund „nachhaltig“ zu füttern. Wem oder was nützt denn die „neue“ Energie? Der ganze Technik-krams, Solarpanele, Windräder etc. sind sehr ressourcenund flächenintensiv und der Pestizid-Mais für die Biogasanlage saugt die Böden genauso aus, wie die an der „Energiewende“ verdienenden Bonz*innen die Menschen und Natur aussaugen. Das ist 1:1 derselbe „Wahnsinn“ nur mit einem grün-moralistischen Anstrich. Doch es wird noch schlimmer: innerhalb „der (Öko-) Linken“ wird oft behauptet erneuerbare Energien dezentralisieren die Energieproduktion (hunderte Windräder, statt einem großen Kohlekraftwerk usw.) und seien somit „besser“ und fast schon „revolutionär“. Aber was sie nicht sehen ist: Abhängigkeiten (z.B. Stromnetz, Fläche, Kapital), Informationen (Smartmeter, Smartwaschmaschine etc.) und somit Macht werden dadurch immer weiter ausgebaut und zentralisiert, sind jedoch weniger sichtbar. Die E-Branche (hippe Start-ups und weitere tech-öko-Kapitalist*innen) und „Expertinnen“ schreien nach Vernetzung alles muss vernetzt, vorhersehbar und kontrollierbar sein damit die Energiewende klappt. Die, die von all dem profitieren, argumentieren jetzt auch noch dies sei quasi eine Notwendigkeit für die „Rettung der Welt“. Doch müssten die Verursacherinnen der Umweltzerstörung auch dafür „zahlen“, wären viele von denen wohl nicht mehr so gehyped.

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Es gibt ganz einfach keine Energiequelle, die im großen Maßstab benutzt werden kann und dabei ökologisch ist. Ich hasse Windräder sogar noch mehr als Kohleminen. Kohleminen geben wenigsten nicht vor irgendwas zu sein. Alle wissen, dass sie ein dreckiges Geschäft sind. Wenn es mal eine Besetzung gegen Windräder geben würde (vor ein paar Jahren gab es mal eine in Frankreich), dann bin ich gerne dabei. Kapitalismus und Industrie sind scheiße, auch wenn es grüner Kapitalismus ist. Es ist weder pessimistisch noch zynisch zu behaupten, dass der Planet wie wir ihn als Lebensraum kennen im Grunde im Arsch ist.

Wie geht ihr mit dem Szenario um, in dem „gewinnen“ im herkömmlichen Sinne unmöglich ist, da die Abwärtsspirale nur immer schneller wird?

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Was meinst du? Unsere Regierung wird den Klimanotstand ausrufen, Schluss mit Kohle machen, genügend Solaranlagen bauen, alle Autos zu Elektroautos machen und alles wird gut, oder etwa nicht? Für mich macht es Sinn nicht Teil des zerstörerischen Systems zu sein und dagegen zu kämpfen. Natürlich können wir niemals vollkommen „gewinnen“ aber jeder Wald, der nicht gerodet wird, und jeder Bagger, der abbrennt, ist ein kleiner Sieg.

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So gern wir an ein gutes Ende glauben möchten, im Angesicht des ungebremsten Ausmaßes der Zerstörung bleibt nur noch der Weg der Desillusionierung. Die große Frage ist wohl wie wir daran nicht verzweifeln, sondern uns auch davon in irgendeiner Weise „befreien“ können und somit handlungsfähig bleiben. Indem wir das eben nicht nur verdrängen, sondern Wege finden mit der Hoffnungslosigkeit und Unsicherheit umzugehen. Denn nur so können wir die Gegenwart mitgestalten, gegen die vielen Formen der Unterdrückung kämpfen und Momente kreieren die uns und andere freier und lebendig fühlen lassen, inmitten einer so entfremdeten und beklemmenden Welt. Also dem ganzen angepassten, in Vernunft gekleideten Wahnsinn mit unserem eigenen Wahnsinn ins Auge zu blicken und dabei immer noch mit Inbrunst Lachen zu können, das macht der Komfortund Sicherheitsgesellschaft Angst. Das was uns wohl bleibt ist es die Dinge tun um sie zu tun, aus unserer Wut über diese Zustände heraus, des Widerstands wegen oder weil sie sich für uns echt, richtig und wichtig anfühlen. Doch irgendwie liegt es ja auch außerhalb unseres Handlungsspielraums was unser Tun am Ende bewirkt. Da spielen einfach so viele Faktoren mit rein. Vielleicht liegt das Problem darin, dass wir uns so fest daran klammern gewinnen zu wollen, die Kontrolle über Situationen zu haben, oder alle von unseren Ideen und Taten zu überzeugen. Daran können wir nur scheitern, aber lieber immer wieder scheitern und etwas daraus lernen, als zu erstarren. Auch wenn alles um mich herum tot zu sein scheinen mag, will ich mich dennoch spüren, will wissen wie es sich anfühlt am Leben zu sein, schreien, toben, lachen, weinen, und die Bullen mit Scheiße beschmeißen. Warum? Das weiß ich nicht, aber es platzt aus mir heraus, es sprudelt, es ist da, es lebt.

Wenn „gewinnen“ keine Option mehr ist, was motiviert euch weiterzumachen?

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Das klingt vielleicht komisch, aber es sind Hass und Wut, die mich sehr stark motivieren. Jedes Mal wenn ich mit den Cops in Berührung komme oder eine Kohlemine sehe, werde ich daran erinnert wie sehr ich sie hasse und ich kann nicht einfach weiter machen ohne zu versuchen etwas dagegen zu tun. Selbst wenn wir nicht gewinnen können, müssen wir kämpfen: Widerstand zahlt sich immer aus.

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Ich tue die Dinge nicht um zu gewinnen, sondern weil ich die Zustände wie sie sind nicht einfach akzeptieren kann. Und weil ich schon daran glaube, dass eine andere Welt möglich ist, dass wir anders miteinander sein können, zumindest im Kleinen. Das kommt tief von innen heraus. Menschen motivieren mich. Menschen mit denen ich sehr nah bin und Menschen, die ich gar nicht kenne. Es sind die unzähligen Geschichten und Momente des Aufbegehrens, viel mehr als das „Gewinnen“ selbst, welche mich stärken. Mich motiviert außerdem, dass „die Revolution“ (welche Revolution?) nicht in irgendeiner fernen Zukunft passieren mag, sondern revolutionäre Splitter auch im Kleinen, im Hier und Jetzt, in jedem Augenblick stattfinden können. In jedem Moment stecken unendlich viele Möglichkeiten, so viel Spontanes, Unvorhersehbares, das volle Leben, Anarchie. Ich träume oft davon durch den Wald zu rennen und irgendwie einfach nur zu sein, frei von all den Konstrukten, die über mich und andere bestimmen. Wie das wohl wäre?

Anonym – Gegen Krieg und militärische Mobilmachung

AutorIn: Anonym
Titel: Gegen Krieg und militärische Mobilmachung
Untertitel: Vorläufige Notizen zur Invasion in der Ukraine
Datum: 27.02.2022
Quelle: Entnommen am 12.04.2022 von https://de.indymedia.org/node/178646

Der russische Staat versucht die Ukraine zu erobern. Derselbe russische Staat, der die Unterdrückung der belarusischen Freiheitsbewegung unterstützt hat und nur vor ein paar Wochen mit Panzern die Revolte in Kasachstan niedergeschlagen hat. Putin versucht seine autokratische Herrschaft auszudehnen und dabei jede rebellische oder widerständige Bewegung im Inneren und Äußeren zu zermalmen. Doch wenn nun alle westlichen Demokrat°innen in einem Chor die Verteidigung von Freiheit und Frieden besingen, ist dies eine orchestrierte Heuchelei: Dieselben Demokrat°innen, die mit ihren „Friedenseinsätzen“ aka. Angriffs-, Drohnen- und Bombenkriegen und Länderbesetzungen koloniale Macht- und Ausbeutungsverhältnisse durchsetzen, Diktatoren und Folterknechte mit Waffen versorgen und direkt oder indirekt Massaker an Flüchtlingen und Aufständischen verantworten, beschwören nun den Frieden. Den heiligen Frieden in Europa, der ohnehin nicht wie beschworen seit 70 Jahren existiert und der immer schon Krieg im globalen Süden bedeutete – durch Stellvertreterkriege, durch Waffenlieferungen, durch Grenzen und Kolonialismus.

Wenn der Westen uneingeschränkt hinter der Ukraine steht, dann weil es sich um einen Verbündeten handelt. Beide Seiten dieses Krieges widern uns an: Anstatt uns auf einer Seite dieses Krieges zu positionieren, stellen wir uns gegen alle staatlichen Armeen und ihre Kriege – wir verabscheuen nicht nur ihre Massaker, sondern auch ihren Kadavergehorsam, ihren Nationalismus, den Kasernengestank, die Disziplin und Hierarchien. Wenn wir uns also gegen jede Form von Militarismus und Staat stellen, bedeutet das nicht, dass wir es für falsch halten zu den Waffen zu greifen. Wenn ukrainische Anarchist°innen sich nun dafür entscheiden, sich mit der Waffe in der Hand zu verteidigen – sich und ihre Nächsten, nicht den ukrainischen Staat – dann sind wir solidarisch mit ihnen. Doch eine anarchistische Position gegen den Krieg – auch gegen einen imperialistischen Angriffskrieg – darf nicht dazu verkümmern, einen Staat und seine Demokratie zu verteidigen – oder ein Spielball derselben zu werden. Wir wählen nicht die Seite des geringeren Übels oder die der demokratischeren Machthaber°innen – denn dieselben Demokratien sind ebenso nur an der eigenen Erweiterung von Macht interessiert und bauen ebenso auf Repression und Imperialismus auf. Das Wesen jedes Staates ist der Krieg: Er besetzt das Territorium und erklärt sich zum einzigen legitimen Ausführenden von Gewalt – er verteidigt seine Grenzen und kontrolliert die Bevölkerung, die ihm zu dienen hat. In diesem Sinne sind unsere Gedanken und unsere Solidarität auch bei all denjenigen, die nun vor einer Zwangsrekrutierung fliehen, bei all denjenigen, die desertieren, die sich weigern auf den Feind zu schießen, weil er eine falsche Uniform trägt oder eine falsche Sprache spricht. Diese Solidarität, welche die konstruierten Grenzen des Nationalismus überwindet und letztlich zu Fraternisierung führt – kann revolutionär sein. Denn wenn Menschen im Territorium des russischen Staates gegen den Krieg auf die Straße gehen und Bewohner°innen der Ukraine vor der Zwangsrekrutierung fliehen, ist dies eine Dynamik, welche sich all des nationalistischen Drecks entledigt, den der Staat in unser Herz und Hirn zu pflanzen versucht und dessen Folge nur Herdenmentalität, Führungs- und Männlichkeitskult, Märtyrertum, Massaker, Massengräber und Genozide sind. Dieser Nationalismus führt dazu, Menschen in Kanonenfutter und zu eliminierende Feinde einzuteilen – er führt dazu, dass wir nicht mehr Individuen sehen, sondern nur noch Armeen, Uniformen, Nationen, Ethnien, Gläubige – Verbündete oder Feinde. Wenn Menschen jedoch mit oder ohne Waffen aus der staatlichen Kriegslogik desertieren, wenn Individuen mit oder ohne Waffen sich gegen jegliche staatliche Besatzung wehren, wenn Menschen Flüchtlingen und Deserteuren helfen und diese unterstützen, wenn Individuen sich über Grenzen und Kriegslinien hinweg fraternisieren – kann dem Blutbad des Staates etwas entgegen gestellt werden. Wenn der Staat, seine Generäle und Politiker°innen nur die Sprache der Unterdrückung kennen, kennen die Unterdrückten die Sprache der Empathie und Solidarität. Am Ende des Krieges sind es immer die Reichen und Mächtigen, die diesen wollten, da sie die einzigen sind, die durch Macht und Geld profitieren – diejenigen, die massakriert werden, sind immer die Armen und egal unter welchem Regime ist für sie immer die Rolle von Versklavten, Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen vorgesehen. Die ukrainischen Bonzen waren die ersten, welche in Privatjets das Land verlassen haben.
Während der Westen Waffen an die ukrainische Armee liefert, ist ebenso die Propaganda- und Aufrüstungsmaschinerie an der hiesigen Heimatfront im vollen Gange: Die Bundeswehr muss aufgerüstet werden – die Bevölkerung muss gegen Russland mobil gemacht werden. Während ein paar hundert Kilometer entfernt die Bomben explodieren, herrscht hier der militaristische „Frieden“: Neue Waffen, neue Ausrüstung, neue Soldaten sollen gekauft, produziert und ausgebildet werden. Die Bevölkerung ist nach dem Corona-Ausnahmezustand erneut in Angst und Schrecken versetzt und es ist klar, wem man zu folgen hat und wer einem Schutz bietet: Der bis an die Zähne bewaffnete Vater Staat.

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Anonym – Die Insurrektion und ihr Double

AutorIn: Anonym
Titel: Die Insurrektion und ihr Double
Datum: November 2009
Bemerkungen: Originaltitel: „L’insurrezione e il suo doppio“; zu finden auf finimondo.org. Dort finden sich auch eine spanische und eine englische Übersetzung. Originaltext veröffentlicht in Machete, Nr. 5, November 2009.
Quelle: Entnommen am 06.02.2022 von http://panopticon.blogsport.eu/2022/03/05/italien-die-insurrektion-und-ihr-double/
Einleitung der Soligruppe für Gefangene

Der folgende Text war seit einiger Zeit fällig, erschien erstmals im Jahr 2009 in der italienischen anarchistischen Publikation Machete Nr. 5., die Grundlage haben wir aus der anarchistischen Seite Finimondo übernommen, der Link ist am Ende der Einleitung. Wir wollten diesen seit vielen Jahren schon veröffentlichen, mit vielen Jahren meinen wir vielleicht seit damals, kamen aber leider nie dazu. Kurz und knapp, es handelt sich um eine Kritik an dem Text Der kommende Aufstand, der 2007 in Frankreich veröffentlicht wurde. Im Gegensatz zu den Befürwortern und den Verleumdern dieses Textes sind wir, waren wir und werden weiterhin der Meinung sein, dass alles, was unter dem Namen eines Unsichtbaren Komitees unterschrieben wurde, nichts mit dem Anarchismus und mit dem Aufständischen Anarchismus, woanders auch nur rein als Insurrektionalismus (Insurrezionalismo, Insurreccionalismo, Insurrectionalism) betitelt, zu tun hat. Mag dies natürlich schon eine verlorene Schlacht sein, zumindest was die Wortbedeutung und Wortassoziation angeht, denn für diese Verwirrung haben hierzulande sehr viele Anarchisten und Anarchistinnen beigetragen. Wir werden aber weiterhin darauf hinweisen, dass diese falsche Assoziation nicht richtig ist. Auch haben wir weder damals, noch jetzt, wie auch nicht in der Zukunft verstanden, was an diesem Text so sonderlich gut sein sollte und niemand kann uns vorwerfen, dass wir nicht die Diskussion gesucht haben um daraus schlauer zu werden. Meistens erhielten wir sehr oberflächliche Antworten – um sie nicht als hirnamputiert zu bezeichnen-, wie: dieser Text sei schön, ein Kassenschlager, sogar die Frankfurter Allgemeine hätte darüber eine Rezension geschrieben, etc. Alles Antworten die für uns selbst keine waren, eine Feststellung ist weiterhin ja keine Erklärung, auch wenn dies weiterhin als Bares gilt. Während in südlichen Ländern dieser Text, also Der kommende Aufstand, nur eine Randnotiz spielte, meistens eher ignoriert, war dieser im deutschsprachigen Raum wie eine Oase mitten in einer Wüste, dies verstanden als eine Fata Morgana. Warum dies so war, wäre für eine zukünftige Debatte interessant, weil nicht was der Text selbst sagt, sondern was dieser im deutschsprachigen Raum hervorbrachte, sowie die Gründe dafür, sind immer noch ein Grund tiefgreifender Debatten eines Phänomens, was noch nicht unbedeutend sein mag, genauso was dies mit einer anarchistischen Bewegung zu tun haben mag. Wir werden sehen.

Alle Zitate aus Dem kommenden Aufstand haben wir aus der deutschsprachigen Übersetzung übernommen, mitsamt möglichen Übersetzungsdivergenzen. Alle kursiven Textstellen sind aus dem italienischen übernommen worden, außer im Falle von Der kommende Aufstand, wir taten dies um den Titel nur zu unterstreichen und dass es sich immer um diese Schrift handelte.

Die Insurrektion und ihr Double

Bei der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Romantik beobachtete Victor Hugo, dass jeder authentische Gedanke von einem beunruhigenden Double bespitzelt wird, der immer auf der Lauer liegt, immer bereit, mit dem Original zu verschmelzen. Ein Charakter von erstaunlicher Plastizität, der mit Ähnlichkeiten spielt, um auf der Bühne etwas Applaus zu bekommen. Dieses Double hat die einzigartige Fähigkeit, Schwefel in Weihwasser zu verwandeln und vom widerspenstigsten Publikum akzeptieren zu lassen. Auch die moderne Insurrektion, die gerne auf die Zentralkomitees und Sol dell’Avvenire[1] verzichtet, hat es mit ihrem Schatten zu tun, mit ihrem Parasiten, mit einem Klassiker, der sie nachahmt, der ihre Farben trägt, sich in ihre Kleider kleidet, ihre Krümel aufsammelt.

Nach dem Medienrummel, der das Buch in Frankreich zu einem Bestseller machte, ist Der kommende Aufstand nun auch auf Italienisch erhältlich.

Das im März 2007 veröffentlichte und vom Unsichtbaren Komitee unterzeichnete Buch Der kommende Aufstand[2] wurde in den transalpinen Nachrichten nach der gerichtlichen Untersuchung bekannt, die am 11. November 2008 zur Verhaftung von neun Subversiven in dem kleinen Dorf Tarnac führte, die beschuldigt wurden, an einer Sabotage gegen das Hochgeschwindigkeitseisenbahnnetz beteiligt gewesen zu sein. Wie so oft in solchen Fällen wollte der Richter sein Theorem auch vom „theoretischen“ Standpunkt aus untermauern, indem er einem der Verhafteten die Urheberschaft des fraglichen Buches zuschrieb. Herausgegeben von einem kleinen linken kommerziellen Verlag, im ganzen Land vertrieben und zum Zeitpunkt seines Erscheinens vom Establishment gut aufgenommen, wurde Der kommende Aufstand auf Beschluss der Staatsanwaltschaft zu einem gefährlichen und gefürchteten „Sabotage-Handbuch“[3]. Daher sein Erfolg, begünstigt außerdem durch die Intervention zu seinen Gunsten von einigen Klerikern der Intelligenzija (französische und nicht nur), besorgt über die ungebührliche polizeiliche Einmischung auf dem Gebiet der politischen Philosophie. Man spürt die Verblüffung derjenigen, die plötzlich entdeckt haben, dass die Partei zwar imaginär ist, die Polizei aber noch viel weniger, und noch weniger die Genugtuung des Herausgebers dieses Buches, der sich nie hätte vorstellen können, im Innenministerium eine so effiziente Werbeagentur zu finden. In jedem Fall wurden alle Verhafteten nach einigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen und werden voraussichtlich diesen für eine lange Zeit nicht betreten. Wir können daher an dieser Stelle jeden Bezug zu diesem Ereignis schließen, das groteske Konnotationen hatte, da die Verbindung zwischen Der kommende Aufstand und den in Tarnac Verhafteten schließlich das Werk der französischen Justiz war. Es gibt also keinen Grund, sich weiter damit zu beschäftigen.

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Fredy Perlman – Der anhaltende Reiz des Nationalismus

AutorIn: Fredy Perlman
Titel: Der anhaltende Reiz des Nationalismus
Datum: Winter 1984
Bemerkungen: Deutsche Übersetzung von April 2021. Originaltitel »The Continuing Appeal of Nationalism«.
Dieser Essay wurde im Winter 1984 in Fifth Estate veröffentlicht.
Diese Übersetzung folgt der Ausgabe von Black & Red von 1985.
Quelle: Entnommen aus Fredy Perlman: „Der anhaltende Reiz des Nationalismus“, Maschinenstürmer Distro, o.O., April 2021, S. 3 – 98.

Der Nationalismus wurde in diesem Jahrhundert bereits mehrere Male für tot erklärt:

– nach dem Ersten Weltkrieg, als die letzten Imperien Europas, das österreichische und das türkische, in selbstbestimmte Nationen aufgebrochen wurden und keine Nationalisten ohne Nation übrig blieben, bis auf die Zionisten;

– nach dem bolschewistischen Staatsstreich, als gesagt wurde, dass die Kämpfe der Bourgeoisie um Selbstbestimmung fortan von den Kämpfen der Arbeiter abgelöst würden, welche kein Vaterland hätten;

– nach der militärischen Niederlage des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands, als die Genozide, Folgeerscheinungen des Nationalismus, für alle sichtbar gemacht worden waren, und man dachte, dass Nationalismus als Credo und als Praxis für immer diskreditiert sei.

Doch vierzig Jahre nach der militärischen Niederlage der Faschisten und der Nationalsozialisten können wir sehen, dass der Nationalismus nicht nur überlebt hat, sondern auch wiedergeboren wurde, eine Neubelebung erfahren hat. Der Nationalismus wurde nicht nur von der sogenannten Rechten wiederbelebt, sondern auch und vor allem von der sogenannten Linken. Nach dem nationalsozialistischen Krieg hat der Nationalismus aufgehört an Konservative gebunden zu sein, wurde das Credo und die Praxis von Revolutionären, und erwies sich als einziges revolutionäres Credo, das tatsächlich funktionierte.

Linke oder revolutionäre Nationalisten bestehen darauf, dass ihr Nationalismus nichts mit dem Nationalismus der Faschisten und der Nationalsozialisten zu tun hätte, dass der ihre der Nationalismus der Unterdrückten sei, dass dieser sowohl persönliche als auch kulturelle Befreiung böte. Die Behauptungen der revolutionären Nationalisten werden weltweit von den beiden ältesten, anhaltenden hierarchischen Institutionen verbreitet, die bis in unsere Zeit überlebt haben: dem chinesischen Staat und, erst kürzlich, der katholische Kirche[1]. Aktuell wird für Nationalismus als Strategie, Wissenschaft und Theologie der Befreiung geworben, als die Erfüllung des Diktums der Aufklärung, dass Wissen Macht sei, als eine bewiesene Antwort auf die Frage Was muss getan werden?

Um diese Behauptungen anzugreifen und sie im Kontext zu betrachten, muss ich fragen, was Nationalismus eigentlich ist – nicht nur der neue, revolutionäre Nationalismus, sondern auch der alte, konservative. Ich kann nicht damit beginnen, diesen Begriff zu definieren, denn Nationalismus ist kein Wort mit einer statischen Definition; er ist ein Begriff, der eine Reihe an verschiedenen historischen Erfahrungen umfasst. Ich werde damit beginnen, einige dieser Erfahrungen grob zu umreißen.

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Einem weitverbreiteten (und leichtgläubigen) Irrglauben zufolge ist Imperialismus relativ neu, besteht aus der Kolonisierung der ganzen Welt und ist das letzte Stadium des Kapitalismus. Diese Diagnose bietet eine spezifische Kur: Nationalismus wird als Gegenmittel gegen Imperialismus angepriesen: nationalen Befreiungskriegen wird nachgesagt, dass sie das kapitalistische Imperium zerschlagen könnten.

Diese Diagnose dient einem Zweck, doch sie beschreibt weder irgendein Ereignis noch eine Situation. Wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir diese Konzeption auf den Kopf stellen und sagen, dass Imperialismus das erste Stadium des Kapitalismus war, dass die Welt Stück für Stück von Nationalstaaten kolonisiert wurde und dass Nationalismus das vorherrschende, aktuelle und (hoffentlich) das letzte Stadium des Kapitalismus ist. Die Eckpfeiler dieser Betrachtung wurden nicht erst gestern entdeckt; sie sind ebenso vertraut wie der Irrglaube, der sie leugnet.

Es ist aus verschiedensten guten Gründen bequem gewesen zu vergessen, dass bis in die letzten Jahrhunderte die vorherrschenden Mächte Eurasiens keine Nationalstaaten, sondern Imperien waren. Ein Himmlisches Reich, beherrscht von der Ming-Dynastie, ein islamisches Imperium, beherrscht von der ottomanischen Dynastie, und ein katholisches Imperium, beherrscht von der Dynastie der Habsburger, wetteiferten um den Besitz der bekannten Welt. Von den dreien waren die Katholiken nicht die ersten Imperialisten, sondern die letzten. Das Himmlische Reich der Ming herrschte über fast ganz Ostasien und hatte riesige Handelsflotten nach Übersee entsandt, und das ein Jahrhundert bevor die seefahrenden Katholiken in Mexiko einfielen.

Die Zelebranten der katholischen Großtaten vergessen, dass der chinesische imperiale Bürokrat Cheng Ho zwischen 1420 und 1430 Seeexpeditionen mit 70.000 Mann kommandierte und nicht nur zur nahegelegenen Malaiischen Halbinsel, nach Indonesien und Ceylon segelte, sondern auch weit vom heimischen Hafen entfernt in den Persischen Golf, zum Roten Meer und nach Afrika. Die Zelebranten der katholischen Conquistadores reden auch die imperialen Großtaten der Ottomanen klein, die alles bis auf die westlichstgelegenen Provinzen des früheren römischen Reiches eroberten, über Nordafrika, Arabien, den mittleren Osten und halb Europa herrschten, den Mittelmeerraum kontrollierten und an die Tore von Wien hämmerten. Die imperialen Katholiken segelten westwärts, über die Grenzen der bekannten Welt hinaus, um der Einkreisung zu entkommen.

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Elany – Verbrannte Erde, kranke Körper: Die Notwendigkeit die Industrie zu zerstören

AutorIn: Elany
Titel: Verbrannte Erde, kranke Körper: Die Notwendigkeit die Industrie zu zerstören
Datum: 12.04.2021
Quelle: Entnommen aus: Elany (Hrsg.): „Schwarze Saat – Gesammelte Schriften Zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus“. o.O., 2021, S. 133 – 136. Ürsprünglich veröffentlicht bei schwarzerpfeil.de;

Während ein Teil der Erde von Bränden heimgesucht wird und der andere Teil mit Überschwemmungen zu kämpfen hat, bedroht uns ein weiterer Aspekt: Covid-19. Doch die immer noch gegenwärtige Corona-Pandemie ist dabei nur der Anfang einer neuen Ära von Pandemien.

Während der Klimawandel und Forderungen nach Umweltschutz immer weiter zum "Mainstream" werden, nimmt die Dringlichkeit von Pandemien zu. Die aktuelle Situation hat den Menschen eine deutliche Lektion erteilt: Tödliche Krankheitserreger stellen eine ebenso große und globale Bedrohung für Menschen und andere Lebewesen dar.

Schon vor etwas mehr als 15 Jahren hat der Soziologe Mike Davis vorhergesagt, dass wir aufgrund der Massentierhaltung ein globales Zeitalter der Pandemien beschreiten und es uns in die Katastrophe führen wird. Die industrielle Viehzucht fungiert wie eine Art Teilchenbeschleuniger. Mehr Körper auf weniger Raum bedeuten mehr Chancen für die Entstehung von Mutationen oder Hybridviren und für ihre Verbreitung, egal bei welchem Virus. Die globalen Versorgungsketten riesiger transnationaler Unternehmen mit Niederlassungen in einem halben Dutzend Ländern und Märkten in tausend Städten sowie die Urbanisierung tun ihr Übriges. Am Bedrohlichsten sind dabei die Vogelgrippeviren und wir wissen heute, dass wir wohl nur eine einzige Mutation davon entfernt sind, dass einer der tödlichsten Stämme der Vogelgrippe pandemisch wird. Diese Seuchen, die von der Agrarindustrie geschaffen und verbreitet werden, legen sich anschließend mit besonderer Verheerung über die Orte, die durch Kolonialismus und Kapitalismus in Armut versinken. Die Kombination aus mangelnder Gesundheitsversorgung und starker Urbanisierung führt schließlich zu einer ernsten Notlage, in der Seuchen die volle Härte der Verwüstung anrichten.

Apropos Verwüstung: Die Auswirkungen des Klimawandels sind ebenfalls mit voller Härte überall um uns herum zu spüren. Die Liste der Verwüstung ist endlos. Wälder werden abgeholzt, wobei häufigere und intensivere Hitzewellenzu einer Zunahme von Waldbränden, Dürreperioden und Wüstenbildung führen. Böden werden erodiert und Ackerland in Wüsten verwandelt. Düngemittel, Herbizide, Fungizide und Pestizide verunreinigen die Lebensmittelversorgung. Mülldeponien quellen über mit synthetischen Abfällen. Kernkraftwerke füllen Luft, Land und Meer mit krebserregenden Partikeln. Ein chemischer Smog füllt die Straßen der Städte und vergiftet Menschen und andere Lebewesen auf Schritt und Tritt. Plastikmüll zerfällt in Billionen von mikroskopisch kleinen Teilchen, die jeden lebenden Organismus infizieren. Chemikalien werden in Meere, Seen und Flüsse gekippt. Giftstoffe sickern ins Grundwasser. Der Anstieg und die Erwärmung der Meere führen zu stärkeren Regenfällen, schwereren Überschwemmungen, häufigeren Megastürmen und der Überflutung von Küstengebieten.

Zusätzlich zur Erwärmung erleben die Ozeane eine Versauerung und einen Sauerstoffverlust. Ein tödliches Trio, welches dazu führt, dass wir auf ein sechstes Massenaussterben des Lebens auf unserem Planeten zusteuern, bei dem das Artensterben 1000-mal so schnell voranschreitet wie normal. Wie die Ozeanografin Sylvia Earle festhält: "Unser Leben hängt vom lebendigen Ozean ab. Nicht nur von den Felsen und dem Wasser, sondern von stabilen, widerstandsfähigen, vielfältigen lebenden Systemen, die die Welt auf einem für die Menschheit günstigen, stetigen Kurs halten." Der Ozean bedeckt etwa 70% der Erde und ist zentral für die Ermöglichung von Leben. Meerespflanzen erzeugen die Hälfte des atembaren Sauerstoffs der Welt. Wenn der Ozean stirbt, sterben auch wir.

Die Agrarindustrie zerstört nicht nur Gemeinschaften, sondern breitet sich auch

in die Wildnis aus, zerstört die Vielfalt und das Gleichgewicht der natürlichen Ökologie und ersetzt sie durch riesige Monokulturen. Die Hälfte der bewohnbaren Fläche der Erde wird heute landwirtschaftlich genutzt, und jedes Jahr kommen Millionen von Hektar hinzu. Ein Großteil dieser Anbauflächen dient der Futtermittelproduktion für Hunderte von Millionen Schweinen, Rindern, Schafen und Geflügel, die für die globalen Versorgungsketten gemästet werden, die die Welt umspannen.

Zusätzlich dazu kommen noch weitere soziale, ökonomische und politische Verschärfungen, wie etwa Hungersnöte und Wasserknappheit, Krankheiten und Tod durch Hitze, Seuchen und Zerstörung wichtiger Lebensräume und Kriege um schwindende Ressourcen und nutzbare Territorien. Der Klimawandel zerstört Lebensgrundlagen, verstärkt Krankheiten und vertreibt Menschen. Zusammen mit der Ära der Pandemien ergibt sich eine globale Kaskade des Leids.

Wo immer wir ökologische Zerstörung finden, finden wir die Industrie. Die Industrie ist nicht neutral und es könnte keine angemessene Lösung für die Umweltzerstörung geben, solange die Industrie weiter existiert. Um das Leid zu beenden, bedarf es einen vollständigen Untergang der Industrie. Oder wie es in Revolte, einer anarchistische Zeitung aus Wien, 2019 in Ausgabe 43 treffend ausgedrückt wurde: „Für die Zerstörung der Industrie, der Arbeit und der Ausbeutung! Für die Sabotage und den direkten Angriff!“

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