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Neueste Entwicklungen und Hintergründe rund um das 129er Verfahren in München oder: Die Verfolgung von Anarchist*innen und Kippenstummeln im bajuwarisch-christlichen Königreich

Der folgende Text soll einige Hintergründe zu dem laufenden 129er Verfahren in München geben und über neueste Entwicklungen informieren als auch eine generelle Einschätzung zu dem ganzen Komplex liefern. Das Verfahren wurde am 26.04.22 bekannt, als koordinierte Hausdurchsuchungen in vier Wohnungen, der anarchistischen Bibliothek Frevel und einer Druckerei stattfanden. Mehr dazu hier: https://de.indymedia.org/node/188585

Bevor wir chronologisch den uns bekannten Ablauf der stattgefundenen Ermittlungen erläutern, erklären wir hier nochmal die Tatvorwürfe: Das 129er Verfahren wegen krimineller Vereinigung einschließlich dem Vorwurf 15 Straftaten begangen zu haben, die entweder Aufruf zu Straftaten, Billigung von Straftaten oder Bedrohung oder beides lauten, bezieht sich auf den Vorwurf die von Mai 2019 bis September 2021 erschienene anarchistische Zeitung Zündlumpen herausgegeben, verfasst, gedruckt und verbreitet zu haben. Kurz: Die Beschuldigten sollen angeblich die Zündlumpen-Redaktion sein, welche wiederum eine Kriminelle Vereinigung sein soll.

Wie fing alles an?
Dem Zündlumpen wurde die unermessliche Ehre zu Teil, seine erste Anzeige vom bajuwarisch-christlichen Vizekönig zugeteilt zu bekommen und zwar von Dr. Joachim Hermann persönlich. Zur Erläuterung: Seit Anbeginn der Zeitrechnung ist der stramme CSU-Mann Joachim Oberbefehlshaber seiner noch strammeren Exekutive, denn Joachim ist bayrischer Innenminister. Joachim wacht über die nicht für ihre Milde bekannte bayrische Polizei, über die bayrischen Grenzen und den bayrischen Verfassungsschutz. Bei Joachim ist klar, wenn es um Grenzen geht, dann will er sie dicht, wenn es um Flüchtlinge geht, dann will er sie nicht, wenn es um Polizisten geht, dann will er Zehntausende neue, wenn es um „Sicherheit“ geht, dann will Joachim Milliarden Euros investieren, wenn Joachim über einen Schwarzen redet, dann nennt er ihn „einen wunderbaren Neger“ und wenn es um Linksextremismus geht, dann sieht Joachim Jahr für Jahr bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes eine „wachsende Gefahr“. Joachim selbst war es also, die majestätische Hoheit der grünen Armada, der sich plötzlich vom Zündlumpen bedroht fühlte. Als der Zündlumpen mit Bezug auf einige von Joachim über den gefährlichen Zündlumpen getätigten Aussagen grob umrissen meinte, dass man ja historisch und rein theoretisch auf Seite der Königsmörder etc. stehe würde, stellte Joachim Hermann, angeblich wohnhaft im Innenministerium, höchstpersönlich eine Anzeige wegen Bedrohung.

Dass die Repressionsbehörden in Bayern nerven und Anhänger der alten Schule sind, weiß jeder, selbst Dr. Joachims rappender Sohn Jakob alias Jaggy Jackpot: „Viele Jobs, viele Cops, das ist Bayern, Diggah. / Das heißt, ich halt das Ott an meinen Eiern, Diggah.“ Der Zündlumpen hat sich also der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht, diesmal in Form von Bedrohung – der Beginn einer groß angelegten Ermittlung, deren politische Motivation mit diesem Auftakt nicht deutlicher und symbolischer sein könnte.
 
Erste Ermittlungen
Nach dieser ersten Anzeige sammelte der Zündlumpen aber weiterhin fleißig Anzeigen: Spätestens nachdem sich ab März 2020 alles nur noch um Corona drehte und der Zündlumpen empfahl, doch am besten im Falle einer Coronainfektion Polizisten anzuspucken, ging ein Beben durch die Socialmedia-Netzwerke der Cops. In Erfurt, Lüneburg und Köln wurden Anzeigen wegen Aufforderung zu Straftaten gestellt und die jeweiligen Staatsanwaltschaften leiteten diese nach München weiter. Etwa zur gleichen Zeit tauchten in München auch Plakate auf, deren Vorlagen im Zündlumpen erschienen waren und dass diese geklebt wurden, entging der Polizei ebenfalls nicht. Einigen hörigen Bürger*innen geriet auch hin und wieder ein Zündlumpen in die Hand oder in den Briefkasten, was diese derart provozierte, dass sie unverzüglich die 110 wählten. Mit der Zeit stapelten sich also die Anzeigen bezüglich des Zündlumpens auf dem Tisch der zuständigen Kriminalpolizisten für Linksextremismus (Staatsschutz).

Erste Schritte der Ermittlungen waren folgende: Die Urheber der Internetadresse des Zündlumpen-Blogs auf noblogs versuchen zu identifizieren. Keine Ergebnisse. Dann versuchte das LKA das Druckbild der erbeuteten Zündlumpen-Ausgaben zu analysieren: Diese wurden anscheinend mit einem Tintenstrahldrucker gedruckt. Dann wurden die gefundenen Zündlumpen-Ausgaben auf DNA hin untersucht, was wiederum keine Ergebnisse brachte.

Ein weiterer Schritt war es dann eine Anzeige gegen den Zündlumpen wegen Anleitung zu Straftaten zu stellen, da dieser in einer folgenden Ausgabe (während der damaligen Ausgangssperre) erklärte, wie man Straßenlaternen ausknipst. Diese Erklärung brachte der Münchner Staatsschutz dann in Zusammenhang mit einigen durchgeknipsten Kabeln an Internet-und Telefonkästen in München. Da Stromkabel durchgeschnitten wurden, welche danach offen lagen, wurde wegen einer staatsgefährdenden Sabotage ermittelt. Zu eben diesen am 31.12.2021 in der Folge unterbrochenen Internet- und Telefonleitungen ermittelte die Polizei ein bisschen herum und kamen zu keinen Ergebnissen. Anscheinend konnten die Cops keinerlei Spuren von den Telefonkästen nehmen, da angesichts der offenen Leitungen immer zuerst ein*e Telekom-Mitarbeiter*in kommen musste, um den Kasten zu reparieren. Die angewandten Ermittlungsstrategien der Cops wie beispielsweise Abfragen bei überregionalen Polizeistellen, ob ähnliches schon mal vorgefallen war, sowie das Aushängen von Zeugenaufrufen oder das Analysieren von möglichen Bewegungsrouten der Täter*innen lieferten keinerlei Indizien. Der Staatsschutz befand sich bezüglich dieser Sache im regen Kontakt mit der Telecom-Security und wollte diesbezüglich dazu anregen, ob es nicht möglich wäre ein Alarmsystem bei Störungen einzuführen, welches unverzüglich die Polizei informieren würde, was die Telecom-Security allerdings ablehnte, da es laut diesen zu allzu vielen Störungen kommen würde.

Zu diesem Zeitpunkt wurden also bereits mehrere Anzeigen und Ermittlungen gegen den Zündlumpen geführt, welche alle zu keinerlei Ergebnis führten. Es wurde die Einstellung der Ermittlungen erwogen… doch dann funkte der Verfassungsschutz dazwischen…
 
Tada!
… und dann liefen die Ermittlungen „plötzlich“ gegen drei Beschuldigte, die die Polizei nach einem Intermezzo mit dem Verfassungsschutz aus dem Hut zauberte. Dass diese Weitergabe von Informationen offensichtlich sehr „ungeregelt“ und „intransparent“ abgelaufen sein dürfte, ist nicht verwunderlich (dass gerade der bayrische VS relativ „intransparent“ arbeitet, ist spätestens seit dem NSU-Komplex kein Geheimnis mehr). Drei Personen sind übrigens die Mindestanzahl um rechtlich eine kriminelle Vereinigung darstellen zu können. Während der Verfassungsschutz einige Analysen von Ideologie (aufständischer Anarchismus), Radikalität und Gewaltnähe sowie Sprache (das Wort Bulle wir so und so oft benutzt) des Zündlumpens nachlieferte, ermittelte der Staatsschutz nun gegen drei Personen wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Der Verfassungsschutz lieferte einige Hintergrundinfos zu den drei Beschuldigten und stellte die Thesen auf, dass diese alle Anarchist*innen seien und dass sie alle Verbindungen zu der Bibliothek Frevel haben sollen (die ohnehin ein ganz gefährlicher und verbrecherischer Ort sei). Zudem wird ersichtlich, dass der VS ein festes Umfeld der Bibliothek Frevel konstruiert, welches ebenso im Fokus von Überwachungsmaßnahmen stand. In diesem Kontext erwähnt der VS ebenso eine Reihe von in München verübten unaufgeklärten Straftaten und Brandstiftungen.

Doch was werfen die Polizisten den jeweiligen Beschuldigten vor bzw. wie sind sie ins Visier der Cops geraten?

„Person 1“ der Ermittlungen wird vorgeworfen, dass er einen Raum angemietet haben soll, in dem angeblich der Zündlumpen produziert worden sein soll (eine sogenannte Ermittlungshypothese, d.h.: eine bloße Vermutung ohne Indizien). Außerdem soll Person 1 polizeibekannt und ein Anarchist sein und zudem andere Anarchist:innen kennen. Von der Existenz dieser Druckerei soll die Polizei durch einen zufälligen Anruf erfahren haben, in Folge dessen Streifenpolizisten wegen Lärmbeschwerde in der Örtlichkeit vorbei fuhren… und andere Polizisten durch eine ein paar Tage später stattgefundene Personenkontrolle herausgefunden haben sollen, dass dort anarchistische Sachen gedruckt werden. Zudem soll ein anderer Polizist Person 1 einmal zufällig im Kontext einer anderen Herumschnüffelei in dem betreffenden Haus gesehen haben, ihn erkannt haben und sich dann beim Vermieter über das Mietverhältnis erkundigt haben.

„Person 2“ wird vorgeworfen, dass er Informatik studiert haben soll, was ein Indiz darauf sein soll, dass er die fachlichen Fähigkeiten besitzen soll, einen Noblogs-Blog zu betreiben, welcher die Informatiker des LKAs vor unüberwindliche Hürden der Entanonymisierung stellte. Zudem soll Person 2 zwei mal Plakate geklebt haben, welche inhaltlich ähnliche Sachen thematisiert haben sollen, wie der Zündlumpen (bspw. IAA). Darüberhinaus schreibt Person 2 in ihren „Betreffs“ von Bankkonto-Überweisungen gelegentlich dumme Sprüche und Ausrufe gegen Polizisten, was der Zündlumpen auch tut. Außerdem sei er ein Anarchist und polizeibekannt.

„Person 3“ wird vorgeworfen, dass sie Französisch spreche. Was nahelegen soll, dass sie Übersetzungen aus dem Französischen für den Zündlumpen angefertigt haben soll. Außerdem soll Person 3 einmal innerhalb einer Kirche von einer Überwachungskamera gefilmt worden sein, wie sie eine einzelne Ausgabe eines Zündlumpens in betreffender Kirche hinterlassen haben soll. Außerdem soll sie von ihrem Konto Dinge bestellt haben, die unter anderem für das Drucken von Sachen benutzt werden könnten.

Dieses Konstrukt diente Polizei, Staatsanwaltschaft und Richtern schließlich dazu Observationen und andere Überwachungsmaßnahmen einzuleiten als auch die bereits zwei Monate im Vorhinein geplanten Hausdurchsuchungen im April 2022 in Gang zu bringen. Auch der Verfassungsschutz erhielt über betreffenden Zeitraum und darüberhinaus die Generalbefugnis für umfassende Überwachungsmaßnahmen. Bei den folgenden Hausdurchsuchungen wurden stets alle Zimmer durchsucht, da behauptet wurde, dass überall Anarchist:innen wohnen würden, die einerseits zu Gewalt bereit seien und andererseits Eigentum untereinander teilen würden. Dass einige Leute in den Wohnungen zu wohnen schienen, die zuvor nicht als Mitbewohner*innen gelistet waren, hielt sie nicht davor ab auch von diesen Laptops, USB-Sticks, persönliche Briefe etc. zu beschlagnahmen und Schriftproben zu nehmen. Ebenfalls lag ein Durchsuchungsbeschluss für die angebliche Lebensgefährtin eines Betroffenen vor, der allerdings nicht umgesetzt wurde.

Ein Kippenstummel – voilá!
Nachdem die Cops in den Privatwohnungen dutzende Kisten mit Zeugs und allen möglichen Zeitungen, Broschüren; kurz: mit allem anarchistisch erscheinenden Papier davon gebraust waren und in der Druckerei alles mitgenommen hatten, was nicht gerade ein Stuhl oder ein Mülleimer war, also Zehntausende Blatt Blanko-Papier, alle Maschinen, tausende Zeitungen und Bücher; machten sie sich daran insbesondere alle Gegenstände aus der Druckerei nach DNA-Spuren zu analysieren, als ob diese ein geheimes Bombenlabor gewesen wäre. Sie nahmen dutzende und aberdutzende von Proben von Druckern und Maschinen… und fanden schließlich eine bekannte DNA-Spur!

Diese DNA-Spur konnte angeblich „Person 4“ zugeordnet werden, während gleichzeitig ausgeschlossen werden konnte, dass irgendeine andere DNA-Spur von Person 4 ist. Person 4 soll also eine Kippe in der Druckerei geraucht haben… und voilá, Person 4 ist nun auch Teil der kriminellen Vereinigung. Denn Person 4 soll auch Anarchist und polizeibekannt sein. Die lächerliche Anschuldigung eine Kippe in einer Druckerei geraucht zu haben, reichte einem Richter einen Durchsuchungsbeschluss zu bewilligen, der bis jetzt noch nicht durchgesetzt wurde… und in welchem es wieder heißt, dass alle anarchistischen Druckerzeugnisse, persönlichen Schriftstücke, Drucker etc. beschlagnahmt werden sollen. Interessant: Die Cops wollen immer die WLAN-Router beschlagnahmen, um die in diesen gespeicherten MAC-Adressen auszuwerten.

Die Absurdität des Ganzen
Die Polizei hat offensichtlich einen enormen politischen Willen, Räume zu zerschlagen, die von Anarchist*innen frequentiert und genutzt werden, was auch ihr Bedrängen und Einschüchtern des Vermieters der anarchistischen Bibliothek Frevel gezeigt hat, welcher in der Folge den Mietvertrag der Bibliothek gekündigt hat. Das Zusammenspiel von Innenministerium, Verfassungsschutz, Staatsschutz und LKA erwirkt, dass es ausreicht ein*e Anarchist*in zu sein, einem Personenkreis zugerechnet zu werden und Leute angeblich zu kennen, um einer kriminellen Organisation angeschuldigt zu werden. Der bayrische Staat schreckt weder davor zurück, das Bild einer Diktatur zu erzeugen, wenn seine Schergen jegliche anarchistische Publikation und jegliches Druckgerät beschlagnahmen, noch Mafia-mäßig Vermieter einzuschüchtern und bei Nicht-Herausgabe von Mietverträgen mit Hausdurchsuchungen zu drohen. Dem Staat geht es offensichtlich darum die Präsenz anarchistischer Ideen, Räume, Beziehungen und Praktiken zu ersticken. Die juristische Ebene dieses Versuches ist bezeichnend: Die Polizei kann zwischen keiner der inzwischen vier beschuldigten Personen einen tatsächlichen Bezug zum Zündlumpen herzustellen, geschweige denn zu dem Verfassen von Artikeln. Hauptanklage: Die Angeklagten sind Anarchist:innen und kennen sich angeblich. Die Ermittlungslinie, die der Staat daraufhin verfolgt ist die, mit DNA-Spuren-Treffern irgendwelche Indizien zu konstruieren! Er versucht DNA-Spuren von Anarchist:innen auf Druckern oder einzelnen Ausgaben des Zündlumpens oder nur irgendwo in einer Druckerei zu finden und dies dann so darzustellen, als wäre man Teil der Redaktion des Zündlumpens. Dieses absurde Herumkonstruieren reicht der Staatsanwaltschaft und Richterschaft jegliche repressive Maßnahme und jede Durchsuchung und Beschlagnahmung durchzuwinken. Diese Ermittlungstaktik hat Relevanz für die gesamte Bundesrepublik: Wenn es den hier tätigen Cops, Richter*innen und Staatsanwält*innen gelingt, die bloße Anschuldigung, dass eine gefundene DNA-Spur, die einer Zeitung, einem Druckgerät oder irgendeinem Gegenstand in einer Druckerei anhaftete, mit einer betreffenden Person übereinstimmen soll, drauf hinaus laufen zu lassen, dass man betreffende Zeitung angeblich gedruckt, verbreitet oder gar die Artikel verfasst hat, dann stellt der Besitz jeder anarchistischen Zeitung ein potentielles Verbrechen dar. Fahrenheit 451 lässt grüßen!

Der Vorstoß das Herausgeben einer Zeitung mit DNA-Spuren begründen zu wollen (wie an Kippenstummeln in einer Druckerei) ist ein repressiver Vorstoß, der uns alle etwas angeht! Der bayrische Staat will nicht nur die Existenz anarchistischer Räume und Publikationen unterdrücken, sondern auch das bloße Besitzen, Lesen und Drucken von anarchistischen Zeitungen.

Diese letzten repressiven Vorstöße in München gehen alle Subversiven, Rebell*innen, Anarchist*innen, Antiautoritären und wilden Herzen etwas an. Denn wenn es ein Verbrechen ist anarchistische Zeitungen zu lesen, dann ist niemand von uns unschuldig!
 
Freiheit für die Druckmaschinen und alle Gefangenen weltweit!
Solidarität und Grüße an alle anderen Betroffenen von 129er Verfahren!
 

Einige anarchistische Bücherwürmer
und Leseratten aus Bavaria

Die anarchistische Bibliothek „Fermento“ schliesst ihre Tore an der Zweierstr. 42 in Zürich Ende Oktober

Nach über 10 Jahren, an drei verschiedenen Standorten in Zürich, wird die anarchistische Bibliothek „Fermento“ mit dem Archiv und dem Distro Bereich eingelagert. Eingelagert soll nicht heissen, dass es nicht mehr zugänglich sein wird, aber es wird vorübergehend keine Öffnungszeiten mehr geben und wir verlassen den jetzigen Standort an der Zweierstr. 42 in Zürich per Ende Oktober 2022.

Wir blicken auf unzählige Begegnungen und Diskussionen zurück mit Leuten von Nah und Fern. Auf Buchvorstellungen, Filme, auf Momente, wo sich Leute aus verschiedenen Kämpfen und Projekten getroffen haben zum Austausch von Ideen, Publikationen und mehr, um die Herrschaft mit ihren verschiedensten Facetten anzugreifen.
 
Wir wissen zur Zeit nicht, wie es mit der anarchistischen Bibliothek „Fermento“ weitergehen wird. Wir wissen aber, dass wir unsere Ideen weiterhin vertiefen werden, um die Autoritäten zu bekämpfen!  

Die Zerstörung unseres Planeten und somit der Lebensgrundlage eines jeglichen freien und selbstbestimmten Lebens, Krieg und Militarisierung, Ausnahmezustände und eine damit einhergehende Totalisierung der technologischen Schädlichkeiten und Überwachung des Lebens, sind nur einige der offensichtlichsten Gründe, um die Welt der Herrschaft zu zerstören!

Solidarische Grüsse an alle anarchistischen Gefangenen in den Kerkern der Autoritäten!  

Solidarische Grüsse ins Nirgendwo an alle anarchistischen Gefährtˑinnen auf der Flucht von der Herrschaft!

Wir werden uns bestimmt irgendwo wiedersehen!

Jetzt und für immer: für die Anarchie!

Einige aus der anarchistischen Bibliothek „Fermento“

P.S.: Die Email Adresse bibliothek-fermento@riseup.net wird zur Zeit weiterhin aktiv bleiben, für Fragen und Anregungen, aber vor allem sendet weiterhin eure anarchistischen Publikationen per Mail. Gerne werden wir euch auch eine aktuelle Postadresse für die Printversionen
senden. Wenn ihr noch Bücher ausgeliehen habt, meldet euch doch kurz.

Ein Buch, um damit die weiße Vorherrschaft zu erschlagen

Eine Rezension von »Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus«

Wer sich wie ich aufgrund des Titels ein Buch über etwas wie beispielsweise die Maroon-Gemeinschaften oder auch anarchistischere Spielarten einer Art Rainbow Coalition erwartet hat, die*der wird zunächst ein wenig enttäuscht sein, wenn sie einen Blick in das Inhaltsverzeichnis von Schwarze Saat wagt. Nein, bei dem Buch handelt es sich tatsächlich um eine Textsammlung mit Texten zu verschiedensten Themen, geschrieben von Anarchist*innen, die entlang der Identitäten “Schwarz” und “Indigen” verortet werden (können). Von der vielzitierten Lucy Parsons über die spätere anarchistische Fraktion der Gefangenen der Black Panther-Bewegung, den nigerianischen (syndikalistischen) Anarchist Sam Mbah nicht vergessend, bis hin zu einigen der indigenen und schwarzen Anarchist*innen und anarchistischen/autonomen Organisationen der heutigen Bewegung in Nordamerika, sind alle bekannten und ein paar weniger bekannte schwarze und indigene Anarchist*innen mit Texten vertreten. Dass sich dabei viele Stimmen offen widersprechen, scheint vorprogrammiert. [1] Herausgeberin, Übersetzerin und Autorin Elany begründet die Zusammenstellung im Vorwort des Buches so auch damit, der Erzählung des Anarchismus als weiße, eurozentrische Bewegung, die Stimmen schwarzer und indigener Anarchist*innen gegenüberstellen zu wollen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, allerdings scheint mir das Problem, mit dem man in diesem Unterfangen konfrontiert ist, dass es im heutigen Spektrum deutschsprachiger Anarchisten ganz verschiedene Erzählungen von der anarchistischen Bewegung gibt. Während sich die organisationsfixierten Anarchist*innen auf die mehr als gewagte Hypothese festgelegt zu haben scheinen, der Anarchismus sei das Erbe des antiautoritären Flügels der Ersten Internationale und entsprechend gemäß ihrem autoritären Gegenflügel neben (ihrem eigentlichen Kontrahenten) Marx vorrangig die Schriften von Proudhon, Kropotkin und gelegentlich einmal Bakunin studieren (jaja, ich polemisiere und ja, es gibt auch noch Malatesta, Rocker, Goldman, Landauer, ja sogar die bereits erwähnte schwarze Anarchistin Lucy Parsons usw., deren Namen man in diesen Kreisen wenigstens kennt …), ist es in Abwesenheit eines zwar nach Verwesung stinkenden, aber immerhin doch die Zeiten überdauernden Kadavers einer anarchistischen Einheitsorganisation, schwierig, eine klare Kontinuität anarchistischer Geschichte zu entwickeln – und nicht alle wollen das überhaupt – und so beziehen sich die formloseren oder auch informell organisierten Anarchisten zumeist eher auf nur lose miteinander in Verbindung stehende Ereignisse, Publikationen und soziale Milieus und gar nicht so selten sind es auch die etwas weniger theoretisierten, volkstümlicheren Bewegungen, auf die sich seitens der organisationsfeindlicheren Anarchist*innen bezogen wird. Maroon-Gemeinschaften mögen vielleicht nicht zu einem Anarchismus der Internationalen passen, aber ich beispielsweise fand Russell Maroon Shoatz‘ “The Dragon and the Hydra: A Historical Study of Organizational Methods” (eine deutsche Übersetzung kann etwa über die anarchistischebibliothek.org heruntergeladen werden), ebenso wie auch die Beschäftigung mit diversen millenaristischen Sekten oder den Ludditen immer schon interessanter, als mir die parlamentarischen Rededuelle zwischen Marx und Bakunin zu Gemüte zu führen oder mir die sterbenslangweiligen und fortschrittsgläubigen Revolutions-Verwaltungspläne eines Kropotkin reinzuziehen (aber ob selbst diese “weißen Anarchist*innen” “nur philosophiert haben”, das würde ich einmal so dahingestellt lassen [2]). Schwarze Saat legt sich hier nicht fest, versucht vielleicht gewissermaßen verschiedensten Erzählungen schwarze und indigene Stimmen hinzuzufügen, ohne dass diese Erzählungen jedoch voneinander unterschieden werden, und verpasst dabei einerseits vielleicht die Gelegenheit, zur einen oder anderen Erzählung wirklich eine neue, schwarze oder indigene Perspektive beizutragen oder etwa gänzlich neue Erzählungen dem anarchistischen Fundus (wobei ich schon sehr gut verstehe, dass gerade viele Indigene, aber auch Schwarze sich immer geweigert hatten, die Geschichten ihrer Ahnen einer Anarchistischen Geschichtsschreibung, wie sie von manch einer Organisation oder auch einzelnen Individuen betrieben wird, hinzufügen zu lassen, aber zumindest wenn ich von einem Fundus anarchistischer Erzählungen spreche, dann meine ich etwas anderes) hinzuzufügen, während es mir andererseits, ob intendiert oder nicht, eine Steilvorlage zu liefern scheint, eine allgemeine Identität des*der schwarzen/indigenen Anarchist*in zu begründen und/oder zu verteidigen. Aber was würde ein “wir, schwarze/indigene [3] Anarchist*innen” bringen, außer dem Potential separatistischer Organisierung?

Der anhaltende Reiz des Schwarzen Nationalismus

Ein in mehreren Texten in Schwarze Saat wiederkehrendes, zwar oft kritisch, aber meinem Geschmack nach viel zu wenig feindselig diskutiertes Konzept, mit dem ich wirklich ein Problem habe, ist das des Schwarzen Nationalismus. Lorenzo Kom’boa Ervin, die Black Autonomy Federation, Ashanti Alston, Saint Andrew und weitere Autor*innen beziehen sich letztlich positiv auf einige Aspekte des Nationalismus, die ich anhand der Texte “Nationale Befreiung & Anarchismus” von Saint Andrew und “Jenseits des Nationalismus, aber nicht ohne ihn” von Ashanti Alston kritisch diskutieren will. Auch auf die Gefahr hin, dass es manch “schwarzer Anarchist […] satt [haben wird], dass vor allem weiße Anarchist*innen den Nationalismus einfach abweisen” (Ashanti Alston, S. 195). Ein Totschlagargument, wenn man mich fragt und gewiss könnte ich in einem Anflug von Tokenizing nun im Gegenzug mindestens ein Dutzend schwarzer Kritiken am Nationalismus droppen, aber dieses Spiel ist mir beileibe zu blöde. Ashanti Alston beschreibt zunächst seine Erfahrungen mit Schwarzen Nationalismen als Teenager, die ihm “das Leben gerettet” haben. Dass man “in erster Linie auf [sich] selbst schauen muss, um [sich] zu befreien”, dass es nicht “notwendig war, bei dem weißen Mann – vom Herrscher bis zum Revolutionär – ‘einzuchecken’, um zu sehen, ob es in Ordnung war” (S. 196), das klingt erst einmal nach einer mit (meinem) anarchistischem Denken nur allzu resonierenden Kritik an Führungspersönlichkeiten und kollektiven Zwangsverhältnissen, dass dieses Gefühl, das Ashanti Alston als eine Erkenntnis, die ihm vom Schwarzen Nationalismus von Malcolm X, der Black Power Bewegung und den Black Panthers vermittelt wurde, jedoch unter anderem in dem Slogan “WIR MÜSSEN UNSERE EIGENEN GEMEINSCHAFTEN KONTROLLIEREN” gipfelt, das resoniert dann schon erheblich weniger mit meinen Ideen. Es stimmt, vieles von dem, was die Black Panther an ihrer Basis taten, ist mit (meinen) anarchistischen Vorstellungen von Selbstorganisation vereinbar und ganz gewiss kann man nicht alle Anhänger*innen dieser Partei oder gar Bewegung über einen Kamm scheren, wie die zahlreichen kritischen Stimmen später anarchistischer Mitglieder, darunter auch Ashanti Alston, durchaus beweisen, aber ist das ein Argument dafür, dass der Nationalismus (nicht nur der der Black Panther) deshalb mit anarchistischen Ideen vereinbar wäre? Nur weil an der Basis zahllose Initiativen gegenseitiger Hilfe entstanden sind, wird das doch nichts an der Tatsache ändern, dass genau jener Nationalismus, dem Ashanti Alston diese Entwicklung zuschreibt, eben auch polizeiartige Strukturen zur “Kontrolle eigener Gemeinschaften” hervorbrachte, mit den autoritären Ideologien und Praxen der Parteiführung harmonierte und Solidarität mit angeblich revolutionären, nationalstaatlichen Bewegungen hervorrief. Dass es “selbst beim Nationalismus eines Louis Farrakhan [4] um die Rettung meines Volkes” geht, wie Ashanti Alston schreibt, will ich ja gar nicht bezweifeln, ebensowenig wie ich bezweifle, dass Anarchist*innen, ja sogar “die spezifischen anarchistischen Bewegungen innerhalb eines bestimmten Landes rassistisch sind”, aber ist das wirklich ein Argument für den Schwarzen Nationalismus?

“Es ist einfach, sich zurückzulehnen und über unseren Nationalismus aus dem modernistischen eurozentrischen Rahmen rationaler, wissenschaftlicher, materialistischer Modelle zu intellektualisieren. Während man das tut, ist es unser Nationalismus, der unser Volk ständig dazu bringt, zusammenzukommen, sich an unsere Geschichte zu erinnern, uns selbst zu lieben, weiterzuträumen und zurückzuschlagen. Schwarze Anarchist*innen und antiautoritäre Revolutionär*innen verstehen die Grenzen des Nationalismus in Bezug auf seinen historischen Sexismus, die Hierarchie oder seine modernistischen Züge im Allgemeinen. Aber wir erkennen auch die modernistischen Fallen des Anarchismus in Form des amerikanischen Rassismus/Klassenprivilegs, wenn es um People of Color geht.”

schreibt Ashanti Alston in seinem Text (S. 197 f.). Fredy Perlman, der versucht zu verstehen, wie eine Familienangehörige, nachdem sie vor dem nationalsozialistischen Genozid an den Juden, in dem ein anderer Teil seiner Familie vernichtet wurde, geflohen war, den Quechuas, an deren Seite er aufwuchs mit derart rassistischer Feindseligkeit gegenüberstehen konnte, beschreibt eine eher gegenteilige Erfahrung:

“Die Verachtung meiner Verwandten war meine erste Erfahrung mit Rassismus, der dieser Verwandten eine Ähnlichkeit mit den Pogromist*innen, vor denen sie geflohen war, verlieh; dass sie ihnen nur knapp entkommen war, machte sie nicht zu einer Kritikerin von Pogromist*innen; die Erfahrung trug möglicherweise gar nichts zu ihrer Persönlichkeit bei, nicht einmal hinischtlich ihrer Identifikation mit den Konquisitadoren, da diese mit Europäer*innen geteilt wurde, die nicht die Erfahrung meiner Verwandten teilten, nur knapp dem Konzentrationslager entgangen zu sein. Unterdrückte europäische Bauern hatten sich mit den Konquisitadoren identifiziert, die bereits lange vor der Erfahrung meiner Verwandten eine noch grausamere Unterdrückung gegen Nicht-Europäer*innen durchführten.

Meine Verwandte bediente sich ihrer Erfahrung Jahre später, als sie entschied, eine Fürsprecherin für den Staat Israel zu werden; zu dieser Zeit hatte sie ihre Verachtung der Quechuas nicht aufgegeben, im Gegenteil, sie richtete ihre Verachtung vielmehr gegen Menschen in anderen Teilen der Welt, gegen Menschen, die sie niemals getroffen hatte oder unter ihnen gelebt hatte. Aber damals interessierte ich mich nicht für ihre Entscheidung diesbezüglich; vielmehr interessierte ich mich für die Schokolade, die sie mir mitbrachte.”

– Fredy Perlman. Anti-Semitism and the Beirut Pogrom.

Kurze Zeit später formuliert er seine Gedanken diesbezüglich, ebenso wie hinsichtlich revolutionärer Bewegungen, die sich nationalistische Mobilisierungsstrategien zu eigen machen, in Der anhaltende Reiz des Nationalismus prägnanter:

“Industrialisierte Nationen haben ihr ursprüngliches Kapital durch Enteignung, Deportation, Verfolgung und Segregation, wenn nicht gar immer durch Vernichtung von Menschen, die als legitime Beute bestimmt werden, beschafft. Sippschaften wurden gebrochen, Umgebungen wurden zerstört, kulturelle Orientierungen und Gepflogenheiten wurden ausgerottet.

Nachkommen der Überlebenden solcher Angriffe haben Glück, wenn sie auch nur das kleinste Relikt bewahren können, den fliehendsten Schatten der Kulturen ihrer Vorfahren. Viele der Nachfahren behalten nicht einmal Schatten; sie sind vollkommen entleert; sie gehen arbeiten; sie vergrößern weiterhin den Apparat, der die Kultur ihrer Vorfahren zerstört hat. Und in der Welt der Arbeit sind sie an den Rand verbannt, zu den unangenehmsten und am schlechtesten bezahlten Jobs. Das macht sie wahnsinnig. Ein Supermarktpacker beispielsweise kann mehr über das Lager und die Bestellungen wissen als der Manager, kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass nicht er der Manager ist und der Manager kein Packer. Ein Security kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass er kein Polizeichef ist. Es ist unter Menschen, die all ihre Wurzeln verloren haben, die davon träumen Supermarktmanager und Polizeichef zu werden, wo die nationale Befreiung ihre Wurzeln schlägt; das ist der Ort, an dem Anführer und Generalstab geformt werden.

Der Nationalismus übt weiterhin seinen Reiz auf die Entleerten aus, weil andere Aussichten trostloser erscheinen. Die Kultur der Vorfahren wurde zerstört, daraus lässt sich schließen, anhand pragmatischer Standards gemessen, dass sie versagt hat; die einzigen Vorfahren, die überlebt haben, waren jene, die sich an das System der Invasoren angepasst haben, und sie überlebten an den Rändern von Mülldeponien. Die unterschiedlichen Utopien der Dichter und Träumer und die zahlreichen ‘Mythologien des Proletariats’ haben auch versagt, sie haben sich in der Praxis nicht bewährt, sie sind nichts gewesen als heiße Luft, Tagträume, Luftschlösser; das aktuelle Proletariat ist genauso rassistisch gewesen, wie die Bosse und die Polizei.

Der Packer und der Security haben den Kontakt zur alten Kultur verloren; Tagträume und Utopien interessieren sie nicht, sind tatsächlich abgewehrt durch die Geringschätzung des Geschäftsmannes gegenüber Dichtern, Herumtreibern und Träumern. Der Nationalismus bietet ihnen etwas Konkretes, etwas, das seit langem erprobt ist und von dem bekannt ist, dass es funktioniert. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund für die Nachfahren der Verfolgten verfolgt zu bleiben, wenn der Nationalismus ihnen die Aussicht bietet, Verfolger zu werden. Nahe und entfernte Verwandte von Opfern können ein rassistischer Nationalstaat werden; sie können selbst Menschen in Konzentrationslager pferchen, andere Menschen nach Lust und Laune herumschubsen, genozidalen Krieg gegen sie führen, ursprüngliches Kapital beschaffen, indem sie diese enteignen. Und wenn rassistische Verwandte von Hitlers Opfern das tun können, so können das auch nahe und entfernte Verwandte der Opfer von Washington, Jackson, Reagan oder Begin.

Jede unterdrückte Bevölkerung kann eine Nation werden, ein fotografisches Negativ der Unterdrückernation, ein Platz, wo der ehemalige Packer der Supermarktmanager ist, wo der ehemalige Security Polizeichef ist. Indem man die korrekte Strategie anwendet, kann jeder Security dem Beispiel der prätorianischen Wachen des antiken Rom folgen. Die Sicherheitspolizei eines ausländischen Minenkartells kann sich als Republik ausrufen, das Volk befreien, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als zu beten, dass die Befreiung irgendwann enden möge. Sogar vor der Machtergreifung kann eine Gang sich eine Front nennen und heftig besteuerten und konstant kontrollierten armen Menschen etwas anbieten, das ihnen noch fehlt: eine tributeintreibende Organisation und ein Mordkommando, genauer zusätzliche Steuerpächter und eine Polizei, eine, die diesen Menschen gehört. Auf diese Weise können Menschen von den Zügen ihrer viktimisierten Vorfahren befreit werden; all die Relikte, die immer noch aus präindustriellen Zeiten und nicht-kapitalistischen Kulturen überlebten, können endlich permanent ausgerottet werden.

Die Vorstellung, dass ein Verständnis des Genozids, eine Erinnerung an die Holocauste, Menschen nur dazu bringen kann, das System niederzureißen, ist irrtümlich. Der anhaltende Reiz des Nationalismus legt nahe, dass das Gegenteil wahrer ist, nämlich dass ein Verständnis der Genozide Menschen dazu gebracht hat, genozidale Armeen zu mobilisieren, dass die Erinnerung an Holocauste Menschen dazu gebracht hat, Holocauste zu begehen. Die sensiblen Dichter, die sich der Verluste erinnerten, die Forscher, die diese dokumentiert haben, sind wie die reinen Wissenschaftler gewesen, die die Struktur des Atoms entdeckt haben. Angewandte Wissenschaftler verwendeten die Entdeckung wie man den Atomkern spaltet, dazu Waffen zu produzieren, die jeden Atomkern spalten konnten; Nationalisten verwendeten die Poesie, um menschliche Bevölkerungen zu spalten und zu fusionieren, genozidale Armeen zu mobilisieren, neue Holocauste zu begehen.”

Flower Bomb drückt einen im Grunde ähnlichen Gedanken in dem Text “Really though, not all “black” people give a fuck about “white” dreads”, von dem auch eine deutschsprachige Übersetzung als hübsche Broschüre kursiert, etwas anders aus:

“Die geteilte Erfahrung im Kapitalismus “schwarz” zu sein, ist nur auf die Identität beschränkt. Nur weil Menschen die gleiche(n) institutionalisierte(n) Form(en) der Unterdrückung teilen, bedeutet das nicht automatisch, dass sie die gleichen Visionen und Absichten teilen, wie sie zu zerstören sind. Dies sind wichtige Unterschiede, die nicht abgeflacht werden sollten. Während diese Gruppen ihre betäubenden Versuche fortsetzen, ein neues System des Rassenessentialismus in der Schale des alten zu erschaffen, haben einige von uns Spaß daran, alle Systeme zu zerstören. Meine Anarchie ist eine existenzielle Erweiterung der Individualität jenseits der Grenzen rassenbasierter (und geschlechtsspezifischer) sozialer Konstrukte. Wenn sie von “schwarzer und brauner” Einheit gegen Rassismus und Faschismus sprechen, dann sagen einige von uns: Alle gegen Rassismus und Faschismus und auch gegen die festen Identitäten, die letztere funktionsfähig machen. Wo das Chaos mit der Emanzipation und dem grenzenlosen Potenzial, das sich daraus ergibt, blüht, wird Individualität zu einer Kriegswaffe gegen Kontrolle und kategorischer Enge. […]”

Eine meiner Meinung nach differenziertere Auseinandersetzung mit Nationalismus, die nicht einfach die sehr realen Erfahrungen, dass die Black Panthers autoritäre Nationalstaaten unter schwarzer Führung unterstützten, die im Endeffekt die koloniale Ausbeutung ihrer Bevölkerung beinahe unvermindert fortsetzte, mit dem meiner Meinung nach schwachen Argument beiseitewischt, dass die nationalistische Propaganda vielen Schwarzen dabei half, sich nicht als minderwertige Existenzen zu begreifen, liefert das Essay “Nationale Befreiung & Anarchismus – Reaktionär oder Revolutionär” von Saint Andrew (S. 173).

Saint Andrew definiert eine Nation als “eine imaginäre Gemeinschaft von Menschen, die sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache, Geschichte, Abstammung, Gesellschaft oder Kultur bildet und sich ihrer Autonomie bewusst ist.” Daher ist der “nationale Befreiungskampf” für ihn ein Kampf gegen das einer solchen Nation auferlegte Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung. Also ein Kampf einer Nation gegen ihre Unterdrückung durch eine andere und das kann unterschiedlichste Formen annehmen, wobei eine bestimmte Form, nämlich die des Nationalismus von ihm als diejenige Form definiert wird, bei der in der Regel durch die Angehörigen der Nation bzw. eben diejenigen, welche sich anmaßen in ihrem Namen zu sprechen, ein unabhängiger Staat geformt werden soll. Eigentlich ist damit klar, dass Anarchist*innen mit Nationalismus nichts zu tun haben können. Saint Andrew scheut sich jedoch vor dieser Absolutheit und bringt den Revolutionären Schwarzen Nationalismus ins Spiel, dem er seinen Platz im Kampf gegen Patriarchat, den Kapitalismus und den Staat attestiert. Zudem führt er den kurdischen nationalen Befreiungskampf der PKK als ein Beispiel für nationale Befreiung an, bei der man sich zugleich gegen einen Staat gestellt hätte.

Ich denke, dass, obwohl Saint Andrew versucht, auseinanderzuklauben, was an nationalen Befreiungskämpfen mit anarchistischem Denken vereinbar ist und was nicht, er vor allem an dem Ballast dessen, was er zuvor als Nation definiert hat, scheitert, scheitern muss, eine anarchistische Perspektive zu entwickeln. Wenn man eine Nation als eine “imaginäre Gemeinschaft” definiert, dann zeigt dies meiner Meinung nach zugleich auch das Problem an diesem Konstrukt auf: Es handelt sich hier eben um eine “imaginäre Gemeinschaft”, also eine Konstruktion, die geschaffen wurde, um über dem Individuum zu stehen und die folglich immer auch ein Instrument sein wird, Autorität zu rechtfertigen. Vielleicht wird das besonders anhand seines Beispiels des kurdischen nationalen Befreiungskampfes sichtbar. Man kann sich sicherlich trefflich darüber streiten, ab wann etwas ein Staat ist. Ob nur weil es keine formelle Bindung diverser parlamentarischer, polizeilicher und juristischer Institutionen – die es in Rojava allesamt gibt – an eine Verfassung oder etwas ähnliches gibt (dafür aber durchaus eine gewisse “Parteitreue”), und nur weil es teilweise konkurrierende Polizeien, Parlamente, Justizen gibt, eine Konstellation wie die in Rojava kein Staat ist, würde ich persönlich ja in Frage stellen. Nichtsdestotrotz ist diese Frage für mich irrelevant, denn nur weil es keinen (formellen) Staat gibt, ist etwas noch lange nicht anarchistisch, d.h. ohne Herrschaft. Das Problem dabei kann man durchaus an der konstruierten kurdischen Nation festmachen. Denn es ist eben bloß eine imaginäre Gemeinschaft. In Wahrheit jedoch sind es hunderte, ja sogar tausende reale kurdische Gemeinschaften, die hier unter der Flagge einer Nation vereint werden (und das gleiche gilt auch für die afroamerikanischen Gemeinschaften, die im Schwarzen Nationalismus als eine Nation betrachtet werden). Und wenn eine bestimmte Gemeinschaft (die PKK, bzw. ihre entsprechenden bewaffneten und unbewaffneten Arme) nun mehr oder minder beansprucht, für diese imaginäre kurdische Gemeinschaft zu sprechen, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, usw., dann werden am Ende wiederum Gemeinschaften und Individuen unterdrückt.

Bei all dem stimme ich natürlich sowohl Saint Andrew als auch Ashanti Alston zu, wenn diese den Kampf der schwarzen Bevölkerung gegen ihre Unterdrückung als einen Kampf von Bedeutung ansehen. Das tue ich auch. Aber muss man deshalb die Probleme nationalen/nationalistischen Denkens und ihre Widersprüchlichkeit mit dem Anarchismus unter den Teppich kehren?

Ist die Anarchie demokratisch?

Der meiner Meinung nach von manchen Anarchist*innen (inklusive der Black Autonomy Federation) nur halbherzig vollzogene Bruch mit dem (schwarzen) Nationalismus, er ist möglicherweise auch im Text “Die kommunale Kontrolle der schwarzen Gemeinschaft” (S. 52 ff.) der Black Autonomy Federation prägend dafür, dass meiner Meinung nach äußerst unappetitliche Vorschläge eines polizeiartigen Parastaates Teil dieser Perspektive sind, in deren Zentrum die Bildung autonomer, aber föderierter, schwarzer Kommunen steht, die dank einer verwirrenden Wortverdrehung, die finanzielle staatliche Einflussnahmen, die schon seit den 1960er Jahren schwarze Befreiungsbewegungen befriedet, zersetzt und unschädlich gemacht haben, zu einer Art Bankraub verklärt (anstatt einfach den Bankraub als Mittel der Finanzierung vorzuschlagen! Eine Praxis, die der schwarzen Befreiungsbewegung alles andere als fremd ist), sogar eine staatliche Finanzierung erhalten sollen. Nicht nur demokratisch gewählte Räte sieht diese Kommune vor, sondern nicht zuletzt auch einen schulischen Indoktrinationsapparat, während eine Föderation dieser Kommunen “mit einer Stimme in allen Angelegenheiten” sprechen solle. Während die Frage einer schwarzen Polizei innerhalb dieser Kommunen zwar schlicht unbehandelt bleibt, macht dieser Text vielmehr offensichtlich, dass es selbstverständlich auch die üblichen repressiven Institutionen eines Staates in dieser Kommune geben würde, wenn die Rede davon ist, “in Schulen, Gemeindezentren, Gefängnissen und in schwarzen Gemeinden in ganz Nordamerika Veranstaltungen zur Bewusstseinsbildung für Schwarze ab[zu]halten – die Kindern und Erwachsenen Schwarze Geschichte und Kultur, neue befreiende soziale Ideen und Werte sowie Beratungs- und Therapietechniken zur Lösung von Familien- und Eheproblemen beibringen würden […]”. Wer die Institution der Familie und Ehe mittels Therapie und Co. erhalten will, der wird schon wissen, warum man lieber einfach nichts zu Knästen und Polizei sagt.

Auch wenn ich persönlich finde, dass Texte wie dieser in einer anarchistischen Textsammlung nichts zu suchen haben, bilden solche demokratischen Ausfälligkeiten eher eine Ausnahme und bleiben auch nicht unwidersprochen. “Unterstützen Anarchist*innen die Demokratie?” (S. 167), fragt etwa ziq und kommt dabei zu dem Schluss:

“Die Demokratie ist seit jeher ein Synonym für klassenbasierte Gesellschaften. Sie hat ganze Länder in zwei kaum unterscheidbare politische Parteien (konservativ und “progressiv”) gespalten, die sich dennoch ständig an die Gurgel gehen. Selbst in ihren libertärfreundlichsten Formen hat es immer wieder versagt, Hierarchie, Zwang und die autoritären Machenschaften von Mehrheitsgruppen zu verhindern. Du kannst nicht versuchen, ein künstliches System, das so brutal hierarchisch ist wie die Demokratie, durch eine vermeintlich egalitärere Version desselben Systems zu ersetzen und es Anarchie nennen. Du musst das ganze verrottete System über Bord werfen” (S. 172).

Wenn womöglich der von der Black Rose Anarchist Federation herausgegebene Reader “Black Anarchism” eine der ursprünglichen Inspirationen für die Textsammlung Schwarze Saat gewesen sein mag, so lässt sich generalisierend, aber dennoch eine gewisse Wahrheit beanspruchend, behaupten, dass es gerade jene Beiträge sind, die im englischen Vorbild nicht enthalten sind und die zudem mit der auf anarchistische Organisationen fixierten Perspektive brechen, die dieses Vorbild aus naheliegenden Gründen hochhält, die meiner Meinung nach die spannendsten Perspektiven in Schwarze Saat ausmachen.

Die Revolte beginnt bei uns selbst

Dass die Umwälzung aller Verhältnisse bei einer*m selbst beginnt, ist nun wirklich zu einer Binsenweisheit geworden, die viel zu oft wie ein Mantra wiederholt und ihres eigentliches Inhalts beraubt von einigen ewiggleichen Nörgler*innen (häufig in Form eines Privilegiendiskurses) gegen jene gewendet wird, die ohne dies beständig vor sich hinzubeten den Angriff auf etwas anderes als ihre ewig “mangelnde Reflektiertheit” vorschlagen oder praktizieren. Umso erfreulicher ist es, wenn der Ruf nach mehr Auseinandersetzung mit der eigenen Domestizierung (und Vergeschlechtlichung – Geschlecht ist meiner Meinung nach, da schließe ich mich “Gegen den vergeschlechtlichten Albtraum” aus baedan Vol. 2 an, eine der – und zwar eine der grundsätzlicheren – Kategorien in die wir “hineindomestiziert” werden) eine klare Analyse vorzulegen vermag und den liberalen Reflex ablegt, als Gegenteil einer Revolte gegen die äußeren Zwangsverhältnisse daherzukommen.

In “Kindheit und die psychologische Dimension der Revolution” (S. 405) beschreibt Ashanti Alston den Domestizierungsprozess, in dem jedes Kind in dieser Gesellschaft gebrochen wird und die gesellschaftlichen Regeln indoktriniert bekommt. Ausgehend davon, dass das Kind durch die Familie und die innerhalb dieser stattfindende Erziehung gebrochen wird und lernt, zu GEHORCHEN, beschreibt Ashanti Alston, wie sich jedes Kind dabei eine Maske erschafft, durch die reaktiven Versuche mit den traumatischen Erfahrungen der 6.000 bis 10.000 Jahre alten Kultur, in die es hineingezwängt wird, umzugehen. Diese Maske “dient dazu, die gerechten Ströme der Lebensenergie zu binden und zu verzerren, um sie in sozial akzeptables, pathologisches Denken, Fühlen und handeln umzuwandeln … was eine Gesellschaft charakterisiert, die auf Rassismus, Klassismus, Sexismus, Imperialismus, Profithunger, Krieg und andere antihumanistische Tendenzen ausgerichtet ist.” Diese Maske abzustreifen, meint Ashanti Alston, “ist vorbereitend und unausweichlich, wenn wir unsere hohen verbal ausgedrückten Ziele erfolgreich verwirklichen wollen.” Aber wie lässt sich das erreichen?

“Zunächst durch die Erkenntnis, dass in der heutigen Phase des wissenschaftlichen Kapitalismus die repressive (psychische) Beherrschung und (soziale) Verwaltung der Gesellschaft zu einem fortgeschrittenen “1984” wird – wissenschaftlich, produktiv und total. Als Malcolm X von ihren Kräften sprach, uns zu manipulieren und uns denken zu lassen, dass unsere wahren Freund*innen unsere Feind*innen sind und umgekehrt, wusste er selbst, dass die Manipulation tief in unsere Seelen reicht. Sie ging tief genug, um uns glauben zu machen, dass wir unser eigenes Denken und Handeln tun. Und Malcolm hatte nur DIE SPITZE des Eisbergs durchdrungen.

Niemand ist immun gegen die psychische Beherrschung, die dieses unterdrückerische Monster, oder ‘Gott’, über uns hat. Die unsichtbare Maske hält diese Herrschaft aufrecht, diese blinde Sucht nach Autoritarismus. Sie unterdrückt die instinktiven Freiheitswünsche eines Menschen. Das gilt selbst dann, wenn man ALLEIN ist und KEINE SICHTBARE politische oder polizeiliche Kraft in der Nähe ist. Wie Sklav*innen, die nicht vom Meister wegrennen, wenn sie losgekettet werden und kein physisches Hindernis in Sicht ist. […]”

Also töte den Bullen in deinem Kopf? Nun, so einfach will eine*n Ashanti Alston wohl nicht davon kommen lassen.

“Jede*r dessen Einstellung ist, dass er*sie bereits revolutionär (oder menschlich) genug ist und keine weiteren Veränderungen mehr durchmachen muss, ist offensichtlich eine selbstversklavte Person, die damit zufrieden ist, in der gleichen alten Form stecken zu bleiben. Diese Art von Mensch kann sich nicht selbst helfen und wird sich wahrscheinlich auch nicht von anderen helfen lassen, wenn sich diese negative Anti-Freiheits-Haltung nicht in eine Haltung ändert, die ein Zeichen dafür ist, dass man sich der Welt der positiven “Reize”, des Guten in den Menschen, der bereichernden, befreienden Erfahrungen und dergleichen öffnet.

Ich würde ja dazu neigen zu sagen: Jede*r, der von sich denkt, sich in einem Idealzustand (sei es ein revolutionärer oder menschlicher oder irgendein anderer) zu befinden, der*die ist halt ein*e Dogmatiker*in und als solche*r gewissermaßen natürlich selbst versklavt. Ja, töte den Bullen in deinem Kopf, und töte auch gleich die Politikerin, den Virologen, den Rassist*in und den Patriarchen, ebenso wie die Sklavin, den Arbeiter, den*die Schönheitsprinz*essin, den Patienten und den Gläubigen, die sich dort ebenfalls befinden. Und ja, ein*e jede*r, die*der das jemals ernsthaft in Angriff genommen hat, weiß, dass das ein schmerzhafter und beständiger Prozess ist. Ich denke jedoch, dass es diesem Prozess niemals zuträglich ist, und das meine ich auch hier bei Ashanti Alston zu erkennen, wenn wir uns dabei gegenseitig be- und verurteilen, wenn wir einen Wettkampf daraus machen, wer die “aufrichtigsten” (und das heißt eigentlich selbstmitleidigsten) Reden über die eigenen Schwächen und Beschädigungen schwingt, wenn wir übersehen, dass in jedem aufrichtigen Handeln, das von der in unserem Herzen noch immer lodernden Flamme der Freiheit ausgeht, immer auch eben jener Versuch steckt, das “innere Ghetto” zu zerstören. Denn dann gefallen wir uns letztlich darin, mit unseren sogenannten Schwächen und Beschädigungen zu leben, anstatt sie in einem Akt der Stärke erst zu akzeptieren und dann als solche zu überwinden.

Überlegungen zum Rassismus

Was ich mich vielfach bei der Lektüre jener Texte gefragt habe, die ihre Analysen rund um eine Auseinandersetzung mit Rassismus entwickeln, ist, inwiefern dieser nordamerikanische Kontext tatsächlich 1:1 hierher, auf den deutschsprachigen Raum, ja auf den mitteleuropäischen Raum im Allgemeinen übertragen werden kann. Ich will nicht sagen, hier gäbe es keinen Rassismus, um Himmels Willen … Sicherlich nicht. Auch hier werden Schwarze und People of Color von Bullen ermordet, von Neonazi-Gruppen ermordet, sie üben oft die schlechtbezahltesten und gesundheitsschädlichsten Jobs aus, werden bei der Wohnungssuche diskriminiert, werden viel häufiger Opfer polizeilicher Kontrollen als Weiße, werden wenn sie keine Arbeit haben und keinen deutschen Pass besitzen, des Landes verwiesen, werden in Lagern eingepfercht und auf abertausende Arten und Weisen daran erinnert, dass sie nicht zur weißen Herrenrasse gehören und folglich all diese Schikanen zu erdulden hätten. Aber: Formal gilt der offen geäußerte und individuell ausgelebte Rassismus in weiten Teilen der Gesellschaft als unschicklich. Jedes Kind weiß heute, dass man nicht Neger sagt, Unternehmen stellen ihr fortschrittliches Denken unter Beweis, indem sie eine*n Quotenschwarze*n in ihren Aufsichtsrat aufnehmen, die NGO-getriebene und als Flüchtlingshilfe euphemisierte Verwaltung von Flüchtlingen boomt geradezu vor Ehrenamtlichen, reiche Bonzen gefallen sich darin, schwarze Bedienstete/Knechte einzustellen und ihnen trotzdem den vollen Hungerlohn zu bezahlen, den sie ihren weißen Vorgängern gezahlt haben, und es gehört im linken Bürgertum geradezu zum guten Ton, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit seinen schwarzen Freund*innen anzugeben, während eine angeblich antirassistisch motivierte fairtrade-Bewegung unkritisch mit Kolonialwaren handelt und von “Kindern in Afrika” gefertigte, koloniale Kunst verkauft, um die Erlöse an jene NGOs zu spenden, die damit im globalen Süden ihre Bevölkerungspolitik finanzieren. Ändert das etwas an den rassistischen Verhältnissen? Gewiss nicht, vielmehr kaschiert es sie. Aber angenommen es würde, wie liberale antirassistische Aktivist*innen das vielleicht anstreben, gelingen, dass ein*e Schwarze*r hierzulande tatsächlich gleich behandelt wird, wie ein*e Weiße*r, wäre der Rassismus dann besiegt? Auch wenn ich persönlich bezweifle, dass sich so tief sitzende Ideologien wie der Rassismus in einer Gesellschaft einfach wegreformieren lassen, so denke ich, dass der derzeitige Fokus, der bei der Analyse von Rassismus auf Diskriminierungen und Privilegien innerhalb dieser (westlichen) Gesellschaft gelegt wird, von den sehr viel brutaleren, tödlicheren und stetig voranschreitenden rassistischen Prozessen ablenkt, die außerhalb der Mauern der Festung Europa vor sich gehen.

Das macht nicht ungültig, was Lorenzo Kom’boa Ervin, die Black Autonomy Federation und weitere in den in Schwarze Saat abgedruckten Texten im Großen und Ganzen als die Triebkraft des Rassismus analysieren, dass nämlich die Unterdrückung der Schwarzen und anderer PoC wie sie heute in Nordamerika verbreitet ist, noch immer die Reform der historischen Sklaverei darstellt und Schwarze nach wie vor jene tödlichen, gesundheitszerstörenden Jobs zu geringfügiger Entlohnung – oder, im Falle von Knastarbeit, so gut wie gar keiner – zu verrichten gezwungen sind, von denen einige weiße Bonzen auch weiterhin profitieren. Wenn man dies auf den hiesigen Kontext überträgt, so ist das auch nicht weniger wahr. Die antirassistische Bewegung hierzulande, ebenso wie in weiten Teilen Nordamerikas jedoch, blendet häufig den globalen Kontext dieser rassistischen Unterdrückung aus: Dass nämlich der Kolonialismus niemals aufgehört hat, dass die politische Administration von den weißen Kolonialherren vielfach an lokale, schwarze Despoten abgetreten wurde, die die ebenfalls schwarze Bevölkerung im Namen der weißen Kolonialherren weiter knechten, dass die Kredite der Weltbank und die vermeintlichen “Hilfsprogramme” verschiedener, sogenannter Philantropen diese nationalen Administrationen in eine Abhängigkeit gezungen haben, dass Bevölkerungspolitik, sei es mit Sterilisationsversuchen oder durch industrielle Landwirtschaft und patentiertes Saatgut induzierte Hungersnöte, dazu dient, die Bevölkerungen der einstigen Kolonien in die Rohstoffminen und auf die Plantagen zu treiben und dort festzuhalten, wo sie ein Dasein als Sklav*innen fristen, während um sie herum ein Krieg zwischen ihren nationalen Ausbeuter*innen darum entbrennt, wer von ihnen der Sklaventreiber sein darf; geführt mit Waffen aus dem Westen. Und wer vor dieser unsäglichen Vernichtung ganzer Lebensräume flieht, landet in den diversen Flüchtlingslagern, die dazu dienen, die Menschenströme weit vor der Festung Europa abzufangen und fernab der Augen der westlichen Bevölkerung verrecken zu lassen, während diejenigen, denen es gelingt, diesen Lagern zu entkommen entweder im Mittelmeer ersaufen, an den Grenzen Europas eingesperrt werden oder bei erstbester Gelegenheit dorthin zurück deportiert werden, von wo sie ihre Flucht begonnen haben.

Das gesamte kapitalistische System basiert auf dieser kolonialen, rassistischen Unterdrückung ganzer Bevölkerungen und der ökozidalen Vernichtung ihrer Lebensräume. Während die antirassistische Bewegung hier – und das gilt teilweise auch für die in Nordamerika – von kultureller Vielfalt spricht und daran arbeitet den Rassismus gegen Menschen, die bereits im Westen leben, hinter Sprachreformen und Quoten-Posten in Politik, Wirtschaft und Kultur zu verbergen, vernichtet dieses System weltweit die eigentliche Vielfalt von Lebensweisen zunehmend.

Es ist nicht so, dass nicht auch einige Beiträge in Schwarze Saat diese Kritik an kolonialer rassistischer Unterdrückung äußern würden, insbesondere die Texte von ziq, aber auch Elanys Text “Werkzeuge des Anarchismus Teil 2: Über Entkolonialisierung (und die technologische Komponente des Kolonialismus)” (S. 359) sind hier schonungslos. Angesichts der immer weiter voranschreitenden ökologischen Zerstörung im globalen Süden und der Involviertheit der kapitalistischen Akteur*innen hierzulande, steht die Entwicklung konkreter anarchistischer Perspektiven ebenso wie Strategien im Kampf gegen diese Form des kolonialen Rassismus weiter aus, aber wie Elany in ihrem Text nahelegt, könnten die Fäden dieser Kämpfe vielleicht dort wo antizivilisatorische Analysen die industrielle Todesmaschinerie enttarnt haben und antitechnologische Kämpfe damit begonnen haben, die Technologie zu zerstören, wiederaufgenommen werden.

Wer das Brot erobert, erobert und verteidigt die Industrie

Einer der bärtigen Propheten einer bestimmten Spielart des Anarchismus hatte damals eine Vision. Die Eroberung des Brotes sollte Wohlstand für Alle bringen. Kurz gesagt: Kostenloses Brot für alle. Und wer hätte da schon etwas dagegen? Nun, wozu das Brot erobern, wenn man auch Kuchen essen kann, mag einer dazu einfallen, aber ich fürchte der von ziq formulierte Einwand “Verbrennt das Brotbuch” (S. 515) wird auch die Kuchen-statt-Brot-Ernährungslehre entmystifizieren. Der Einwand ist geradezu banalen Charakters, aber doch unmittelbar einleuchtend: Um Brot zu backen bedarf es einerseits ausreichend Getreide und andererseits einer Menge Holz, um die Backöfen zu heizen. Heißt: Es ist erforderlich, Wälder zu roden, um die Öfen zu befeuern und das Getreide anzubauen, mit allen bekannten Folgen, dass nämlich die Böden vergiftet und weggespült werden und die einst auf dem Land lebenden Tiere größtenteils aussterben. Sprich: Man braucht gar nicht allzu viele Jahre Brot backen und wird schließlich merken, dass die Felder immer weniger Ertrag abwerfen. Man muss also noch mehr Wald roden, den auf dem Land seiner Nachbar*innen, denen man damit wiederum ihre Lebensgrundlage raubt, usw. Man zerstört also Stück für Stück die Natur, die einst in der Lage gewesen ist, alle Menschen zu ernähren und man wird nichteinmal mehr die eigentliche Ursache für diese Zerstörung erkennen.

Ob die Brotproduktion nun kapitalistisch ist, wie heute, oder kommunistisch, das ist für dieses Problem herzlich egal. Und weil es für die indigenen Nachbar*innen von jenen, die vielleicht Anarcho-Kommunist*innen mit den besten Absichten sein mögen, “egal [ist], dass die Bulldozer jetzt im kollektiven Besitz sind oder dass das Land, auf dem sie seit Jahrtausenden leben, jetzt “dem Volk” (der zivilisierten Mehrheit) gehört und nicht mehr dem Staat oder dem Kapital”, werden sich gewisse Konflikte einstellen, in denen es, um weiter Brot produzieren zu können unmöglich ist, nicht zu drastischen Maßnahmen zu greifen:

Wenn Menschen nicht damit einverstanden sind, von ihrem angestammten Land vertrieben zu werden, um in den Industriebetrieben und Fabriken zu arbeiten, die die Zerstörung ihrer Heimat vorantreiben, werden sie als “Kulaken”, “Konterrevolutionäre” und “Reaktionäre” abgestempelt und systemtisch ermordet, meist durch die Zerstörung ihrer Nahrungsquellen.

So anekdotisch und scheinbar banal ziqs Argument auch sein mag, es ist doch unmittelbar einleuchtend. Und ein klein wenig peinlich berührt muss man doch an all die vielen eigenen Worte denken, mit denen man die Industrie und ihre Verteidiger*innen immer angegriffen hatte. Dabei wäre es doch so einfach gewesen …

Und nun?

Schwarze Saat endet mit einem von Übersetzer*in Elany und ihrem Vater Samuel geschriebenen “Manifest” in Anführungszeichen, einem “Wildpunk-’Manifest’”. Zugegeben: Ich hasse Manifeste, Programme, usw. und es erinnert mich immer wieder an Tiqqun und das Unsichtbare Komitee, wenn autoritäre Begriffe in Anführungszeichen gesetzt werden, um der*dem Leser*in zu versichern, dass man sich des autoritären Charakters bewusst ist, nur um im weiteren Verlauf genau diesen autoritären Charakter anzupreisen. Nein, ein “Manifest” ist ebenso ein Manifest, wie auch eine imaginäre Partei eine Partei bleibt. Aber auch wenn ich mich entschieden dagegen wende, an diesem neokommunistischen, okkulten Spiel um althergebrachte Institutionen in Anführungszeichen, des Unsichtbaren oder der Einbildung teilzunehmen, will ich nicht unfair werden. Immerhin lautet der erste Punkt dieses “Wildpunk-’Manifests’”:

“Wildpunk entwickelt kein Programm für die Zukunft und hält nichts von vorgefertigten Bauplänen. […] Während du liest, denke darüber nach, was für dich persönlich mitschwingt und was nicht. Erschaffe dein eigenes Manifest. Wildpunk ist so wild wie die Anarchie selbst.”

Also schön, ein Programm in Anführungszeichen, das nicht nur sagt, dass es gar kein Programm ist, sondern auch dazu auffordert, Programme, inklusive es selbst abzulehnen und stattdessen selbst zu denken. Also doch nur ein literarischer Kunstgriff ohne autoritäre Absichten. Da könnte sich die imaginäre Partei ja noch eine Scheibe abschneiden.

Aber was sagt uns dieses Nicht-Programm nun? Eigentlich ziemlich viel sympathisches. Ich würde ein grundlegendes Uneinverständnis über die Bedeutung, die dem Werk “Desert” in dem gesamten Text verliehen wird (als “wahrscheinlich wichtigstes anarchistisches Werk der jüngeren Zeit”), bekunden, zumal es bloß ein paar alte Thesen wieder aufwärmt, ohne einen konkreten Kampf vorzuschlagen, aber davon abgesehen bereitet es mir Freude zu sehen, dass auch andere die Zerstörung der Industrie und die Sabotage an den (technologischen) Infrastrukturen der Herrschaft in den Mittelpunkt ihrer Perspektive stellen.

“Der zentrale Angriffspunkt der kapitalistischen Zivilisation ist die Industrie, welche die Erde und unsere Körper vergiftet hat. Wildpunk kämpft nicht dafür, die Produktionsmittel zu übernehmen, sondern die Mittel der Zerstörung zu ergreifen und sie verdammt nochmal zu sabotieren und niederzubrennen.”

Und auch all den Klimabewegten, die bisher noch einer der zentralen Lügen des grünen Kapitalismus aufgesessen sind, und jede Hoffnung auf eine Abwendung der Klimakrise bei gleichzeitiger Bewahrung der westlichen, zivilisierten Lebensweise in sie gesetzt haben, haben Elany und Samuel etwas wichtiges zu sagen:

“Wildpunk erkennt, dass vermeintlich grüne Energien nicht grün sind. Egal was die Herrschenden uns auch auftischen wollen, jede dieser Energien wurzelt in einem beispiellosen Ökozid. Energieinfrastrukturen, auch die angeblich grünen, sind weitere wunde Angriffspunkte der Herrschaft.”

***

Insgesamt ist Schwarze Saat ganz gewiss ein Buch zum stöbern, ein Buch in dem sich die eine oder andere Entdeckung machen lässt, ein Buch in dem sich definitiv viele spannende Texte finden, die erstmals ins Deutsche übersetzt wurden. Und ganz gewiss ist Schwarze Saat ein unbequemes Buch für alle Angehörigen des hiesigen Ally-Industriekomplexes, oder, wie ich vorziehe, sie zu nennen, Feiglinge (“Another word for white ally is coward”), die auf der Suche nach den Stimmen derjenigen Quoten-Schwarzen, die ihre befremdlichen “anarchistischen” Utopien, die sich im Wesentlichen kaum von der heutigen Realität westlicher Lebensweisen unterscheiden, bestätigen sollen, unweigerlich mit jenen Positionen konfrontiert werden, die Anarchist*innen immer schon von Indigenen und zahlreichen schwarzen Communities gelernt haben oder immerhin lernen hätten können: Dass die gesamte Zivilisation ein einziger Vormarsch der Herrschaft ist.

Schwarze Saat kann als PDF aus den Tiefen des Internets, unter anderem von der Webseite feralfire.noblogs.org gesaugt werden. Ob derzeit noch gedruckte Ausgaben verfügbar sind, ist mir aufgrund der Tatsache, dass der herausgebende Schwarze Pfeil aufgrund von staatlicher Repression eingestellt wurde, unklar. Gewisse, auf den Ausverkauf anarchistischer Szeneidentitäten und fair gehandelte Kolonialwaren (wie Bekleidung und Kaffee) spezialisierte Versandhändler listen das Buch jedoch weiterhin zum Kaufpreis von 13,12 Euro in ihrem Sortiment auf.


[1] Ob das Ganze unbedingt unter dem Namen Schwarze Saat firmieren musste, was den Anschein erweckt, es würde sich bei mehr als nur ein paar Texten um Übersetzungen aus Black Seed handeln (und ich denke mein Unbehagen besteht hier darin, dass es gerade der syndikalistische und fortschrittsorientierte Kram aus guten Gründen wohl kaum jemals in eine Black Seed Ausgabe geschafft hätte), sei einmal so dahingestellt.

[2] Also ja, ich verstehe das Ressentiment, das aus solchen Aussagen spricht, sehr gut, gerade angesichts bestimmter “Anarchist*innen” innerhalb dessen, was sich als der deutschsprachige Anarchismus zu inszenieren versteht, die außer einer Akademisierung des Anarchismus nicht gerade viel beizutragen haben, die sich aber immer wieder dennoch in die Kämpfe (schwarzer, ebenso wie weißer) Anarchist*innen einmischen und meinen, mit dieser oder jener philosophischen Haarspalterei die sehr realen Angriffe auf die Herrschaft als nicht-anarchistisch delegitimieren zu müssen. Es mag auch die Tendenz geben, dass Persönlichkeiten wie Kropotkin, Bakunin, Proudhon, usw. von jenen rezitiert werden, die solch große Worte schwingen, aber sich am Ende des Tages ganz gut in einer vermeintlich anarchistischen Nische des Akademiebetriebs eingerichtet haben werden und von diesem Elfenbeinturm herab meinen, die Kämpfe anderer entweder dirigieren zu können oder kommentieren zu müssen, allerdings sollte man jene Zeitgenoss*innen nicht mit Bakunin oder Kropotkin oder beinahe all ihren Vorbildern aus längst vergangenen Zeiten selbst verwechseln. Während Kropotkin zwar vielleicht viel philosophiert hat und möglicherweise wenig Steine geschmissen haben mag, so hat er sich doch auch soweit an subversiven (publizistischen und organisatorischen) Tätigkeiten beteiligt, dass er in den Knast gewandert ist, hat Unterstützung für andere Anarchist*innen organisiert und wie viele andere Anarchist*innen sein Leben ganz der Revolution verschrieben. Ich mag mit Kropotkins Positionen sehr häufig uneinverstanden sein, aber ich denke nicht, dass man deshalb sagen kann, er hätte nicht versucht das zu leben, was er verzapfte – auch entgegen aller Widrigkeiten, die das mit sich brachte. Und was selbst für einen Kropotkin gilt, das gilt für einen Bakunin, der buchstäblich den revolutionären Ereignissen nur so hinterherjagte, umso mehr …

[3] Und besonders wo eine Identität rund um Indigene Anarchist*innen geschaffen werden soll, stellen sich gewiss manch einer*m die Haare zu Berge. So stieß etwa der im Buch veröffentlichte Text “Einen indigenen Anarchismus anpeilen” von Aragorn! (übrigens erschien bereits kurz vor Veröffentlichung von Schwarze Saat, im Juni 2021, ebenfalls eine Übersetzung dieses Textes unter dem Titel “Ortung eines indigenen Anarchismus” gemeinsam mit dem Text “Ein nicht-Europäischer Anarchismus” in einer Broschüre), nachdem er in Black Seed Issue 8 erneut abgedruckt worden war, durchaus auf eine gewisse Kritik, die etwa in der sehr empfehlenswerten Broschüre UNKNOWABLE. Against an Indigenous Anarchist Theory von Klee Benally elaboriert wird und die sich vielleicht grob mit folgenden Auszügen umreißen lässt: “Wenn von Anarchismus die Rede ist, dann verorten wir darin eine Affinität hinsichtlich unserer Feindschaft gegenüber denjenigen, die sich uns aufgezwungen haben. Aber wir weigern uns, zu politischen Artefakten reduziert zu werden, also weckt das auch unsere Feindschaft gegenüber anarchistischer Identität, wenn nicht gegenüber dem Anarchismus insgesamt. Wenn gefragt wird ‘Wie können wir einen indigenen Anarchismus verorten’ und ‘Wie können wir heilen und unsere Leben frei von kolonialer Einschränkung leben?’, dann besteht unsere erste Reaktion in einer Ausweitung unserer Feindschaft; Es gibt keine indigene anarchistische Theorie und vielleicht sollte es niemals eine geben.” Und: “Die tiefere Erkundung eines indigenen Anarchismus könnte unserer Meinung nach im Wesentlichen zwei Wege einschlagen: Der eine wäre der der aktivistischen Akademiker*innen (sowohl indigene, als auch siedlerische) aus einer anthropologischen und philosophischen Perspektive, der absolut keine Berührungspunkte mit jenen hat, die sich näher an den Feuern der Autonomie in unseren Landen befinden (und gewiss lehnen wir diesen Weg entschieden ab), der andere Weg wäre chaotisch, mutig, leidenschaftlich, experimentell, voller Widersprüche. Er würde im Rauch um die Feuer geteilt werden und von Träumen sprechen. Er wird zwischen dem Stilllegen von Pipelines, dem Einschmeißen der Scheiben von Unternehmen und Zeremonien verlaufen. Er wäre in Hooghans und Trailerparks zu finden. Er wäre etwas, das sich all seinem Wesen nach nicht festlegen lassen würde, das sich niemals in die Gefilde des Erfassbaren bringen lassen würde, wo es eine Erweiterung der kolonialen Ordnung von Ideen und Existenzen wäre. Er würde sich selbst unbegreifbar machen.”

[4] Das derzeitige Oberhaupt der Nation of Islam, ein Nationalist, der für eine vollständige Rassentrennung eintritt und der auch den Antisemitismus als eine herkömmliche Triebkraft des Nationalismus für seinen Schwarzen Nationalismus einzusetzen weiß, wenn er die Juden als Schuldige der Unterdrückung seiner eigentlich überlegenen, jedoch unterdrückten Rasse ausgibt.

All my friends are bad kids! – über ein (mittlerweile eingestelltes) §129-Verfahren gegen Anarchist:innen in Hamburg und Bremen

Im Folgenden wollen wir euch über ein Verfahren nach §129 in Hamburg und Bremen informieren, den kollektiven Umgang damit beschreiben sowie individuellen Stimmen betroffener Menschen Platz geben.

Im Sommer öffneten einige Menschen in Hamburg und Bremen ihre Briefkästen und da waren sie wieder: Briefe vom Oberstaatsanwalt Schakau der Generalstaatsanwaltschaft in Hamburg. Vom 26.05.2020 bis 25.07.2022 haben Ermittlungen verschiedener Behörden in einem §129-Verfahren gegen Anarchist:innen in Hamburg und Bremen stattgefunden. Es ging um ein Vereinigungs-Konstrukt, dem direkte Aktionen, hauptsächlich in Hamburg, über einen längeren Zeitraum zugeordnet werden sollten. Drei der fünf Menschen gegen die die Ermittlungen hauptsächlich gerichtet waren, wurden bereits 2020 im sogenannten Parkbank-Verfahren verurteilt und waren die drei offiziell Beschuldigten in diesem Verfahren. Im Rahmen der Ermittlungen wurden zwei weitere Menschen als potenzielle Mitglieder der konstruierten Vereinigung ausgewählt, gegen die ähnlich ermittelt wurde.
Alles fängt (für uns) mit einem Bericht des BKA an die Generalbundesanwaltschaft an, in dem ein Verfahren nach §129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) gegen die drei Beschuldigten angeregt wird. Dieses wird jedoch von der Generalbundesanwältin Geilhorn abgelehnt, ebenso wie ein Verfahren nach §129 (Bildung einer kriminellen Vereinigung) auf Bundesebene.
Einen Tag später beginnt ein Verfahren nach §129 in Hamburg, geführt von Oberstaatsanwalt Schakau. Im Zuge dieser Ermittlungen werden gegen alle fünf der Mitgliedschaft Verdächtigten Maßnahmen eingeleitet; diese laufen von Anfang Mai bis Anfang August 2021 und beinhalten Observationen mit Foto- und Videoaufnahmen, Telekommunikationsüberwachung (abhören von Telefon-Gesprächen und Mitlesen von SMS), den Einsatz von IMSI-Catchern und stillen SMS sowie Internet-Überwachung (vor allem das Auslesen aller bekannten und erreichbaren E-Mail-Postfächer).

Im Zuge dessen wurden ein großer Teil der Umfelder der fünf Beschuldigten durchleuchtet und eine große Zahl an Personen war von fast allen Maßnahmen mitbetroffen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass es mindestens zwei Personen gab, die nicht als (potenzielle) Mitglieder konstruiert wurden, deren Telefone mit hanebüchenen Erklärungen separat abgehört wurden. Auch zu erwähnen ist, dass die Observationen und Abhörmaßnahmen bundeslandübergreifend (Hamburg, Bremen, Berlin, Bayern und Sachsen) und in mehreren Fällen per Amtshilfe auch im europäischen Ausland (Österreich, Belgien und Spanien) stattfanden.
Letztendlich wird das Verfahren am 25.07.2022 eingestellt, offiziell wegen Mangel an Beweisen. „Offiziell“, weil natürlich – wie wir wissen – parallel auch nach anderen Paragraphen Überwachungen gegen einige Beschuldigte stattgefunden haben, auch unter dem Vorzeichen polizeilicher „Gefahrenabwehr“. Eine detailliertere Aufarbeitung der Ermittlungen im Sinne von „Akten für Alle“ wird es an anderer Stelle und zu späterer Zeit geben.
 
Dieses Verfahren und die Ermittlungen richten sich – wie auch die der letzten Jahre – gegen die Praxis der direkten Aktion, gegen revolutionäre Ideen und hier speziell gegen unsere solidarischen und liebevollen Beziehungen. Sie stellen einen Angriff gegen weit mehr als nur die offiziell Beschuldigten oder Verdächtigten dar. Wir haben uns deswegen dazu entschieden einen möglichst kollektiven und transparenten Umgang damit zu suchen. So haben wir die Akten, bevor wir sie selbst gelesen haben, von einer weiteren, in unserem direkten sozialen Umfeld weniger verwurzelten Person lesen lassen um einen sensiblen Umgang mit den darin befindlichen persönlichen Daten und abgehörten Gespräche zu finden. Auch haben wir ein kollektives Treffen vieler in der Akte von Maßnahmen Betroffener organisiert um einen kollektiven Moment des Austausches und der Stärke zu schaffen.
 Im Folgenden wollen wir einige Stimmen zu Wort kommen lassen, denn die Betroffenheit eines so großen An- und Eingriffs in unserer Leben ist nicht homogen und trifft Menschen in verschiedensten Momenten und auf verschiedene Arten und Weisen:
 
„Es ist eine enorm bestärkende Erfahrung, sich im Angesicht eines solchen schamlosen Angriffs und Eingriffs in unser aller Intimsphäre bewusst  und kämpferisch zu unseren Beziehungen zu bekennen – so entsteht ein Raum, in dem unsere Angst und Verunsicherung Platz finden kann und niemand alleine bleibt – aus dem heraus dann aber auch unsere Wut und unser Trotz Ausdruck finden. Unsere Beziehungen zu verteidigen heißt unsere Kämpfe zu verteidigen!“
 
„Wenn Repression, Verfolgungswahn und das Rumgeschnüffel von den Bullen über Jahre Teil des Alltags sind, erscheint es mir umso wichtiger, gemeinsame Momente und Räume zu schaffen um sich darüber auszutauschen und zu empören. Ich will mich damit weder abfinden noch will ich in Bezug auf die Eingriffe in mein Privates und die damit ausgelösten Ängste abstumpfen. Sich gemeinsam und auch öffentlich dazu zu positionieren wirkt den Gefühlen die die Schweine damit auslösen wollen entgegen!“
 
“Die Verletzung des eigenen Sicherheitsgefühls und der eigenen Privatsphäre, die mit der Überwachung von uns einhergeht, hat bei mir immer wieder Ausdruck in ganz verschiedenen Gefühlen gefunden: in Ohnmacht, Wut und natürlich in Paranoia oder Lähmung. Mit diesen verschiedenen Gefühlszuständen immer wieder einen individuellen und kollektiven Umgang zu finden ist scheiße anstrengend. Jedoch zu wissen, dass das was die Bullen erreichen wollen – unsere Beziehungen und Kämpfe angreifen, Ängste auslösen die eine Distanzierung zueinander verursachen – das sie das nicht erreichen können, ist ein wunderbare Sache die es mir erlaubt auch einen ganz anderen Ausdruck zu finden: in Solidarität, Freund*innenschaft und der Überzeugung für unsere Ideen!“
 
„Es überrascht mich nicht. Es ist ekelhaft, absurd, lachhaft; nichts anderes hab ich von ihnen erwartet. Welche SMSen haben wir uns geschrieben, wer hat sich am Telefon darüber unterhalten, dass du mich besuchen kommst. Das alles nachzulesen von Menschen, die das sowas von nichts angeht. Und trotzdem: Was da alles nicht steht, was sie nicht verstehen und nie verstehen werden, weil es so fernab ihrer Lebensrealitäten ist. Wir wissen immer noch am besten was uns mit wem wie stark verbindet, was wir wo wann warum getan haben, wofür wir brennen – egal wieviele TKÜs und Observationen sie durchführen.
Die Verunsicherung und Vereinzelung nicht gewinnen lassen. Es tut gut, euch zu sehen. Ob das schlau ist?
Anerkennen, dass wir uns in dieser Realität diese Fragen stellen müssen, wissend, dass es keine eindeutig richtigen oder falschen Antworten darin gibt. Nur unterschiedliche Entscheidungen. Diese Entscheidung fühlt sich richtig an.
Ich blicke in eure Gesichter, tausche Blicke, ein Lachen, und bin mir sicher: Wir sind da. Zusammen.“

„Der Bulle in meinem Kopf bestimmt durch die Grenzüberschreitung meine Gedanken. Überwacht zu werden ist eine schmerzhafte Erfahrung. Ohnmacht, Angst, Unsicherheit, Zweifel … all das macht das mit mir. In diesem Strudel erstmal zu sein und alles zu hinterfragen kann einen schon aus der Bahn werfen. Mein Selbstbild ist erschüttert!
Kämpferisch und mit Wut im Bäuchlein gegenüber diesen Verhältnissen, die uns kaputt machen sollen. Nein, ich fühle mich klein und mein Selbstbewusstsein ist fast nicht vorhanden. Gläsernd gemacht zu werden hinterlässt im ersten Moment ein ekliges Gefühl. Private Dinge, die nur mich was angehen werden sich maßlos angeguckt. Die Selbstbestimmung über mein Leben wird einfach gebrochen.
Aber, auch wenn es weh tut bin ich auch froh nicht abgestumpft zu sein. Sondern seinen Gefühlen bewusst zu werden und dies auch zu teilen. Und so wird nach einer Weile die Angst die ich spüre und bemerke die Seite wechseln, weil ein kollektiver Umgang damit einem:r nur Lebensenergie geben kann.“

„Ich bin (wir sind) über die Schamlosigkeit nicht erstaunt, aber davon doch sehr angeekelt.“

„Und dann macht es doch einen Unterschied: Schwarz auf weiß zu lesen, was ich in Sms geschrieben habe. Mich auf Fotos zu sehen. Kategorisiert und kommentiert zu werden. Diese Schweine!
In mir ist immer wieder Unruhe, Angst und Unsicherheit. Viele der Gefühle überwältigen mich und es ist manchmal schwer, mich wieder einzukriegen. Nachts wache ich auf, fühle mich allein und hab einfach Schiss. Und manchmal will ich mich aber auch nicht einkriegen oder unter Kontrolle bekommen! Meine Wut zu spüren gibt mir Kraft! Durch die Sorge um uns alle, spüre ich um so mehr den Wert des Vertrauens untereinander.
Mir meiner liebevollen Beziehungen bewusst zu werden, stärkt mich. Mich eben nicht isolieren oder vereinzeln zu lassen, sondern mehr zusammen zu kommen, sich gegenseitig zuzumuten und sich auszutauschen, gibt mir Zuversicht.“ 

„Bei aller Wut auf die Cops, weil sie denken, dass sie uns ausspionieren und alles durchleuchten können – aber statt uns einzuschüchtern und zu brechen, stärken sie nur unser Vertrauen ineinander und das Wissen darum, dass es so vieles gibt, dass sie niemals rauskriegen und erfahren werden.“

 
Aktuell gibt es wieder viele Verfahren nach §129, §129a sowie die eigentlich immer laufenden Verfahren nach §129b gegen revolutionäre Strukturen und Individuen.
An dieser Stelle auch noch ein solidarischer Gruß an alle von solchen Ermittlungen Betroffenen, die sich solidarisch verhalten!
 
Freiheit und Glück!
Von den Maßnahmen betroffene Freund:innen und Mitstreiter:innen

(LE) Ermittlungsverfahren gem. § 129a StGB eingeleitet

Vor wenigen Tagen wurde die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen eine Person in Leipzig wegen des Verdachts auf Bildung, bzw. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gem. § 129a StGB, sowie versuchter verfassungsfeindlicher Sabotage und versuchter Brandstiftung bekannt gegeben. Ermittelt wird im Zusammenhang mit einem Brandanschlag auf das Dienstgebäude des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in Leipzig vom 01.01.2019. Geleitet werden die Ermittlungen vom Generalbundesanwalt.

Wegen des Angriffs auf die BGH Außenstelle in Leipzig fanden bereits vor zwei Jahren diverse Maßnahmen in Frankfurt am Main statt, dort gibt es auch einen weiteren Beschuldigten. Im Juni 2022 gab es anlässlich der Aussagen J. Domhövers eine Hausdurchsuchung in Berlin, der Betroffene davon wird nun auch als Beschuldigter im § 129a-Verfahren geführt. Alle Infos stammen von www.129a.info, dort gibt es auch eine detaillierte Chronologie aller bisherigen Geschehnisse in dem Verfahren.

Wie immer gilt: Keine Spekulationen und kein Gerede. Anna und Arthur halten’s Maul ist keine Floskel.

»Virus Radio« wird von neuem Indy-Studio fortgesetzt

Nach der Einstellung der anarchistischen Zeitung Zündlumpen im September 2021 konnte der manch einer vielleicht aus den dort gelegentlich veröffentlichten »Virus Radio«-Sendungen bekannte DJ Superspreader so wie es aussieht, kein neues Studio finden. Also geht es jetzt, mehr als ein Jahr später, wohl mit eigenem Tonstudio weiter.

Was manchmal (noch) ein bisschen klingt, wie eine hängengebliebene Platte und auch sonst dem geschwätzigen Gossip-Stil so manches anarchistischen Podcasts gelegentlich gefährlich nahe kommt, vermag doch zwischen den Zeilen und manchmal sogar präzise auf den Punkt gebracht, eine ganz brauchbare Analyse des linkskonformistischen Virustotalitarismus zu liefern.

Also wenn es draußen ohnehin mal wieder regnet und man auch sonst nichts mit sich anzufangen weiß, lohnt es sich vielleicht in die neueste Folge Virus Radio vom Oktober dieses Jahres reinzuhören. Einen besseren Start in den Tag als die übliche Tageszeitung verspricht sie allemal.

https://superspreader.noblogs.org/

Hört auf zu bezahlen, zahlt es ihnen heim!

via lille.indymedia.org

In der Nacht vom 23. auf den 24. September wurden in Toulouse in der Frédéric Mistral Allee zwei LCL-Banken mit Farbe und Hämmern angegriffen. Einschränkungen, Elend und Inflation fallen nicht vom Himmel. Manche nehmen sich alles und lassen anderen bloß ihr Krümmel. Als Antwort auf die Aufrufe aufzuhören zu bezahlen*, unsere Rechnungen zu verbrennen, zu den Demonstrationen am 29. September und den folgenden zu gehen, lasst uns uns auch die Nächte nehmen.

Gegen die Angst vor dem Monatsende, lasst uns ein paar Schläge in die Gesichter der Kriegsprofiteure ausführen.

Gegen die Angst vor dem Ende der Welt, lasst uns ein paar Schläge in die Gesichter jener ausführen, die es finanzieren.

Wir wissen, dass es nicht verrückt, die Bankfenster einzuknallen.

Aber wenn die Preise steigen und die Fenster klirren, dann ist das immerhin etwas. Streiks stehen vor der Tür, mögen sie mit Tumulten einhergehen.

Und einen Solidaritätsgruß an Boris***

CCA
(confédération des copaings d’avant)

* https://dontpay.uk

** Branchenübergreifender Streik und Demonstrationsaufruf von einer großen französischen Gewerkschaft gegen Inflation und die Reform des Ruhestands.

*** https://bureburebure.info/solidarite-avec-boris/

Quillan (Aude/Frankreich): Glasfaserkabel entlang der Gleise sabotiert

via sansnom.noblogs.org

Seit 9:30 Uhr an diesem Freitag, den 23. September, ist in vielen Haushalte in Haute Vallée, vor allem in Quillan und Espéraza das Mobilfunknetz und Internet ausgefallen. Auf Nachfrage teilte der Betreiber Orange mit, dass der Ausfall aufgrund eines Sabotageakts an einem Glasfaserkabel in der Gemeinde Quillan zustande kam.

Neben Individuuen waren auch Firmen von diesem Internetausfall betroffen: In mehreren Läden funktionierten die Kartenzahlungsgeräte nicht.

(Und während die Zeitung keine Details nennt, um niemanden auf schlechte Ideen zu bringen, ist das beim „verantwortlichen lokalen Interventionsteam von Orange/Occitanie“ anders. Dieses hat das unten abgebildete Foto auf Twitter veröffentlicht. Die Stelle befindet sich entlang der TER (regionales Zugunternehmen)-Gleise. Nachdem eine Abdeckungsplatte abgehoben wurde, wurde dieser Abschnitt des Kabels absichtlich durchtrennt.)

Beiss die Hand die dich füttert!

Internationalistische Solidarität und Kampf von Hamburg nach Buenos Aires, Montevideo nach Santiago de Chile und zurück.

Ende August 2022 ist der Hamburger Bürgermeister und sozialdemokratische Politiker Peter Tschentscher zusammen mit einer 20-köpfigen Wirtschaftsdelegation für eine Woche nach Buenos Aires, Montevideo und Santiago de Chile gereist. Vertreter:innen von Hamburger Wirtschaftsunternehmen wie Hamburg Energie, der Hochbahn Hamburg, der HPA (Hamburg Port Authority), der Handelskammer Hamburg, des Kupferkonzerns Aurubis, der Lother-Gruppe und weitere waren Teil dieser neo-kolonialen Reisegruppe. Das Programm dieser Delegation war vielfältig und verdient definitiv Aufmerksamkeit. Ziel, der Delegation, war es sich um neue „Energie-Allianzen“, also verschiedene Handelsabkommen zu bemühen, aber auch eine deutsche Schule wurde besucht. Nicht zu vergessen: Eine Visite bei der aktuell stattfindenden internationalen Kooperation der chilenischen Carabineros und der Deutschen Polizei.

In alter Tradition… nur in Grün

Solche Delegationen haben eine lange Geschichte und sind auch aktuell kein Einzelfall. Sie stehen in einer kolonialen Tradition, die vor 500 Jahren mit den angeblichen „Eroberungen“ angefangen hat, und zeigen sich heute in neuem Gewand. Die Suche nach neuen „Energie-Allianzen“, angefeuert durch den Krieg in der Ukraine, lässt gerade Massen an Politiker:innen und Industriellen um die Welt reisen. Doppelstandarts und moralische Flexibilität sind hierbei offensichtlich. Wir wollen deutlich sein: Wir sind davon weder überrascht noch erwarten wir oder wollen wir irgendetwas von diesen Leuten. Vor wenigen Monaten ist der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Umweltschutz, Robert Habeck- Mitglied der grünen Partei, an den Persischen Golf nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate gereist um dort Energieimporte zu vereinbaren. Mit ihm reiste eine Delegation von wirtschaftlichem Rang und Namen. Die Chefs von Energie-Konzernen wie RWE und E.On, vom Rüstungskonzern Thyssen-Krupp, des Pharma-Riesen Bayer, sowie von Aurubis, der Commerzbank und Deutschen Bank, des Software-Herstellers SAP, Evonik… und dieses Grusel-Kabinett aus Vertretern von Tod und Zerstörung lässt tief blicken.

Auch die Zusammensetzung der Hamburger Delegation macht Sinn. In den meisten Fällen sind diese Delegationen heutzutage natürlich zeitgemäß betont grün-kapitalistisch angestrichen. Eines der Hauptinteressen, jener Hamburger Reisegesellschaft, war der „grüne Wasserstoff“. Diesen will Deutschland sich in den vom chilenischen und argentinischen Staat dominierten Gebieten produzieren lassen, um ihn dann über den Hamburger Hafen, Europas drittgrößten Hafen, zu importieren und diesen damit langfristig zu einem der europäischen Zentren der Versorgung mit Wasserstoff machen. Es wurde ein „Memorandum of Understanding“ in Santiago unterzeichnet. Gebraucht wird der Wasserstoff für vieles, unter anderem als Erdgasersatz, für Stahl… für die Schwerindustrie. Gerne wird, in bester Manier, die Fortschrittlichkeit der besuchten Wirtschaftsstandorte betont, natürlich nicht ohne rassistische Ressentiments zu bedienen oder die Geschichte zu relativieren. So betont Tschentscher öffentlich, dass keine Trägheit zu spüren wäre und freut sich darüber viele deutsche Namen gehört zu haben. Die Reise- bzw. Fluchtbewegungen deutscher Nazis nach Ende des Nationalsozialismus bleiben unerwähnt… Aber auch hier bewegen wir uns in einem gewohnten historischen Rahmen. Erinnern wir uns an den CDU Politiker und damaligen Bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und andere deutsche Politiker, die die Pinochet-Diktatur besuchten, guthießen und in diesem Zuge die deutsch-chilenischen Handelsbeziehungen intensivierten. Nicht zu vergessen sind auch die Besuche im Folterzentrum Colonia Dignidad, im Zuge dieser Reisen.

Allgemein wird gerne erwähnt wie grün und fortschrittlich die Energieversorgung der besuchten Staaten sei. Es gäbe viel Platz für Windkraftanlagen an den Küsten des vom argentinischen und chilenischen Staat dominierten Gebietes. In Montevideo wird eine Hafenkooperation zwischen der HPA (Hamburg Port Authority) und der ANP, der nationalen Hafenverwaltung von Montevideo, vereinbart. Der Container Hafen, betrieben von der Firma Katoen Natie, soll außerdem bis 2025 auf das Doppelte vergrößert und vertieft werden.

Weiterhin wurde ein Deal zwischen der chilenischen HIF, die E-Fuel Treibstoff produziert und der Hamburger Lother Gruppe beschlossen. Wie perfide und neo-kolonial all diese Geschäfte sind wird an anderer Stelle klar: Die Geschäfte mit der „grünen Energie“ bedeuten letztendlich eine Erweiterung des sogenannten Neo-Extraktivismus, also der kolonialen Ausbeutung natürlicher Ressourcen in Ländern des globalen Südens, und stehen für die Zerstörung der Umwelt. Da ein Kupferkonzern wie Aurubis in dieses grüne Märchen beim besten Willen nicht recht passen will, wird seine Rolle in den öffentlichen Verlautbarungen bewusst ausgespart. Eine weitere Komponente dieser Art von Politik und Geschäfte ist die Unterdrückung indigener Communities. Speziell sei an dieser Stelle der Kampf der Mapuche erwähnt, deren Communities vom chilenischen sowie argentinischen Staat beraubt, militarisiert und angegriffen werden – meist im Interesse internationaler Großkonzerne.

So unterhält Aurubis bereits jetzt Lieferabkommen mit multinationalen Kupferminen-Projekten auf chilenischem Territorium, welche die Lebensgrundlage der dort lebenden Mapuche-Gemeinschaften zerstören. Aber auch die Holz-/Papierindustrie spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Egal ob rechte oder linke Regierungen, der Staat bekämpft die Mapuche mit aller Härte. Ihr würdiger Kampf verdient unsere Solidarität.

Als Anarchist:innen sind wir uns im Klaren, dass im europäischen Raum eine Notwendigkeit von Energie konstruiert wird, die letztendlich den Bedarf der deutschen sowie europäischen Kriegs-, Automobil- und Schwerindustrie im Allgemeinen bedienen soll. Der populistisch geführte Diskurs einer nahenden Energie-Knappheit verstärkt durch die geopolitischen Konflikte zwischen den Staaten ist letztendlich eine willkommene Chance der Bevölkerung Angst um die eigene Energieversorgung, wie beispielsweise Heizwärme, zu machen. Und auch hier wollen wir die grundsätzlich strukturelle und neo-koloniale Ebene der Abhängigkeiten nicht außen vor lassen. Denn uns ist sehr wohl bewusst, auf was für perfiden Ebenen diese Ängste der reichen Europäer:innen sich im globalen Kontext bewegen – zahllose Menschen im globalen Süden leben immerhin ohne geregelten Zugang zu Elektrizität, sauberem Trinkwasser und anderer Infrastruktur, eine Situation, welche sich durch den Raubbau für die europäischen Märkte kontinuierlich verschlechtert.

Regierungen kommen und gehen – die Polizei bleibt!

All die Geschäfte, die auf dieser wie auf anderen Reisen dieser Art beschlossen werden, hängen auch an der Frage der sogenannten Stabilität in den betroffenen Regionen. Diese Frage wird auch von der Hamburger Delegation nicht ausgelassen. Stabilität wird erwartet. Und wo sie nicht schon attestiert wird muss sie eben hergestellt werden. Dass betrifft speziell den chilenischen Kontext nach dem sozialen Aufstand von 2019 und überhaupt einer Präsenz vieler lebendiger revolutionärer und sozialer Kämpfe. Die Carabineros in Chile werden fortan von der Deutschen Polizei, genauer der Hamburger und nordrhein-westfälischen Polizei, in einem Reformierungs-Prozess unterstützt. Es ist die Rede von „Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit“, aber hauptsächlich geht es um sogenannten „deeskalative Polizeistrategien“. Die Hamburger Bullen geben den chilenischen Pacos also Nachhilfe in Aufstandsbekämpfung. Die Erinnerungen an die Polizeigewalt während der G20-Revolte in Hamburg 2017 lässt hier erahnen, was das heißen kann… in Zukunft soll die Polizei in Chile wohl mit offensiver Öffentlichkeitsarbeit ihre Gewalt verleugnen. Wie gut das doch zum Rest dieser Reise passt!

Selbstorganisation, Solidarität und direkte Aktion gegen diese furchtbaren Verhältnisse und Entwicklungen! Wir wollen uns klar und solidarisch an die Seite der Kämpfenden in den von den Staaten Uruguay, Argentinien und Chile dominierten Gebieten stellen. Wir wollen verdeutlichen, dass die von uns angesprochenen Mechanismen und Projekte der Herrschaft internationalistische Kämpfe benötigen, die an allen Orten geführt werden und sich aufeinander beziehen. Alle beteiligten Verantwortlichen sind angreifbar und an vielen Orten zu finden.

Unsere Solidarität gilt den gefangenen Revolutionär:innen in den Gefängnissen. Solidarität auch mit den chilenischen Gefangenen der Revolte von 2019.

Ein besonders herzlicher Gruß geht an die anarchistischen
Mitstreiter:innen Monica Caballero und Francisco Solar, für die der chilenische Staat aktuell über 150 Jahre Haft fordert. Lassen wir die Gefangenen nicht alleine in den Händen des Staates!
Bis alle Gefängnismauern fallen!

Solidarität mit den indigenen Communities im Kampf!
Solidarität mit dem Kampf der Mapuche!

Für die soziale Revolution!

Einige Anarchist:innen, Hamburg in Deutschland, September 2022

Spannende Neuerscheinungen des formell organisierten Anarchismus

Eine regelrechte Welle an kritischen Reflexionen formeller Organisationsmodelle scheint derzeit durch die starre Organisationswelt des deutschsprachigen Anarchismus zu schwappen. Im folgenden sei eine kleine Auswahl derlei spannender Auseinandersetzungen präsentiert:

Kollektive Einmischung Nr. 6: Wie anarchistisch ist die Plattform?

Die neue Kollektive Einmischung beschäftigt sich anhand eines Briefwechsels zwischen Malatesta und Machno mit der zwar vielleicht etwas spät gestellten, aber gewiss niemals zu spät kommenden Frage: Wie anarchistisch ist die Plattform? Dieses Mal herausgegeben von der Formlosen Organisationsplattform für das allgemeine anarchistische Unbehagen angesichts autoritärer Organisationsmodelle.

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Syfo: Dringende Mitteilung des Instituts für Syndikalismusforschung

Dieses Mal herausgegeben vom Nonkonformistischen temporären Syndikat zur Verballhornung und Demontage des Anarchismus der leblosen Organisationen (NSVDAO).

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Inhalt:

  • Die bürgerlichen Wurzeln des Anarcho-Syndikalismus
  • Interviews mit der FAU Hamburg und der Anarchosyndikalistischen Jugend Wien über ihren Konformismus

Anarchismus.de: Zehn Thesen zum Aufstieg des Egokraten

Die Anarchismus.de Broschürenreihe Nr. 5 ist raus: Zehn Thesen zur Ausbreitung des Egokraten. Diesmal herausgegeben vom Zwanglosen und ungezwungenen Netzwerk für die Verhohnpiepelung des „Anarchismus“ der Organisationskadaver.

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