Bekam der Rationalismus auf dem Feld der abstrakten Arbeit heute den stärksten Schlag von Philosophie Bergsons, so wurde im Praktischen der Syndikalismus zu seinem erbittertesten Feind. Dieser hat die dogmatischen Fesseln der Parteien und Programme abgestreift und ist von der Symbolik der Repräsentation zur selbstständigen Arbeit übergegangen.
In der Bestimmung der Charakteristik des revolutionären Syndikalismus sollte mensch [aber] vorsichtig sein.
Um die Natur [des Syndikalismus] richtig einzuschätzen, muss mensch sich die tiefe Kluft zwischen dem Syndikalismus als eine Form der Arbeiterbewegung, die über eine proletarische Klassenorganisation verfügt, und dem [Syndikalismus] als der (einer?) “neuen Schule” des Sozialismus, dem “Neomarxismus”, welcher eine theoretische Weltanschauung darstellt, die auf den Fundament der kritischen Reflexion über den Arbeitersyndikalismus gewachsen ist, unterscheiden.
Das sind zwei verschiedene Welten, die voneinander unabhängig existieren; dieser Umstand wird allerdings von Forschern und Kritikern des Syndikalismus immer noch nicht ausreichend beachtet.
An dieser Stelle soll uns nur der “proletarische Syndikalismus” interessieren.
Seine Entwicklung baute auf folgenden Hauptprinzipien auf:
a) der Primat der Bewegung vor der Ideologie;
b) Freiheit der schöpferischen Selbstbehauptung der Klasse;
c) Autonomie des Individuums in der Klassenorganisation.
Alle Gedankengebäude des Marxismus fußten auf der Überzeugung, dass es möglich sei, allgemeine, d.h. abstrakte Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen und daraus folgernd soziologische Prognosen aufstellen.
Der Syndikalismus ist gemäß seiner Natur der vollkommene Verzicht auf jegliches soziologische Rezept. Der Syndikalismus ist eine unendlich fließende Schöpfung, die sich nicht im Rahmen einer absoluten Theorie oder einer vorbestimmten Methode einengen lässt. Der Syndikalismus ist eine Bewegung, die seine weitere Entwicklung bestimmenden und seine Richtung diktierende Stimuli in sich selbst sucht und findet; nicht die Theorie beherrscht die Bewegung, sondern Theorien werden in ihm geboren und sterben auch ebenda.
Der Syndikalismus ist ein Prozess unaufhörlicher Entfaltung proletarischen Selbstbewusstseins. Er zwingt seinen Anhängern keine unveränderlichen Losungen auf, vielmehr lässt er ihnen einen genauso großen Spielraum für freie positive Schöpfung ebenso wie für freie zerstörerische Kritik. Er kennt keine “verba magistri“, auf die zumindest proletarische politische Parteien schwören. Im Gegensatz zum genanntem Parteikatechismus, der, “zuvorkommend” wie er ist, auf jede Frage, die bei seinen Gläubigen auch nur entstehen könnten, bereits eine Antwort parat hält, pulsiert im Syndikalismus wütende Lebensfreude, die bereit ist, mit allen Waffen jede Frage zu beantworten, es dabei jedoch vermeidet, sich in schwerfällige dogmatische Rüstung[en] zu kleiden. In einer politischen Partei ist der Proletarier ein Ausführender, der an parteiliche Formalitäten, Berechnungen, Intrigen gebunden ist; im Syndikalismus ist er ein Schöpfer, dessen Wille von niemandem bestritten wird.
Die schwächste Stelle des “orthodoxen” Marxismus besteht in dem schreienden Widerspruch zwischen dem “revolutionärem” in Bezug auf seine Endziele und dem friedlichen, reformistischen Charakter seiner “Bewegung”, zwischen strengen Forderungen eines unversöhnliches “Klassenkampfes” und dessen praktische Unterordnung unter parlamentarischer Parteipolitik.
Diesen leidlichen, den eigentlichen Sinn der Bewegung in Verruf bringenden Widerspruch gibt es im Syndikalismus nicht, es kann ihn nicht geben. Denn dieser wird in der proletarischen Umgebung – unter den Produzenten – gebrochen; Bewegung und Ziel fließen zusammen, weil sie von derselben Natur sind. Die “Bewegung” ist genauso revolutionär wie das “Ziel”. Letzterer bedeutet die Zerstörung der aktuellen Klassengesellschaft mit ihrem System der Lohnarbeit, die mit allen Formen des staatlich-kapitalistischen Parasitismus den Geist der Klassenfeindschaft diktiert. So ist das Endziel des Syndikalismus gleichzeitig auch die wirkliche Losung eines jeden getrennten Moments seiner Bewegung.
Von Standpunkt des Syndikalismus aus gesehen, ist die Zukunft ein Produkt einer Schöpfung, eines komplexen, für Berechnungen unzugänglichen Prozesses, welcher durch einschließende Faktoren modifiziert wird, und dies in einer Art und Weise tut, die manchmal radikal die Umwelt verändert, in der gerade ein Schöpfungsakt stattfindet. Diese Zukunft zu kennen, wie es orthodoxe Konsumenten von Parteimanifesten es meinen zu tun, ist unmöglich. Umgekehrt verbirgt sich unter der angeblich realistischen Oberfläche parteiischer und parlamentarischer Weisheit des Reformismus, ein uferloser Utopismus, ein Glaube, dass es mit wörtlichen Überzeugungen und partiellen Experimenten möglich sei, ein komplexes, tief in unserer Psyche wurzelndes System zu überwinden.
Aber es ist möglich, zu wünschen, die Gegenwart zu verändern und die Zukunft entsprechend dem Willen aufzubauen, der unmittelbar in realen, lebendigen Formen der Produzentenorganisation zusammenfließt – in den Klassenorganisationen.
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