Titel: Idealistisches Manifest
Datum: April 1914
Quelle: Erich Mühsam - Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze. Hg. Jürgen Schiewe und Hanne Maußner. Philipp Reclam jun. Stuttgart 1984, ISBN 3-15-008238-2, S. 99-105.
Wer mit dem Blick auf zeitlose Weiten neue Moral, neue Gerechtigkeit, neue Menschlichkeit zum Inhalt seines Strebens macht, der weiß aus unzähligen Erfahrungen, daß er mißverstanden wird. Es ist fast notwendiges Schicksal seiner Überredungskunst, selbst bei Menschen von Verstand, Kritik und gutem Willen Kopfschütteln und Achselzucken zu erregen. Denn jede Agitation, deren Absicht nicht zeitlich begrenzt ist, steigt unbekümmert und rücksichtslos über praktische Bedenklichkeiten hin. Für bürgerliche – das heißt gegenwartsbesorgte – Naturen ist das Ziel immer der nächste Schritt. Wer aufs Ideal steuert, „schießt über das Ziel hinaus“. Den Weg zu einem Ziele nicht in jeder Kurve kennen, das Werkzeug zu einem Kampfe nicht auf jede Gefahr erprobt haben, das bewirkt die Zweifel, das Warnen, das Bangemachen und selbst den gewalttätigen Widerstand gegen Tendenzen, gegen deren Ehrlichkeit garnichts eingewandt wird. Aber wer im reinen Gefühl die Wahrheit weiß und in kluger Skepsis von ihr abläßt, den heiße ich einen Lumpen.
Hier ist mein idealer Zweck – da sehe ich das Mittel, ihn zu erfüllen: was kümmert mich die Chamade der Vorsichtigen? Naturwissenschaftler, Volkswirtschaftler, Historiker, Geographen, Politiker und Kaufleute sollen hundertmal recht haben, – mein Gefühl, das seine Wege kennt, können sie nicht widerlegen. Ich will den Völkerfrieden, weil er mich gut dünkt. Ich weiß, er wird sein, wenn die Arbeit der Menschen nicht mehr für den Krieg steuert, wenn die Soldaten sich weigern, ihresgleichen zu töten, wenn der Wille der Völker auf Frieden aus ist. Ich will Sozialismus und Anarchie. Ich weiß sie möglich, wenn Arbeit und Verbrauch auf gerechten Ausgleich gebracht sind, wenn Ordnung und Friedfertigkeit in den Menschen Leben gewonnen haben, wenn Autorität und Gehorsam, Herrschaft und Knechtschaft aus der Gewohnheit der Völker gewichen sind. Sie werden weichen, wenn allenthalben aus der Sehnsucht nach Freiheit der Wille zur Freiheit geworden ist. Ich will Kultur und Kunst Gemeingut der Völker wissen. Sie werden es sein, wenn der Geschmack der Besten sich Allen mitgeteilt hat, wenn die Ethik der Massen sich zum Anstand geformt hat, wenn aus Zwang und Strafe Rechtlichkeit und Verständigung geworden ist.
Aber für den Frieden sind alle Vorbedingungen nicht erfüllt. Die Völker haben ein natürliches Expansionsbedürfnis und bedrohen die Grenzen ihrer Nachbarn. Gehorsamsverweigerung, Generalstreik, Revolution ziehen entsetzliche Strafen nach sich. Der Gedanke, das Raubtier Mensch werde in Ordnung und Verständigkeit miteinander auskommen, der Geschmack der rohen Masse könne umgeformt werden, Freiheit werde jemals etwas anderes sein als eine schöne Phrase, ist absurd und kindlich. Schon die Formulierung deiner Ideale ist ein Beweis, wie unabwendbar und naturgewollt alle die Einrichtungen sind, die du bekämpfst. Bitte: ich fordere nicht auf, – ich bekenne. Und ich suche meine Gefühle, die mir Wahrheiten sind, in das Gefühl der Nebenmenschen zu verpflanzen. Verstandeskühle Einwendungen können richtig oder falsch sein, – an der Erkenntnis dessen, was gut und recht ist, prallen sie ab.
Das also ist das Wesen der Agitation: auszusprechen, was subjektiv wahr ist, die Energie der andern nach der Richtung zu beeinflußen, die zu erstreben ist. Was die stärkste Energie – Weniger oder der Menge – wollen wird, das wird die Zukunft sein. Unmittelbare praktische Wirkungen gelten nicht allzuviel. Sie sind nur wertvoll als Symptome eines neuen Geistes, der unterirdisch im Werden ist. Der neue Geist aber entsteht heimlich und unbeobachtet, langsam und viel später, als sein Same gestreut ist. Wenn er zuerst in einem Gedanken, einer Tat, einem Kunstwerk oder einer Erkenntnis plötzlich aus dem Boden schießt, dann ist sein Ursprung längst nicht mehr zu entdecken, dann hat er gewirkt, als ob er selbstverständlich und ohne Rausch wäre.
Plötzlich ist eine neue Bewegung da, überraschend, scheinbar aus dem Nichts gestampft. Sie zieht Kreise, wächst, wirkt, aber ihre Herkunft ist verschollen. Aller Fortschritt ist diskreter Geburt, denn er stammt vom heiligen Geist, er stammt aus der Sehnsucht und der Bitternis vergangener Idealisten. Freilich sieht jeder Erfolg des Idealismus anders aus als seine Werbung. Was daraus eingeht in das Leben des Menschen, sind Anpassungen an geltende Verhältnisse, sind nichts weiter als Entwicklungsfaktoren. Gerade darum aber müssen die Forderungen an die Welt so schroff wie möglich gestellt werden, muß stets das denkbar Äußerste verlangt werden, ohne Rücksicht auf die Aussichten der Verwirklichung. Nur die ideale Forderung in ihrem weitesten Umfange schafft Fortschritte im engen Kreise. Die Utopie ist die Vorbedingung jeder Entwicklung.
Die Entwicklung hat mit dem Abrollen der Jahre nichts zu tun, nicht nur, weil uns die Irrealität der Zeit bewußt ist, sondern weil uns die Geschichte der Vergangenheit lehrt, daß die vorgeschrittene Jahreszahl keine Gewähr gibt für höhere Kultur und tieferen Menschenwert. Einsichten und Sitten entstehen und verschwinden mit dem Werden und Vergehen der Generationen. Nie wird die Zeit kommen, die keiner Revolution bedürfte. Dennoch wollen wir unser Weltbild gestalten nach dem Ideal der Vollkommenheit, und das können wir, wenn wir den Blick aufs Künftige, und das ist aufs Ewige, gerichtet halten. Und wir wollen uns freuen, wenn irgendwo aus dem Geschehen der Zeit eine Blüte treibt, in der wir verwandelt und verdünnt den Keim unserer Werbung erkennen.