Freedom Club – Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft

Laut verschiedenen Medien wurde Theodore „Ted“ Kaczynski am Samstag in seiner Zelle tot aufgefunden, einige Medien berichten auch darüber dass es sich möglicherweise um Selbstmord handeln könnte. Wie es auch gewesen sein mag, Ted Kaczynski war 81 Jahre alt, schwer krank – er hatte Krebs im Endstadium und ist tot. Er war seit 1996, seit seiner Verhaftung, in Hochsicherheitsgefängnissen eingesperrt und da er zu achtmal lebenslänglich Verurteilt wurde, ohne Möglichkeit auf Bewährung, war es klar, dass er im Knast sterben würde. Die Figur um Ted Kazcynski war immer sehr umstritten, doch wollen wir heute, denn wir haben es heute erst erfahren, seine Schrift „Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“ auf unseren Blog veröffentlichen, die zwar in einigen Punkten etwas veraltet erscheinen mag, aber immer noch brandaktuell ist. Der Kapitalismus treibt jegliches und mögliche Leben was aktuell auf diesen Planeten möglich ist auf der schnellsten Weise zum Ende. Dank des Kapitalismus ist es jetzt schon für Milliarden von Menschen auf diesen Planeten nicht mehr möglich zu leben und jeden Tag werden es immer mehr und die Lebensbedingungen mehr und mehr unerträglich. Ted Kazcynski schrieb vor fast 30 Jahren schon darüber und warnte darüber, er wusste dass der Kapitalismus das Leben auf diesen Planeten bald zerstören würde, er war aber nicht der einzige der dies getan hat. Ted hat mit großen Interesse einige der Werke von Jacque Ellul gelesen und dies ist in diesem Text ziemlich ersichtlich.Ted entschied sich nach seinen Möglichkeiten dagegen zu intervenieren. Er tat dies mittels Briefbomben, es starben mehrere Personen und dutzende wurden verletzt die in verschiedenen Unternehmen in der Technologiebranche arbeiteten.Und natürlicht mittels den Text den wir jetzt hier veröffentlichen, was wir vor langer Zeit machen wollen. Man mag mit seinen Aktionen und seinen Texten nicht einverstanden sein und kritisieren, was auch wir tun, aber uns geht es hier vor allem um den hier vorliegenden Text. Was die Debatte in der anarchistischen Bewegung angeht, warum gewisse Mittel nicht vertretbar sind, verweisen wir auf diesen Text (Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…). Wir haben die Version übernommen die auf der Seite anarchistische Bibliothek ist, wir haben ihn nicht mit dem Originaltext verglichen, manchmal gibt es sprachliche Abweichungen mit denen wir nicht einverstanden sind. Wir raten herzlich allen Menschen diesen Text durchzulesen um mit ihren Freundinnen und Freunden, ihren Gefährtinnen und Gefährten, oder sonst wen zu diskutieren. Es spielt vorerst keine Rolle ob man damit einverstanden ist oder nicht, aber der Text bietet viele Diskussionspunkte die wie schon oben gesagt, immer noch unglaublich brandaktuell sind.
Freedom Club Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft
Anmerkung zur Übersetzung des Manifests Der Text Industrial Society and its Future, auch als Unabomber-Manifest bekannt, erschien erstmals als Abdruck eines 56-seitigen Manuskripts, das eine sich als »FC« (Freedom Club) bezeichnende ökologisch-anarchistische Gruppe 1995 an die New York Times und die Washington Post schickte. FC forderte die Veröffentlichung des Textes und bot im Gegenzug die Einstellung einer Bombenserie an, die in den USA bisher drei Menschen getötet und mehrere schwer verletzt hatte. Seit dem Abdruck des Textes durch beide Zeitungen kursieren mehrere Fassungen des Textes im Internet. Seit 2001 steht Lutz Dammbeck in brieflichem Kontakt mit Ted Kaczynski, der ihm im August 2002 anbot, eine authentische und korrigierte Fassung des Textes zu schicken. Im Jahre 2003 beendete Ted Kaczynski im US-Penitentiary MAX/Florence, Colorado, die Arbeit an der Fassung, die der deutschen Übersetzung zugrunde liegt. Dazu Ted Kaczynski in einem Brief an Lutz Dammbeck: »Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, haben Sie mich in einem Ihrer Briefe gefragt, wer an den zahlreichen Fehlem der veröffentlichten Versionen des Manifestes schuld sei. Schuld daran sind die Leute, die das Manifest sorglos und nachlässig transcribiert haben. Alle veröffentlichten Versionen des Manifestes beruhen direkt oder indirekt auf der Version der Zeitung The Washington Post. Infolge der Nachlässigkeit der Angestellten dieser Zeitung sind viele Fehler, besonders das Auslassen von Teilen mancher Sätze und sogar von ganzen Sätzen, in dieser Version erschienen. Jedes Mal, wenn jemand das Manifest wieder transcribiert hat, hat er diese Fehler übertragen und auch eigene Fehler beigetragen, sodass die veröffentlichten Versionen immer schlechter geworden sind.«
EINLEITUNG 1. Die industrielle Revolution und ihre Folgen sind eine Katastrophe für die Menschheit. Zwar ist die Lebenserwartung derer, die in »hoch entwickelten« Ländern leben, dadurch bedeutend gestiegen, gleichzeitig aber ist eine Destabilisierung der Gesellschaft eingetreten, das Leben bringt keine Erfüllung mehr, Menschen sind Demütigungen unterworfen, psychische Leiden sind weit verbreitet (in der Dritten Welt auch körperliche Leiden) und der Natur ist schwerer Schaden zugefügt worden. Die technologische Fortentwicklung wird die Lage weiter verschlimmern. Mit Sicherheit wird die Menschheit noch größere Demütigungen erleiden und die Natur noch mehr geschädigt werden, wahrscheinlich werden sich die gesellschaftliche Zerstörung und die psychischen Leiden verstärken, und schließlich könnte es selbst in den »hoch entwickelten« Ländern einen Anstieg von Krankheiten geben. 2. Das industriell-technologische System kann überleben oder es kann zusammenbrechen. Wenn es überlebt, KÖNNTE es darin eines Tages möglicherweise nur noch geringe psychische und physische Leiden geben, aber nur nach einer langen und sehr schmerzhaften Zeit der Anpassung und nur um den Preis einer dauerhaften Reduzierung der Menschen und anderer Lebewesen auf designte Produkte und bloße Rädchen im Getriebe. Außerdem wird es, wenn das System überlebt, keine Möglichkeit geben, durch Reformen oder Eingriffe zu verhindern, dass den Menschen darin ihre Würde und Autonomie genommen werden. 3. Aber auch wenn das System zusammenbricht, werden die Folgen noch immer sehr schmerzhaft sein. Je mächtiger aber das System sich entwickelt, desto katastrophaler werden die Folgen des Zusammenbruchs sein, so dass ein baldiger Zusammenbruch des Systems wünschenswerter ist als ein späterer. 4. Deshalb treten wir für eine Revolution gegen das industrielle System ein. Diese Revolution kann mit oder ohne Gewalt durchgeführt werden; sie kann plötzlich eintreten oder in einem längeren Prozess über mehrere Jahrzehnte. Wir können nichts davon Voraussagen. Aber wir skizzieren generell die Maßnahmen, die jene, die das industrielle System hassen, ergreifen sollten, um den Weg für eine Revolution gegen diese Form der Gesellschaft zu bereiten. Es wird keine POLITISCHE Revolution sein. Ihr Ziel wird sein, nicht Regierungen, sondern die ökonomischen und technologischen Grundlagen der bestehenden Gesellschaft zu stürzen. 5. In dieser Abhandlung betrachten wir nur einige der negativen Entwicklungen, die aus dem industriell-technologischen System entstanden sind. Andere Entwicklungen werden wir nur kurz andeuten oder gar nicht behandeln. Das bedeutet nicht, dass wir diese anderen Entwicklungen für unwichtig halten. Nur aus praktischen Gründen müssen wir unsere Erörterung auf Bereiche beschränken, denen bis jetzt nur ungenügende öffentliche Aufmerksamkeit zugekommen ist oder in denen wir etwas Neues zu sagen haben. Zum Beispiel gibt es inzwischen eine sehr aktive Umwelt- und Naturschutzbewegung, weswegen wir nur sehr wenig über Umweltverschmutzung und die Zerstörung der ursprünglichen Natur geschrieben haben, obwohl wir diese für äußerst wichtig halten. PSYCHOLOGIE DER MODERNEN LINKEN 6. Wohl jeder wird mit uns übereinstimmen, dass wir gegenwärtig in einer zutiefst gestörten Gesellschaft leben. Eines der verbreitetsten Symptome des Wahnwitzes unserer Welt ist die linksgerichtete Ideologie1, weswegen eine Erörterung der Psychologie der Linken als Einleitung einer Erörterung der Probleme der modernen Gesellschaft im Allgemeinen dienen kann. 7. Was aber versteht man unter linksgerichteter Ideologie? Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konnte man linksgerichtete Ideologie praktisch gleichsetzen mit Sozialismus. Heute ist die Bewegung zersplittert und es ist nicht klar, wer zutreffend als Linker bezeichnet werden kann. Wenn wir in dieser Abhandlung über Linke sprechen, denken wir vor allem an Sozialisten, Kollektivisten, Anhänger der »political correctness«, Feministinnen, Aktivisten der Schwulen- und Behindertenbewegungen, Tierschützer und dergleichen. Aber nicht jeder, der einer dieser Bewegungen verbunden ist, ist ein Linker. In unserer Erörterung der Linken versuchen wir weniger, eine Ideologie zu fassen als einen psychologischen Typus, oder eher noch eine Ansammlung verwandter psychologischer Typen. So wird sich im Verlauf unserer Erörterung über linke Psychologie klarer ergeben, was wir mit linksgerichteter Ideologie meinen (siehe auch Abschnitte 227-230). 8. Dennoch wird unser Begriff von linksgerichteter Ideologie wohl nicht so klar werden, wie wir es uns wünschen würden, aber dagegen scheint es kein Mittel zu geben. Wir versuchen hier lediglich, annähernd und in groben Zügen die beiden psychologischen Tendenzen zu umreißen, die unserer Meinung nach die Hauptantriebskräfte der modernen linken Ideologie sind. Wir beanspruchen keineswegs, damit die GANZE Wahrheit über linksgerichtete Psychologie zu verkünden. Auch ist unsere Erörterung lediglich auf die moderne linksgerichtete Ideologie bezogen. Wir lassen die Frage offen, inwieweit unsere Erörterung auf die Linken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts übertragbar wäre. 9. Die beiden psychologischen Tendenzen, die der modernen linksgerichteten Ideologie zugrunde liegen, nennen wir Gefühle von Minderwertigkeit und Überangepasstheit. Gefühle von Minderwertigkeit sind charakteristisch für die gesamte moderne Linke, Überangepasstheit dagegen nur für einen Teil der modernen Linken; aber gerade dieser Teil ist höchst einflussreich. GEFÜHLE VON MINDERWERTIGKEIT 10. Unter »Gefühlen von Minderwertigkeit« verstehen wir nicht nur Minderwertigkeitsgefühle im engeren Sinne, sondern ein ganzes Spektrum verwandter Eigenschaften: schwaches Selbstbewusstsein, Ohnmachtsgefühle, depressive Neigungen, Defätismus, Schuldgefühle, Selbsthass usw. Wir behaupten, dass die modernen Linken zu diesen Gefühlen neigen (möglicherweise mehr oder weniger verdrängt), und dass diese Gefühle entscheidend die Richtung der modernen linksgerichteten Ideologie prägen. 11. Wenn jemand nahezu alles, was über ihn (oder über Gruppen, mit denen er sich identifiziert) gesagt wird, als Geringschätzung interpretiert, schließen wir daraus, dass er Minderwertigkeitsgefühle oder ein schwaches Selbstbewusstsein hat. Diese Neigung ist unter Aktivisten für Minderheitenrechte besonders ausgeprägt, ob sie nun zu der Minderheitengruppe gehören, deren Rechte sie verteidigen, oder nicht. Sie sind hypersensibel gegenüber den Ausdrücken, die Minderheiten bezeichnen und gegenüber allem, was über Minderheiten gesagt wird. Die Begriffe »Neger«, »Orientale«, »Behinderter« oder »chick« für Afrikaner, Asiaten, körperlich eingeschränkte Personen oder Frauen hatten ursprünglich keine abwertenden Konnotationen. »Broad« und »chick« waren bloß die weiblichen Entsprechungen zu »guy«, »dude« oder »fellow«: Kerl, Bursche, Kumpel. Die negativen Konnotationen haben erst die Aktivisten selbst mit diesen Ausdrücken verbunden. Manche Tierschützer gehen so weit, dass sie das Wort »pet«, Haustier, ablehnen und auf der Bezeichnung »animal compa- nion«, Tier-Gefährte, bestehen. Linksgerichtete Anthropologen geben sich große Mühe zu vermeiden, irgendetwas über primitive Völker zu sagen, das womöglich als negativ interpretiert werden könnte. Sie ersetzen das Wort »primitiv« durch »nicht- alphabetisiert« oder »schriftlos«. Sie wirken fast paranoid in ihrer Befürchtung, den Eindruck zu erwecken, sie hielten irgendeine primitive Kultur im Vergleich zu unserer eigenen für minderwertig. (Wir wollen nicht unterstellen, dass primitive Kulturen der unseren tatsächlich unterlegen SIND. Wir wollen lediglich die Hypersensibilität linksgerichteter Anthropologen aufzeigen.) 12. Diejenigen, die am sensibelsten auf »politisch inkorrekte« Terminologie reagieren, sind nicht der durchschnittliche schwarze Ghettobewohner, der asiatische Immigrant, die misshandelte Frau und der Behinderte, sondern eine Minderheit von Aktivisten, von denen viele nicht einmal einer »unterdrückten« Gruppe angehören, sondern privilegierten Gesellschaftsschichten entstammen. Die Hochburg der »political correct- ness« bilden Universitätsprofessoren, die sichere Arbeitsplätze und gute Einkommen haben und die in ihrer Mehrheit heterosexuelle weiße Männer aus der mittleren bis oberen Mittelschicht sind. 13. Viele Linke identifizieren sich stark mit den Problemen von Gruppen, die allgemein als schwach (Frauen), unterdrückt (Indianer), abstoßend (Homosexuelle) oder anderweitig minderwertig angesehen werden. Die Linken selbst empfinden diese Gruppen als minderwertig. Sie würden es sich selbst gegenüber zwar nie zugeben, dass sie so empfinden, aber genau deswegen, weil sie diese Gruppen als minderwertig ansehen, identifizieren sie sich mit ihren Problemen. (Wir wollen nicht unterstellen, dass Frauen, Indianer usw. tatsächlich minderwertig SIND; uns geht es lediglich um linksgerichtete Psychologie.) 14. Feministinnen und Feministen sind verzweifelt darauf aus zu beweisen, dass Frauen genauso stark und fähig sind wie Männer. Dahinter steckt deutlich die Befürchtung, Frauen könnten NICHT so stark und fähig wie Männer sein. 15. Die Linken neigen dazu, alles zu hassen, was als stark, gut und erfolgreich gilt. Sie hassen Amerika, sie hassen die westliche Zivilisation, sie hassen weiße Männer, sie hassen Rationalität. Die Gründe, die die Linken für diesen Hass auf den Westen usw. selbst vorgeben, stimmen ganz klar nicht mit ihren wahren Motiven überein. Sie SAGEN, dass sie den Westen hassen, weil er kriegerisch, imperialistisch, sexistisch, ethno- zentristisch usw. sei, aber wo diese Makel in sozialistischen Ländern oder primitiven Kulturen auftreten, wird der Linke Entschuldigungen dafür finden oder höchstens WIDERWILLIG zugeben, dass sie existieren; wohingegen er BEGEISTERT auf diese Makel hin weisen (und sie oft grob übertreiben) wird, wenn sie in westlichen Zivilisationen auftreten. So ist es klar, dass diese Makel nicht die tatsächlichen Motive für den Hass des Linken auf Amerika und den Westen sind. Er hasst Amerika und den Westen, weil sie stark und erfolgreich sind. 16. Begriffe wie »Selbstvertrauen«, »Selbstständigkeit«, »Initiative«, »Unternehmungsgeist«, »Optimismus« usw. spielen im linken Vokabular nur eine geringe Rolle. Der Linke ist antiindividualistisch und prokollektivistisch. Er will, dass die Gesellschaft jedermanns Probleme löst, jedermanns Bedürfnisse befriedigt und für jeden sorgt. Er gehört nicht zu denen, die Vertrauen in ihre Fähigkeit haben, ihre eigenen Probleme zu lösen und ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Der Linke lehnt das Wettbewerbsprinzip ab, weil er sich tief im Innern als Verlierer fühlt. 17. Kunstformen, die moderne linksgerichtete Intellektuelle ansprechen, thematisieren Elend, Niederlage und Verzweiflung, oder aber sie nehmen einen orgiastischen Ton an und werfen jegliche rationale Kontrolle über Bord, als ob es keine Hoffnung gäbe, irgendetwas durch rationale Berechnung zu vollbringen und als ob die einzige Möglichkeit sei, in den Empfindungen des Augenblicks zu versinken. 18. Moderne linksgerichtete Philosophen neigen dazu, Vernunft, Wissenschaft, objektive Realität zu verwerfen und auf einem Kulturrelativismus zu bestehen. Zwar kann man ernsthaft hinterfragen, worauf wissenschaftliche Erkenntnis beruht und wie, wenn überhaupt, ein Konzept objektiver Realität definiert werden kann. Aber ganz offensichtlich sind linksgerichtete Philosophen nicht einfach kühle Logiker, die die Grundlagen von Erkenntnis systematisch analysieren. Sie sind bei ihrem Angriff auf Wahrheit und Wirklichkeit emotional stark beteiligt. Sie greifen diese Konzepte aufgrund ihrer eigenen psychologischen Bedürfnisse an. Zum einen ist ihr Angriff ein Ventil für ihre Feindseligkeit, und er befriedigt, wenn er erfolgreich ist, ihren Machttrieb. Vor allem aber hasst der Linke Wissenschaft und Rationalität, weil diese gewisse Annahmen als wahr klassifizieren (d.h. als erfolgreich, als überlegen) und andere Annahmen als falsch (d.h. als gescheitert, als minderwertig). Die Minderwertigkeitsgefühle des Linken sind so tief verwurzelt, dass er eine solche Einteilung der Dinge in erfolgreich und überlegen einerseits und gescheitert und unterlegen andererseits nicht ertragen kann. Hierauf beruht auch die Ablehnung, die viele Linke dem Begriff von Geisteskrankheit und der Nützlichkeit von Intelligenztests entgegenbringen. Linke weisen genetische Erklärungen für menschliche Fähigkeiten und Verhaltensweisen zurück, weil solche Erklärungen dazu führen, dass einige Menschen anderen gegenüber als überlegen bzw. unterlegen erscheinen. Linke geben lieber der Gesellschaft das Verdienst oder die Schuld an den Fähigkeiten eines Menschen oder an deren Fehlen. Wenn ein Mensch denn »unterlegen« ist, so ist es nicht sein Verschulden, sondern das der Gesellschaft, die bei seiner Erziehung versagt hat. 19. Der Linke gehört üblicherweise nicht zu denen, die ihre Minderwertigkeitsgefühle durch Angeberei, Ichbezogenheit, Rüpelei, Selbstdarstellung oder rücksichtslose Konkurrenz kompensieren; denn jene haben ihren Glauben an sich selbst nicht völlig verloren. Es fehlt ihnen an Vertrauen in ihre Kräfte und an Selbstwertgefühl, aber sie können sich trotzdem vorstellen, stark zu sein, und die Anstrengungen, diese Stärke tatsächlich zu erlangen, sind die Ursache für ihr unangenehmes Verhalten2. Aber davon ist der Linke weit entfernt. Seine Minderwertigkeitsgefühle sind so eingefleischt, dass er sich nicht als starkes und wertvolles Individuum begreifen kann. Daher der Kollektivismus der Linken. Er kann sich nur als Mitglied einer großen Organisation oder einer Massenbewegung stark fühlen, mit der er sich identifiziert. 20. Man beachte die masochistische Tendenz linker Taktiken. Linke protestieren mit Sitzstreiks, indem sie sich vor Fahrzeugen auf den Boden niederlegen, sie provozieren bewusst die Polizei oder Rassisten, sie zu misshandeln, usw. Diese Taktiken mögen zwar oft wirkungsvoll sein, aber viele Linke nutzen sie nicht als Mittel zum Zweck, sondern weil sie masochistische Taktiken BEVORZUGEN. Selbsthass ist eine linke Eigenschaft. 21. Linke behaupten, dass ihr Aktivismus durch Mitgefühl oder moralische Prinzipien motiviert ist, und moralische Prinzipien spielen auch in der Tat eine Rolle für den übersozialisierten Typus des Linken. Aber Mitleid und moralische Prinzipien können nicht die Hauptmotive von linkem Aktivismus sein. Feindseligkeit ist ein zu herausragender Aspekt linken Verhaltens; ebenso der Machttrieb. Außerdem ist linkes Verhalten nicht rational überlegt darauf ausgerichtet, was für diejenigen, denen helfen zu wollen die Linken behaupten, am besten wäre. Wenn jemand zum Beispiel glaubt, eine Politik der gezielten Förderung von Minderheiten sei gut für Schwarze, ist es dann sinnvoll, diese in einer feindseligen oder dogmatischen Terminologie einzufordern? Ganz offensichtlich wäre es konstruktiver, diplomatisch und versöhnlich vorzugehen, denn das würde wenigstens eine verbale und symbolische Konzession gegenüber den Weißen bedeuten, die fürchten, die gezielte Minderheitenförderung würde sie benachteiligen. Aber linke Aktivisten gehen deshalb nicht so vor, weil es ihre emotionalen Bedürfnisse nicht befriedigen würde. Schwarzen zu helfen ist nicht ihr wahres Ziel. Statt dessen müssen die Rassismusprobleme als Vorwand dafür herhalten, dass die Linken ihre Feindseligkeit und ihren frustrierten Machttrieb ausleben. Doch tatsächlich schaden sie damit den Schwarzen, denn die feindselige Haltung der Aktivisten gegenüber der weißen Mehrheit schürt den Rassenhass. 22. Wenn es in unserer Gesellschaft überhaupt keine sozialen Konflikte gäbe, müssten die Linken Konflikte ERFINDEN, um einen Vorwand für ihr Getue zu haben. 23. Wir betonen, dass das Gesagte keine akkurate Beschreibung eines jeden, der als Linker bezeichnet werden könnte, geben soll. Es ist nur eine grobe Umrisszeichnung einer generellen Tendenz der linksgerichteten Ideologie. ÜBERANGEPASSTHEIT 24. Mit dem Begriff »Sozialisation« oder Anpassung bezeichnen Psychologen den Erziehungsprozess, durch den Kinder dazu gebracht werden, so zu denken und zu handeln, wie es die Gesellschaft fordert. Jemand gilt als gut sozialisiert, wenn er an die moralischen Normen ihrer Gesellschaft glaubt und sie befolgt und sich als funktionierendes Teil in diese Gesellschaft einpasst. Es scheint daher zunächst unsinnig zu behaupten, viele Linke seien übersozialisiert oder überangepasst, da Linke im Allgemeinen als Aufrührer gelten. Trotzdem kann diese Behauptung aufrecht erhalten werden. Viele Linke sind nicht so aufrührerisch, wie es den Anschein hat. 25. Der moralische Code unserer Gesellschaft ist derart anspruchsvoll, dass niemand in vollkommener Übereinstimmung damit denken, fühlen und handeln kann. So gilt es etwa als unmoralisch, jemanden zu hassen, und doch hasst nahezu jeder zu irgendeinem Zeitpunkt einmal jemand anderen, ob er es sich eingesteht oder nicht. Manche Menschen sind derart stark angepasst, dass ihr Anspruch, moralisch zu denken, zu fühlen und zu handeln, für sie eine schwere Last bedeutet. Um Schuldgefühle zu vermeiden, müssen sie sich über ihre eigenen Motive ständig selbst betrügen und moralische Erklärungen für Gefühle und Handlungen finden, die in Wirklichkeit gar keinen moralischen Hintergrund haben. Solche Leute nennen wir »überangepasst«3. 26. Überangepasstheit kann zu geringer Selbstachtung, Ohnmachtsgefühlen, Defätismus, Schuldgefühlen usw. führen. Eine der wichtigsten Methoden, mit denen unsere Gesellschaft Kinder sozialisiert, ist die, ihnen ein Gefühl der Scham zu vermitteln, wenn ihr Verhalten oder ihr Sprechen nicht den Erwartungen der Gesellschaft entspricht. Wenn dies übertrieben wird, oder wenn ein Kind besonders empfindlich ist, kommt es dazu, dass sich das Kind SEINER SELBST schämt. Außerdem sind die Gedanken und das Handeln des überangepassten Menschen durch die gesellschaftlichen Erwartungen stärker eingeschränkt als die eines weniger stark angepassten Menschen. Die Mehrheit der Menschen verstößt in nicht geringem Maße regelmäßig gegen Normen. Sie lügen, klauen, verstoßen gegen Verkehrsregeln, drücken sich vor Arbeit, sie hassen jemanden, sie reden gehässig über den anderen oder intrigieren, um ihn loszuwerden. Der überangepasste Mensch kann diese Dinge nicht tun, oder wenn er sie tut, verursacht es in ihm ein Gefühl von Scham und Selbsthass. Der überangepasste Mensch ist noch nicht einmal in der Lage, ohne Schuldgefühle Gedanken oder Empfindungen zu haben, die der allgemein akzeptierten Moral entgegenstehen; er kann keine »schmutzigen« Gedanken denken. Und Sozialisation ist nicht nur eine Frage der Moral; wir werden auch sozialisiert, um vielen Verhaltensnormen zu genügen, die mit Moral nichts zu tun haben. So wird der überangepasste Mensch im Joch gehalten und bleibt sein ganzes Leben lang in den von der Gesellschaft vorgegebenen Bahnen. In vielen überangepassten Menschen führt dies zu einem Gefühl von Zwang und Machtlosigkeit, unter dem sie sehr leiden. Unserer Meinung nach gehört Überanpassung zu den schlimmsten Grausamkeiten, die Menschen einander antun. 27. Wir behaupten, dass ein erheblicher und einflussreicher Teil der modernen Linken überangepasst ist und dass ihre Überangepasstheit die Richtung der modernen linksgerichteten Ideologie stark bestimmt. Linke des übersozialisierten Typus sind eher Intellektuelle oder stammen aus der oberen Mittelschicht. Man beachte, dass Akademiker4 die am stärksten angepasste Gruppe in unserer Gesellschaft sind und auch die am weitesten links stehende. 28. Der Linke vom überangepassten Typus versucht, durch Aufstand sein psychologisches Joch abzuschütteln und seine Autonomie zu behaupten. Aber meistens ist er nicht stark genug, um sich gegen die grundlegenden Werte der Gesellschaft aufzulehnen. Im Großen und Ganzen stehen die Ziele der heutigen Linken NICHT im Widerspruch zur allgemein akzeptierten Moral. Im Gegenteil, der Linke nimmt ein allgemein akzeptiertes moralisches Prinzip, gibt es als sein eigenes aus und beschuldigt dann die Mehrheit der Gesellschaft, dieses Prinzip zu verletzen. Beispiele: Rassengleichheit, Gleichheit der Geschlechter, Unterstützung der Armen, Frieden, Gewaltlosigkeit, Meinungsfreiheit, Tierschutz. Tiefgreifender, die Pflicht des Individuums, der Gesellschaft zu dienen und die Pflicht der Gesellschaft, das Individuum zu beschützen. All diese Werte sind in unserer Gesellschaft seit Langem tief verwurzelt (wenigstens in ihren Mittel- und Oberschichten)5. Diese Werte sind implizit oder explizit in den meisten Darstellungen der Massenkommunikationsmedien und des Bildungssystems genannt oder vorausgesetzt. Linke, besonders jene vom überangepassten Typus, lehnen sich im Allgemeinen nicht gegen diese Prinzipien auf, sondern rechtfertigen ihre Feindseligkeit gegenüber der Gesellschaft mit der Behauptung (die zu einem gewissen Grad wahr ist), dass sich die Gesellschaft nicht nach diesen Prinzipien richtet. 29. An einem Beispiel soll gezeigt werden, wie der übersozialisierte Linke tatsächlich die Konventionen unserer Gesellschaft akzeptiert, während er gleichzeitig vorgibt, sich dagegen aufzulehnen. Viele Linke setzen sich für eine gezielte Förderung von Schwarzen ein, dafür, dass Schwarze in prestigeträchtige Berufe aufsteigen können, für die Verbesserung der Bildung in schwarzen Schulen und finanzielle Unterstützung solcher Schulen; sie betrachten die Lebensweise der schwarzen »Unterschicht« als eine gesellschaftliche Schande. Sie wollen den Schwarzen in das System integrieren, indem sie einen Geschäftsmann, einen Rechtsanwalt oder einen Wissenschaftler aus ihm machen, der so ist wie die Weißen aus der Oberschicht. Die Linken werden einwenden, dass sie nichts weniger wünschen, als den Schwarzen zu einer Kopie des Weißen zu machen; im Gegenteil, sie wollen seine afro-amerikanische Kultur bewahren. Aber worin besteht diese Bewahrung der afro-amerikanischen Kultur? Sie kann kaum mehr bedeuten als typisch schwarze Küche, schwarze Musik, schwarze Mode und schwarze Kirchen bzw. Moscheen zu pflegen. Anders gesagt, diese Kultur kann sich nur in oberflächlichen Dingen äußern. Im WESENTLICHEN aber wollen die meisten überangepassten Linken den Schwarzen den Idealen der weißen Mittelklasse entsprechend formen. Er soll technische Fächer studieren, ein Manager oder Wissenschaftler werden und sein Leben damit verbringen, die Statusleiter emporzuklimmen um zu beweisen, dass Schwarze so gut sind wie Weiße. Schwarze Väter sollen »Verantwortung übernehmen«, schwarze Banden sollen Gewalt ablehnen usw. Aber dies sind genau die Werte des industrielltechnologischen Systems. Das System schert sich keinen Deut darum, was für Musik jemand hört, was für Kleidung er trägt oder welche Religion er ausübt, solange er zur Schule geht, eine angesehene Arbeit hat, die Statusleiter erklimmt, ein »verantwortungsvolles« Elternteil ist, nicht gewalttätig ist usw. In Wirklichkeit, wie sehr er es auch leugnen mag, will der über- angepasste Linke den Schwarzen ins System integrieren und verlangt von ihm, dessen Werte zu übernehmen. 30. Wir behaupten nicht, dass Linke, sogar überangepasste Linke, NIEMALS gegen die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft aufbegehren. Selbstverständlich tun sie das mitunter. Einige überangepasste Linke sind sogar so weit gegangen, gegen eines der wichtigsten gesellschaftlichen Prinzipien zu revoltieren, gegen die Gewaltlosigkeit. Nach ihrer eigenen Einschätzung ist körperliche Gewalt für sie eine Form der »Befreiung«. Mit anderen Worten, sie benutzen Gewalt, um die psychologischen Zwänge zu durchbrechen, die ihnen anerzogen worden sind. Weil sie überangepasst sind, waren sie durch diese Zwänge stärker eingeengt als andere; daher ihr starkes Bedürfnis, sich davon zu befreien. Aber sie rechtfertigen ihre Revolte meist mit dem Vokabular der allgemein anerkannten Werte. Wenn sie Gewalt anwenden, begründen sie das damit, gegen Rassismus zu kämpfen oder Ähnliches. 31. Es ist uns klar, dass man gegen die hier grob skizzierte linke Psychologie viele Ein wände Vorbringen kann. Die tatsächliche Lage ist komplex, und eine auch nur annähernd vollständige Beschreibung auf der Basis aller zugänglichen Fakten würde mehrere Bände füllen. Wir erheben nur den Anspruch, die beiden wichtigsten Tendenzen in der Psychologie der modernen Linken grob Umrissen zu haben. 32. Die Probleme der Linken sind symptomatisch für die Probleme unserer gesamten Gesellschaft. Geringe Selbstachtung, Depressionsneigung und Defätismus sind nicht auf die Linke beschränkt. Wenn sie auch dort besonders wahrnehmbar sind, so sind sie doch in unserer Gesellschaft insgesamt weit verbreitet. Und die heutige Gesellschaft versucht uns stärker als jede vorhergehende zu sozialisieren. Experten sagen uns sogar, was wir essen sollen, wie wir Sport treiben sollen, wie unser Liebesieben sein soll, wie wir unsere Kinder aufziehen sollen und so weiter. POWER PROCESS 33. Menschen haben ein Bedürfnis (wahrscheinlich biologisch bedingt) nach etwas, das wir den power process6 nennen wollen. Es ist eng verbunden mit dem Bedürfnis nach Macht (weitgehend anerkannt), aber es ist nicht genau dasselbe. Der power process besteht aus vier Elementen. Die drei am deutlichsten definierbaren nennen wir Ziel, Anstrengung und Erreichen des Ziels. (Jeder braucht Ziele, die zu erreichen Anstrengung erfordert, und muss wenigstens einige seiner Ziele erreichen.) Das vierte Element ist schwieriger zu definieren und ist möglicherweise nicht für jeden notwendig. Wir nennen es Autonomie und werden es später erörtern (Abschnitte 42-44). 34. Nehmen wir den hypothetischen Fall eines Menschen, der alles, was er will, sofort bekommt, einfach, indem er es sich wünscht. Dieser Mensch hat zwar Macht, aber er wird schwere psychische Probleme bekommen. Am Anfang wird es ihm Spaß machen, aber nach und nach wird er sich unerträglich langweilen und demoralisiert werden. Womöglich wird er eines Tages krankhaft depressiv. Die Geschichte zeigt, dass die müßige Aristokratie zur Dekadenz neigte. Die kämpfenden Aristokraten dagegen mussten sich anstrengen, um ihre Macht zu erhalten. Aber müßige, gesicherte Aristokraten, die nicht kämpfen mussten, wurden im Allgemeinen gelangweilt, hedonistisch und demoralisiert, trotz ihrer Machtfülle. Dies zeigt, dass Macht allein nicht genügt. Man muss Ziele haben, auf die man die Ausübung seiner Macht richtet. 35. Jeder hat Ziele; selbst wenn diese nur darin bestehen, das Lebensnotwendigste zu erlangen: Nahrung, Wasser und dem Klima angemessene Kleidung und Unterkunft. Der müßige Aristokrat bekommt diese Dinge ohne Anstrengungen. Daher seine Langeweile und Kraftlosigkeit. 36. Das Nichterreichen wichtiger Ziele endet mit dem Tod, wenn es sich dabei um lebensnotwendige Ziele handelt, und mit Frustration, wenn die Ziele nicht lebensnotwendig sind. Lebenslanges ständiges Scheitern beim Versuch, seine Ziele zu erreichen, führt schließlich zu Defätismus, geringer Selbstachtung oder Depression. 37. Also muss der Mensch, um ernsthafte psychologische Probleme zu vermeiden, Ziele haben, deren Erreichen Anstrengung erfordert, und er muss eine gewisse Erfolgsrate beim Erreichen dieser Ziele haben. ERSATZHANDLUNGEN 38. Nicht jeder müßige Aristokrat wird irgendwann gelangweilt und demoralisiert. Kaiser Hirohito widmete sich der Meeresbiologie, anstatt einem dekadenten Hedonismus zu verfallen und zeichnete sich auf diesem Gebiet besonders aus. Wenn Menschen ohne Anstrengung ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigen können, schaffen sie sich oft künstliche Ziele. In vielen Fällen verfolgen sie diese Ziele mit derselben Energie und emotionalen Beteiligung, die sie sonst für das Streben nach Lebensnotwendigem eingesetzt hätten. So hatten die Aristokraten des Römischen Reiches literarische Ambitionen; viele europäische Aristokraten investierten vor einigen Jahrhunderten enorm viel Zeit und Aufwand in die Jagd, obwohl sie das Fleisch sicherlich nicht brauchten; andere Aristokraten versuchten ihr Ansehen zu vergrößern, indem sie ihren Reichtum auf ausgesuchte Weise darstellten, und ein paar Aristokraten, wie Hirohito, wandten sich der Wissenschaft zu. 39. Mit dem Begriff »Ersatzhandlung« bezeichnen wir eine Handlung, die sich auf ein künstliches Ziel richtet, welches sich Menschen nur deshalb setzen, damit sie etwas haben, wonach sie streben können, oder sagen wir, nur für die »Erfüllung«, die ihnen das Streben nach diesem Ziel bringt. Eine Faustregel zum Erkennen von Ersatzhandlungen geht folgendermaßen: Eine Person, die viel Zeit und Energie in das Streben nach Ziel X investiert, frage man: Wenn sie den größten Teil ihrer Zeit und Energie darangeben müsste, ihre biologischen Bedürfnisse zu befriedigen, und wenn diese Anstrengung es erforderte, dass die Person ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf abwechslungsreiche und interessante Weise einsetzte, würde sie dann frustriert sein, wenn sie Ziel X nicht erreicht? Wenn die Antwort Nein ist, ist das Streben der Person nach Ziel X eine Ersatzhandlung. Hirohitos Meeresbiologie-Studien stellten ganz klar eine Ersatzhandlung dar, denn es ist recht sicher, dass Hirohito, wenn er seine Zeit auf interessante nichtwissenschaftliche Arbeiten hätte verwenden müssen, um das Lebensnotwendige zu bekommen, nicht frustriert gewesen wäre, nur weil er nicht alles über die Anatomie und die Lebenszyklen der Meeresfauna gewusst hätte. Im Gegensatz dazu ist das Streben nach Sex und Liebe (zum Beispiel) keine Ersatzhandlung, denn die meisten Menschen wären, auch wenn ihre Existenz anderweitig befriedigend wäre, frustriert, hätten sie ihr Leben lang nie eine Beziehung mit einer Person des anderen Geschlechts. (Aber das Streben nach übermäßig viel Sex, mehr als man wirklich braucht, kann eine Ersatzhandlung sein.) 40. In der modernen Industriegesellschaft sind nur minimale Anstrengungen erforderlich, um die physischen Bedürfnisse zu befriedigen. Es reicht, eine Ausbildung zu absolvieren, sich leichte technische Fähigkeiten anzueignen, dann pünktlich zur Arbeit zu kommen und das bescheidene Maß an Anstrengung aufzuwenden, das nötig ist, um einen Job zu halten. Die einzigen Voraussetzungen sind ein bescheidenes Maß an Intelligenz und, vor allem, simpler GEHORSAM. Wenn man diese Voraussetzungen erfüllt, sorgt die Gesellschaft für einen von der Wiege bis zum Grab. (Ja, sicher gibt es eine Unterschicht, die die Erfüllung ihrer physischen Bedürfnisse nicht voraussetzen kann, aber wir sprechen hier vom gesellschaftlichen Mainstream.) So ist es nicht überraschend, dass Ersatzhandlungen in der modernen Gesellschaft sehr häufig Vorkommen. Dazu gehören wissenschaftliche Arbeit, sportliche Leistungen, humanitäre Tätigkeiten, künstlerisches und literarisches Schaffen, das Erklimmen der Firmenhierarchie, das Anhäufen von Geld und Gütern weit über den Punkt hinaus, an dem diese zusätzliche physische Befriedigung geben, und sozialer Aktivismus, wo er Themen betrifft, die nicht für den Aktivisten selbst wichtig sind, wie im Falle der weißen Aktivisten, die für die Rechte nichtweißer Minderheiten kämpfen. Dies sind nicht immer REINE Ersatzhandlungen, denn für viele Menschen mögen sie teilweise durch andere Bedürfnisse motiviert sein als dem, einfach einem Ziel zuzustreben. Wissenschaftliche Arbeit mag zum Teil durch das Streben nach Prestige motiviert sein, künstlerisches Schaffen durch das Bedürfnis, Gefühle auszudrücken, militanter sozialer Aktivismus durch Feindseligkeit. Aber für die meisten Menschen sind diese Aktivitäten zum großen Teil Ersatzhandlungen. Zum Beispiel wird die Mehrheit der Wissenschaftler wohl zustimmen, dass die »Erfüllung«, die ihnen ihre Arbeit bringt, wichtiger ist als Geld und Prestige. 41. Für viele, wenn nicht gar alle Menschen sind Ersatzhandlungen weniger befriedigend als das Streben nach wahren Zielen (Ziele, die Menschen auch dann erreichen wollen würden, wenn ihr Bedürfnis nach dem power process schon erfüllt wäre). Ein Anzeichen dafür ist die Tatsache, dass viele oder die meisten der Menschen, die sich intensiv ihren Ersatzhandlungen widmen, immer rastlos und nie zufrieden sind. So strebt der Kapitalist ständig nach mehr und mehr Reichtum. Der Wissenschaftler hat kaum ein Problem gelöst, schon nimmt er das nächste in Angriff. Der Langstreckenläufer verlangt sich immer noch weitere Strecken und höhere Geschwindigkeit ab. Viele Menschen, die sich Ersatzhandlungen widmen, werden behaupten, dass diese ihnen viel mehr Erfüllung bringen als die »banale« Befriedigung der physischen Bedürfnisse, aber das liegt daran, dass in unserer Gesellschaft die Anstrengung, die notwendig ist, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, trivial gering geworden ist. Vor allem befriedigen die Menschen ihre physischen Bedürfnisse nicht AUTONOM, sondern als Teilchen einer immensen sozialen Maschine. Demgegenüber genießen die Menschen im Allgemeinen viel Autonomie beim Betreiben ihrer Ersatzhandlungen. AUTONOMIE 42. Autonomie als Teil des power process mag nicht für jeden eine Notwendigkeit sein. Aber die meisten Menschen brauchen ein bestimmtes Maß an Autonomie, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sie müssen ihre Anstrengungen dafür auf eigenen Entschluss hin beginnen und sie unter eigener Führung und Kontrolle durchführen können. Doch müssen Entschluss, Ausrichtung und Kontrolle nicht unbedingt von jedem einzelnen Individuum gefasst bzw. ausgeübt werden. Normalerweise ist es ausreichend, als Mitglied einer KLEINEN Gruppe zu handeln. Wenn so ein halbes Dutzend Leute untereinander ein Ziel ausmacht und es erfolgreich in gemeinsamer Anstrengung erreicht, wird das Bedürfnis nach dem power process jedes Einzelnen erfüllt. Aber wenn sie unter strikter Anweisung von oben handeln, die ihnen keinen Raum für autonome Entscheidungen und Eigeninitiative belässt, wird dieses Bedürfnis nicht befriedigt werden. Das gleiche gilt, wenn Entscheidungen kollektiv getroffen werden, die Gruppe aber so groß ist, dass die Rolle des einzelnen Individuums darin unbedeutend ist7. 43. Es stimmt, dass einige Menschen offenbar nur ein geringes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung haben. Entweder ist ihr Machttrieb schwach entwickelt oder sie befriedigen ihn, indem sie sich mit einer mächtigen Organisation identifizieren, der sie angehören. Und dann gibt es noch geistlose, animalische Typen, denen die reine physische Macht genügend Befriedigung verschafft (der gute Frontsoldat, dem seine Geschicklichkeit im Kampf genügend Machtgefühl gibt, und dem es völlig ausreicht, diese in blindem Gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten einzusetzen). 44. Doch für die meisten Menschen gilt, dass ihnen der power process – ein Ziel zu haben, eine selbstständige Anstrengung dafür zu unternehmen und es schließlich zu erreichen – Selbstachtung, Selbstvertrauen und Machtgefühle verschafft. Wenn jemand keine angemessene Gelegenheit bekommt, den power process zu durchlaufen, sind die Konsequenzen (abhängig von der Persönlichkeit und von der Art und Weise, wie der power process gestört oder abgebrochen wurde) Langeweile, Mutlosigkeit, schwache Selbstachtung, Minderwertigkeitsgefühle, Defätismus, Depressionen, Angst- und Schuldgefühle, Frustration, Feindseligkeit, Misshandlungen von Frau und Kindern, unstillbarer Hedonismus, abnormes Sexual verhalten, Schlafstörungen, Essstörungen usw.8
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Zur Entstehung dieser Deprivationssymptome im power process: Bereits einem Laienverständnis der menschlichen Natur zufolge führt das Fehlen von anspruchsvollen Zielen zu Langeweile, diese Langeweile führt, wenn sie lange andauert, oft irgendwann zu Depressionen. Das Scheitern im Erreichen der Ziele führt zu Frustration und zur Schwächung der Selbstachtung. Frustration führt zu Ärger, Ärger zu Aggression, häufig in Form von Misshandlungen von Frau und Kindern. Es ist erwiesen, dass lang anhaltende Frustration im Allgemeinen zu Depression führt und Depressionen sich häufig in Angst- und Schuldgefühlen, Schlafstörungen, Essstörungen und einem negativen Selbstbild niederschlagen. Diejenigen, die zu Depressionen neigen, suchen als Gegenmittel häufig Vergnügungen; daher der unstillbare Hedonismus und exzessiver Sex, wobei Perversionen zusätzliche Lust geben sollen. Auch der Gelangweilte neigt zu ausufernder Vergnügungssucht, wobei das Vergnügen in Ermangelung anderer Ziele selbst zum Ziel wird. Siehe auch das Diagramm. Das Gesagte ist eine Vereinfachung. Die Wirklichkeit ist komplexer, und selbstverständlich ist Deprivation im power process nicht die EINZIGE Ursache der beschriebenen Symptome. Übrigens meinen wir mit Depression nicht nur so schwere Depressionen, die die Behandlung durch einen Psychiater erfordern. Häufig sind nur milde Formen der Depression im Spiel. Und wenn wir von Zielen sprechen, meinen wir nicht nur langfristige, durchdachte Ziele. Im Laufe der Menschheitsgeschichte war die Sorge um ein Leben von der Hand in den Mund (das heißt, die bloße tägliche Versorgung der eigenen Familie mit Nahrung) ein durchaus ausreichendes Ziel. URSPRÜNGE GESELLSCHAFTLICHER PROBLEME 45. Jedes der bisher dargestellten Symptome kann in jeder Gesellschaft auftreten, in der modernen Industriegesellschaft sind sie jedoch in verstärktem Maße vorhanden. Wir sind nicht die ersten, die darauf hin weisen, dass die Welt heute aus den Fugen zu geraten scheint. Dies ist eine außergewöhnliche Situation in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der primitive Mensch weniger unter Stress und Frustration gelitten hat und mit seinem Leben zufriedener war, als der heutige Mensch es ist. Zwar war nicht alles eitel Sonnenschein in primitiven Gesellschaften. Unter den australischen Aborigines war es üblich, Frauen zu schlagen, Transsexualität war unter einigen amerikanischen Indianerstämmen recht weit verbreitet. Aber es scheint so, dass IM ALLGEMEINEN die Art von Problemen, die wir in den obigen Abschnitten aufgeführt haben, unter primitiven Völkern weit weniger verbreitet gewesen sind als in der modernen Gesellschaft. 46. Wir führen die sozialen und psychologischen Probleme der modernen Gesellschaft auf die Tatsache zurück, dass diese Gesellschaft den Menschen grundlegend andere Lebensbedingungen aufzwingt als die, unter denen die Menschheit sich herausgebildet hat, und von ihnen ein Verhalten verlangt, das den Ver- haltensmustem entgegensteht, die sich im Leben unter den früheren Bedingungen entwickelt haben. Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass für uns das Fehlen von Möglichkeiten, den power process anders als durch Ersatzhandlungen zu erfahren, die schwerwiegendste der abnormen Bedingungen darstellt, denen die moderne Gesellschaft die Menschen unterwirft. Doch ist sie nicht die einzige. Bevor wir die Störung des power process als eine Quelle sozialer Probleme genauer behandeln, werden wir einige der anderen Quellen erörtern. 47. Zu den abnormen Bedingungen der modernen Industriegesellschaft gehören die exzessive Bevölkerungsdichte, die Isolation des Menschen von der Natur, die ungeheure Geschwindigkeit sozialen Wandels und der Zusammenbruch natürlicher kleinerer Gemeinschaften wie Großfamilie, Dorf oder Stamm. 48. Bekanntlich verursachen eine hohe Bevölkerungsdichte und Menschenmengen Stress und Aggression. Die heutige Dichte der Menschen und ihre Isolation von der Natur sind Folgen des technologischen Fortschritts. Alle vorindustriellen Gesellschaften waren vorwiegend ländlich. Die industrielle Revolution hat die Größe der Städte und den Anteil der Städter innerhalb der Gesamtbevölkerung ungeheuer anwachsen lassen, und durch moderne Agrartechnologie wurde es möglich, eine so dicht wie nie zuvor zusammenlebende Bevölkerung überhaupt zu ernähren. (Auch verschlimmert die Technologie die Konsequenzen der Überbevölkerung, weil sie den Menschen verstärkt zerstörerische Kräfte zugänglich gemacht hat. Zum Beispiel viele lärmerzeugende Maschinen wie Mähmaschinen, Radios, Motorräder usw. Wenn die Benutzung dieser Maschinen nicht eingeschränkt wird, frustriert dies Menschen, die Ruhe und Frieden suchen. Wenn die Benutzung eingeschränkt wird, frustriert es die Menschen, die diese Maschinen benutzen. Aber wenn diese Maschinen nie erfunden worden wären, gäbe es keine Konflikte und Frustrationen durch sie.) 49. Für primitive Gesellschaften stellte die natürliche Umwelt (die sich gewöhnlich nur langsam verändert) stabile Rahmenbedingungen dar und gab ihnen somit ein Gefühl von Sicherheit. In der modernen Welt beherrscht die menschliche Gesellschaft die Natur und nicht umgekehrt, und die moderne Gesellschaft verändert sich aufgrund der technologischen Veränderungen sehr rasch. So gibt es keine stabilen Rahmenbedingungen mehr. 50. Die Konservativen sind Narren: Sie jammern über den Verfall traditioneller Werte, und doch unterstützen sie mit Begeisterung jeden technischen Fortschritt und ökonomisches Wachstum. Offenbar kommt es ihnen nicht in den Sinn, dass man keine raschen und drastischen Veränderungen in der Technologie und der Wirtschaft einer Gesellschaft haben kann, ohne auch in allen anderen gesellschaftlichen Aspekten rasche Veränderungen zu verursachen, und solche raschen Veränderungen führen unvermeidlich zum Verfall traditioneller Werte. 51. Der Zusammenbruch traditioneller Werte zieht auch in einem gewissen Maß die Zerstörung der Bindungen nach sich, die traditionelle kleine soziale Gruppen Zusammenhalten. Die Zersetzung dieser Gruppen wird durch die Tatsache noch gefördert, dass die modernen Lebensbedingungen den Individuen häufig abverlangen oder sie dazu verlocken, an neue Orte zu ziehen und sich von ihren Gemeinschaften zu lösen. Außerdem MUSS die technologische Gesellschaft die Familienbande und kleine Gemeinschaften schwächen, wenn sie effizient funktionieren soll. In der modernen Gesellschaft muss ein Individuum an erster Stelle dem System gegenüber loyal sein und erst an zweiter Stelle der kleineren Gemeinschaft gegenüber, denn wenn die internen Loyalitäten der Gemeinschaften stärker wären als die Loyalität zum System, würden die Gemeinschaften auf Kosten des Systems ihren eigenen Vorteil suchen. 52. Angenommen, ein öffentlicher Beamter oder ein Verwaltungsangestellter gibt seinem Vetter, seinem Freund oder seinem Glaubensgenossen eher einen freien Posten als der Person, die für diese Arbeit am besten qualifiziert wäre. Dann hat er persönliche Loyalität über seine Loyalität zum System gestellt, und wir haben es mit »Nepotismus« oder »Diskriminierung« zu tun, beides schreckliche Sünden in der modernen Gesellschaft. Möchtegern-Industriegesellschaften, denen es nicht gelungen ist, persönliche oder lokale Loyalitäten der Loyalität zum System unterzuordnen, sind gewöhnlich sehr leistungsschwach (siehe Lateinamerika). Also kann eine hoch entwickelte Industriegesellschaft nur solche kleinen Gemeinschaften tolerieren, die kraftlos und gezähmt sind und dem System als willfährige Werkzeuge dienen9. 53. Überbevölkerung, rascher sozialer Wandel und die Zerstörung kleiner Gemeinschaften sind weitgehend als Ursachen sozialer Probleme anerkannt. Aber wir glauben nicht, dass sie als Erklärung für das Ausmaß der Probleme, die wir heute erkennen, ausreichen. 54. Einige vorindustrielle Städte waren sehr groß und dicht bevölkert, doch scheinen ihre Bewohner nicht im selben Maße an psychischen Problemen gelitten zu haben wie der moderne Mensch. In Amerika gibt es noch immer einige dünn besiedelte ländliche Gegenden, und dort finden wir dieselben Probleme wie in urbanen Gegenden, obwohl sie auf dem Land im Allgemeinen weniger akut sind. Also scheint die Bevölkerungsdichte nicht der entscheidende Faktor zu sein. 55. Mit dem zunehmenden Vorstoß ins amerikanische Grenzland, den »Wilden Westen«, im 19. Jahrhundert hat die Mobilität der Bevölkerung sicherlich große Familien und kleine Gemeinschaften auseinandergerissen, mindestens im selben Maße, wie dies heute geschieht. Tatsächlich lebten damals viele Kleinfamilien freiwillig in völliger Abgeschiedenheit. Im Umkreis mehrerer Meilen hatten sie weder Nachbarn noch Verbindung zu Ortschaften, und doch scheint dies nicht zu Problemen geführt zu haben. 56. Auch war der soziale Wandel in der amerikanischen Pioniergesellschaft rasch und tiefgreifend. Es war möglich, dass ein Mensch in einer Blockhütte geboren wurde und dort aufwuchs, außerhalb der Reichweite von Recht und Ordnung, und sich vorwiegend von Wild ernährte; und dass dieser Mensch im Alter einer geregelten Arbeit nachging und in einer geordneten Gesellschaft mit einem organisierten Polizeiapparat lebte. Das waren tiefergreifende Veränderungen, als sie im Leben eines modernen Menschen üblicherweise Vorkommen, und doch scheinen diese nicht zu psychologischen Problemen geführt zu haben. Tatsächlich hatte die amerikanische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine optimistische und selbstbewusste Grundeinstellung, sehr im Gegensatz zur heutigen Gesellschaft10. 57. Der Unterschied, so meinen wir, liegt darin, dass der moderne Mensch das (berechtigte) Gefühl hat, ihm sei der Wandel AUFGEZWUNGEN worden, wohingegen der Pionier des 19. Jahrhunderts das (ebenso berechtigte) Gefühl hatte, den Wandel selbst herbeizuführen, aus eigenem Willen. Ein Pionier siedelte auf einem Stück Land seiner Wahl und machte mit eigener Anstrengung eine Farm daraus. In jenen Zeiten konnte ein ganzer Landkreis nur ein paar hundert Einwohner haben und viel abgeschiedener und autonomer sein als ein vergleichbarer Bezirk heute. So nahm der Pionier-Farmer als Mitglied einer recht kleinen Gruppe aktiv daran teil, eine neue, geordnete Gemeinschaft zu schaffen. Man kann sich fragen, ob die Schaffung dieser Gemeinschaft eine Verbesserung war, aber jedenfalls befriedigte sie das Bedürfnis des Pioniers nach seiner Selbstverwirklichung im power process. 58. Man könnte andere Beispiele von Gesellschaften geben, in denen es raschen sozialen Wandel und/oder fehlende gemeinschaftliche Bindungen ohne die massiven Verhaltensstörungen gab, die wir in der heutigen Industriegesellschaft beobachten. Wir behaupten, dass die wichtigste Ursache sozialer und psychologischer Probleme in der modernen Gesellschaft darin liegt, dass die Menschen nur unzureichend Gelegenheit haben, den power process auf normale Weise zu durchlaufen. Wir wollen nicht sagen, dass die moderne Gesellschaft die einzige sei, in der der power process gestört wird. Wahrscheinlich haben die meisten oder alle Gesellschaften mehr oder weniger stark in den power process eingegriffen. Aber in der modernen Industriegesellschaft ist das Problem besonders schwerwiegend geworden. Linksgerichtete Ideologie, wenigstens in ihrer neuen Form (Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts), ist zum Teil ein Symptom der Deprivation im power process.

STÖRUNG DES POWER PROCESS IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT

59. Wir teilen die menschlichen Triebe in drei Gruppen ein: (1) Triebe, die durch geringste Anstrengungen befriedigt werden können; (2) Triebe, die nur durch große Anstrengungen befriedigt werden können; (3) Triebe, die trotz aller Anstrengungen nicht angemessen befriedigt werden können. Derpower process ist ein Prozess der Befriedigung der Triebe der zweiten Gruppe. Je mehr Triebe der dritten Gruppe es gibt, desto mehr Frustration und Ärger und schließlich Defätismus und Depression usw. gibt es. 60. In der modernen Industriegesellschaft besteht die Tendenz, die natürlichen menschlichen Triebe in die erste und dritte Gruppe zu zwingen, während die zweite Gruppe zunehmend aus künstlich geschaffenen Bedürfnissen besteht. 61. In primitiven Gesellschaften fallen die physischen Bedürfnisse im Allgemeinen in die zweite Gruppe: Sie können befriedigt werden, aber unter großen Anstrengungen. In der modernen Gesellschaft dagegen ist die Befriedigung der physischen Bedürfnisse meistens für jedermann11 mit minimalen Anstrengungen zu erreichen, daher gehören physische Bedürfnisse hier in die erste Gruppe. (Man kann darüber streiten, ob die Anstrengungen, eine feste Arbeit zu bekommen, wirklich »minimal« sind; aber im Allgemeinen, was niedrige und mittlere Arbeiten angeht, ist die einzige Erfordernis GEHORSAM. Man sitzt oder steht dort, wo man angewiesen wurde zu sitzen oder zu stehen, und tut dasjenige auf die Art und Weise, wie es einem gesagt wurde. Selten nur muss man sich wirklich anstrengen, und in kaum einem Fall hat man bei der Arbeit irgendeine Autonomie, sodass das Bedürfnis nach power process nicht befriedigt werden kann.) 62. Soziale Bedürfnisse wie Sexualität, Liebe und gesellschaftliches Ansehen gehören in der modernen Gesellschaft in die zweite Gruppe, dies ist abhängig von der Situation des Einzelnen12. Aber abgesehen von Menschen, die ein ausnehmend starkes Geltungsbedürfnis haben, ist die Anstrengung, die nötig ist, um diese sozialen Bedürfnisse zu befriedigen, nicht ausreichend, um das Bedürfnis nach dem power process ebenfalls angemessen zu befriedigen. 63. Deshalb wurden gewisse künstliche Bedürfnisse geschaffen, die in die zweite Gruppe gehören, die also das Bedürfnis nach dem power process befriedigen sollen. Werbe- und Marketingstrategien wurden entwickelt, die bei vielen Menschen Bedürfnisse nach Dingen wecken, die ihre Großeltern niemals gewünscht und sich nicht hätten träumen lassen. Da es große Anstrengungen erfordert, genug Geld zu verdienen, um diese künstlichen Bedürfnisse zu befriedigen, fallen sie in die zweite Gruppe. (Man beachte allerdings die Abschnitte 80-82.) Der moderne Mensch muss sein Bedürfnis nach dem power process weitgehend durch das Streben nach künstlichen, von der Werbe- und Marketingindustrie13 hervorgerufenen Bedürfnissen und durch Ersatzhandlungen befriedigen. 64. Für viele Menschen, vielleicht für die Mehrheit, scheinen diese künstlichen Formen des power process ungenügend zu sein. Ein Thema, das in sozialkritischen Schriften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wiederkehrt, ist das Gefühl der Ziellosigkeit, unter dem in der modernen Gesellschaft viele Menschen leiden. (Diese Ziellosigkeit wird oft auch anders genannt, »Anomie« oder »Mittelklasse-Leere«.) Wir vermuten, dass die sogenannte »Identitätskrise« tatsächlich eine Sinnsuche ist, eine Suche nach einer geeigneten Ersatzhandlung, der man sich widmen kann. Möglicherweise ist der Existenzialismus zum großen Teil eine Antwort auf die Ziellosigkeit modernen Lebens14. Das Streben nach »Erfüllung« ist in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet. Aber wir glauben, dass für die Mehrheit der Menschen eine Handlung, deren Hauptziel Erfüllung ist (also eine Ersatzhandlung), keine wirklich befriedigende Erfüllung bringen kann. Mit anderen Worten, eine solche Handlung befriedigt nicht wirklich das Bedürfnis nach dem power process. (Siehe Absatz 41) Dieses Bedürfnis kann nur durch Tätigkeiten völlig befriedigt werden, die ein äußeres Ziel haben, so wie physische Notwendigkeiten, Sex, Liebe, soziale Geltung, Rache usw. 65. Überdies sind die meisten Menschen, die solche Ziele haben, die durch Geld verdienen, Erklimmen der Karriereleiter oder das gute Funktionieren als Teil im System zu erreichen sind, nicht in der Position, ihre Ziele AUTONOM zu verfolgen. Die meisten Arbeiter sind als Angestellte von jemand anderem abhängig und müssen, wie wir in Abschnitt 61 ausgeführt haben, den ganzen Tag Dinge tun, die ihnen aufgetragen wurden, auf die Art und Weise, wie es ihnen aufgetragen wurde. Selbst diejenigen, die in ihrem eigenen Unternehmen arbeiten, haben dadurch nur begrenzte Autonomie. Es ist eine ständige Klage kleiner Gewerbetreibender und Unternehmer, dass ihnen durch übertriebene staatliche Reglementierung die Hände gebunden seien. Einige dieser Reglementierungen sind zweifellos unnötig, aber meistens sind staatliche Einschränkungen grundlegende und unabdingbare Aspekte unserer extrem komplexen Gesellschaft. Ein großer Teil der kleinen Unternehmen arbeitet heute auf der Basis von Franchise-Systemen. Vor ein paar Jahren wurde im Wall Street Journal berichtet, dass viele der Franchise-Lizenzgeber von den Bewerbern verlangen, einen Persönlichkeitstest zu machen, der jene AUSSCHLIESSEN soll, die Kreativität und Initiative erkennen lassen, denn solche Personen sind nicht ausreichend unterwürfig, um im Franchise-System gehorsam zu funktionieren. Damit sind viele Unternehmer, die ein besonderes Bedürfnis nach Autonomie haben, vom Geschäft ausgeschlossen. 66. Heutzutage leben die Menschen eher nach dem, was das System für sie tut oder was es ihnen antut, als nach dem, was sie für sich selbst tun. Und was sie für sich tun, verläuft immer mehr in den Bahnen, die das System vorgibt. Gelegenheiten ergeben sich nur, wenn das System sie bereitstellt, sie müssen innerhalb der Regeln und Reglementierungen15 genutzt werden und unter Beachtung der Techniken, die Fachleute vorgeben, wenn das Unternehmen Erfolg haben soll. 67. Somit ist in unserer Gesellschaft kein power process möglich, denn es gibt keine wirklichen Ziele und keine Autonomie, um diese Ziele durchzusetzen. Sie ist auch wegen der Zugehörigkeit dieser menschlichen Triebkräfte zur dritten Gruppe unmöglich, derjenigen Triebkräfte also, die man nicht hinreichend befriedigen kann, ganz gleich, welche Anstrengungen dafür unternommen werden. Eine dieser Triebkräfte ist das Sicherheitsbedürfnis. Unser Leben hängt von Entscheidungen anderer Leute ab; wir haben über diese Entscheidungen keine Kontrolle und kennen üblicherweise nicht einmal die Menschen, die sie treffen. (»Wir leben in einer Welt, in der relativ wenige Menschen – vielleicht 500 oder 1000 – die wichtigen Entscheidungen treffen.« Philip B. Heymann, Harvard Law School, zitiert nach Anthony Lewis, New York Times vom 21. April 1995) Unser Leben hängt davon ab, welche Sicherheitsstandards in Kernkraftwerken gewährleistet sind; wie hoch der zulässige Pestizidgehalt in unserer Nahrung ist oder wie hoch die zulässige Luftverschmutzung; wie kompetent (oder inkompetent) unser Arzt ist; ob wir einen Job bekommen oder verlieren, kann von Entscheidungen abhängen, die von Wirtschaftsexperten der Regierung oder von Firmenmanagem getroffen werden, und so weiter. Die meisten Individuen sind nicht in der Lage, sich gegen diese Bedrohungen mehr als zu einem sehr geringen Grad abzusichem. Das Sicherheitsbedürfnis des Einzelnen ist daher frustriert, was zu einem Gefühl der Ohnmacht führt. 68. Man könnte ein wenden, dass der primitive Mensch physisch in größerer Unsicherheit lebte als der moderne Mensch, was sich auch in seiner kürzeren Lebenserwartung zeigt, und der moderne Mensch eher weniger Unsicherheit erleide, jedenfalls nicht mehr, als es für Menschen normal ist. Doch geht psychologische Sicherheit nicht so eng mit physischer Sicherheit einher. Was uns uns sicher FÜHLEN lässt, ist nicht so sehr die objektive Sicherheit, als vielmehr ein Gefühl des Vertrauens in unsere Fähigkeiten, für uns selbst zu sorgen. Der primitive Mensch, der von einem Raubtier oder durch Hunger bedroht ist, kann sich kämpfend verteidigen oder auf der Suche nach Nahrung fortziehen. Er hat keine Erfolgsgarantie bei diesen Anstrengungen, aber er steht den Dingen, die ihn bedrohen, keinesfalls hilflos gegenüber. Das moderne Individuum ist dagegen vielen Bedrohungen hilflos ausgeliefert: nukleare Unfälle, krebserregende Stoffe in der Nahrung, Umweltverschmutzung, Krieg, Steuererhöhungen, Eingriffe in seine Privatsphäre durch große Organisationen, das ganze Land betreffende gesellschaftliche und wirtschaftliche Ereignisse, die seine Lebensweise zerstören können. 69. Es stimmt, dass auch der primitive Mensch gegen einige Bedrohungen machtlos ist, zum Beispiel gegen Krankheiten. Diesem Krankheitsrisiko kann er aber gelassen entgegensehen, denn es gehört zu den natürlichen Dingen, es ist niemandes Schuld, außer die von imaginären, verkörperten Dämonen vielleicht. Dagegen sind die Bedrohungen des modernen Menschen weitgehend durch den MENSCHEN verursacht. Sie sind nicht das Ergebnis von Zufällen, sondern werden ihm von anderen Personen, deren Entscheidungen er einzeln nicht beeinflussen kann, AUFERLEGT. Infolgedessen entstehen bei ihm Gefühle von Frustration, Demütigung und Wut. 70. Somit bestimmt der primitive Mensch größtenteils selbst über seine Sicherheit (entweder als Individuum oder als Mitglied einer KLEINEN Gruppe), während die Sicherheit des modernen Menschen in den Händen von Menschen oder Organisationen liegt, die entweder zu fern oder zu umfassend sind, als dass er sie persönlich beeinflussen könnte. Damit gehört das Bedürfnis des modernen Menschen nach Sicherheit in die erste und dritte Gruppe; in einigen Bereichen (wie Nahrung, Unterkunft usw.) ist seine Sicherheit durch nur geringe Anstrengungen garantiert, wohingegen es in anderen Bereichen für ihn UNMÖGLICH ist, Sicherheit zu erlangen. (Das Gesagte vereinfacht die reale Situation stark, verdeutlicht aber im Groben und Allgemeinen den Unterschied der Lebensbedingungen zwischen dem modernen und dem primitiven Menschen.) 71. Menschen haben auch viele vorübergehende Bedürfnisse oder Impulse, die im modernen Leben zwangsläufig frustriert werden und die also in die dritte Gruppe fallen. Zum Beispiel werden Menschen wütend, aber die Gesellschaft lässt körperliche Auseinandersetzungen nicht zu. In vielen Situationen ist nicht einmal verbale Aggression erlaubt. Ob man eilig irgendwohin möchte oder aber Lust hat, langsam zu fahren, es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich dem fließenden Verkehr anzupassen und die Verkehrsschilder zu beachten. Möglicherweise würde man eine andere Arbeitsweise vorziehen, aber üblicherweise muss man die Arbeit nach den vom Arbeitgeber vorgegebenen Regeln verrichten. Auf vielfache Weise wird der moderne Mensch durch ein Netzwerk von Regeln und Vorschriften (expliziten oder impliziten) niedergehalten, das viele seiner Impulse unterdrückt und somit den power process stört. Die meisten dieser Vorschriften sind für das Funktionieren der Industriegesellschaft unabkömmlich. 72. In gewisser Hinsicht ist die moderne Gesellschaft extrem freizügig. In Bereichen, die für das Funktionieren des Systems irrelevant sind, können wir im Allgemeinen tun, was wir wollen. Wir können jeder beliebigen Religion angehören (wenn diese nicht ein Verhalten fördert, das eine Gefahr für das System darstellt). Wir können mit jedem beliebigen Partner ins Bett gehen (solange wir »safer sex« praktizieren). Wir können alles tun, was wir wollen, solange es UNWICHTIG ist. In allen WICHTIGEN Bereichen wird das System jedoch in zunehmendem Maße unser Verhalten bestimmen. 73. Verhalten wird nicht nur durch Vorschriften und nicht nur von der Regierung bestimmt. Oft wird Kontrolle durch indirekten Zwang oder durch psychologischen Druck oder Manipulation ausgeübt, durch andere Organisationen als die Regierung oder durch das System selbst. Die meisten großen Organisationen nutzen Formen der Propaganda16, um damit allgemeine Einstellungen und Verhaltensweisen zu manipulieren. Propaganda beschränkt sich nicht allein auf Werbung und Reklame, und mitunter wird sie nicht einmal von den Leuten, die sie machen, bewusst als Propaganda verstanden. Zum Beispiel ist der Inhalt von Unterhaltungsprogrammen eine mächtige Propaganda. Ein Beispiel von indirektem Zwang: Es gibt kein Gesetz, dass uns zwingt, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und den Anordnungen unserer Vorgesetzten zu folgen. Vom Gesetz her kann uns niemand hindern, wie primitive Menschen in der Wildnis zu leben oder uns selbstständig zu machen. In der Realität ist aber kaum noch Wildnis vorhanden, und in der Wirtschaft ist nur für eine begrenzte Anzahl von kleinen Selbstständigen Platz. Somit können die meisten von uns nur als Angestellte überleben. 74. Unserer Ansicht nach ist das zwanghafte Streben des modernen Menschen nach langer Lebensdauer, nach andauernder physischer Vitalität und sexueller Attraktivität bis ins hohe Alter ein Symptom für die Unerfülltheit seines Lebens, die ihren Grund in der Deprivation des power process hat. Ein solches Symptom ist auch die sogenannte »Midlife-Crisis« sowie der in der modernen Gesellschaft weit verbreitete Verzicht auf Kinder, der in primitiven Gesellschaften nahezu unbekannt ist. 75. In primitiven Gesellschaften bedeutet Leben die Aufeinanderfolge von Lebensabschnitten. Wenn die Bedürfnisse und Zwecke eines Lebensabschnitts erfüllt sind, besteht keine besondere Abneigung dagegen, zum nächsten Abschnitt überzugehen. Der power process eines jungen Mannes besteht darin, zum Jäger zu werden, nicht als Sport oder weil es ihm Erfüllung gibt, sondern um das für seine Nahrung notwendige Fleisch zu bekommen. (Bei jungen Frauen verläuft der power process komplexer, da hier mehr Gewicht auf der sozialen Macht liegt; er soll hier nicht weiter berücksichtigt werden.) Wenn der junge Mann diese Lebensphase hinter sich hat, wird er ohne Widerstreben sesshaft werden und die Verantwortung für die Gründung einer Familie übernehmen. (Im Gegensatz dazu schieben viele moderne Menschen den Kinderwunsch auf unabsehbare Zeit hinaus, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind, irgendwelche »Erfüllung« zu suchen. Unserer Meinung nach liegt die Erfüllung, die sie suchen, in der angemessenen Erfahrung des power process – mit wahren Zielen anstelle der künstlichen Ziele und Ersatzhandlungen.) Wenn der primitive Mensch dann seine Kinder aufgezogen hat und sie durch den power process mit allem Lebensnotwendigen versorgt hat, hat er seine Aufgabe erfüllt und ist bereit, Alter (falls er so lange lebt) und Tod zu akzeptieren. Dagegen verstört viele moderne Menschen die Aussicht auf körperlichen Verfall und Tod, was sich in den fortwährenden Anstrengungen zeigt, die sie für die Erhaltung ihrer körperlichen Kondition, ihres guten Aussehens und ihrer Gesundheit unternehmen. Dies ist ein Zeichen für die Unerfülltheit, die daher rührt, dass diese Menschen ihre körperliche Kraft niemals für irgendwelche praktischen Zwecke eingesetzt haben, dass sie nie den power process durchlaufen haben, in dem sie ihre Körper ernsthaft hätten nutzen müssen. Der primitive Mensch, der seinen Körper täglich für praktische Zwecke braucht, fürchtet den Alterungsprozess nicht, nur der moderne Mensch, der seinen Körper nie zu anderen Zwecken genutzt hat als von seinem Auto in sein Haus zu gelangen. Der Mann, dessen Bedürfnis nach dem power process im Laufe seines Lebens befriedigt wurde, ist am besten auf das Ende dieses Lebens vorbereitet und kann es akzeptieren. 76. Aus der Argumentation in diesem Abschnitt könnte man schlussfolgern: »Die Gesellschaft muss einen Weg finden, den Menschen Gelegenheit zu geben, den power process zu durchlaufen.« Doch wird das für jene, die ein Bedürfnis nach Autonomie im power process haben, nicht funktionieren. Denn für solche Menschen ist die Gelegenheit gerade dadurch nichts mehr wert, dass die Gesellschaft sie ihnen gibt. Vielmehr müssen sie selbst ihre eigenen Gelegenheiten finden oder schaffen. Solange das System ihnen Gelegenheiten GIBT, liegen sie an seiner Leine. Um Autonomie zu erreichen, müssen sie sich von dieser Leine losmachen.

PROBLEME DER ANPASSUNG

77. Nicht jeder in der industriell-technologischen Gesellschaft leidet unter psychologischen Problemen. Manche bekennen sogar, in der bestehenden Gesellschaft recht zufrieden zu sein. Wir wollen nun über einige der Gründe dafür sprechen, dass die Reaktion der Menschen auf die moderne Gesellschaft so unterschiedlich ausfällt. 78. Erstens gibt es zweifellos angeborene Unterschiede in der Stärke des Machttriebs. Menschen mit einem schwachen Machttrieb werden ein relativ geringes Bedürfnis haben, den power process zu durchlaufen, oder zumindest ein relativ geringes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und nach Selbstbestimmung im power process. Es sind fügsame Typen, die auch als Plantagenneger in den alten Südstaaten glücklich geworden wären. (Damit wollen wir keineswegs Verachtung für die »Plantagenneger« der Südstaaten ausdrücken. Man muss ihnen zugestehen, dass die meisten dieser Sklaven NICHT mit ihrer Knechtschaft zufrieden waren. Wir verachten diejenigen, die mit Knechtschaft zufrieden SIND.) 79. Manche Menschen haben ein außergewöhnlich starkes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Zum Beispiel können Leute, die ein besonders ausgeprägtes Geltungsbedürfnis haben, ihr ganzes Leben damit verbringen, unermüdlich die Erfolgsleiter des gesellschaftlichen und sozialen Status zu erklimmen, ohne dass es ihnen jemals langweilig wird. 80. Auch die Empfänglichkeit für Werbung und Vermarktungsstrategien ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Manche sind derart empfänglich, dass sie, selbst wenn sie sehr viel Geld verdienen, nicht ihr ständiges Begehren für die glitzernden neuen Spielzeuge, die die Marketingindustrie ihnen vorführt, befriedigen können. Selbst wenn sie ein hohes Einkommen haben, geraten sie schnell in finanzielle Schwierigkeiten und können sich nicht alle Ansprüche erfüllen. 81. Andere sind für Werbung und Vermarktungsstrategien nahezu unempfänglich. Diese Menschen sind an Geld nicht interes siert. Die Anhäufung materieller Güter befriedigt nicht ihr Bedürfnis nach dem power process. 82. Menschen mit durchschnittlicher Empfänglichkeit für Werbung und Vermarktungsstrategien sind in der Lage, genug Geld zu verdienen, um ihr Begehren für Güter und Dienstleistungen zu befriedigen, aber nur aufgrund größerer Anstrengungen (sie machen Überstunden, nehmen Zweitjobs an, bemühen sich um Beförderungen usw.). Insofern dient die Anhäufung materieller Güter dem Bedürfnis nach ihrer Selbstverwirklichung im power process. Aber daraus folgt nicht notwendigerweise, dass dieses Bedürfnis vollständig befriedigt wird. Es kann sein, dass diese Menschen nur unzureichende Autonomie im power process haben (etwa wenn ihre Arbeit darin besteht, Anweisungen zu erfüllen) und einige ihrer Triebe können frustriert werden (z.B. der nach Sicherheit oder nach Aggression). (In den Abschnitten 80-82 machen wir uns der Vereinfachung schuldig, weil wir voraussetzen, dass der Wunsch nach Anhäufung von materiellen Gütern allein durch die Werbe- und Marketingindustrie geschaffen wird. So einfach ist das natürlich nicht.)17 83. Manche Menschen befriedigen ihr Bedürfnis nach Macht zum Teil dadurch, dass sie sich mit einer mächtigen Organisation oder einer Massenbewegung identifizieren. Eine Person, der Macht oder eigene Ziele fehlen, schließt sich einer Bewegung oder einer Organisation an, übernimmt deren Zielsetzungen als ihre eigenen und arbeitet dann auf deren Verwirklichung hin. Werden einige dieser Ziele erreicht, dann empfindet der Einzelne, mögen seine persönlichen Anstrengungen auch eine unbedeutende Rolle in der Verwirklichung der Ziele gespielt haben, (durch die Identifikation mit der Bewegung oder der Organisation) so, als habe er den power process durchlaufen. Dieses Phänomen wurde von Faschisten, Nazis und Kommunisten ausgenutzt. Auch unsere Gesellschaft nutzt es, wenn auch weniger offensichtlich. Beispiel: Manuel Noriega war für die USA ein Ärgernis. (Ziel: Bestrafung Noriegas.) Die USA marschierten in Panama ein (Anstrengung) und bestraften Noriega (Erreichung des Ziels). Die USA durchliefen damit den power process, und viele Amerikaner erlebten ihn stellvertretend, weil sie sich mit den USA identifizieren. Dies erklärt die weit verbreitete öffentliche Zustimmung für die Panama-Invasion, sie hat den Leuten ein Machtgefühl vermittelt18. Dasselbe Phänomen kann man in Armeen, Körperschaften, politischen Parteien, Menschenrechtsorganisationen, religiösen und ideologischen Bewegungen beobachten. Besonders linksgerichtete Bewegungen haben für Menschen, die ihr Machtbedürfnis befriedigen wollen, eine große Anziehungskraft. Dennoch kann die Identifikation mit großen Organisationen oder Massenbewegungen das Machtbedürfnis der meisten Menschen nicht völlig befriedigen. 84. Eine andere Möglichkeit zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbstverwirklichung im power process können Ersatzhandlungen sein. Wie wir in den Abschnitten 38-40 erklärt haben, ist eine Ersatzhandlung auf ein künstliches Ziel ausgerichtet, das jemand um der »Erfüllung« willen verfolgt, die er sich vom Verfolgen dieses Ziels verspricht, und nicht, weil er das Ziel selbst erreichen müsste. Zum Beispiel gibt es keinen praktischen Grund, sich enorme Muskeln anzutrainieren, einen kleinen weißen Ball in ein Loch zu schlagen oder einen kompletten Satz Briefmarken zusammenzukriegen. Dennoch widmen sich viele Menschen in unserer Gesellschaft mit Leidenschaft dem Bodybuilding, Golfspielen oder Briefmarkensammeln. Einige Menschen sind stärker »fremdbestimmt« als andere und sind deshalb eher geneigt, einer Ersatzhandlung Bedeutung beizumessen, bloß weil diese von den Menschen in ihrer Umgebung als bedeutsam betrachtet wird oder weil die Gesellschaft ihnen sagt, sie sei wichtig. Deshalb nehmen manche Menschen völlig triviale Aktivitäten wie Sport, Bridge, Schach oder obskures Streben nach Wissen sehr wichtig, wohingegen andere, scharfsichtigere Menschen diese Dinge stets nur als das sehen, was sie sind, nämlich Ersatzhandlungen, und ihnen deshalb auch niemals genügend Bedeutung beimessen, um ihr Bedürfnis nach dem power process auf diese Weise zu befriedigen. Hinzuzufügen ist nur noch, dass die dem Lebensunterhalt dienende Berufstätigkeit häufig auch eine Art Ersatzhandlung ist. Keine REINE Ersatzhandlung, da diese Beschäftigung teilweise wirklich dazu dient, den physisch notwendigen Lebensunterhalt zu erwerben sowie (für manche Menschen) den sozialen Status und den Luxus, den die Werbung sie verlangen lässt. Doch viele Menschen widmen sich ihrer Arbeit mit einer weit größeren Anstrengung, als nötig wäre, um so viel Geld und Status zu erwerben, wie sie benötigen, und diese zusätzliche Anstrengung ist eine Ersatzhandlung. Diese zusätzliche Anstrengung, zusammen mit dem emotionalen Einsatz, der diese begleitet, ist eine der mächtigsten Kräfte zur kontinuierlichen Entwicklung und Perfektionierung des Systems, mit negativen Folgen für die individuelle Freiheit (vgl. Abschnitt 131). Besonders für die kreativsten Wissenschaftler und Ingenieure ist Arbeit zum großen Teil Ersatzhandlung. Dieser Punkt ist derart wichtig, dass er eine gesonderte Erörterung erfordert, die wir in Kürze vornehmen werden (Abschnitte 87-92). 85. In diesem Abschnitt haben wir dargelegt, wie viele Menschen in der modernen Gesellschaft ihr Bedürfnis nach dem power process tatsächlich mehr oder weniger befriedigen. Doch glauben wir, dass die Mehrheit der Menschen ihr Bedürfnis nach dem power process nicht vollständig befriedigen kann. Denn zum einen stellen die Menschen, die ein unersättliches Geltungsbedürfnis haben, oder die sich einer Ersatzhandlung völlig verschreiben, oder die sich stark genug mit einer Bewegung oder Organisation identifizieren, um ihren Machttrieb auf diese Weise zu befriedigen, Ausnahmen dar. Andere sind weder durch Ersatzhandlungen noch durch Identifikation mit einer Organisation vollständig zu befriedigen (vgl. Abschnitte 41 und 64). Zum anderen übt das System durch explizite Vorschriften oder durch Anpassungsdruck zu viel Kontrolle aus, was zu einem Mangel an Autonomie führt und zu Frustration über die Unmöglichkeit, bestimmte Ziele zu erreichen und über den Zwang, zu viele Impulse unterdrücken zu müssen. 86. Doch selbst wenn die meisten Menschen in der industrielltechnologischen Gesellschaft zufriedengestellt wären, würden wir (FC) uns dennoch gegen diese Gesellschaftsform auflehnen, (unter anderem) weil wir es erniedrigend finden, wenn das Bedürfnis nach dem power process durch Ersatzhandlungen oder durch Identifikation mit mächtigen Organisationen befriedigt wird anstatt durch das Streben nach wahren Zielen. MOTIVATION DER WISSENSCHAFTLER 87. Wissenschaft und Technologie bilden die wichtigsten Beispiele für Ersatzhandlungen. Manche Wissenschaftler behaupten, ihre Motivation bestehe in »Neugier« oder in einem Wunsch nach »Nutzen für die Menschheit«. Doch es ist leicht zu durchschauen, dass weder das eine noch das andere das Hauptmotiv der meisten Wissenschaftler sein kann. Was die »Neugier« betrifft, so ist diese Vorstellung einfach absurd. Die meisten Wissenschaftler arbeiten an hoch spezialisierten Problemen, die normaler Neugier nicht zugänglich sind. Kann man etwa behaupten, dass ein Astronom, ein Mathematiker oder ein Insek- tenkundler neugierig auf die Eigenschaften von Isopropyltri- methylmethan ist? Selbstverständlich nicht. Nur ein Chemiker empfindet dafür Neugier, und nur deshalb, weil Chemie seine Ersatzhandlung darstellt. Ist aber der Chemiker neugierig auf die geeignete Klassifizierung einer neuen Käferart? Nein. Denn diese Frage interessiert nur den Insektenkundler, weil Insektenkunde dessen Ersatzhandlung ist. Wenn der Chemiker und der Insektenkundler für die Sicherung ihrer existenziellen Bedürfnisse ernsthafte Anstrengungen unternehmen müssten, und wenn diese Anstrengungen ihre Fähigkeiten auf eine interessante Weise, aber nicht in wissenschaftlichem Streben herausfordern würden, dann würden sie sich um Isopropyltrimethylmethan oder die Klassifizierung von Käfern einen Dreck scheren. Nehmen wir einmal an, dass knappe Geldmittel der Graduiertenförderung dazu geführt hätten, dass der Chemiker stattdessen Versicherungsagent geworden wäre. In diesem Fall wäre er sehr an Versicherungsangelegenheiten interessiert, Iso- propyltrimethylmethan wäre ihm aber gleichgültig. Jedenfalls ist es nicht normal, der Befriedigung bloßer Neugier derart viel Zeit und Anstrengung zu widmen, wie Wissenschaftler in ihre Arbeit investieren. Mit »Neugier« ist die Motivation der Wissenschaftler nicht zu erklären. 88. Die Erklärung, es gehe ihnen um den »Nutzen für die Menschheit«, ist nicht plausibler. Manche Wissenschaften haben gar keinen denkbaren Bezug zum Wohlergehen der Menschheit – Archäologie zum Beispiel oder vergleichende Sprachwissenschaften. Andere Wissenschaftsgebiete eröffnen ganz offensichtlich gefährliche Möglichkeiten. Und doch sind die Wissenschaftler in diesen Gebieten ebenso begeistert von ihrer Arbeit wie die, die an der Entwicklung eines Impfstoffs arbeiten oder Luftverschmutzung untersuchen. Man denke an den Fall des Dr. Edward Teller, der sich offensichtlich emotional berührt für Kernkraftwerke einsetzte. Kann man behaupten, dass dieser Einsatz aus dem Wunsch herrührte, der Menschlichkeit zu dienen? Wenn das so wäre, warum hat sich Dr. Teller nicht für andere »humanitäre« Aufgaben begeistert? Wenn er so ein Menschenfreund war, warum hat er sich dann an der Entwicklung der Wasserstoffbombe beteiligt? Wie bei vielen anderen wissenschaftlichen Errungenschaften ist es äußerst fragwürdig, inwiefern Kernkraftwerke tatsächlich zum Nutzen der Menschheit sind. Wiegt die billige Elektrizität den sich ansammelnden nuklearen Abfall und das Risiko von Unfällen auf? Dr. Teller hat nur die eine Seite dieser Frage betrachtet. Es ist völlig klar, dass sein emotionales Eintreten für die Atomkraft nicht dem Wunsch nach »Nutzen für die Menschheit« entsprang, sondern einer persönlichen Befriedigung, die er aus seiner Arbeit und der Möglichkeit, diese in die Praxis umgesetzt zu sehen,zog. 89. Dies trifft auf alle Wissenschaftler zu. Von möglichen, wenigen Ausnahmen abgesehen sind ihre Motive weder Neugier noch der Wunsch, der Menschheit zu nützen, sondern das Bedürfnis, den power process zu durchlaufen: ein Ziel zu haben (ein wissenschaftliches Problem zu lösen), eine Anstrengung zu unternehmen (Forschung) und das Ziel zu erreichen (Lösung des Problems). Wissenschaft ist eine Ersatzhandlung, weil die Wissenschaftler hauptsächlich um der Erfüllung willen arbeiten, die ihnen diese Arbeit bringt. 90. Natürlich ist das nicht so simpel. Bei vielen Wissenschaftlern spielen noch andere Motive eine Rolle. Geld und Status zum Beispiel. Manche Wissenschaftler gehören zum Typus mit dem unersättlichen Geltungsdrang (vgl. Abschnitt 79), und in diesem mag ein großer Teil ihrer Motivation bestehen. Ganz sicher ist die Mehrheit der Wissenschaftler, wie die Mehrheit der Gesamtbevölkerung, für Werbung und Marketingstrategien mehr oder weniger empfänglich, und braucht daher Geld, um ihr Begehren nach Gütern und Dienstleistungen zu befriedigen. Somit ist Wissenschaft keine REINE Ersatzhandlung. Aber sie ist zum großen Teil eine Ersatzhandlung. 91. Außerdem haben sich Wissenschaft und Technologie zu einer mächtigen Massenbewegung entwickelt, und viele Wissenschaftler erfüllen ihr Machtbedürfnis, indem sie sich mit dieser Massenbewegung identifizieren (vgl. Abschnitt 83). 92. Der Vormarsch der Wissenschaft geschieht blindlings, ohne dass ein wirklicher Nutzen für die Menschheit dabei in Betracht gezogen würde, er ist einzig orientiert an den psychologischen Bedürfnissen der Wissenschaftler, der Regierungsbeamten und Untemehmensmanager, die Forschungsmittel dafür bereitstellen. DAS WESEN DER FREIHEIT 93. Wir werden ausführen, dass die fortschreitende Einschränkung der Freiheit der Menschen in der industriell-technologischen Gesellschaft nicht durch Reformen dieser Gesellschaft aufgehalten werden kann. Doch weil »Freiheit« ein Begriff ist, der auf vielfache Weise interpretiert werden kann, werden wir zunächst definieren, welche Art von Freiheit wir meinen. 94. Wir verstehen unter »Freiheit« die Möglichkeit, den power process zu durchlaufen, mit wahren Zielen und nicht den künstlichen Zielen von Ersatzhandlungen, und ohne Einmischung, Manipulation oder Überwachung durch wen auch immer, besonders nicht durch große Organisationen. Freiheit bedeutet, die Kontrolle (als Individuum oder Mitglied einer KLEINEN Gruppe) über die existenziellen Dinge des eigenen Lebens zu haben: Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Verteidigung gegen jedwede äußere Bedrohung. Freiheit bedeutet, Macht zu haben, aber nicht die Macht, andere Menschen zu kontrollieren, sondern die Macht, die eigenen Lebensumstände zu kontrollieren. Man hat keine Freiheit, wenn irgendjemand (insbesondere eine große Organisation) Macht über einen ausübt, egal wie wohltätig, tolerant oder freizügig diese ausgeübt wird. Freiheit ist keinesfalls mit Freizügigkeit zu verwechseln (vgl. Abschnitt 72). 95. Es wird behauptet, dass wir in einer freien Gesellschaft leben, weil uns durch die Verfassung eine Reihe von Rechten garantiert wird. Diese sind aber nicht so wichtig, wie sie scheinen. Der Grad der persönlichen Freiheit in einer Gesellschaft wird eher durch die wirtschaftliche und technologische Struktur dieser Gesellschaft bestimmt als durch ihre Gesetze oder ihre Regierungsform19. Die meisten Indianer-Nationen in Neuengland waren Monarchien, und viele Städte der italienischen Renaissance wurden von Diktatoren beherrscht. Jedoch kann man sich beim Lesen über diese Gesellschaften nicht des Eindrucks erwehren, dass sie weit mehr persönliche Freiheit zuließen als unsere Gesellschaft. Teilweise lag das daran, dass ihnen effiziente Mittel fehlten, um den Willen des Herrschers durchzusetzen: es gab keinen modernen, gut organisierten Polizeiapparat, keine schnelle Femkommunikation, keine Überwachungskameras, keine Informationsberichte über das Leben der Durchschnittsbürger. Somit war es relativ leicht, der Kontrolle auszu weichen. 96. Was unsere durch die Verfassung garantierten Rechte betrifft, so denke man beispielsweise an die Pressefreiheit. Wir wollen dieses Recht ganz sicherlich nicht abschaffen; es ist ein sehr wichtiges Mittel, um die Konzentration der politischen Macht einzugrenzen und um diejenigen, die politische Macht besitzen, durch die öffentliche Bekanntmachung ihres Fehlverhaltens zu zügeln. Jedoch ist die Pressefreiheit für den Durchschnittsbürger als Person nur von geringem Nutzen. Die Massenmedien stehen größtenteils unter der Kontrolle großer Organisationen, die in das System integriert sind. Jeder kann für wenig Geld etwas drucken lassen oder im Internet publizieren, doch was er zu sagen hat, wird in der Masse der Medieninformationen untergehen und deshalb nur wenig Wirkung erzielen. Die Gesellschaft mit Worten zu beeindrucken ist deshalb für die meisten Einzelpersonen oder kleinen Gruppen nahezu unmöglich. Nehmen wir uns (FC) selbst zum Beispiel. Wenn wir nicht gewaltsam gehandelt und die vorliegende Schrift einem Verleger vorgelegt hätten, wäre sie wahrscheinlich nicht angenommen worden. Selbst wenn sie akzeptiert und veröffentlicht worden wäre, hätte sie wahrscheinlich nicht viele Leser interessiert, denn es macht mehr Spaß, die Unterhaltungssendungen der Medien anzusehen als eine nüchterne Abhandlung zu lesen. Aber selbst wenn diese Schrift viele Leser gefunden hätte, würden die meisten dieser Leser das Gelesene bald vergessen haben, weil ihr Gedächtnis durch die Informationsflut der Massenmedien überflutet wird. Damit wir überhaupt eine Chance hatten, unsere Botschaft mit nachhaltigem Eindruck zu veröffentlichen, mussten wir Menschen töten. 97. Durch die Verfassung festgeschriebene Rechte sind bis zu einem gewissen Grad nützlich, aber sie können nicht viel mehr garantieren als das, was man eine bürgerliche Auffassung von Freiheit nennen könnte. Gemäß der bürgerlichen Auffassung ist ein »freier« Mensch im Wesentlichen Teil einer gesellschaftlichen Maschinerie und hat nur ein bestimmtes Bündel vorgeschriebener und begrenzter Freiheiten, Freiheiten nämlich, die vor allem der gesellschaftlichen Maschine dienen und weniger dem Einzelnen. So hat der bürgerliche »freie« Mensch wirtschaftliche Freiheit, weil sie Wachstum und Fortschritt dient; er hat Pressefreiheit, weil öffentliche Kritik das Fehl verhalten politischer Führer einschränkt; er hat das Recht auf einen fairen Prozess, weil Verhaftungen nach der bloßen Willkür der Mächtigen schlecht für das System wären. Dies entspricht eindeutig der Haltung Simon Bolivars. Ihm zufolge verdienten die Menschen nur dann Freiheit, wenn sie sie dazu einsetzen, den Fortschritt zu fördern (Fortschritt im bürgerlichen Verständnis). Andere bürgerliche Denker haben eine ähnliche Auffassung von Freiheit vertreten, sie als bloßes Mittel zum gemeinsamen Zweck verstanden. Chester C. Tan, Chinesisches Politisches Denken im Zwanzigsten Jahrhundert, Seite 202, erklärt die Philosophie des Kuomintang-Führers Hu Han-min: »Einem Einzelnen werden Rechte zugestanden, weil er ein Mitglied der Gesellschaft ist und das Leben der Gemeinschaft diese Rechte erfordert. Mit Gemeinschaft meint Hu Han-min die gesamte Gesellschaft oder Nation.« Auf Seite 259 führt Tan aus, dass Freiheit Carsum Chang (Chang Chun-mai, Führer der Sozialistischen Staatspartei Chinas) zufolge im Interesse des Staates und des gesamten Volkes als Gesamtheit genutzt werden muss. Aber was für eine Freiheit ist das, die nur auf von anderen vorgeschriebene Weise genutzt werden darf? Die Auffassung von Freiheit, die FC vertritt, ist eine andere als die Bolivars, Hus, Changs oder anderer bürgerlicher Theoretiker. Die Schwierigkeit mit solchen Theoretikern besteht darin, dass die Entwicklung und Anwendung sozialer Theorien ihre Ersatzhandlung geworden ist. Infolgedessen sind diese Theorien so entworfen, dass sie eher den Bedürfnissen der Theoretiker dienen als den Bedürfnissen von Menschen, die das Pech haben, in einer Gesellschaft zu leben, der diese Theorien aufgezwungen wurden. 98. Noch ein weiterer Punkt gehört in diesen Abschnitt: Man sollte nicht meinen, dass eine Person genug Freiheit hat, nur weil sie das von sich BEHAUPTET. Die Freiheit wird zum Teil durch psychologische Kontrollen eingeschränkt, die den Menschen überhaupt nicht bewusst sind, und darüber hinaus werden die Vorstellungen der meisten Menschen dessen, was Freiheit bedeutet, stark von gesellschaftlichen Konventionen gesteuert und weniger von ihren wirklichen Bedürfnissen. Zum Beispiel würden wahrscheinlich viele überangepasste Linke behaupten, dass die meisten Menschen, einschließlich ihrer selbst, eher zu wenig als zu stark angepasst seien, und doch zahlt der überangepasste Linke einen hohen psychologischen Preis für seinen hohen Grad an Angepasstheit. EINIGE PRINZIPIEN DER GESCHICHTE 99. Man kann sich Geschichte als Summe zweier Komponenten vorstellen: einem unberechenbaren Teil, der aus unvorhersehbaren Ereignissen besteht, die keinem erkennbaren Muster folgen, und einem regelhaften Teil, der aus langfristigen historischen Strömungen besteht. Im folgenden Abschnitt geht es uns um die langfristigen Strömungen. 100. ERSTES PRINZIP. Wenn eine KLEINE Veränderung eintritt, die auf eine langfristige historische Strömung wirkt, dann ist die Wirkung dieser Veränderung fast immer nur vorübergehend – die Strömung wird bald wieder den ursprünglichen Verlauf nehmen. (Beispiel: eine Reformbewegung, die politische Korruption in einer Gesellschaft bekämpfen will, hat selten mehr als eine kurzzeitige Wirkung; früher oder später werden die Reformer nachlassen und die Korruption wird sich allmählich wieder einschleichen. Der Grad politischer Korruption in einer Gesellschaft neigt dazu, konstant zu bleiben oder sich nur langsam infolge der gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu verändern. Normalerweise kann eine politische Säuberung nur dann dauerhaft sein, wenn sie von weitreichenden sozialen Veränderungen begleitet wird; eine KLEINE Veränderung in der Gesellschaft wird nicht hinreichen.) Wenn eine kleine Veränderung innerhalb eines langfristigen historischen Verlaufs anzudauem scheint, dann nur deshalb, weil die Veränderung in die gleiche Richtung zielt wie die allgemeine Strömung und diese dadurch nicht verändert, sondern vielmehr vorwärtsgetrieben wird. 101. Das erste Prinzip ist fast eine Tautologie. Wenn eine historische Strömung kleinen Veränderungen nicht standhielte, würde sie keiner bestimmten Richtung folgen, sondern wäre ziellos. Mit anderen Worten, es würde sich gar nicht um eine langfristige Strömung handeln. 102. ZWEITES PRINZIP. Wenn eine Veränderung eintritt, die groß genug ist, um eine langfristige historische Strömung dauerhaft zu verändern, dann wird sie die Gesellschaft im Ganzen verändern. Mit anderen Worten, eine Gesellschaft ist ein System, in dem alle Teile zueinander in Beziehung stehen, und kein Teil kann dauerhaft verändert werden, ohne dass sich alle anderen Teile auch ändern. 103. DRITTES PRINZIP. Wenn eine Veränderung eintritt, die groß genug ist, um eine langfristige Strömung dauerhaft zu verändern, können die Folgen für die gesamte Gesellschaft nicht vorausgesagt werden. (Es sei denn, verschiedene andere Gesellschaften haben bereits die gleiche Veränderung durchgemacht und die gleichen Folgen erlebt, in diesem Fall kann man auf empirischer Grundlage Voraussagen, dass eine andere Gesellschaft, die die gleiche Veränderung durchmacht, wahrscheinlich ähnliche Folgen erleben wird.) 104. VIERTES PRINZIP. Eine neue Gesellschaft kann nicht auf dem Papier entworfen werden. Das bedeutet, man kann eine neue Gesellschaftsform nicht im Voraus planen, dann errichten und erwarten, dass sie in der geplanten Weise funktioniert. 105. Das dritte und vierte Prinzip ergeben sich aus der Komplexität menschlicher Gesellschaften. Eine Veränderung des menschlichen Verhaltens wird sich sowohl auf die Wirtschaft einer Gesellschaft als auch auf ihre physische Umwelt auswirken; die Wirtschaft wird die Umwelt beeinflussen und umgekehrt, und die Veränderungen von Wirtschaft und Umwelt werden das menschliche Verhalten in komplexer, nicht vorhersehbarer Weise beeinträchtigen usw. Das Netzwerk von Ursache und Wirkung ist viel zu komplex, um es zu entwirren und zu begreifen. 106. FÜNFTES PRINZIP. Eine Gesellschaftsform wird von Menschen nicht bewusst und rational ausgewählt. Gesellschaften entwickeln sich durch Prozesse sozialer Evolution, die nicht der Kontrolle der menschlichen Vernunft unterliegen. 107. Das fünfte Prinzip ergibt sich folgerichtig aus den vier anderen Prinzipien. 108. Zur Erläuterung: Das erste Prinzip besagt, dass Versuche sozialer Reformen im Allgemeinen entweder in die Richtung zielen, in die sich die Gesellschaft ohnehin entwickelt (sodass sie eine Veränderung nur beschleunigen, die in jedem Fall stattgefunden hätte), oder nur eine vorübergehende Wirkung haben, sodass die Gesellschaft bald in ihr altes Fahrwasser zurückfällt. Um eine dauerhafte Veränderung der Entwicklungsrichtung irgendeines wichtigen Aspekts der Gesellschaft zu bewirken, sind Reformen ungeeignet, und eine Revolution ist notwendig. (Revolution bedeutet nicht zwangsläufig bewaffnete Erhebung oder Sturz der Regierung.) Das zweite Prinzip besagt, dass eine Revolution niemals nur einen Aspekt der Gesellschaft verändert, sie verändert die Gesellschaft im Ganzen; und das dritte Prinzip besagt, dass immer Veränderungen auftreten, die von den Revolutionären nicht erwartet oder erwünscht waren. Das vierte Prinzip besagt, dass eine Gesellschaft, die von Revolutionären oder Utopisten entworfen wurde, nie so funktioniert wie geplant. 109. Die Amerikanische Revolution ist dafür kein Gegenbeispiel. Die Amerikanische »Revolution« war nämlich keine Revolution, wie wir sie verstehen, sondern ein Unabhängigkeitskrieg, gefolgt von recht weitreichenden politischen Reformen. Die Gründerväter haben weder die Richtung geändert, in die sich die amerikanische Gesellschaft entwickelte, noch haben sie dies angestrebt. Sie haben die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft lediglich von den retardierenden Auswirkungen britischer Herrschaft befreit. Ihre politische Reform hat keine grundsätzliche Strömung umgelenkt, sondern die Entwicklung der amerikanischen politischen Kultur nur in ihrer natürlichen Richtung beschleunigt. Schon die britische Gesellschaft, aus der die amerikanische hervorgegangen ist, hatte sich seit Langem in die Richtung einer repräsentativen Demokratie bewegt. Bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg hatten die Amerikaner in den Kolonialversammlungen repräsentative Demokratie in bedeutendem Umfang praktiziert. Das von der Verfassung etablierte politische System war dem englischen System und der Kolonialversammlung nachgebildet. Mit wichtigen Änderungen, sicherlich – zweifellos haben die Gründerväter einen wichtigen Schritt getan. Aber es war ein Schritt auf dem Weg, den die englischsprachige Welt bereits eingeschlagen hatte. Der Beweis dafür ist, dass England und diejenigen seiner Kolonien, die hauptsächlich von Menschen britischer Herkunft bevölkert waren, letztendlich alle ein System repräsentativer Demokratie eingeführt haben, das dem der Vereinigten Staaten ähnelt. Hätten die Gründerväter damals die Geduld verloren und es abgelehnt, die Unabhängigkeitserklärung zu unterzeichnen, wäre unsere Lebensweise heute nicht viel anders. Vielleicht hätten wir etwas engere Bindungen an England, ein Parlament und einen Premierminister anstelle eines Kongresses und eines Präsidenten. Keine große Sache. Somit stellt die Amerikanische Revolution kein Gegenbeispiel zu unseren Prinzipien dar, sondern illustriert diese vielmehr. 110. Trotzdem muss man seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen, um die Prinzipien richtig anzuwenden. Wir haben sie in einer unpräzisen Sprache verfasst, die Raum für Interpretationen lässt, auch kann man Ausnahmen davon finden. Wir stellen diese Prinzipien nicht als unabänderliche Gesetze dar, sondern eher als Faustregeln oder Denkanstöße, die vielleicht eine Art Gegenmittel zu naiven Ideen über die Zukunft der Gesellschaft sein können. Man sollte sich diese Prinzipien immer wieder bewusst machen, und wann immer man zu Ergebnissen kommt, die diesen Prinzipien widersprechen, sollte man seine Überlegungen sorgfältig überprüfen und seine Schlussfolgerung nur dann aufrecht halten, wenn es gute, solide Gründe dafür gibt. DIE INDUSTRIELL-TECHNOLOGISCHE GESELLSCHAFT KANN NICHT REFORMIERT WERDEN 111. Die aufgeführten Prinzipien machen deutlich, wie hoffnungslos schwierig es wäre, das industrielle System derart zu reformieren, dass die fortschreitende Einschränkung unserer Freiheit dadurch verhindert würde. Es besteht eine langfristige historische Strömung, die mindestens bis auf die industrielle Revolution zurückgeht, das System auf Kosten der individuellen Freiheit und der lokalen Autonomie zu stärken. Deshalb würde jede Veränderung, die darauf abzielt, Freiheit vor Technologie zu schützen, einer grundlegenden Strömung in der Entwicklung unserer Gesellschaft entgegenstehen. Folgerichtig wäre eine solche Veränderung entweder nur eine vorübergehende – schon bald von der Flut der Geschichte hinweggeschwemmt – oder, sie würde, wenn sie ausreichend stark wäre, um dauerhaft zu wirken, das Wesen der Gesellschaft im Ganzen verändern. Damit wären das erste und zweite Prinzip erfüllt. Darüber hinaus bestünde ein großes Risiko, dass sich die Gesellschaft in einer nicht voraussagbaren Weise verändert (drittes Prinzip). Man kann kaum erwarten, dass Veränderungen, die groß genug wären, um dauerhafte Veränderungen zugunsten der Freiheit zu schaffen, bewusst vorgenommen werden, denn sie würden den Zusammenbruch des Systems herbeiführen. Also werden Reformversuche stets zu zaghaft sein, um eine Wirkung zu zeitigen. Selbst wenn Veränderungen von ausreichend großem Umfang eingeleitet würden, die einen dauerhaften Unterschied bewirken könnten, würden diese gestoppt werden, sobald ihre systembeeinträchtigenden Auswirkungen spürbar würden. Also können dauerhafte Veränderungen zugunsten der Freiheit nur von Menschen herbeigeführt werden, die zu radikalen, gefährlichen und un vorhersehbaren Änderungen des gesamten Systems bereit sind. Anders gesagt: von Revolutionären, nicht von Reformern. 112. Menschen, die die Freiheit retten wollen, dabei aber ängstlich darauf bedacht sind, nicht die vermeintlichen Vorteile der Technologie dafür zu opfern, werden naive Modelle einer neuen Gesellschaftsform entwerfen, in der Freiheit und Technologie versöhnt wären. Abgesehen von der Tatsache, dass die Leute, die solche Vorschläge machen, selten auch praktische Schritte vorschlagen, wie diese neue Gesellschaftsform überhaupt errichtet werden soll, folgt aus dem vierten Prinzip auch, dass selbst wenn die neue Gesellschaftsform irgendwann etabliert würde, sie entweder zusammenbrechen oder gänzlich anders sein würde als erwartet. 113. Schon auf dieser ganz allgemeinen Ebene scheint es höchst unwahrscheinlich, dass es irgendeine Möglichkeit gibt, die Gesellschaft derart zu verändern, dass Freiheit und moderne Technologie miteinander versöhnt werden könnten. In den folgenden Abschnitten werden wir spezifischere Begründungen für unsere Schlussfolgerung, dass Freiheit und technologischer Fortschritt unvereinbar sind, darlegen. DIE GRENZEN DER FREIHEIT IN DER INDUSTRIELLEN GESELLSCHAFT 114. Wie in den Abschnitten 65-67 und 70-73 dargelegt wurde, ist der moderne Mensch durch ein Geflecht von Regeln und Vorschriften gebunden, und sein Schicksal hängt von Handlungen anderer Menschen ab, die ihm fern sind und deren Entscheidungen er nicht beeinflussen kann. Dies ist weder Zufall noch Ergebnis der Willkür arroganter Bürokraten. Es ist notwendig und unvermeidlich in jeder fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft so. Das System MUSS menschliches Verhalten streng regulieren, um funktionieren zu können. Bei der Arbeit müssen Menschen das tun, was ihnen gesagt wurde, dann, wann es ihnen gesagt wurde und auf die Art, wie es ihnen gesagt wurde, sonst würde die Produktion im Chaos versinken. Bürokratien MÜSSEN nach strengen Vorschriften geführt werden. Bürokraten der unteren Ebenen spürbaren eigenen Ermessensspielraum zuzugestehen, würde das System beeinträchtigen und es dem Vorwurf der Ungerechtigkeit aussetzen, weil jeder Bürokrat nach seinem Ermessen und anders als ein anderer handeln würde. Sicher könnten einige Einschränkungen unserer Freiheit abgeschafft werden, aber IM ALLGEMEINEN ist die Regulierung unseres Lebens durch große Organisationen notwendig für das Funktionieren der industriell-technologischen Gesellschaft. Das Ergebnis ist ein Gefühl der Ohnmacht beim Durchschnittsbürger. Es ist jedoch möglich, dass die formellen Einschränkungen zunehmend durch psychologische Instrumente ersetzt werden, sodass wir freiwillig tun, was das System von uns verlangt (Propaganda20, Erziehungsmethoden, Programme zur »mentalen Gesundheit« usw.). 115. Das System MUSS die Menschen zu einem Verhalten zwingen, das sich immer stärker vom natürlichen Muster menschlichen Verhaltens unterscheidet. Beispielsweise braucht das System Wissenschaftler, Mathematiker, Ingenieure. Es kann ohne sie nicht funktionieren. Deshalb werden Kinder unter starken Druck gesetzt, sich auf diesen Gebieten auszuzeichnen. Es ist unnatürlich für einen heranwachsenden Menschen, den Großteil seiner Zeit in Studien versunken an einem Schreibtisch zu verbringen. Ein normaler Heranwachsender möchte seine Zeit damit verbringen, aktive Kontakte zur wirklichen Welt zu knüpfen. Die Dinge, zu denen Kinder in primitiven Völkern angeleitet werden, stehen in vernünftigem Einklang mit ihren natürlichen menschlichen Impulsen. Bei den amerikanischen Indianern etwa wurden die Jungen zu Aktivitäten und Beschäftigungen außerhalb des Hauses angehalten – zu genau den Dingen, die Jungen mögen. Aber in unserer Gesellschaft werden Kinder dazu gedrängt, sich mit technischen Studien zu beschäftigen, was die meisten nur widerwillig tun. 116. Aufgrund des ständigen Drucks, den das System ausübt, um das menschliche Verhalten zu verändern, nimmt die Zahl der Menschen zu, die sich den Anforderungen der Gesellschaft nicht anpassen wollen oder können: Sozialhilfeschmarotzer, Jugendbanden, Sektenanhänger, Regierungsgegner, radikale Umweltschützer und Saboteure, Aussteiger und andere Widerständler. 117. In jeder technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft MUSS das Schicksal des Einzelnen von Entscheidungen abhängig sein, auf die er selbst keinen nennenswerten Einfluss nehmen kann. Eine technologische Gesellschaft kann nicht in kleine autonome Gemeinschaften aufgeteilt werden, weil die Produktion vom Zusammenwirken einer großen Anzahl von Menschen und Maschinen abhängt. Eine solche Gesellschaft MUSS hoch organisiert sein und Entscheidungen, die sich auf viele Menschen aus wirken, MÜSSEN getroffen werden. Wenn eine Entscheidung etwa eine Million Menschen betrifft, dann hat jedes der betroffenen Individuen im Durchschnitt auch nur ein Millionstel Anteil an der Entscheidung. In der Praxis werden Entscheidungen üblicherweise von öffentlichen Beamten oder Managern von großen Körperschaften durchgeführt oder von technischen Spezialisten, aber selbst wenn die Öffentlichkeit einmal über eine Entscheidung abstimmt, ist die Anzahl der Stimmberechtigten gewöhnlich zu groß, als dass die Stimme eines Einzelnen von Bedeutung wäre21. Also sind die meisten Menschen unfähig, einen messbaren Einfluss auf die meisten Entscheidungen auszuüben, die ihr Leben betreffen. Es gibt in einer fortgeschrittenen technologischen Gesellschaft keinen denkbaren Ausweg aus dieser Situation. Das System versucht das Problem dadurch zu »lösen«, dass die Menschen durch Propaganda glauben gemacht werden, sie würden die Entscheidungen WÜNSCHEN, die für sie getroffen wurden, aber selbst wenn diese »Lösung« ein voller Erfolg wäre und die Menschen sich dadurch tatsächlich besser fühlten, wäre es erniedrigend. 118. Die Konservativen und einige andere befürworten stärkere »lokale Autonomie«. Örtliche Gemeinschaften waren früher tatsächlich autonom, aber diese Art von Autonomie ist immer weniger möglich, weil die kleinen Gemeinschaften immer mehr in größere Systeme übergehen und von ihnen abhängen, wie öffentliche Versorgungsbetriebe, Computernetzwerke, Autobahnsysteme, Massenmedien, das moderne Gesundheitssystem. Auch die Tatsache, dass an einem Ort angewandte Technologie Menschen in anderen, weit abgelegenen Gebieten betrifft, wirkt gegen Autonomie. So können Pestizide und Chemikalien, die in der Nähe eines Baches aufgebracht werden, die Wasserversorgung Hunderte von Meilen flussabwärts verschmutzen, und der Treibhauseffekt hat weltweite Auswirkungen. 119. Das System existiert nicht und kann nicht dazu existieren, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Vielmehr muss das menschliche Verhalten den Bedürfnissen des Systems angepasst werden. Dies hat nichts mit der politischen oder gesellschaftlichen Ideologie zu tun, von der das technologische System angeblich gerade gelenkt wird. Es ist kein Fehler des Kapitalismus und kein Fehler des Sozialismus. Es ist der Fehler der Technologie selbst, weil das System gar nicht von einer Ideologie, sondern von technischen Notwendigkeiten gelenkt wird22. Natürlich befriedigt das System viele menschliche Bedürfnisse, aber im Allgemeinen nur soweit es Vorteile für das System hat. An erster Stelle stehen die Bedürfnisse des Systems und nicht die der Menschen. Beispielsweise versorgt das System die Menschen mit Nahrung, weil es nicht bestehen könnte, wenn alle verhungern würden; es dient den psychologischen Bedürfnissen der Menschen, wann immer es ihm PASST, weil es nicht funktionieren könnte, wenn zu viele Menschen depressiv oder aufrührerisch wären. Aber aus guten, soliden, praktischen Gründen muss das System ständig Druck auf Menschen ausüben, um ihr Verhalten den Bedürfnissen des Systems anzupassen. Es gibt zu viel Müll? Die Regierung, die Medien, das Erziehungssystem, die Umweltschützer überschwemmen uns mit Unmengen von Propaganda zum Recycling. Es wird mehr technisches Personal benötigt? Ein Chor von Stimmen ermahnt Jugendliche zum Studium der Naturwissenschaften. Niemand hält einmal inne und stellt die Frage, ob es nicht unmenschlich ist, Jugendliche dazu zu zwingen, ihre Zeit mit Studienfächern zu verbringen, die die meisten von ihnen hassen. Wenn gelernte Arbeiter aufgrund des technologischen Fortschritts entlassen werden und sich einer »Weiterbildung« unterziehen müssen, fragt niemand, ob es für sie wohl demütigend ist, so herumgeschubst zu werden. Es wird einfach vorausgesetzt, dass sich jedermann den technischen Anforderungen fügen muss. Und mit gutem Grund: Wenn menschliche Bedürfnisse vor technische Notwendigkeiten gesetzt werden, gäbe es wirtschaftliche Probleme, Arbeitslosigkeit, Mangel oder Schlimmeres. Das Konzept »geistiger Gesundheit« wird in unserer Gesellschaft im Allgemeinen daran gemessen, wie stark sich der Einzelne den Bedürfnissen des Systems angemessen verhält, ohne Stress-Symptome zu zeigen. 120. Anstrengungen, innerhalb des Systems Platz für Selbstverwirklichung und Autonomie schaffen zu wollen, sind ein Witz. Was wäre, wenn ein Unternehmen jeden seiner Angestellten, die bisher jeweils nur einen Teil des gesamten Produkts hergestellt haben, das ganze Produkt hersteilen lässt, um ihnen ein Zielbewusstsein und ein Gefühl von Leistung zu verschaffen? Einige Unternehmen haben versucht, ihren Angestellten bei der Arbeit mehr Autonomie zuzugestehen, aber aus praktischen Gründen kann dies normalerweise nur in sehr geringem Maße geschehen, und keinesfalls gibt man ihnen Autonomie über die letztendlich angestrebten Ziele – ihre »autonomen« Anstrengungen können niemals auf Ziele gerichtet sein, die sie sich selbst gesetzt haben, sondern nur auf die Ziele ihrer Arbeitgeber, etwa das Überleben und das Wachstum des Unternehmens. Jedes Unternehmen, das seinen Angestellten erlauben würde, anders zu handeln, ginge schnell bankrott. Ganz ähnlich müssen die Arbeiter in einer Genossenschaft in einem sozialistischen System ihre Anstrengungen auf die Ziele der Genossenschaft richten, andernfalls wird die Genossenschaft nicht ihren Zweck als Teil des Systems erfüllen. Noch einmal, aus rein technischen Gründen können die meisten Individuen und kleinen Gruppen in einer industriellen Gesellschaft nicht viel Autonomie haben. Selbst der kleine selbstständige Unternehmer hat gewöhnlich nur eine begrenzte Autonomie. Abgesehen von den staatlichen Regulierungen wird er dadurch eingeschränkt, dass er sich dem Wirtschaftssystem anpassen und seinen Erfordernissen entsprechen muss. Wenn beispielsweise eine neue Technologie entwickelt wird, muss der Einzelunternehmer sich ihrer bedienen, ob er will oder nicht, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

DIE UNTRENNBARKEIT VON »GUT« UND »BÖSE« IN DER TECHNOLOGIE

121. Ein weiterer Grund dafür, weshalb die industrielle Gesellschaft nicht zugunsten von mehr Freiheit reformiert werden kann, liegt darin, dass die moderne Technologie ein einheitliches System darstellt, in dem alle Teile voneinander abhängig sind. Man kann die »bösen« Seiten der Technologie nicht los werden und nur die »guten« behalten. Ein Beispiel dafür gibt die moderne Medizin. Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft hängt vom Fortschritt in Chemie, Physik, Biologie, Computerwissenschaft und anderen Gebieten ab. Moderne medizinische Behandlung erfordert eine teure High-Tech-Aus- rüstung, die nur in einer technologisch fortgeschrittenen und wirtschaftlich wohlhabenden Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden kann. Es wird deutlich, dass medizinischer Fortschritt nicht denkbar ist ohne das gesamte technologische System und allem, was dazu gehört. 122. Sogar wenn man den medizinischen Fortschritt ohne das übrige technologische System aufrechterhalten könnte, würde er selbst einige Übel mit sich bringen. Angenommen, man hätte ein Heilmittel gegen Diabetes entdeckt. Menschen mit einer genetischen Anlage zu Diabetes könnten dann überleben und sich wie jeder andere fortpflanzen. Die natürliche Auslese gegen Diabetes-Gene wird dann gestört und diese Gene werden sich in der gesamten Bevölkerung verbreiten. (Dies ist in gewissem Umfang bereits geschehen, weil Diabetes zwar nicht heilbar ist, aber mit Hilfe von Insulin unter Kontrolle gebracht werden kann.) Dasselbe wird mit vielen anderen Krankheiten geschehen, für die Menschen mit einer bestimmten genetischen Disposition anfällig sind (z.B. Krebs bei Kindern), die Folge ist eine massive genetische Degradierung der Bevölkerung. Die einzige Lösung wird eine Art Eugenikprogramm sein oder extensive Genmanipulation beim Menschen, sodass der Mensch der Zukunft nicht länger ein Geschöpf der Natur oder des Zufalls oder Gottes (je nach religiöser oder philosophischer Überzeugung) sein wird, sondern ein künstlich erzeugtes Produkt. 123. Wer findet, dass sich der Staat JETZT schon zu sehr in das Privatleben einmischt, sollte erst ab warten, bis der Staat die genetischen Anlagen seiner Kinder reguliert. Solche Regulierungen werden die unvermeidbare Folge sein, wenn Genmanipulationen beim Menschen zugelassen werden, weil die Konsequenzen einer nichtregulierten Genmanipulation verheerend sein würden23. 124. Die übliche Antwort auf solche Befürchtungen ist das Gerede von »medizinischer Ethik«. Aber ein ethischer Code würde die Freiheit nicht vor dem medizinischen Fortschritt schützen können; er würde die Sache eher verschlimmern. Ein ethischer Code, der auf Genmanipulationen anzuwenden ist, wäre im Endeffekt ein Mittel der Regulierung der genetischen Verfassung des Menschen. Irgendjemand (wahrscheinlich hauptsächlich die obere Mittelschicht) würde entscheiden, dass diese oder jene Anwendung der Genmanipulation »ethisch« sei, andere dagegen nicht, sodass sie letztlich ihre eigenen Wertvorstellungen über die genetische Ausstattung der gesamten Bevölkerung aufzwingen würden. Selbst wenn ein Ethikgesetz auf vollkommen demokratischer Grundlage beschlossen würde, hätte damit die Mehrheit ihre Wertvorstellungen gegenüber allen Minderheiten durchgesetzt, die vielleicht eine andere Vorstellung dessen haben, wie ein »ethischer« Umgang mit Genmanipulationen aussehen könnte. Das einzige ethische Gesetz, das wirklich einen Schutz der Freiheit gewährleisten könnte, wäre das Verbot JEGLICHER Genmanipulation am Menschen, doch mit Sicherheit wird in einer technologischen Gesellschaft kein solches Gesetz erlassen werden. Kein Gesetz, das der Genmanipulation nur eine untergeordnete Rolle erlaubt, würde lange bestehen können, weil die Versuchung der unfassbaren Macht der Biotechnologie unwiderstehlich ist, besonders weil viele ihrer Anwendungen von der Mehrheit der Menschen ganz offensichtlich und unzweideutig für gut gehalten werden (das Ausrotten von physischen und geistigen Krankheiten, die Möglichkeit, Menschen die Fähigkeiten zu geben, die sie brauchen, um in der heutigen Welt zurechtzukommen). Genmanipulation wird unvermeidlich in weitem Umfang angewandt werden, jedoch nur auf eine Art und Weise, die den Bedürfnissen des industriell-technologischen Systems entspricht24.

TECHNOLOGIE IST EINE MÄCHTIGERE GESELLSCHAFTLICHE KRAFT ALS DAS STREBEN NACH FREIHEIT

125. Es ist nicht möglich, einen DAUERHAFTEN Kompromiss zwischen Technologie und Freiheit zu finden, weil die Technologie die weitaus stärkere gesellschaftliche Kraft ist und durch WIEDERHOLTE Kompromisse ständig in die Freiheit eingreift. Man stelle sich zwei Nachbarn vor, von denen jeder zu Beginn ein Stück Land gleicher Größe besitzt, einer von ihnen ist aber stärker als der andere. Nun verlangt der Stärkere, dass der andere ihm einen Teil seines Besitzes abtreten solle. Der Schwächere lehnt das ab. Der Stärkere sagt: »Gut, machen wir einen Kompromiss. Gib mir die Hälfte von dem, was ich verlange.« Der Schwache hat keine andere Wahl als einzuwilligen. Etwas später verlangt der stärkere Nachbar wieder ein Stück Land, wieder gibt es einen Kompromiss, und so fort. Indem er vom Schwächeren wiederholt Kompromisse erzwingt, eignet sich der Stärkere schließlich dessen ganzes Land an. So geht es auch im Konflikt zwischen Technologie und Freiheit. 126. Nun wollen wir erklären, warum Technologie eine stärkere gesellschaftliche Kraft ist als das Streben nach Freiheit. 127. Eine technologische Neuentwicklung, die die Freiheit zunächst nicht zu bedrohen scheint, erweist sich später oft als sehr bedrohlich. Nehmen wir zum Beispiel das motorisierte Transportwesen. Wenn früher ein Mensch zu Fuß ging, konnte er gehen, wo und wohin er wollte, in seinem eigenen Rhythmus, ohne irgendeine Verkehrsvorschrift beachten zu müssen, er war unabhängig von technologischen Hilfssystemen. Die Einführung motorisierter Fahrzeuge schien die Freiheit des Menschen zu vergrößern. Sie schränkte die Freiheit des zu Fuß gehenden Menschen nicht ein, niemand musste ein Automobil haben, wenn er nicht wollte, und wer sich dafür entschied, eines zu kaufen, konnte sich viel schneller und weiter bewegen als der Fußgänger. Doch bald begann die Einführung des motorisierten Transportwesens die Gesellschaft in einer Weise zu verändern, durch die die menschliche Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt wurde. Mit der steigenden Anzahl der Automobile musste ihr Gebrauch umfassend geregelt werden. In dicht besiedelten Gebieten kann man sich mit einem Auto nicht einfach bewegen, wie man will; die eigene Bewegung wird vom Verkehrsfluss und verschiedenen Verkehrsregeln dirigiert. Man ist durch alle möglichen Verpflichtungen gebunden: Antrag auf Fahrerlaubnis, Fahrprüfung, Erneuerung der Fahrzeugmeldung, Versicherung, technische Kontrollen, monatliche Raten. Vor allem aber ist der motorisierte Transport nicht mehr freiwillig. Seit der Einführung des Transportwesens hat sich die Struktur unserer Städte derart verändert, dass die Mehrzahl der Bürger ihren Arbeitsplatz, ihre Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitstätten nicht mehr zu Fuß erreichen können, sodass sie von ihrem Auto abhängig sein MÜSSEN. Oder sie müssen öffentliche Transportmittel benutzen, in diesem Fall haben sie aber noch weniger Kontrolle über ihre eigene Bewegungsfreiheit als in ihrem Auto. Selbst die Freiheit des Fußgängers ist nun stark eingeschränkt. In den Städten muss er ständig an Ampeln warten, die hauptsächlich dem Autoverkehr dienen. Auf dem Lande macht der Autoverkehr das Wandern entlang der großen Straßen gefährlich und unangenehm. (Dieser gerade am Beispiel der Motorisierung erläuterte Punkt ist beachtenswert: Wenn eine neue technologische Errungenschaft als Option eingeführt wird, für oder gegen die der Einzelne sich entscheiden kann, heißt das nicht, dass diese Errungenschaft immer optional BLEIBT. In vielen Fällen verändert die neue Technologie die Gesellschaft auf eine Art und Weise, dass die Menschen sich schließlich dazu GEZWUNGEN sehen, sie zu verwenden.) 128. Während der technologische Prozess ALS GANZES unsere Freiheit kontinuierlich einengt, scheint jede einzelne technische Entwicklung FÜR SICH BETRACHTET als wünschenswert. Elektrizität, fließend Wasser, schnelle Femkommunikations- mittel … wie kann man irgendeines dieser oder anderer Dinge der unzähligen technischen Entwicklungen ablehnen, die die moderne Gesellschaft ausmachen? Es wäre absurd gewesen, etwa der Einführung des Telefons Widerstand zu leisten. Es bot viele Vorteile und keine Nachteile. Und doch haben, wie in den Abschnitten 59-76 erläutert, all diese technischen Entwicklungen zusammengenommen eine Welt geschaffen, in der das Schicksal des gewöhnlichen Menschen nicht mehr in seiner Hand oder der von Nachbarn und Freunden liegt, sondern in denen der Politiker, Firmenmanager und fremder, unbekannter Techniker und Bürokraten, die er als Einzelner nicht beeinflussen kann25. Dieser Prozess wird sich in Zukunft fortsetzen. Ein Beispiel ist die Genmanipulation. Nur wenige werden sich der Einführung einer Gentechnik widersetzen, die Erbkrankheiten ausrottet. Sie richtet keinen sichtbaren Schaden an und verhindert viel Leiden. Und doch wird eine große Zahl von Verbesserungen durch Genmanipulation den Menschen zu einem designten Produkt machen, das nichts mehr mit einer freien Schöpfung des Zufalls (oder Gottes, oder wessen auch immer, je nach Glaubens Vorstellung) zu tun hat. 129. Ein anderer Grund, weshalb die Technologie eine so starke gesellschaftliche Kraft ist, liegt darin, dass der technologische Fortschritt im Umfeld der heute gegebenen Gesellschaft nur in eine Richtung verläuft; er kann nicht rückgängig gemacht werden. Ist eine technische Neuheit erst einmal eingeführt, werden die Menschen von ihr abhängig und können nicht mehr darauf verzichten, außer sie wird durch eine noch fortschrittlichere Neuheit ersetzt. Nicht nur die Menschen als Individuen werden abhängig von der neuen technologischen Errungenschaft, sondern das System als Ganzes wird abhängig. (Man stelle sich vor, was mit dem System passieren würde, wenn beispielsweise Computer heute aus dem Verkehr gezogen würden.) Während die Freiheit vor der Technologie zurückweichen muss, kann diese niemals einen Schritt hinter ihre eigene Entwicklung zurückgehen, weil dies das gesamte technologische System vernichten würde. 130. Technologie entwickelt sich mit großer Geschwindigkeit und bedroht die Freiheit an vielen Stellen gleichzeitig (Überbevölkerung, Gesetze und Vorschriften, zunehmende Abhängigkeit der Einzelnen von großen Organisationen, Propaganda und andere psychologische Techniken, Genmanipulation, Eingriffe in die Privatsphäre durch ständige Überwachung und Computer usw.). Auch nur eine EINZIGE dieser Bedrohungen der Freiheit abzuwenden, würde einen langen und schwierigen sozialen Kampf erfordern. Diejenigen, die die Freiheit schützen wollen, werden von der bloßen Anzahl immer neuer Angriffe und der Schnelligkeit der Technologieentwicklung überwältigt, sodass sie apathisch werden und den Widerstand aufgeben. Jede einzelne Bedrohung getrennt bekämpfen zu wollen, wäre vergeblich. Auf Erfolg kann man nur hoffen, wenn das technologische System als Ganzes bekämpft würde; aber dies wäre Revolution und nicht Reform. 131. Techniker (wir gebrauchen diese Bezeichnung hier in einem weiten Sinn, gemeint sind alle, die eine spezialisierte Tätigkeit ausführen, für die es eine besondere Ausbildung braucht) neigen dazu, sich derart mit ihrer Arbeit (ihrer Ersatzhandlung) zu identifizieren, dass sie sich im Falle eines Konflikts zwischen ihrer technischen Arbeit und Freiheit fast immer für ihre technische Arbeit entscheiden würden. Bei Wissenschaftlern ist dies offensichtlich, aber es tritt auch anderswo auf: Erzieher, Menschenrechtsgruppen, Um Weltorganisationen haben keine Skrupel, Propaganda26 oder andere psychologische Techniken zu benutzen, um die von ihnen angepriesenen Ziele zu erreichen. Privatunternehmen und staatliche Agenturen zögern nicht, Informationen über Individuen einzuziehen, ohne Rücksicht auf deren Privatsphäre. Für Polizei und Sicherheitsdienste sind die in der Verfassung festgelegten Rechte der Verdächtigen und oft völlig unschuldiger Personen häufig ein Störfaktor, und sie tun, was sie legal (und manchmal illegal) tun können, um diese Rechte zu beschränken oder zu umgehen. Die meisten dieser Erzieher, Regierungsbeamten und Polizisten glauben an Freiheit, Privatsphäre und Verfassungsrechte, wenn diese aber im Konflikt mit ihrer Arbeit liegen, setzen sie sich darüber hinweg. 132. Bekanntlich arbeiten Menschen besser und ausdauernder, wenn sie dafür eine Belohnung erwarten, als wenn sie bloß eine Strafe oder eine negative Folge vermeiden wollen. Wissenschaftler und andere Techniker werden hauptsächlich durch Belohnungen motiviert, die sie durch ihre Arbeit bekommen. Diejenigen jedoch, die sich gegen die technologische Invasion der Freiheit wenden, versuchen bloß, eine negative Folge zu vermeiden; deswegen widmen sich nur wenige ausdauernd und gut dieser entmutigenden Aufgabe. Wenn es Reformern je gelänge, einen bemerkenswerten Sieg zu erringen, der einer weiteren Aushöhlung der Freiheit durch technologischen Fortschritt dauerhafte Grenzen zu setzen scheint, würden die meisten sich danach ausruhen und ihre Aufmerksamkeit angenehmeren Aufgaben widmen. Die Wissenschaftler aber würden weiter fleißig in ihren Laboratorien arbeiten, und die Technologie würde sich gegen alle Widerstände ihren Weg bahnen, immer größere Kontrolle über jeden einzelnen Menschen gewinnen und sie mehr und mehr vom System abhängig machen. 133. Kein gesellschaftliches Übereinkommen, seien es Gesetze, Institutionen, Bräuche oder ethische Normen, kann permanenten Schutz gegen die Technologie gewähren. Die Geschichte hat gezeigt, dass alle gesellschaftlichen Übereinkommen nur vorübergehend gelten; sie ändern sich im Laufe der Zeit oder werden schließlich aufgehoben. Der technologische Fortschritt in einer gegebenen Zivilisation dagegen überdauert. Angenommen, man würde eine gesellschaftliche Übereinkunft erreichen, derzufolge Genmanipulationen an Menschen oder da, wo Freiheit und Würde bedroht wären, nicht zugelassen sind, dann wäre die Technologie dafür doch schon vorhanden. Früher oder später würde die Übereinkunft aufgehoben. Wahrscheinlich eher früher, bei der Geschwindigkeit der Veränderungen in unserer Gesellschaft. Dann würde die Genmanipulation beginnen, unsere Freiheit einzuschränken, und diese Einschränkungen wären unumkehrbar (außer die technologische Gesellschaft selbst bräche zusammen). Jegliche Illusion, es könnte durch gesellschaftliche Übereinkünfte irgendetwas Dauerhaftes erreicht werden, sollte allein durch die derzeitigen Entwicklungen in der Umweltschutzgesetzgebung aufgegeben werden. Vor einigen Jahren schien es sichere juristische Grenzen zu geben, die wenigstens EIN PAAR der schlimmsten Umweltzerstörungen verhinderten. Eine Veränderung der politischen Windrichtung, und schon beginnen diese Grenzen zu zerfallen. 134. Aus all den genannten Gründen ist die Technologie eine stärkere gesellschaftliche Kraft als das Streben nach Freiheit – jedoch mit einem Vorbehalt. Es scheint so, als würde das industriell-technologische System in den nächsten Jahrzehnten schweren Belastungen ausgesetzt werden, durch ökonomische und ökologische Probleme, besonders aber durch menschliches Verhalten verursachte Probleme (Entfremdung, Rebellion, Feindseligkeit, verschiedene soziale und psychische Schwierigkeiten). Wir hoffen, dass die Belastungen, denen das System wahrscheinlich ausgesetzt sein wird, es zusammenbrechen lassen oder wenigstens so schwächen werden, dass eine Revolution gegen dieses System möglich wird. Wenn eine solche Revolution eintritt und Erfolg hat, würde dies beweisen, dass das Streben nach Freiheit in diesem besonderen Moment stärker ist als die Technologie. 135. In Abschnitt 125 haben wir das Beispiel des schwachen Nachbarn gebracht, der von einem stärkeren Nachbarn in Not gebracht wird, indem dieser sich in einer Folge von aufgezwungenen Kompromissen das ganze Land des Schwächeren aneignet. Nehmen wir nun an, der starke Nachbar wird lich krank und unfähig, sich zu verteidigen. Der schwache Nachbar kann den starken dazu zwingen, ihm das Land zurückzugeben, oder er kann ihn töten. Lässt er den starken Mann überleben und zwingt ihn nur zur Rückgabe seines Landes, wäre er ein Narr, denn der starke Mann würde ihm das Land wieder wegnehmen, sobald er gesund geworden wäre. Dem Schwachen bleibt keine sinnvolle Alternative als den Starken zu töten, solange er die Chance dazu hat. Genauso müssen wir das industrielle System vernichten, sobald es einmal geschwächt ist. Wenn wir einen Kompromiss eingehen und es sich wieder erholen lassen, dann wird es unsere Freiheit eines Tages endgültig auslöschen. DIE UNLÖSBARKEIT GESELLSCHAFTLICHER PROBLEME 136. Sollte irgendjemand noch immer glauben, man könne das System reformieren und so die Freiheit vor den Auswirkungen der Technologie schützen, so führe er sich vor Augen, wie ungeschickt und meistens auch erfolglos unsere Gesellschaft bisher mit anderen gesellschaftlichen Problemen umgegangen ist, die wesentlich einfacher waren. Unter anderem hat das System beim Kampf gegen Umweltzerstörung, Korruption, Drogenhandel und häusliche Gewalt versagt. 137. Nehmen wir die Umweltprobleme zum Beispiel. Hier liegt der Konflikt ganz klar auf der Hand: unmittelbarer wirtschaftlicher Nutzen gegenüber der Erhaltung wenigstens einiger natürlicher Ressourcen für kommende Generationen27. Doch zu diesem Thema sind von den Machthabern nichts als Geschwätz und Unklarheiten von den Verantwortlichen zu hören, es lässt sich keine klare, konsequente Handlungsfolge erkennen, die Umweltprobleme wachsen weiter und unsere Enkel werden damit leben müssen. Versuche, Umweltfragen zu lösen, haben Streit und Kompromisse unter den verschiedenen Fraktionen ausgelöst, die gegenwärtig noch zunehmen, und immer neue Streitfragen tauchen auf. Die Auseinandersetzung folgt dem raschen Wechsel in der öffentlichen Meinung. Es ist weder ein rationaler Vorgang noch besteht die Aussicht auf eine zeitige und erfolgreiche Lösung des Problems. Die größten sozialen Probleme werden selten oder nie durch einen rationalen, nachvollziehbaren Plan gelöst, wenn sie überhaupt »gelöst« werden. Sie lösen sich höchstens von selbst, indem verschiedene miteinander konkurrierende Gruppen auftauchen, die ihre (kurzfristigen) Eigeninteressen28 verfolgen, und die sich (meistens durch bloßen Zufall) auf einen mehr oder weniger stabilen modus vivendi einigen. Tatsächlich lassen die von uns in den Abschnitten 100-106 dargelegten Prinzipien daran zweifeln, dass vernünftige langfristige gesellschaftliche Planung JEMALS erfolgreich sein kann. 138. Damit wird deutlich, dass die Menschheit, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt fähig ist, selbst relativ einfache gesellschaftliche Probleme zu lösen. Wie soll sie dann das viel schwierigere und subtilere Problem lösen, menschliche Freiheit und Technologie zu versöhnen? Technologie verspricht klare materielle Vorteile, wohingegen Freiheit ein Abstraktum ist, das für unterschiedliche Menschen Unterschiedliches bedeutet, und ihr Verlust ist durch Propaganda und modisches Geschwätz leicht zu verschleiern. 139. Man sollte einen wichtigen Unterschied beachten: Es ist denkbar, dass (zum Beispiel) unsere Umweltprobleme eines Tages durch vernünftige und einsichtige Planung geregelt werden könnten, aber wenn das geschieht, dann nur deshalb, weil eine solche Lösung langfristig im Interesse des Systems wäre. Es ist aber NICHT im Interesse des Systems, Freiheit oder die Autonomie kleiner Gruppen zu bewahren. Im Gegenteil, es ist im Interesse des Systems, menschliche Verhaltensformen in höchstmöglichem Maße zu kontrollieren29. Somit kann das System zwar aus praktischen Gründen zu klugem und überlegtem Handeln hinsichtlich der Umweltprobleme gezwungen sein, gleichermaßen praktische Gründe aber werden es zwingen, menschliches Verhalten immer stärker zu regulieren (vorzugsweise durch indirekte Maßnahmen, die die Einschränkung der Freiheit verschleiern). Das ist nicht nur unsere Meinung. Bekannte Sozialwissenschaftler (z.B. James Q. Wilson) haben die Bedeutung der »Anpassung« der Menschen ausführlich dargelegt.

REVOLUTION IST EINFACHER ALS REFORM

140. Wir hoffen, den Leser davon überzeugt zu haben, dass das System nicht derart reformieren kann, das? Freiheit und Technologie miteinander versöhnt würden. Der einzige Ausweg ist, das industriell-technologische System als Ganzes abzuschaffen. Das bedeutet Revolution, nicht unbedingt einen bewaffneten Aufstand, aber sicherlich eine radikale und fundamentale Veränderung des Wesens der Gesellschaft. 141. Die Leute glauben, dass eine Revolution, weil sie viel größere Veränderungen mit sich bringt als eine Reform, deshalb auch schwieriger zu realisieren wäre. Tatsächlich aber ist eine Revolution unter bestimmten Umständen viel leichter durchführbar als eine Reform. Der Grund liegt darin, dass eine revolutionäre Bewegung ein viel begeisterteres Engagement entfachen kann als eine Reformbewegung. Eine Reformbewegung verspricht bloß, ein einzelnes gesellschaftliches Problem zu lösen. Eine revolutionäre Bewegung verspricht mit einem Schlag alle Probleme zu lösen und eine ganz neue Welt zu schaffen; sie bietet ein Ideal, für das Menschen große Risiken auf sich nehmen und große Opfer bringen. Deshalb wäre es viel leichter, das ganze technologische System zu besiegen, als der Entwicklung oder Anwendung irgendeiner Technologie, der Genmanipulation zum Beispiel, effiziente, dauerhafte Beschränkungen aufzuerlegen. Nicht viele Menschen werden sich mit ganzer Kraft und Leidenschaft der Aufgabe widmen, Einschränkungen der Genmanipulation durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, aber unter günstigen Umständen werden sich viele Menschen begeistert einer Revolution gegen das industriell-technologische System anschließen. Wie wir in Abschnitt 132 dargelegt haben, versuchen Reformer, die bestimmte Aspekte der Technologie einschränken wollen, bloß negative Folgen zu verhindern. Das Ziel der Revolutionäre ist dagegen die Erfüllung ihrer Vision, und dafür können sie sich ungleich stärker und ausdauernder einsetzen als die Reformer. 142. Reform wird immer durch die Angst behindert, die Folgen der Veränderungen könnten zu weitgehend sein. Wenn aber die ganze Gesellschaft erst einmal vom revolutionären Fieber ergriffen ist, sind die Menschen bereit, für ihre Revolution grenzenlose Mühen auf sich zu nehmen. Das haben die Französische und die Russische Revolution bewiesen. Es mag sein, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung die Revolution wirklich unterstützt, aber diese Minderheit ist stark und aktiv genug, um die beherrschende Kraft der Gesellschaft zu werden. Über Revolution werden wir ausführlicher in den Abschnitten 180-205 sprechen.

KONTROLLE MENSCHLICHEN VERHALTENS

143. Seit es Zivilisation gibt, haben organisierte Gesellschaften Druck auf Menschen ausgeübt, damit der soziale Organismus funktionieren konnte. Die Art der Unterdrückung ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Es gibt physische (Hungerrationen, Zwangsarbeit, Umweltverschmutzung) und psychologische Unterdrückung (Lärm, hohe Bevölkerungsdichte, Anpassung des menschlichen Verhaltens an die Erfordernisse der Gesellschaft). In der Vergangenheit hat sich die menschliche Natur kaum oder jedenfalls nur geringfügig verändert. Deshalb hatte der Druck, der auf die Menschen ausgeübt werden konnte, Grenzen. Sind diese Grenzen des menschlichen Durchhaltevermögens erreicht, dann beginnen die Probleme: Aufruhr, Verbrechen, Korruption, Arbeitsverweigerung, Depression oder andere mentale Probleme, erhöhte Todesrate, Geburtenrückgang oder Ähnliches, sodass die Gesellschaft entweder zusammenbricht oder ihr Funktionieren so fehlerhaft wird, dass sie (plötzlich oder allmählich, durch Eroberung, Zermürbung oder Evolution) durch eine leistungsfähigere Gesellschaftsform abgelöst wird30. 144. Auf diese Weise hat die menschliche Natur in der Vergangenheit der Entwicklung von Gesellschaften gewisse Grenzen gesetzt. Der Mensch konnte nur bis zu einem bestimmten Punkt Druck ertragen. Doch heute mag sich auch das ändern, weil die moderne Technologie Wege gefunden hat, die menschliche Natur zu verändern. 145. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, die Menschen Lebensbedingungen unterwirft, die sie sehr unglücklich machen, und ihnen dann Drogen verabreicht, die das Gefühl des Unglücklichseins beseitigen. Science-Fiction? Dies ist in gewissem Umfang in unserer eigenen Gesellschaft bereits üblich. Wie weithin bekannt, sind die Fälle klinischer Depression in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegen. Wir sind überzeugt, dass dies auf die Störung des power process zurückzuführen ist, wie in den Abschnitten 59-76 erläutert. Selbst wenn wir uns irren sollten, ist dieser Anstieg von Depressionen doch auf jeden Fall das Ergebnis EINIGER Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft. Anstatt die Bedingungen zu beseitigen, die die Menschen deprimieren, verabreicht ihnen die moderne Gesellschaft antidepressive Drogen. Im Endeffekt sind Antidepressiva ein Mittel, den inneren Zustand einer Person so zu verändern, dass sie nun die sozialen Bedingungen aushalten kann, die ihr sonst unerträglich wären. (Ja, wir wissen, dass Depression oft rein genetisch bedingt ist. Wir beziehen uns hier auf die Fälle, in denen die Umwelt eine wichtige Rolle spielt.) 146. Drogen, die auf das Bewusstsein einwirken, sind nur ein Beispiel für die neuen Methoden, die die Gesellschaft zur Kontrolle menschlichen Verhaltens entwickelt. Werfen wir einen Blick auf einige andere Methoden. 147. Da gibt es zunächst einmal die Überwachungstechniken. Versteckte Kameras werden inzwischen in den meisten Geschäften eingesetzt, und an vielen anderen Orten ist der Einsatz von Computern üblich, um zahlreiche Informationen über Einzelpersonen zu sammeln und auszuwerten. Mit den auf solche Weise gesammelten Informationen lässt sich verstärkt Druck ausüben (Polizei z.B.31). Dann gibt es die Propagandamethoden der Massenmedien. Es wurden wirksame Methoden entwickelt, um Wahlen zu gewinnen, Produkte zu verkaufen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Unterhaltungsindustrie stellt ein wichtiges psychologisches Werkzeug des Systems dar, auch dann, wenn sie viel Sex und Gewalt zeigen. Unterhaltung ermöglicht dem modernen Menschen, seiner Realität vorübergehend zu entfliehen. Während er vor dem Fernseher oder Videogerät sitzt, kann er Stress, Ängste, Enttäuschungen und Unzufriedenheit vergessen. Viele primitive Völker sind im Einklang mit sich selbst und der Welt, sie können deshalb, wenn die Arbeit getan ist, stundenlang herumsitzen ohne etwas zu tun. Der moderne Mensch dagegen muss ständig beschäftigt oder unterhalten werden, sonst »langweilt« er sich, d.h. er wird unruhig, fühlt sich unbehaglich und gereizt. 148. Andere Techniken gehen weiter als die zuvor beschriebenen. Erziehung besteht nicht mehr nur darin, einem Kind den Hintern zu versohlen, wenn es seine Schulaufgaben nicht gemacht hat und ihm den Kopf zu streicheln, wenn es sie gut gemacht hat. Es ist zu einer wissenschaftlichen Aufgabe geworden, die Entwicklung des Kindes zu überwachen. Sylvan Learning Centers etwa waren sehr erfolgreich darin, Kinder zum Lernen zu motivieren, und ihre psychologischen Methoden wurden in vielen herkömmlichen Schulen mehr oder weniger erfolgreich eingesetzt. Eltern wird in »Eltemschulen« beigebracht, ihren Kindern die Grundwerte des Systems richtig zu vermitteln und ihr Verhalten nach den Wünschen des Systems zu formen. Programme zur »geistigen Gesundheit«, Methoden der »Intervention«, Psychotherapie u.a. wurden vorgeblich zum Nutzen der Menschen entwickelt, in Wirklichkeit dienen sie aber dazu, das Denken und Verhalten der Menschen dem System anzupassen. (Hierin liegt kein Widerspruch; eine Person, deren Einstellung oder Verhalten zu Konflikten mit dem System führt, stellt sich gegen eine Macht, die zu groß ist, als dass sie überwunden werden oder man ihr entkommen könnte, also wird sie wahrscheinlich unter Stress, Niedergeschlagenheit und Frustration leiden. Sie hat es wesentlich leichter, wenn sie so denkt und handelt, wie das System es erfordert. In diesem Sinne handelt das System für das Wohlergehen des Einzelnen, wenn es ihn durch Gehirnwäsche der Gesellschaft anpasst.) Kindesmisshandlung in ihren krassen und offensichtlichen Formen wird in den meisten, wenn nicht allen Kulturen verurteilt. Ein Kind aus trivialen oder gar keinen Gründen zu quälen, schreckt nahezu jeden ab. Aber viele Psychologen fassen Kindesmisshandlung viel weiter. Sind Prügel als Maßnahme in einem rationalen und konsequenten Disziplinarsystem eine Form der Misshandlung? Diese Frage wird letztlich dadurch entschieden, ob körperliche Züchtigung zu systemkonformem Verhalten führt. Das Wort »Misshandlung« wird in der Praxis als Sammelbegriff für alle Arten von Kindererziehung benutzt, die zu Verhalten führen, das nicht ins System passt. Wo Programme zur Verhinderung von »Kindesmissbrauch« über das Verhindern von offensichtlicher, sinnloser Grausamkeit hinausgehen, sind sie auf die Kontrolle systemkonformen menschlichen Verhaltens ausgerichtet. 149. Vermutlich wird die Forschung die Leistungsfähigkeit psychologischer Methoden zur Kontrolle menschlichen Verhaltens weiter steigern. Wir denken aber, dass psychologische Methoden allein wahrscheinlich nicht ausreichen, um Menschen einer Gesellschaft anzupassen, wie sie durch Technologie geschaffen wird. Man wird wahrscheinlich auch biologische Methoden anwenden müssen. Wir haben den Gebrauch von Drogen in diesem Zusammenhang bereits erwähnt. Die Neurologie könnte ein anderer Weg zur Veränderung des menschlichen Bewusstseins sein. Genmanipulation am Menschen tritt als »Gentherapie« bereits auf, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass solche Methoden nicht irgendwann angewandt werden, um diejenigen körperlichen Aspekte zu verändern, die das mentale Funktionieren steuern. 150. Wie wir in Abschnitt 134 erwähnten, wird die industrielle Gesellschaft bald starken Belastungen durch Umwelt- und Wirtschaftsprobleme sowie durch menschliche Verhaltensweisen ausgesetzt werden. Und ein beachtlicher Teil dieser Wirtschafts- und Umweltprobleme des Systems wird durch menschliches Verhalten verursacht. Entfremdung, mangelndes Selbstwertgefühl, Depressionen, Feindseligkeit, Rebellion, Lernverweigerung bei Kindern, Jugendbanden, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung, andere Kriminalität, ungeschützter Sex, Schwangerschaften bei Jugendlichen, Bevölkerungsexplosion, politische Korruption, Rassenhass, ethnische Auseinandersetzungen, ideologische Konflikte (z.B. über Abtreibungen), politischer Extremismus, Terrorismus, Sabotage, Regierungsgegner. All dies bedroht das schiere Überleben des Systems. Es ist daher GEZWUNGEN, alle praktischen Möglichkeiten zur Kontrolle menschlichen Verhaltens anzuwenden. 151. Die heute erkennbare gesellschaftliche Zerstörung ist keineswegs Ergebnis eines bloßen Zufalls, sondern kann nur das Ergebnis von Lebensbedingungen sein, die das System den Menschen auferlegt hat. (Wie wir bereits dargelegt haben, ist einer der Hauptgründe die Störung des power process) Wenn es dem System gelingt, das menschliche Verhalten einer ausreichenden Kontrolle zu unterwerfen, die sein eigenes Überleben sichert, wäre ein Wendepunkt der Menschheitsgeschichte erreicht. Während die Grenzen menschlichen Durchhaltevermögens früher auch der Entwicklung von Gesellschaften Grenzen setzten (wie in den Abschnitten 143 und 144 erklärt), wird die industriell-technologische Gesellschaft in der Lage sein, diese Grenzen zu überschreiten, indem sie Menschen verändert, sei es durch psychologische oder biologische Methoden oder beides. In Zukunft werden Gesellschaftssysteme nicht mehr den menschlichen Bedürfnissen angepasst. Statt dessen werden die Menschen den Bedürfnissen des Systems angepasst32. 152. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass technologische Kontrolle über menschliches Verhalten wahrscheinlich nicht unbedingt mit totalitären Absichten eingeführt werden wird oder gar aus einem bewussten Verlangen, menschliche Freiheit zu beschränken33. Jeder weitere Schritt auf dem Weg zur Kontrolle über menschliches Bewusstsein wird für eine rationale Antwort auf ein Problem gehalten werden, mit dem die Gesellschaft konfrontiert ist, etwa Alkoholismus zu heilen, die Kriminalitätsrate zu senken oder die Jugend dazu zu bringen, Wissenschaften und Technik zu studieren. In den meisten Fällen wird sich eine humanitäre Rechtfertigung finden. Zum Beispiel, wenn ein Psychiater einem depressiven Patienten ein antidepressives Medikament verschreibt, tut er dem Kranken ganz klar einen Gefallen. Es wäre unmenschlich, jemandem das Medikament vorzuenthalten, der es benötigt. Wenn Eltern ihre Kinder in Sylvan Learning Center schicken, damit sie so manipuliert werden, dass sie mit Begeisterung lernen, dann tun sie das aus Sorge um das Wohl ihrer Kinder. Vielleicht wäre es einigen Eltern lieber, es wäre nicht nötig, eine Spezialausbildung zu absolvieren, um einen Job zu bekommen, und dass ihre Kinder keiner Gehirnwäsche unterzogen werden müssten, die sie zu Computerfreaks macht. Aber was bleibt ihnen übrig? Sie können die Gesellschaft nicht ändern, und ihre Kinder bekommen keine Arbeit, wenn sie bestimmte Fähigkeiten nicht gelernt haben. So werden sie also ihre Kinder in das Center schicken. 153. Somit wird die Kontrolle menschlichen Verhaltens nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung der Behörden eingeführt, sondern im Zuge eines gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses (aber eines SCHNELLEN Prozesses). Es ist unmöglich, sich diesem Prozess entgegenzustellen, weil jede Entwicklung für sich gesehen nützlich scheint, oder wenigstens scheint das mit der Entwicklung einhergehende Übel geringer als das Übel, das man auf sich zu nehmen hat, wenn man diese Entwicklung nicht zulässt. (Vgl. Abschnitt 128) Propaganda wird beispielsweise für viele gute Zwecke benutzt, gegen Kindesmissbrauch oder Rassenhass34. Sexuelle Aufklärung ist zweifellos nützlich, dennoch wird durch sexuelle Aufklärung (wenn sie erfolgreich ist) der Familie die Einflussnahme auf sexuelles Verhalten genommen und dem Staat, vertreten durch das öffentliche Schulsystem, übertragen. 154. Nehmen wir an, man würde eine biologische Veranlagung entdecken, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Kind verbrecherische Neigungen entwickeln wird, und nehmen wir weiter an, eine bestimmte Gentherapie könnte diese Veranlagung ausschalten35. Selbstverständlich würden die meisten Eltern, deren Kinder solche Anlagen hätten, sie der Therapie unterziehen. Alles andere wäre inhuman, da das Kind sonst vielleicht ein elendes Leben als Verbrecher führen müsste. Aber die meisten oder sogar alle primitiven Gesellschaften haben eine niedrige Verbrecherrate verglichen mit der unserer Gesellschaft, obwohl sie weder über High-Tech-Methoden der Kindererziehung verfügen noch über ein strenges Strafsystem. Da es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass mehr moderne Menschen als primitive Menschen kriminell veranlagt wären, muss die hohe Kriminalitätsrate in unserer Gesellschaft auf den Druck zurückgeführt werden, den die modernen Lebensbedingungen auf die Menschen ausüben und dem sich viele Menschen nicht beugen können oder wollen. Also wäre eine Behandlung, die potenzielle kriminelle Tendenzen ausschaltet, wenigstens teilweise schon eine Manipulation oder ein Neudesign des Menschen mit dem Zweck, diesen den Anforderungen des Systems anzupassen. 155. Unsere Gesellschaft neigt dazu, jedes Denken oder Verhalten, das dem System unbequem ist, als »Krankheit« anzusehen, und das ist nur plausibel, denn wenn eine Person nicht ins System passt, ist dies für die Person genauso schmerzhaft wie es dem System Probleme bereitet. Also betrachtet man die Manipulation von Menschen zwecks Anpassung an das System als »Heilung« einer »Krankheit«, und also als etwas Gutes. 156. ln Abschnitt 127 haben wir dargestellt, dass die Benutzung einer neuen technologischen Erfindung ANFANGS zwar optional sein mag, dies aber nicht unbedingt so BLEIBEN muss, weil die neue Technologie die Gesellschaft derart verändert, dass es für den Einzelnen schwierig oder unmöglich wird, ohne diese Technologie auszukommen. Das lässt sich auch auf Technologien zur Verhaltenskontrolle anwenden. In einer Welt, in der die meisten Kinder durch spezielle Programme zum Lernen motiviert werden, werden alle Eltern geradezu gezwungen, auch ihre Kinder einem solchen Programm zu unterziehen, denn würden sie das nicht tun, blieben ihre Kinder vergleichsweise ungebildet und würden später keine Arbeit finden. Oder angenommen, man würde eine biologische Behandlungsmethode ohne unerwünschte Nebenwirkungen entdecken, die den psychischen Stress, unter dem so viele Menschen in unserer Gesellschaft leiden, weitgehend verringern würde. Wenn viele Menschen sich dieser Behandlung unterzögen, wäre damit der allgemeine Grad an Stress in der Gesellschaft vermindert, und das System hätte einen größeren Spielraum, die psychologischen Belastungen weiter zu erhöhen. Das würde dazu führen, dass mehr Menschen sich der Behandlung unterziehen und so weiter, so- dass der Druck schließlich so stark würde, dass kaum ein Mensch fähig wäre, ohne die stressreduzierende Behandlung zu überleben. Tatsächlich scheint so etwas bereits geschehen zu sein, nämlich in Form der Massenunterhaltung, die eines der wichtigsten psychologischen Mittel unserer Gesellschaft ist, um die Menschen dazu zu bringen, Stress zu ertragen (oder ihm wenigstens vorübergehend zu entkommen). (Vgl. Abschnitt 147) Unser Gebrauch der Massenunterhaltung ist »optional«: Kein Gesetz zwingt uns dazu fernzusehen, Radio zu hören, Zeitschriften zu lesen. Dennoch ist Massenunterhaltung ein Mittel zur Flucht und zur Stressreduzierung, von dem die meisten von uns abhängig geworden sind. Jeder beschwert sich über die schlechten Fernsehsendungen, aber fast jeder sieht sie sich an. Nur wenige haben das Fernsehen aufgegeben, aber nur selten gibt es heute noch jemanden, der ohne JEDE Form der Massenunterhaltung zurechtkommt. (Und doch kannten die meisten Menschen in der Menschheitsgeschichte bis vor Kurzem keine andere Unterhaltung als die, die ihre eigene kleine Gemeinschaft geschaffen hatte, und waren damit zufrieden.) Ohne die Unterhaltungsindustrie hätte uns das System nicht so viel Stress hervorrufendem Druck aus setzen können, wie es zur Zeit der Fall ist. 157. Angenommen, die industrielle Gesellschaft überlebt, dann wird die Technologie wahrscheinlich in der Lage sein, menschliches Verhalten völlig zu kontrollieren. Es ist ohne jeden Zweifel bewiesen, dass menschliches Bewusstsein und Verhalten vor allem eine biologische Grundlage haben. Wie Versuche gezeigt haben, können Gefühle wie Hunger, Freude, Ärger und Angst durch elektrische Stimulation gewisser Gehirnteile hervorgerufen oder abgeschaltet werden. Die Erinnerung kann durch die Zerstörung von Teilen des Gehirns ausgelöscht oder durch elektrische Stimulation wiederbelebt werden. Halluzinationen und Stimmungen können durch Drogen verändert werden. Es mag eine immaterielle menschliche Seele geben oder nicht, aber wenn es sie gibt, wirkt sie deutlich schwächer als die biologischen Mechanismen auf das menschliche Verhalten ein. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, wären die Forscher nicht in der Lage, menschliche Gefühle und Verhalten mittels Drogen und Strom so leicht zu manipulieren. 158. Vermutlich wäre es nicht durchführbar, allen Menschen Elektroden ins Hirn einzupflanzen, damit sie von den Behörden kontrolliert werden können. Aber die Tatsache, dass das menschliche Bewusstsein und Gefühlsleben biologischen Eingriffen offenstehen, macht deutlich, dass es sich bei dem Problem der Kontrolle menschlichen Verhaltens lediglich um ein technisches Problem handelt; ein Problem von Neuronen, Hormonen und komplexen Molekülen; die Art von Problemen, die mit wissenschaftlichen Mitteln zu lösen sind. Wenn man die außergewöhnliche Bilanz unserer Gesellschaft bei der Lösung technischer Probleme betrachtet, ist es überwältigend wahrscheinlich, dass auch bei der Verhaltenskontrolle große Fortschritte erzielt werden. 159. Würde öffentlicher Widerstand die Einführung technologischer Kontrolle menschlichen Verhaltens verhindern? Wenn eine solche plötzlich und auf ein Mal eingeführt würde, wäre das sicherlich möglich. Da die technologische Kontrolle aber nur ganz allmählich durch eine Reihe kleiner Schritte eingeführt werden wird, wird es keinen rationalen und wirksamen öffentlichen Widerstand dagegen geben. (Vgl. Abschnitte 127, 132 und 153) 160. Diejenigen, die meinen, alles hier Gesagte höre sich zu sehr nach Science-Fiction an, seien daran erinnert, dass die Science-Fiction von gestern die Tatsachen von heute sind. Die industrielle Revolution hat die Umgebung und die Lebensweise des Menschen radikal verändert, und es ist nur zu erwarten, dass der Mensch selbst, je mehr Technologie auf seinen Körper und sein Bewusstsein angewandt wird, sich genauso radikal verändern wird wie seine Umwelt und seine Lebensweise verändert wurden. DIE MENSCHHEIT AM SCHEIDEWEG 161. Doch wir greifen voraus. Es ist eine Sache, in Laborversuchen psychologische und biologische Techniken zur Manipulation menschlichen Verhaltens durchzuführen, und eine ganz andere, diese Techniken in ein funktionierendes soziales System zu integrieren. Das Letztere ist weitaus schwieriger. So kann es zum Beispiel sehr schwierig sein, die erziehungspsychologischen Techniken, die in den sogenannten »Lab Schools«, wo sie entwickelt wurden, zweifellos sehr gut funktionieren, auch im gesamten allgemeinen Erziehungssystem effizient anzuwenden. Wir wissen alle, was an vielen unserer Schulen heute los ist. Die Lehrer sind zu sehr damit beschäftigt, die Messer und Waffen der Kinder einzuziehen, sie können sie nicht auch noch den neuesten Techniken unterziehen, die sie zu Computerfreaks machen sollen. Somit ist das System bisher trotz aller technischen Fortschritte im Bereich der Kontrolle menschlichen Verhaltens nicht sehr erfolgreich in der Kontrolle von Menschen. Die Menschen, deren Verhalten bereits weitgehend vom System kontrolliert wird, sind die sogenannten »Bourgeois«. Doch es wächst die Zahl der Menschen, die auf die eine oder andere Weise gegen das System rebellieren: Sozialhilfeschmarotzer, Jugendbanden, Sektenanhänger, Satanisten, Nazis, radikale Umweltschützer, Milizen u.a. 162. Das System führt seit einiger Zeit einen verzweifelten Kampf gegen gewisse Probleme, die sein Überleben bedrohen, und die größten dieser Probleme werden durch menschliches Verhalten verursacht. Wenn es dem System schnell genug gelingt, ausreichende Kontrolle über das menschliche Verhalten zu erlangen, dann wird es wahrscheinlich überleben. Andernfalls wird es zusammenbrechen. Wir glauben, dass sich diese Frage in den nächsten paar Jahrzehnten entscheiden wird, in etwa 40 bis 100 Jahren. 163. Nehmen wir an, das System überlebt die Krise in den nächsten Jahrzehnten. In dieser Zeit muss es ihm gelungen sein, seine Hauptprobleme zu lösen oder wenigstens zu kontrollieren, besonders das Problem der »Anpassung« der Menschen ans System; im Klartext, die Menschen müssen so gefügig gemacht werden, dass ihr Verhalten das System nicht länger bedrohen kann. Ist das einmal erreicht, gibt es keine Hürden mehr für die technologische Entwicklung, und die logische Konsequenz würde darin bestehen, alles auf der Erde vollständig kontrollieren zu können, einschließlich der Menschen und aller anderen wichtigen Lebensformen. Das System könnte dann zu einer einheitlichen, monolithischen Organisation werden oder mehr oder weniger fragmentiert sein und aus einer Reihe von nebeneinander existierenden Organisationen bestehen, die gleichzeitig miteinander kooperieren und konkurrieren, so wie heute Regierung, Unternehmen und große Organisationen sowohl miteinander kooperieren als auch konkurrieren. Menschliche Freiheit wird dann so gut wie verschwunden sein, weil Einzelpersonen und kleine Gruppen den großen Organisationen machtlos gegenüberstehen, die mit Supertechnologien und einem Arsenal von fortschrittlichen psychologischen und biologischen Methoden zur Manipulation von Menschen ausgerüstet sind, ganz abgesehen von Instrumenten zur Überwachung und dem Monopol physischer Gewalt. Nur eine kleine Gruppe von Menschen hat dann wirkliche Macht, und selbst diese werden nur eine begrenzte Freiheit haben, denn auch ihr Verhalten wird reguliert werden; ganz wie unsere Politiker und Aufsichtsräte ihre Machtpositionen heute nur so lange halten können, wie ihr Verhalten innerhalb gewisser enger Grenzen bleibt. 164. Man glaube bloß nicht, dass das System aufhören wird, weitere Techniken zur Kontrolle von Mensch und Natur zu entwickeln, auch wenn die Krise der nächsten Jahrzehnte überwunden und weitere Kontrolle für das Überleben des Systems nicht länger notwendig sein wird. Im Gegenteil, wenn diese schwierigen Zeiten vorüber sind, wird das System seine Kontrolle über Mensch und Natur noch schneller verstärken, um nicht erneut von Problemen aufgehalten zu werden wie denen, die es gerade überwunden hat. Der Wille zu überleben ist nicht das Hauptmotiv für das Ausdehnen der Kontrolle. Wie wir in den Abschnitten 87-90 erklärt haben, ist die Arbeit der Wissenschaftler und Techniker für sie eine Ersatzhandlung; das heißt, sie befriedigen ihr Machtbedürfnis, indem sie technologische Probleme lösen. Sie werden mit ungebremster Begeisterung damit fortfahren, und eines der interessantesten und herausforderndsten Probleme wird sein, den menschlichen Körper und das menschliche Bewusstsein zu verstehen und in ihre Entwicklung einzugreifen. Alles »zum Besten der Menschheit«, selbstverständlich. 165. Doch nehmen wir nun im Gegenteil an, die Belastungen der kommenden Jahrzehnte erweisen sich als zu stark für das System. Wenn es zusammenbricht, gäbe es zunächst eine Periode des Chaos, eine »Zeit der Unruhe«, wie man sie aus verschiedenen anderen Geschichtsepochen der Vergangenheit kennt. Es ist unmöglich vorauszusagen, was aus dieser Zeit der Unruhe hervorgehen würde, in jedem Fall aber hätte die Menschheit eine neue Chance. Die größte Gefahr wäre dann, dass sich die industrielle Gesellschaft in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch wieder konsolidiert. Mit Sicherheit wird es viele Menschen geben (besonders die machtgierigen Charaktere), die dafür Sorge tragen, die Fabriken wieder in Gang zu bringen. 166. Daher stellen sich denen, die die Sklaverei, zu der das industrielle System die Menschheit erniedrigt, bekämpfen wollen, zwei Aufgaben. Erstens müssen wir daran arbeiten, den gesellschaftlichen Druck innerhalb des Systems noch zu verstärken, um die Wahrscheinlichkeit seines Zusammenbruchs zu erhöhen oder es genügend zu schwächen, um dadurch eine Revolution möglich zu machen. Zweitens muss man eine Ideologie entwickeln und propagieren, die sich gegen die Technologie und die industrielle Gesellschaft richtet. Solch eine Ideologie kann dann die Basis der Revolution gegen die industrielle Gesellschaft sein. Und solch eine Ideologie kann dabei helfen sicherzustellen, dass im Falle und zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der industriellen Gesellschaft ihre Überreste völlig zerstört werden, sodass sich das System nicht wieder konsolidieren kann. Fabriken müssen zerstört, technische Lehrbücher verbrannt werden usw. MENSCHLICHES LEIDEN 167. Das industrielle System wird nicht einfach als Ergebnis revolutionärer Aktionen zusammenbrechen. Es wird erst und nur dann durch revolutionäre Angriffe verwundbar, wenn seine internen Entwicklungsprobleme zu ernsthaften Schwierigkeiten geführt haben. Das System wird also entweder von selbst zusammenbrechen oder in einem Prozess, der zum Teil von selbst abläuft und zum Teil durch die Revolutionäre beschleunigt wird. Erfolgt der Zusammenbruch plötzlich, werden viele Menschen sterben, denn die Weltbevölkerung hat dermaßen zugenommen, dass sie nicht einmal mehr in der Lage ist, sich ohne fortgeschrittene Technologie zu ernähren. Selbst wenn sich der Zusammenbruch so allmählich vollzieht, dass die Bevölkerung vor allem durch eine sinkende Geburten- und weniger durch eine steigende Todesrate verringert werden kann, wird der Prozess der De-Industrialisierung wahrscheinlich sehr chaotisch sein und viel Leiden verursachen. Es wäre naiv zu glauben, die Technologie könnte nach einem wohlorganisierten, glatt verlaufenden Plan einfach abgebaut werden, besonders wo doch die Technologieanhänger hartnäckig gegen jeden Schritt kämpfen werden. Ist es deshalb grausam, für den Zusammenbruch des Systems zu kämpfen? Das wird sich zeigen. Erstens werden Revolutionäre überhaupt nur dann in der Lage sein, das System zu zerstören, wenn es schon so gestört ist, dass es sehr wahrscheinlich bald von selbst zerfallen würde; und je umfassender sich das System ausgedehnt hat, desto verheerender werden die Konsequenzen seines Zusammenbruchs sein, sodass die Revolutionäre, die den Zusammenbruch beschleunigen, das Ausmaß der Katastrophe eher verringern. 168. Zweitens hat man Kampf und Tod gegen den Verlust von Freiheit und Würde abzuwägen. Für viele von uns bedeuten Freiheit und Würde mehr als ein langes Leben oder die Vermeidung von körperlichen Schmerzen. Außerdem müssen wir alle einmal sterben, und es ist vielleicht besser, im Kampf ums Überleben oder für eine Sache zu sterben, als ein langes, aber leeres und sinnloses Leben zu führen. 169. Drittens ist es keineswegs sicher, dass das Überleben des Systems weniger schlimme Folgen hätte als sein Zusammenbruch. Das System ist die Ursache vieler Leiden in Vergangenheit und Gegenwart auf der ganzen Welt. Alte Kulturen, in denen Menschen jahrhundertelang im Einklang miteinander und mit ihrer Umwelt lebten, wurden durch den Kontakt mit der industriellen Gesellschaft zerstört, und das Ergebnis ist eine lange Liste von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, psychologischen und Umweltproblemen. Eine Folge des Eindringens der industriellen Gesellschaft war, dass überall in der Welt die natürliche Kontrolle des Bevölkerungswachstums aus dem Gleichgewicht geraten ist. Daher die Bevölkerungsexplosion mit all ihren Folgen. Eine andere Folge sind die in den vermeintlich glücklichen Ländern der westlichen Welt weit verbreiteten psychologischen Krankheiten (vgl. Abschnitte 44-45). Niemand kann jetzt schon die Folgen des Ozonlochs, des Treibhauseffekts oder anderer Umweltprobleme Voraussagen. Wie die Weitergabe von nuklearem Material gezeigt hat, lässt sich nicht verhindern, dass neue Technologien in die Hand von Diktatoren und verantwortungslosen Dritte-Welt-Ländern geraten. Möchten Sie sich vorstellen, wie der Irak oder Nordkorea Genmanipulation anwenden würden? 170. »Oh!«, sagen die Technologieanhänger, »die Wissenschaft bringt das alles in Ordnung! Wir werden Hunger überwinden, psychisches Leiden ausrotten und jedermann gesund und glücklich machen!« Ja, sicher. Das haben sie schon vor 200 Jahren gesagt. Die industrielle Revolution sollte die Armut beseitigen, jedermann glücklich machen usw. Aber das heutige Ergebnis sieht ganz anders aus. Die Technologieanhänger sind hoffnungslos naiv (oder sie täuschen sich selbst) in ihrer Auffassung gesellschaftlicher Probleme. Sie merken nicht (oder wollen nicht merken), dass große Veränderungen, selbst scheinbar zunächst positive, nicht in einer Gesellschaft eingeführt werden können, ohne eine lange Folge anderer Veränderungen hervorzurufen, von denen die meisten nicht vorhersehbar sind (vgl. Abschnitt 103). Das Ergebnis ist die Zerstörung der Gesellschaft. So ist es sehr wahrscheinlich, dass die Technologieanhänger bei ihren Versuchen, Armut und Krankheit zu besiegen und unterwürfige, glückliche Persönlichkeiten zu konstruieren usw., Gesellschaftssysteme schaffen werden, die von viel schlimmeren Problemen geplagt werden als die heutigen. Zum Beispiel brüsten sich Wissenschaftler damit, dass sie den Hunger durch neue genmanipulierte Nutzpflanzen besiegen werden. Aber damit wird die menschliche Bevölkerung unendlich anwachsen können, und es ist bekannt, dass eine hohe Bevölkerungsdichte zu Stress und Aggression führt. Das ist nur ein Beispiel der VORAUSSAGBAREN Probleme, die auftreten werden. Wir betonen, dass technischer Fortschritt, wie vergangene Erfahrungen gezeigt haben, andere neue Probleme aufwirft, die NICHT vorhersehbar sind (vgl. Abschnitt 103). Tatsächlich nämlich hat die Technologie seit der industriellen Revolution viel schneller neue gesellschaftliche Probleme geschaffen als alte gelöst werden konnten. So würde es eine lange und schwierige Periode von Versuch und Irrtum brauchen, damit die Technologieanhänger die Macken ihrer Schönen Neuen Welt wieder in Ordnung bringen können (falls sie das jemals tun werden). In der Zwischenzeit wird es viel Leiden geben. Deshalb ist es überhaupt nicht sicher, ob das Überleben der industriellen Gesellschaft weniger Leiden bringen würde als ihr Zusammenbruch. Die Technologie hat die Menschheit in eine Falle geführt, aus der sie wohl nicht so leicht entkommen wird. DIE ZUKUNFT 171. Nehmen wir nun an, dass die industrielle Gesellschaft die nächsten Jahrzehnte überlebt und das System schließlich von seinen Fehlem weitgehend befreit wird, sodass es reibungslos funktioniert. Was wäre es dann für eine Art von System? Wir wollen verschiedene Möglichkeiten betrachten. 172. Gehen wir zunächst von der Prämisse aus, es sei den Computerwissenschaftlern gelungen, intelligente Maschinen zu entwickeln, die alle Dinge besser können als der Mensch. Es würden wahrscheinlich alle Arbeiten durch umfassende, hoch organisierte Maschinensysteme erledigt, und menschliche Anstrengungen wären nicht mehr notwendig. Dann könnte man entweder zulassen, dass die Maschinen alle Entscheidungen selbst treffen, ohne menschliche Aufsicht, oder aber der Mensch behält die Kontrolle über die Maschinen. 173. Wenn Maschinen ihre eigenen Entscheidungen treffen, kann man über die Folgen keine Mutmaßungen anstellen, weil es unmöglich ist einzuschätzen, wie sich Maschinen verhalten werden. Wir können nur feststellen, dass das Schicksal der Menschheit dann von der Gnade der Maschinen abhinge. Man könnte einwenden, dass die Menschheit niemals so wahnsinnig wäre, all ihre Macht an Maschinen abzugeben. Wir behaupten auch weder, dass die Menschheit ihre Macht freiwillig an die Maschinen abgeben, noch dass die Maschinen den Menschen willentlich die Macht entreißen würden. Aber was wir behaupten, ist, dass die Menschheit möglicherweise in die Situation einer solchen Abhängigkeit von Maschinen geraten kann, so- dass sie praktisch keine andere Wahl hat, als alle Entscheidungen der Maschinen zu akzeptieren. Da die Gesellschaft und ihre Probleme immer komplexer und Maschinen immer intelligenter werden, werden die Menschen den Maschinen immer mehr Entscheidungen überlassen, einfach deshalb, weil maschinelle Entscheidungen zu besseren Ergebnissen führen als menschliche Entscheidungen. Schließlich wird man eine Stufe erreichen, auf der zur Systemerhaltung notwendige Entscheidungen so komplex werden, dass Menschen aufgrund ihrer begrenzten Intelligenz nicht mehr in der Lage sein würden, diese Entscheidungen zu treffen. Von diesem Moment an haben die Maschinen die tatsächliche Kontrolle erlangt. Der Mensch kann die Maschinen dann nicht mehr einfach abschalten, weil er so abhängig von ihnen geworden ist, dass Abschalten kollektiven Selbstmord bedeuten würde. 174. Es ist aber andererseits auch möglich, dass der Mensch die Kontrolle über die Maschinen behält. In diesem Fall wird der Durchschnittsbürger die Kontrolle über einige Maschinen in seinem Privatbesitz behalten, über sein Auto oder seinen Computer, aber die Kontrolle über große Maschinensysteme wird in der Hand einer kleinen Elite sein – wie heute auch, jedoch mit zwei Unterschieden. Wegen der fortgeschrittenen Techniken wird die Elite eine umfassendere Kontrolle über die Massen ausüben; und weil menschliche Arbeit nicht mehr notwendig ist, sind die Massen überflüssig, eine nutzlose Bürde für das System. Ist die Elite unbarmherzig, wird sie einfach entscheiden, die Masse der Menschheit zu vernichten. Ist sie human, wird sie mit Hilfe von Propaganda oder anderen psychologischen oder biologischen Techniken die Geburtenrate so weit senken, bis die Masse der Menschheit ausstirbt und die Welt der Elite überlassen bleibt. Sollte die Elite aus weichherzigen Linken bestehen, dann könnte sie entscheiden, die Rolle des guten Hirten zu spielen, der über den Rest der Menschheit wacht. Sie würden dafür sorgen, dass jedermanns physische Bedürfnisse befriedigt werden, dass alle Kinder unter psychologisch hygienischen Bedingungen aufwachsen, dass jeder ein gesundes Hobby pflegt, das ihn beschäftigt, und dass jeder, der unzufrieden ist, sich einer »Behandlung« unterzieht, um sein »Problem« zu lösen. Natürlich wird das Leben dann so sinnlos sein, dass die Menschen biologisch oder psychologisch manipuliert werden müssen, um ihr Bedürfnis nach dem power process und nach Selbstverwirklichung durch ein harmloses Hobby zu »sublimieren«. Diese manipulierten Menschen mögen in einer solchen Gesellschaft vielleicht glücklich sein, sie sind aber mit Sicherheit nicht frei. Sie sind auf die Stufe von Haustieren gesunken. 175. Nehmen wir nun an, dass die Computerwissenschaft nicht in der Lage sein wird, künstliche Intelligenz zu entwickeln, so- dass menschliche Arbeit weiterhin notwendig bleibt. Selbst dann werden Maschinen verstärkt einfache Arbeiten übernehmen und damit einen zunehmenden Überschuss an ungelernten oder unbegabteren menschlichen Arbeitskräften schaffen. (Diese Entwicklung ist bereits heute sichtbar. Es gibt inzwischen viele Menschen, die keine Arbeit finden, weil sie aus intellektuellen oder psychologischen Gründen nicht den nötigen Ausbildungsstand haben, der sie brauchbar für das gegenwärtige System macht.) An diejenigen, die Arbeit haben, werden immer höhere Anforderungen gestellt: Sie benötigen mehr und mehr Ausbildung, mehr und mehr Fähigkeiten, sie müssen noch zuverlässiger, anpassungsfähiger und unterwürfiger werden, weil sie mehr und mehr nur noch wie Zellen in einem riesigen Organismus existieren. Ihr Aufgabenbereich wird immer stärker spezialisiert, sodass sie durch die Konzentration auf ihren winzigen Bereich den Bezug zur Realität verlieren. Das System muss dann alle psychologischen und biologischen Mittel anwenden, um die Menschen so zu manipulieren, dass sie unterwürfig bleiben, die Fähigkeiten entwickeln, die das System erfordert, und dass sie ihren Machttrieb durch eine spezialisierte Arbeit »sublimieren«. Die Behauptung, die Menschen in einer solchen Gesellschaft müssen unterwürfig sein, muss vielleicht eingeschränkt werden. Für die Gesellschaft kann Konkurrenzgeist nützlich sein, vorausgesetzt, man kann ihn in Bahnen lenken, die den Bedürfnissen des Systems dienen. Wir können uns eine zukünftige Gesellschaft vorstellen, in der es endlose Konkurrenzkämpfe um prestigeträchtige Positionen und Macht gibt. Doch werden stets nur sehr wenige die Spitze erreichen und wahre Macht haben (vgl. Abschnitt 163). Eine Gesellschaft, in der jemand seinen Machttrieb nur dadurch befriedigen kann, dass er viele andere aus dem Weg räumen und DEREN Machtstreben vereiteln muss, ist abstoßend. 176. Man kann sich Szenarien ausmalen, in denen Aspekte der hier vorgestellten Möglichkeiten anders verknüpft werden. So wäre es etwa möglich, dass Maschinen vor allem die Arbeiten übernehmen, die wirklich wichtig sind, während die Menschen damit beschäftigt sind, unwichtige Tätigkeiten zu verrichten. Es wurde bereits vorgeschlagen, durch weitere Entwicklung im Dienstleistungssektor mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dann würden die Menschen ihre Zeit damit verbringen, einander die Schuhe zu putzen, einander in Taxis herumzufahren, handwerkliche Arbeiten für einander auszuführen, einander in Restaurants zu bedienen, etc. Dies scheint uns durch und durch menschenunwürdig zu sein, und wir bezweifeln, dass viele Menschen in dieser sinnlosen Beschäftigungstherapie ein erfülltes Leben finden würden. Sie würden dann andere, gefährliche Ventile suchen (Drogen, Verbrechen, Sekten, Hassgruppen), außer man hat sie biologisch oder psychologisch manipuliert, um sie so diesem Leben anzupassen. 177. Es versteht sich von selbst, dass mit den hier aufgezeigten Szenarien nicht alle Möglichkeiten erschöpft sind. Sie sollten nur die uns am wahrscheinlichsten scheinenden Folgen aufzeigen. Wir konnten aber kein plausibles Szenario finden, dass auch nur wenig attraktiver wäre als die, die wir gerade beschrieben haben. Es ist höchst wahrscheinlich, dass das industriell-technologische System, wenn es die nächsten 40 bis 100 Jahre überlebt, bestimmte allgemeine Merkmale entwickelt haben wird: Individuen (zumindest die »Bourgeois«, die an das System angepasst sind und es am Laufen halten und die deshalb die Macht ausüben) werden mehr als je zuvor von großen Organisationen abhängig sein; sie werden »angepasster« sein als je zuvor und ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften werden in spürbarem Ausmaß (wahrscheinlich in sehr großem Ausmaß) das Resultat künstlicher Manipulationen sein und nicht mehr Ergebnis des Zufalls (oder des göttlichen Willens oder wessen auch immer); und was von der ursprünglichen Natur übrig geblieben sein wird, wird man zum Zwecke wissenschaftlicher Studien unter Aufsicht und Verwaltung von Wissenschaftlern stellen (damit verliert auch dieser Rest seine Ursprünglichkeit). Auf Dauer (einige Jahrhunderte von jetzt an) ist es wahrscheinlich, dass weder die Menschheit noch andere wichtige Lebensformen in der heutigen Form fortbestehen werden, denn wenn Genmanipulation einmal begonnen wurde, gibt es keinen Grund, an einem bestimmten Punkt damit aufzuhören, sodass so lange Veränderungen vorgenommen werden, bis der Mensch und andere Lebensformen völlig umgestaltet sein werden. 178. Was immer eintreten mag, eines ist sicher, die Technologie schafft für die Menschen eine neue natürliche und soziale Umwelt, die sich radikal von dem Spektrum der Umwelten unterscheidet, denen die Menschheit sich durch natürliche Auslese physisch und psychisch angepasst hat. Wird der Mensch nicht durch künstliche Manipulation an diese neue Umwelt angepasst, dann wird es durch einen langen, schmerzhaften Prozess der natürlichen Auslese geschehen. Das Erstere ist wesentlich wahrscheinlicher als das Letztere. 179. Es wäre besser, das ganze verrottete System zu beseitigen und die Folgen zu tragen. STRATEGIE 180. Die Technologieanhänger nehmen uns alle mit auf eine äußerst leichtsinnige Reise ins Ungewisse. Viele Menschen haben eine Vorstellung davon, was technologischer Fortschritt uns antut, bleiben aber passiv, weil sie ihn für unvermeidlich halten. Aber wir (FC) halten ihn nicht für unvermeidlich. Wir meinen, dass man ihn aufhalten kann und geben hier einige Hinweise, was man dafür tun kann. 181. Wie wir in Abschnitt 166 festgestellt haben, bestehen die beiden Hauptaufgaben gegenwärtig darin, den sozialen Druck und die Instabilität der industriellen Gesellschaft zu verstärken und eine Ideologie zu entwickeln und zu propagieren, die sich gegen die Technologie und das industrielle System richtet. Erst wenn das System ausreichend unter Druck gerät und instabil wird, könnte eine Revolution gegen die Technologie möglich werden. Es wäre dasselbe Muster wie bei der Französischen und der Russischen Revolution. Die französische und die russische Gesellschaft hatten in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch ihrer jeweiligen Revolution wachsende Anzeichen von gesellschaftlichem Druck und Schwäche gezeigt. Inzwischen waren neue Ideologien entwickelt worden, die ein neues Weltbild boten, das sich vom alten stark unterschied. In Russland waren Revolutionäre aktiv an der Zerstörung der alten Ordnung beteiligt. Als dann das alte System unter genügend zusätzlichen Druck geriet (in Frankreich durch die Finanzkrise, in Russland durch die militärische Niederlage), wurde es von der Revolution hinweggefegt. 182. Man wird einwenden, dass die Französische und die Russische Revolution gescheitert sind. Aber die meisten Revolutionen haben zwei Ziele. Eines liegt darin, die alte Gesellschaftsform zu zerstören, und das andere darin, eine neue Gesellschaftsform nach den Visionen der Revolutionäre aufzubauen. Die französischen und russischen Revolutionäre scheiterten (glücklicherweise) darin, die neue Gesellschaft zu errichten, von der sie geträumt hatten, aber sie waren durchaus erfolgreich darin, die alte Gesellschaft zu zerstören. Wir machen uns nicht die Illusion, es wäre durchführbar, eine neue, ideale Form der Gesellschaft aufzubauen. Unser Ziel besteht einzig darin, die existierende Gesellschaft zu zerstören. 183. Doch wenn man für eine Ideologie begeisterte Unterstützung bekommen will, muss sie sowohl ein positives als auch ein negatives Ideal bieten; sie muss FÜR etwas und GEGEN etwas stehen. Das von uns vorgeschlagene positive Ideal ist die Natur. Damit ist die URSPRÜNGLICHE Natur gemeint: die Erde und ihre Lebensformen, die unabhängig von Lenkung, Eingriffen und Kontrolle durch den Menschen existieren. Zur ursprünglichen Natur gehört auch der Mensch, wobei wir die physischen Aspekte des Funktionierens des menschlichen Individuums meinen, die nicht einer Regulierung durch die organisierte Gesellschaft unterliegen, sondern vom Zufall, dem freien Willen oder Gott (je nach religiöser und philosophischer Vorstellung) abhängig sind. 184. Die Natur ist aus verschiedenen Gründen ein perfektes Gegen-Ideal zur Technologie. Natur (die außerhalb der Macht des Systems existiert) ist das Gegenteil von Technologie (die ihre Macht innerhalb des Systems unendlich auszuweiten sucht). Die meisten Menschen werden zugeben, dass Natur schön ist; sie hat eine gewaltige Anziehungskraft. Radikale Umweltschützer vertreten BEREITS eine Ideologie, die die Natur lobpreist und die Technologie ablehnt36. Es ist nicht nötig, um der Natur willen eine fantastische Utopie oder eine neue Gesellschaftsordnung zu entwerfen. Die Natur sorgt für sich selbst: Sie war eine spontane Schöpfung, die lange vor jeder menschlichen Gesellschaftsordnung existiert hat, und zahllose Jahrhunderte lang haben viele verschiedene Gesellschaften im Einklang mit der Natur gelebt, ohne große Zerstörungen anzurichten. Erst durch die industrielle Revolution begannen die Auswirkungen der menschlichen Gesellschaft in der Natur großen Schaden anzurichten. Um die Natur von diesem Druck zu befreien, ist es nicht nötig, ein besonderes Gesellschaftssystem zu schaffen, es reicht, sich von der industriellen Gesellschaft zu befreien. Natürlich werden damit nicht alle Probleme gelöst. Die industrielle Gesellschaft hat der Natur bereits enormen Schaden zugefügt, und es wird sehr lange dauern, bis diese Narben verheilt sind. Außerdem fügen selbst vorindustrielle Gesellschaften der Natur merkbaren Schaden zu. Dennoch wird erst durch das Verschwinden der industriellen Gesellschaft etwas Wesentliches erreicht werden. Es wird den schlimmsten Druck von der Natur nehmen, sodass die Narben verheilen können. Es wird der organisierten Gesellschaft die Fähigkeit nehmen, die Natur immer stärker zu kontrollieren (einschließlich die menschliche Natur). Ganz gleich welche Gesellschaft nach dem Ende der industriellen Gesellschaft entstehen wird, die meisten Menschen werden naturverbunden leben, denn ohne fortgeschrittene Technologie KÖNNEN Menschen nicht anders leben. Um sich zu ernähren, müssen sie Bauern, Hirten, Fischer, Jäger oder Ähnliches sein. Die lokale Autonomie wird generell auch zunehmen, denn ohne fortgeschrittene Technologie und schnelle Kommunikation ist die Fähigkeit von Regierungen oder anderen großen Organisationen, lokale Gemeinwesen zu kontrollieren, eingeschränkt. 185. Was die negativen Folgen des Zusammenbruchs der industriellen Gesellschaft angeht – nun ja, man kann nicht das Huhn essen und auch die Eier haben. Um das eine zu bekommen, muss man das andere aufgeben. 186. Viele Menschen fürchten psychologische Konflikte. Deshalb vermeiden sie, ernsthaft über schwierige gesellschaftliche Fragen nachzudenken und ziehen es vor, diese in leicht verständlicher Form, schwarz-weiß gemalt, präsentiert zu bekommen: DIES ist ganz und gar gut und JENES ist ganz und gar übel. Die revolutionäre Ideologie muss daher auf zwei Ebenen entwickelt werden. 187. Auf der anspruchsvolleren Ebene sollte sie sich an diejenigen richten, die intelligent, nachdenklich und vernünftig sind. Das Ziel sollte sein, eine Kerngruppe von Menschen zu bilden, die sich auf einer rationalen, durchdachten Basis gegen das industrielle System wenden und die sich völlig im Klaren sind über die Probleme und Ambiguitäten, auf die sie treffen werden, sowie über den Preis, der für die Abschaffung des Systems gezahlt werden muss. Es ist besonders wichtig, solche Menschen dafür zu gewinnen, da sie viele Fähigkeiten haben und deshalb andere beeinflussen können. An diese Menschen sollte man sich auf einer möglichst rationalen Ebene wenden. Tatsachen sollten niemals absichtlich verdreht und sprachliche Übertreibungen vermieden werden. Das soll nicht heißen, dass man nicht auch an Gefühle appellieren könne, aber dabei sollte man vermeiden, die Wahrheit zu verfälschen oder das intellektuelle Ansehen der Ideologie auf andere Art zu beschädigen. 188. Auf einer zweiten Ebene sollte die Ideologie in so vereinfachter Weise verbreitet werden, damit auch die gedankenlose Mehrheit den Konflikt Technologie gegen Natur in unzweideutiger Begrifflichkeit versteht. Aber auch auf dieser zweiten Ebene sollte die Ideologie in einer angemessenen Sprache verbreitet werden, unter Verzicht auf primitive, übertriebene oder irrationale Ausdrucks weise, damit die rational denkenden Menschen nicht davon abgestoßen werden. Billige, übertriebene Propaganda kann zwar vorübergehend erstaunlich erfolgreich sein, auf lange Sicht gesehen ist es aber vorteilhafter, die Loyalität einer kleinen Gruppe intelligenter Menschen zu bewahren, als die Leidenschaften des gedankenlosen, unbeständigen Mobs zu entfachen, der seine Meinung wieder ändern wird, sobald ein anderer mit besseren Propagandatricks daherkommt. Doch auch Hetzpropaganda kann notwendig sein, wenn der Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Systems sich nähert und es zum Endkampf zwischen rivalisierenden Ideologien kommt, der entscheidet, welche von beiden sich behaupten wird, nachdem das alte Weltbild untergegangen sein wird. 189. Vor diesem Endkampf sollten die Revolutionäre nicht erwarten, die Mehrheit auf ihre Seite ziehen zu können. Die Geschichte wird von aktiven, entschiedenen Minderheiten gemacht, nicht von der Mehrheit, die selten eine klare und konsequente Idee ihrer eigenen Wünsche hat. Bevor es zum entscheidenden Durchbruch der Revolution kommt37, besteht die Aufgabe der Revolutionäre weniger darin, die oberflächliche Unterstützung der Mehrheit zu gewinnen als darin, einen kleinen Kern von wirklich überzeugten Anhängern zu bilden. Bei der Mehrheit ist es ausreichend, sie mit der Existenz der neuen Ideologie bekannt zu machen und sie regelmäßig daran zu erinnern; obwohl es natürlich trotzdem wünschenswert ist, die Unterstützung der Mehrheit zu gewinnen, sofern dies geschehen kann, ohne dadurch den Kern der ernsthaft überzeugten Menschen zu schwächen. 190. Jeder gesellschaftliche Konflikt trägt dazu bei, das System zu schwächen, aber man sollte sich vorsehen, welche Art von Konflikten man unterstützt. Es sollten immer Konflikte zwischen der Masse der Menschen und der die Macht ausübenden Elite der industriellen Gesellschaft (Politiker, Wissenschaftler, wichtige Wirtschafts- und Regierungsvertreter usw.) sein. Es sollten KEINE Konflikte zwischen den Revolutionären und der Masse der Bevölkerung sein. Zum Beispiel wäre es eine schlechte Strategie der Revolutionäre, die Amerikaner wegen ihrer Konsumgewohnheiteii zu verurteilen. Vielmehr sollte der Durchschnittsamerikaner als Opfer der Werbe- und Marketingindustrie dargestellt werden, die ihn dazu verführt hat, eine Menge unnötigen Kram zu kaufen, den er nicht benötigt und der nur ein sehr schwacher Trost für den Verlust seiner Freiheit ist. Beide Strategien entsprechen den Tatsachen. Es ist nur eine Frage der Haltung, ob man die Werbeindustrie beschuldigt, die Leute zu manipulieren, oder die Leute dafür, dass sie sich manipulieren lassen. Aus strategischen Gründen sollte man vermeiden, die Leute allgemein zu beschuldigen. 191. Man sollte sich zweimal überlegen, ob inan irgendeinen anderen gesellschaftlichen Konflikt unterstützt als den zwischen der Machtelite (die die Technologie beherrscht) und der allgemeinen Masse (die durch Technologie beherrscht wird). Zum einen lenken andere Konflikte die Aufmerksamkeit von der wichtigen Auseinandersetzung ab (zwischen Elite und allgemeiner Masse, zwischen Technologie und Natur); zum anderen könnten andere Konflikte die Technologisierung möglicherweise noch vorantreiben, weil beide Konfliktparteien versuchen würden, mit Hilfe der Technologie Vorteile zu erlangen. Das wird bei Auseinandersetzungen zwischen Nationen deutlich oder bei ethnischen Konflikten innerhalb von Nationen. In Amerika zum Beispiel wollen viele schwarze Führer dadurch mehr Macht für die Afro-Amerikaner gewinnen, indem sie versuchen, Schwarze innerhalb der technologischen Machtelite zu platzieren. Sie wollen, dass es möglichst viele schwarze Regierungsbeamte, Wissenschaftler, Firmenmanager usw. gibt. Damit unterstützen sie die Absorption der afro-amerikanischen Kultur ins technologische System. Deshalb sollte man generell nur jene gesellschaftlichen Konflikte unterstützen, die sich im Rahmen des allgemeinen Konflikts Machtelite gegen allgemeine Bevölkerung, Technologie gegen Natur abspielen. 192. Doch um ethnische Konflikte zu lösen, ist militantes Eintreten für Minderheitenrechte NICHT geeignet (vgl. Abschnitte 21 und 29). Statt dessen sollten die Revolutionäre betonen, dass die Benachteiligung, die Minderheiten mehr oder weniger stark erfahren, nur von untergeordneter Bedeutung ist. Unser wirklicher Feind ist das industriell-technologische System, und im Kampf gegen das System sind ethnische Unterscheidungen unbedeutend. 193. Die Revolution, die wir uns vorstellen, muss nicht notwendigerweise ein bewaffneter Aufstand gegen eine Regierung sein. Sie mag physische Gewalt anwenden oder auch nicht, jedenfalls wird es keine POLITISCHE Revolution sein. In ihrem Zentrum stehen Technologie und Wirtschaft, nicht Politik38. 194. Die Revolutionäre sollten sogar VERMEIDEN, politische Macht zu übernehmen, ob mit legalen oder illegalen Mitteln, bis der Druck auf das industrielle System einen kritischen Punkt erreicht hat und es selbst von der Mehrheit der Bevölkerung als Fehlschlag angesehen wird. Nehmen wir an, dass irgendeine »grüne« Partei im US-Kongress bei den Wahlen die Mehrheit bekommt. Um ihre eigene Ideologie nicht zu verraten oder zu schwächen, müsste sie energische Maßnahmen ergreifen, um das Wirtschaftswachstum stark einzuschränken und die Wirtschaft sogar schrumpfen zu lassen. Dem Durchschnittsbürger würden die Folgen katastrophal erscheinen: Es gäbe Massenarbeitslosigkeit, Engpässe bei der Versorgung usw. Selbst wenn man die schlimmsten Folgen durch übermenschlich geschicktes Management verhindern könnte, müssten die Menschen dennoch eine Menge Luxus aufgeben, an den sie gewöhnt sind. Die Unzufriedenheit würde wachsen, die »grüne« Partei würde abgewählt und die Revolutionäre hätten einen schweren Rückschlag erlitten. Deshalb sollten die Revolutionäre nicht versuchen, politische Macht zu erlangen, bis sich das System von selbst derart desavouiert hat, dass alle Entbehrungen als Folge des Scheiterns des industriellen Systems selbst betrachtet werden und nicht als Folge der Politik der Revolutionäre. Die Revolution gegen die Technologie wird wahrscheinlich eine Revolution von Außenseitern sein müssen, eine Revolution von unten, nicht von oben. 195. Die Revolution muss international und weltweit durchgeführt werden. Sie kann nicht einzeln auf nationaler Basis erfolgen. Wann immer vorgeschlagen wird, dass die Vereinigten Staaten zum Beispiel ihren technologischen Fortschritt oder das Wirtschaftswachstum etwas bremsen sollten, werden die Leute hysterisch und jammern, dass dann die Japaner in der Technologie führend würden. Heilige Roboter! Die Welt würde aus den Angeln gehoben, wenn die Japaner irgendwann mehr Autos verkaufen als wir! (Nationalismus ist ein starker Antrieb für die Technologie.) Etwas rationaler wird auch argumentiert, dass dann Diktatoren schließlich die Welt beherrschen würden, wenn die relativ demokratischen Nationen der Welt in der Technologie hinter die bösen, diktatorischen Nationen wie China, Vietnam oder Nordkorea zurückfallen, weil diese sich technologisch weiterentwickeln. Aus diesem Grund muss das industrielle System weltweit in allen Staaten gleichzeitig angegriffen werden, soweit das möglich ist. Es gibt natürlich keine Sicherheit dafür, dass das industrielle System überall auf der Welt annähernd gleichzeitig zerstört werden kann, und es ist sogar denkbar, dass der Versuch, das System zu besiegen, fehlschlägt und es dann von Diktatoren beherrscht wird. Dieses Risiko muss man in Kauf nehmen. Es ist es wert, denn der Unterschied zwischen einem »demokratischen« industriellen System und einem von Diktatoren kontrollierten ist klein im Vergleich zu dem zwischen einem industriellen und einem nichtindustriellen System39. Man könnte sogar behaupten, dass ein von einem Diktator kontrolliertes industrielles System vorzuziehen wäre, weil diktatorische Regimes im Allgemeinen weniger effizient sind, also vermutlich schneller zusammenbrechen werden. Man betrachte nur Kuba. 196. Revolutionäre sollten Maßnahmen unterstützen, die auf eine Vereinheitlichung der Weltwirtschaft abzielen. Freihandelsabkommen wie NAFTA und GATT sind wahrscheinlich auf kurze Zeit gesehen schädlich für die Umwelt, könnten aber auf Dauer Vorteile haben, weil sie wirtschaftliche Abhängigkeiten der Staaten untereinander fördern. Es wird leichter sein, das industrielle System weltweit zu zerstören, wenn die Weltwirtschaft so vereinheitlicht ist, dass ihr Zusammenbruch in irgendeinem großen Staat zum Zusammenbruch der Wirtschaft in allen Industrienationen führen wird. 197. Manche meinen, dass der moderne Mensch zu viel Macht und Kontrolle über die Natur hat, sie fordern eine passivere Haltung der Menschheit. Aber meistens drücken sich diese Leute unklar aus, denn sie unterscheiden nicht zwischen der Macht GROSSER ORGANISATIONEN und der Macht von EINZELNEN und KLEINEN GRUPPEN. Es ist ein Irrtum, sich für Machtlosigkeit und Passivität einzusetzen, denn Menschen BRAUCHEN Macht. Der moderne Mensch als kollektive Gesamtheit – das heißt, als industrielles System – hat ungeheure Macht über die Natur, und wir (FC) betrachten das als Übel. Aber moderne INDIVIDUEN und KLEINE GRUPPEN VON INDIVIDUEN haben viel weniger Macht als der primitive Mensch jemals hatte. Im Allgemeinen wird die gewaltige Macht des »modernen Menschen« über die Natur nicht durch Individuen oder kleine Gruppen ausgeübt, sondern durch große Organisationen. Wenn das durchschnittliche moderne INDIVIDUUM noch technologische Macht ausüben kann, ist ihm dies nur in engen Grenzen erlaubt und nur unter Aufsicht und Kontrolle des Systems. (Für alles braucht man eine Genehmigung und mit dieser Genehmigung sind Regeln und Vorschriften verbunden.) Das Individuum hat nur die technologische Macht, die ihm das System zugesteht. Seine PERSÖNLICHE Macht über die Natur ist gering. 198. Der primitive Mensch als INDIVIDUUM und in KLEINEN GRUPPEN hatte tatsächlich beachtliche Macht über die Natur, oder vielleicht besser gesagt INNERHALB der Natur. Wenn der primitive Mensch Nahrung brauchte, wusste er, wie er essbare Wurzeln finden und wie er diese zubereiten konnte, wie man Wild aufspürt und es mit selbst gefertigten Waffen erlegt. Er wusste, wie er sich vor Hitze, Kälte, Regen und gefährlichen Tieren usw. schützen konnte. Aber der primitive Mensch hat der Natur kaum Schaden zugefügt, weil die KOLLEKTIVE Macht der primitiven Gesellschaft im Vergleich zur KOLLEKTIVEN Macht der industriellen Gesellschaft sehr schwach war. 199. Statt für Machtlosigkeit und Passivität zu plädieren, sollte man sich dafür einsetzen, dass die Macht des INDUSTRIELLEN SYSTEMS gebrochen wird, und dass dadurch die Macht und Freiheit des EINZELNEN und der KLEINEN GRUPPEN VERSTÄRKT wird. 200. Bis das industrielle System gänzlich abgewrackt ist, muss die Zerstörung des Systems für die Revolutionäre das EINZIGE Ziel sein. Andere Ziele würden die Aufmerksamkeit und Energie vom Hauptziel ablenken. Und was noch wichtiger ist, wenn die Revolutionäre sich anderen Zielen als der Zerstörung der Technologie widmeten, würden sie in Versuchung geführt, Technologie als Werkzeug zu benutzen, um diese anderen Ziele zu erreichen. Wenn sie dieser Versuchung nachgeben, werden sie selbst in die technologische Falle geraten, denn die moderne Technologie ist ein einheitliches, eng organisiertes System, sodass man bei dem Versuch, EINIGE Technologien zu bewahren, schließlich gezwungen ist, die MEISTE Technologie zu bewahren, es würde damit enden, dass lediglich einige Technologien symbolisch geopfert würden. 201. Angenommen, die Revolutionäre würden sich beispielsweise für »soziale Gerechtigkeit« einsetzen. Wir kennen die menschliche Natur und wissen, soziale Gerechtigkeit wird sich nicht von selbst, sondern nur mit Zwang einstellen. Um sie zu erzwingen, müssten die Revolutionäre eine zentrale Organisation und Kontrolle beibehalten. Dafür bräuchten sie schnelle und weitreichende Transport- und Kommunikationsmittel, müssten also die Technologie haben, um solche Transport- und Kommunikations-Systeme zu unterstützen. Um arme Menschen mit Nahrung und Kleidung auszustatten, müssten sie landwirtschaftliche und Fabrik-Technologie benutzen. Und so weiter. Der Versuch, soziale Gerechtigkeit zu sichern, würde sie zwingen, das technologische System in weiten Teilen aufrechtzuerhalten. Wir haben nichts gegen soziale Gerechtigkeit einzuwenden, aber sie darf nicht die Anstrengungen behindern, das technologische System loszuwerden. 202. Es wäre hoffnungslos für die Revolutionäre, das System anzugreifen, ohne EINIGE moderne Technologien zu nutzen. Wenigstens müssen sie Kommunikationsmedien nutzen, um ihre Botschaft zu verbreiten. Aber sie sollten die moderne Technologie nur für den EINEN Zweck nutzen: das technologische System zu bekämpfen. 203. Man stelle sich einen Alkoholiker vor, der vor einem Fass Wein sitzt und sich sagt: »Wein ist nicht schlecht, wenn du ihn mit Maßen trinkst. Man sagt sogar, kleine Mengen Wein sind gut. Es wird mir nicht schaden, wenn ich nur ein bisschen trinke…« Man weiß ja, was geschehen wird. Man darf niemals vergessen, dass es der Menschheit mit der Technologie geht wie einem Alkoholiker mit einem Fass Wein. 204. Revolutionäre sollten so viele Kinder wie möglich bekommen. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass soziales Verhalten überwiegend erblich bedingt ist. Das will nicht sagen, dass soziales Verhalten direkt aus den genetischen Anlagen folgt, aber es scheint, dass Charakterzüge einer Persönlichkeit teilweise erblich bedingt sind und dass bestimmte Charakterzüge im Kontext unserer Gesellschaft das soziale Verhalten einer Person mehr in diese oder jene Richtung tendieren lassen. Es gibt Gegenargumente, die aber schwach sind und ideologisch motiviert zu sein scheinen. Jedoch bezweifelt niemand, dass Kinder im Allgemeinen in ihrem sozialen Verhalten ihren Eltern ähnlich sind. Für uns hat es keine große Bedeutung, ob das Verhalten genetisch oder durch Erziehung weitergegeben wird, wichtig ist nur, DASS es weitergegeben wird. 205. Das Problem ist, dass diejenigen, die gegen das industrielle System sind, auch über Bevölkerungsprobleme beunruhigt sind und deshalb nur wenige oder keine Kinder haben. Auf diese Weise aber übergeben sie die Welt den Menschen, die das industrielle System unterstützen oder wenigstens akzeptieren. Um die nächste Generation starker Revolutionäre zu sichern, müssen sie sich vermehren. Dabei werden sie das Problem der Überbevölkerung nur wenig verstärken. Die wichtigste Aufgabe ist, das industrielle System abzuschaffen, denn wenn es einmal verschwunden ist, wird sich die Weltbevölkerung notwendigerweise verringern (vgl. Abschnitt 167); wohingegen das industrielle System, falls es überlebt, neue Techniken der Nahrungsproduktion entwickeln wird, die einen weiteren unaufhörlichen Anstieg der Weltbevölkerung ermöglichen werden. 206. Hinsichtlich einer revolutionären Strategie bestehen wir absolut auf folgenden Punkten: Das ausschlaggebende einzige Ziel muss die Vernichtung der modernen Technologie sein und keine anderen Ziele dürfen damit konkurrieren. Für den Rest sollten die Revolutionäre die Empirie entscheiden lassen. Wenn die Erfahrung zeigt, dass einige der hier gemachten Vorschläge zu keinen guten Ergebnissen führen, sollte man diese Vorschläge verwerfen. ZWEI ARTEN VON TECHNOLOGIE 207. Man wird gegen unsere Revolution wahrscheinlich argumentieren, dass sie zum Scheitern verurteilt ist, weil (so wird behauptet) Technologie im Verlauf der Geschichte immer fortgeschritten und niemals rückläufig gewesen ist, somit ist ein technologischer Rückschritt unmöglich. Aber diese Behauptung ist falsch. 208. Wir unterscheiden zwei Arten von Technologie, die wir als small-scale-Technologie (in kleinem Maßstab) und als organisationenabhängige Technologie bezeichnen. Die small-scale- Technologie kann in kleinen Gemeinschaften ohne äußere Hilfestellung angewendet werden. Die organisationsabhängige Technologie ist von großen gesellschaftlichen Organisationen abhängig. Es sind uns keine bedeutenden Fälle von Rückentwicklungen in der kleinen Technologie bekannt. Aber die organisationenabhängige Technologie IST rückgängig zu machen, wenn die soziale Organisation, von der sie abhängt, zusammenbricht. Beispiel: Als das Römische Reich zusammenbrach, überlebte die small-scale-Technologie der Römer, weil jeder geschickte Dorfhandwerker in der Lage war, zum Beispiel ein Wasserrad herzustellen, jeder geschickte Schmied konnte mit den römischen Techniken Stahl herstellen usw. Aber die organisationsabhängige Technologie der Römer bildete sich zurück. Die Aquädukte verfielen und wurden nie wieder aufgebaut. Ihre Technik des Straßenbaus ging verloren. Das römische System sanitärer Anlagen in den Städten geriet in Vergessenheit, und erst seit recht kurzer Zeit hat man in europäischen Städten wieder sanitäre Anlagen vom Standard derer im Alten Rom. 209. Der Grund dafür, dass Technologie immer fortzuschreiten scheint, liegt darin, dass noch bis zu vielleicht ein oder zwei Jahrhunderten vor der industriellen Revolution die meiste Technologie small-scale-Technologie war. Die seit der industriellen Revolution entwickelte Technologie ist jedoch vor allem organisationsabhängige Technologie. Ein Beispiel dafür ist der Kühlschrank. Ohne industriell vorgefertigte Ersatzteile, Maschinen oder Werkstätten wäre es für normale Handwerker unmöglich, einen Kühlschrank zu bauen. Auch wenn sie wunderbarerweise einen bauen könnten, wäre er ohne eine zuverlässige Stromquelle nicht zu benutzen. Sie müssten also einen Fluss stauen und einen Generator bauen. Generatoren brauchen viel Kupferdraht. Wie soll man diesen Draht ohne moderne Maschinen herstellen? Und woher soll man dann das notwendige Kühlmittel bekommen? Es wäre viel einfacher, einen Eiskeller zu bauen oder die Nahrung durch Trocknen oder Einlegen haltbar zu machen, wie man es vor der Erfindung des Kühlschranks getan hat. 210. Das heißt aber, dass die Kühlschranktechnologie schnell verloren gehen wird, wenn das industrielle System einmal gänzlich zusammenbricht. Dasselbe gilt für andere organisationsabhängige Technologien. Wenn diese Technologie erst einmal eine Generation lang verloren ist, würde es Jahrhunderte dauern, sie wieder zu entwickeln, wie es Jahrhunderte gedauert hat, sie zum ersten Mal zu entwickeln. Technische Bücher wären dann kaum mehr zu finden. Eine industrielle Gesellschaft ganz von vorne und ohne Hilfe von außen aufzubauen, kann nur stufenweise geschehen: Man braucht dazu Werkzeuge, um Werkzeuge herzustellen, um damit wiederum Werkzeuge herzustellen … ein langer Prozess wirtschaftlicher Entwicklung und des Fortschritts in der gesellschaftlichen Organisation wäre erforderlich. Und selbst ohne eine technologiefeindliche Ideologie besteht kein Grund zu der Annahme, irgendjemand hätte an einer Wiederherstellung der industriellen Gesellschaft Interesse. Die Begeisterung für den »Fortschritt« ist eine besondere Erscheinung der modernen Gesellschaftsform und scheint vor dem 17. Jahrhundert nicht existiert zu haben. 211. Im späten Mittelalter gab es vier Hauptzivilisationen, die ungefähr gleich »fortgeschritten« waren: Europa, die Islamische Welt, Indien und der Feme Osten (China, Japan, Korea). Drei dieser Zivilisationen blieben mehr oder weniger unverändert, nur Europa entwickelte sich dynamisch. Niemand kann erklären, warum Europa in dieser Zeit eine solche Dynamik entwickelte; Historiker haben darüber Theorien entwickelt, die aber nur Spekulation sind. Auf jeden Fall wird deutlich, dass eine schnelle Entwicklung zu einer technologischen Gesellschaft nur unter besonderen Bedingungen stattfindet. Deshalb gibt es keinen Grund anzunehmen, ein lang andauernder technologischer Rückschritt wäre undenkbar. 212. Könnte sich die Gesellschaft aber IRGENDWANN erneut in die Richtung einer industriell-technologischen Form entwickeln? Vielleicht, aber das ist kein Grund zur Sorge, da wir die Ereignisse der nächsten 500 oder 1000 Jahre sowieso nicht voraussehen und kontrollieren können. Diese Probleme müssen dann von den Menschen gelöst werden, die in dieser Zeit leben. DIE GEFAHR DER LINKSGERICHTETEN IDEOLOGIE 213. Weil Linke und andere Menschen dieses psychologischen Typus das Bedürfnis nach Auflehnung und Zugehörigkeit zu einer Bewegung haben, sind sie häufig von rebellischen und militanten Bewegungen angezogen, deren Ziele ursprünglich nicht linksgerichtet sind. Der Zustrom von Linken in eine nicht linksgerichtete Bewegung kann leicht dazu führen, dass sie in eine linke Bewegung verwandelt wird und damit linke Ziele die eigentlichen Ziele der Bewegung ersetzen oder verdrehen. 214. Um das zu verhindern, muss eine Bewegung, die sich für die Natur und gegen Technologie einsetzt, eine nachdrücklich antilinke Position einnehmen und jede Zusammenarbeit mit Linken vermeiden. Linksgerichtete Ideologie ist auf die Dauer unvereinbar mit ursprünglicher Natur, menschlicher Freiheit und der Zerstörung moderner Technologie. Linksgerichtete Ideologie ist kollektivistisch, sie versucht die ganze Welt (sowohl die Natur als auch die Menschheit) zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden. Aber das erfordert die Verwaltung von Natur und menschlichem Leben durch eine organisierte Gesellschaft, und es erfordert eine fortgeschrittene Technologie. Man kann ohne schnelle Verkehrssysteme und Kommunikation die Welt nicht vereinheitlichen; man kann ohne die Anwendung hoch entwickelter psychologischer Techniken die Menschen nicht dazu bringen, einander zu lieben; man kann ohne technologische Grundlage keine »geplante Gesellschaft« errichten. Vor allem aber liegt der Antrieb der Linken in ihrem Streben nach Macht auf kollektiver Basis, durch Identifikation mit einer Massenbewegung oder einer Organisation. Die linksgerichtete Ideologie wird niemals auf Technologie verzichten, weil Technologie eine zu wertvolle Quelle kollektiver Macht bedeutet. 215. Auch der Anarchist40 strebt nach Macht, aber er versucht sie als individuelle Persönlichkeit oder kleine Gruppe zu erlangen; er will, dass der Einzelne und kleine Gemeinschaften in der Lage sind, ihre eigenen Lebensumstände zu kontrollieren. Seine antitechnologische Haltung resultiert aus der Erkenntnis, dass Technologie kleine Gemeinschaften von großen Organisationen abhängig macht. 216. Manche Linke wenden sich scheinbar gegen Technologie, aber sie sind nur solange dagegen, wie sie selbst Außenseiter sind und das technologische System von Nichtlinken kontrolliert wird. Sollte aber die linksgerichtete Ideologie jemals eine führende Rolle in der Gesellschaft übernehmen, sodass das technologische System nun ein Werkzeug in den Händen der Linken wäre, würden sie begeistert Gebrauch davon machen und seine Entwicklung fördern. So würde sich ein Muster wiederholen, das linksgerichtete Ideologie in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat. Solange die Bolschewisten in Russland Außenseiter waren, bekämpften sie energisch die Zensur und Geheimpolizei, setzten sich für Selbstbestimmung ethnischer Minderheiten ein usw.; aber sobald sie selbst an die Macht kamen, führten sie eine strengere Zensur ein und schufen eine unbarmherzigere Geheimpolizei, als unter dem Zaren existiert hatte, und sie unterdrückten die ethnischen Minderheiten mindestens so stark wie zur Zarenzeit. Als in den Vereinigten Staaten vor ein paar Jahrzehnten die Linken eine Minderheit an den Universitäten waren, waren linksgerichtete Professoren eifrige Verfechter der akademischen Freiheit, aber heute nehmen sie an den Universitäten, an denen Linke dominieren, je dem anderen die akademische Freiheit. (Das bedeutet »political correctness«.) Dasselbe würde mit Linken und Technologie geschehen: Wenn sie sie je unter ihre Kontrolle bringen, würden sie sie benutzen, um jeden anderen zu unterdrücken. 217. In früheren Revolutionen haben die besonders machtgierigen Linken wiederholt zuerst mit den nicht linksgerichteten Revolutionären zusammengearbeitet, genauso wie mit Linken libertärer Ausrichtung, und später haben sie dann ein falsches Spiel getrieben, um die alleinige Macht an sich zu reißen. Robespierre in der Französischen Revolution, die Bolschewisten in der Russischen Revolution, die Kommunisten in Spanien 1938 und Castro und seine Anhänger in Kuba. Betrachtet man die Geschichte der Linken, wären nicht linksgerichtete Revolutionäre dumm, wenn sie heute mit den Linken Zusammenarbeiten würden. 218. Verschiedene Denker haben darauf hingewiesen, dass linksgerichtete Ideologie eine Art von Religion ist. Sie ist keine Religion im eigentlichen Sinn, weil die linksgerichtete Lehre nicht die Existenz eines übernatürlichen Seins postuliert. Aber für den Linken hat die linksgerichtete Ideologie psychologisch eine ähnliche Bedeutung wie die Religion für andere Menschen. Der Linke MUSS an linksgerichtete Ideologie glauben, das spielt für sein psychologisches Gleichgewicht eine lebenswichtige Rolle. Seine Glaubensvorstellungen können durch Logik oder Tatsachen nicht leicht verändert werden. Er ist der tiefen Überzeugung, dass linksgerichtete Ideologie moralisch Richtig ist, mit einem großgeschriebenen R, und dass er nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, an alles die Maßstäbe der linksgerichteten Moral zu setzen. (Viele, die wir hier »Linke« nennen, sehen sich selbst nicht als Linke an und würden ihr Glaubenssystem nicht als linksgerichtete Ideologie beschreiben. Wir benutzen den Begriff »linksgerichtete Ideologie«, weil wir keinen besseren Ausdruck gefunden haben, um das Spektrum der einander verwandten Ansichten zu bezeichnen, die die feministische, Schwulen-, »p.c.«-Bewegungen u.Ä. einschließen, und auch weil diese Bewegungen eine starke Verbundenheit zur alten Linken haben (vgl. Abschnitte 227-230). 219. Linksgerichtete Ideologie ist eine totalitäre Kraft. Wo immer linksgerichtete Ideologie die Macht erlangt hat, versucht sie jeden Winkel der Privatsphäre zu durchdringen und jeden Gedanken in ein linksgerichtetes Schema zu pressen. Das hat teilweise mit dem quasi-religiösen Charakter der linksgerichteten Ideologie zu tun: Alles, was der linksgerichteten Ideologie entgegensteht, ist Sünde. Vor allem aber aufgrund des Machtstrebens der Linken ist linksgerichtete Ideologie eine totalitäre Kraft. Der Linke sucht sein Bedürfnis nach Macht durch Identifikation mit einer gesellschaftlichen Bewegung zu befriedigen, und er versucht den power process dadurch zu durchlaufen, dass er mithilft, die Ziele der Bewegung zu verfolgen und zu erreichen (vgl. Abschnitt 83). Aber ganz gleich, wie viele Ziele die Bewegung schon erreicht hat, der Linke wird niemals zufrieden sein, weil seine Aktivitäten Ersatzhandlungen sind (vgl. Abschnitt 41). Das bedeutet, die wirklichen Motive des Linken liegen nicht im Erreichen der angeblichen Ziele der linksgerichteten Ideologie; in Wirklichkeit ist er durch das Machtgefühl motiviert, das er empfindet, wenn er für ein gesellschaftliches Ziel kämpft und dieses erreicht41. Infolgedessen ist der Linke niemals mit den Zielen zufrieden, die er erreicht hat; er braucht für den power process immer neue Ziele. Der Linke fordert Chancengleichheit für Minderheiten. Hat er diese erreicht, besteht er auf statistischer Verteilung der Leistungen der Minderheiten. Und solange irgendjemand verdächtig ist, eine negative Haltung gegenüber Minderheiten zu hegen, muss der Linke ihn umerziehen. Und ethnische Minderheiten sind nicht genug; es darf auch niemand eine negative Haltung gegenüber Homosexuellen, Behinderten, fetten, alten, hässlichen Menschen usw. usw. einnehmen. So genügt es nicht, die Öffentlichkeit über die Schädlichkeit des Rauchens zu informieren; es muss außerdem noch eine Warnung auf jede Zigarettenpackung gestempelt werden. Dann muss man Zigarettenreklame einschränken, wenn nicht sogar verbieten. Die Aktivisten werden sich damit nicht zufrieden geben, bis Tabak überhaupt verboten sein wird, und danach kommt der Alkohol dran, dann Fast Food usw. Aktivisten haben gegen schwere Kindesmisshandlung gekämpft, was verständlich war. Aber jetzt wollen sie jeden Klaps verbieten. Wenn sie damit fertig sind, werden sie etwas anderes verbieten lassen wollen, das ihnen ungesund erscheint, und danach wieder etwas anderes. Sie werden sich niemals zufrieden geben, bis sie die Kontrolle über die gesamte Kindererziehung haben. Und danach werden sie sich eine andere Sache vornehmen. 220. Nehmen wir an, man würde Linke auffordem, eine Liste ALLER Dinge anzufertigen, die ihrer Meinung nach in der Gesellschaft falsch sind, und JEDE Änderung durchführen, die sie fordern. Dann könnte man mit Sicherheit sagen, dass die Mehrheit der Linken ein paar Jahre später wieder etwas findet, worüber sie sich beschweren könnte, ein neues soziales »Übel«, das behoben werden muss; denn, noch einmal, es geht dem Linken weniger um Missstände in der Gesellschaft als um das Bedürfnis, seinen Machttrieb zu befriedigen, indem er der Gesellschaft seine Lösungen aufzwingt. 221. Wegen der Einschränkungen, die sie ihren Gedanken und ihrem Verhalten auferlegen, können viele überangepasste Linke ihren Machttrieb nicht wie andere Menschen verfolgen. Ihr Machtstreben findet deshalb ein moralisch akzeptables Ventil nur im Kampf für die Verbreitung ihrer Moralvorstellungen. 222. Linke, insbesondere die überangepassten Linken, sind wahre Gläubige oder Fanatiker im Sinne des Buches von Eric Hoffer, The True Believer (auf deutsch Der Fanatiker). Aber nicht alle Fanatiker haben das gleiche Psychogramm wie die Linken. Vermutlich unterscheidet sich ein fanatischer Nazi psychologisch stark von einem fanatischen Linken. Wegen ihrer Fähigkeit zur unbeirrbaren Hingabe an eine Sache sind Fanatiker für jede revolutionäre Bewegung nützlich, vielleicht sogar notwendig. Dies wirft ein Problem auf, das wir zugegebenermaßen nicht lösen können. Wir sind nicht sicher, wie man die Energien der Fanatiker in einer Revolution gegen die Technologie nutzbar machen kann. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nur sagen, dass kein Fanatiker ein zuverlässiger Rekrut für die Revolution ist, wenn nicht sein einziges Ziel die Zerstörung der Technologie ist. Hat er dagegen auch andere Ideale, dann kann es sein, dass er Technologie als ein Werkzeug gebrauchen wird, um diese anderen Ideale zu erreichen (vgl. Abschnitte 220-221). 223. Einige Leser werden vielleicht sagen: »Dieses Zeug über linksgerichtete Ideologie ist ein ziemlicher Blödsinn. Ich kenne den und den, der ist links und weit entfernt von solch totalitären Tendenzen.« Natürlich sind viele Linke, wahrscheinlich sogar die Mehrheit von ihnen, anständige Menschen, die ehrlich glauben, die Wertvorstellungen anderer zu tolerieren (bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls), und die keine eigenmächtigen Methoden zur Durchsetzung ihrer gesellschaftlichen Ziele anwenden wollen würden. Unsere Anmerkungen über linksgerichtete Ideologie sollen auch nicht für jeden einzelnen Linken gelten, sondern den allgemeinen Charakter linksgerichteter Ideologie als einer Bewegung beschreiben. Und der allgemeine Charakter einer Bewegung ist nicht notwendigerweise von der zahlenmäßigen Größenordung derjenigen Menschen bestimmt, die dieser Bewegung angehören. 224. Die Menschen, die in den linken Bewegungen in Machtpositionen aufsteigen, sind meist Linke vom besonders machtbesessenen Typus, denn machtbesessene Menschen kämpfen am stärksten um Machtpositionen. Wenn dieser machtbesessene Typus einmal die Kontrolle über die Bewegung erlangt hat, werden zwar viele Linke von weicherem Charakter innerlich viele Aktionen der Führer ablehnen, sich aber nicht dazu durchringen können, auch dagegen zu opponieren. Sie BRAUCHEN ihren Glauben an die Bewegung, und weil sie diesen Glauben nicht aufgeben können, folgen sie den Führern. Es stimmt, dass EINIGE Linke den Mut haben, sich den auftretenden totalitären Strömungen zu widersetzen, aber meistens verlieren sie, denn die Machtbesessenen sind besser organisiert, skrupelloser und machiavellistischer, sie haben sich vorsorglich eine starke Machtgrundlage aufgebaut. 225. Diese Erscheinung hat man deutlich in Russland und anderen Staaten gesehen, in denen die Linken an der Macht waren. Ähnlich haben die westlichen Linken vor dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion diesen Staat selten kritisiert. Wenn man hartnäckig fragte, gaben sie zu, dass die UdSSR viele falsche Dinge getan hat, versuchten dann aber Entschuldigungen für die Kommunisten zu finden und begannen über die Fehler des Westens zu sprechen. Immer waren sie gegen westlichen militärischen Widerstand gegen eine eventuelle kommunistische Aggression. So protestierten die Linken in der ganzen Welt heftig gegen die US-Militäraktionen in Vietnam, als aber die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte, taten sie nichts dergleichen. Nicht, dass sie das Vorgehen der Sowjets gebilligt hätten; aber wegen ihres linken Glaubens konnten sie es nicht ertragen, sich kritisch gegen den Kommunismus zu wenden. Heute gibt es an denjenigen unserer Universitäten, an denen die »political correctness« herrscht, wahrscheinlich viele Linke, die persönlich gegen diese Unterdrückung der akademischen Freiheit sind, sich aber unterordnen. 226. So kann die Tatsache, dass viele Linke persönlich tolerant und nachgiebig sind, nicht verhindern, dass die linksgerichtete Ideologie als ganzes eine totalitäre Richtung nimmt. 227. Unsere Diskussion über linksgerichtete Ideologie hat eine ernsthafte Schwäche. Es bleibt noch immer unklar, was wir mit dem Wort meinen. Daran können wir wohl nicht viel ändern. In der heutigen Zeit ist linksgerichtete Ideologie in ein ganzes Spektrum von aktivistischen Bewegungen aufgesplittert. Dabei sind nicht alle aktivistischen Bewegungen links, und einige dieser Bewegungen (z.B. die radikale Umweltbewegung) scheinen sowohl Persönlichkeiten vom linken Typ als auch durch und durch nicht linksgerichtete Persönlichkeiten, die wissen müssten, dass man mit Linken besser nicht zusammenarbeitet, anzuziehen. Verschiedene Typen von Linken gehen allmählich über in verschiedene Typen von Nichtlinken, und wir selbst hätten oft Schwierigkeiten zu entscheiden, ob eine bestimmte Person als Linker bezeichnet werden kann oder nicht. Soweit eine Definition also überhaupt möglich ist, ist unser Konzept der linksgerichteten Ideologie hier dargestellt und wir können dem Leser nur raten, nach seinem eigenen Urteilsvermögen zu entscheiden, wer ein Linker ist. 228. Es kann aber hilfreich sein, einige Kriterien an die Hand zu geben, um linksgerichtete Ideologie diagnostizieren zu können. Diese Merkmale müssen nicht strikt und immer auftreten. Auf einige Personen werden einige dieser Merkmale zutreffen, ohne dass sie Linke sind; dafür werden sie einigen Linken fehlen. Man sollte also nach eigenem Ermessen urteilen. 229. Der Linke ist auf weitreichenden Kollektivismus ausgerichtet. Er betont die Pflicht des Einzelnen, der Gesellschaft zu dienen und die Pflicht der Gesellschaft, für den Einzelnen zu sorgen. Im Individualismus sieht er etwas Negatives. Er nimmt gerne einen moralisierenden Ton an. Er ist im Allgemeinen für Kontrolle von Waffen, sexuelle Aufklärung und andere psychologisch »aufgeklärte« Erziehungsmethoden, für Gesellschaftsplanung, für gezielte Förderung von Minderheiten, für Multikulturalismus. Er neigt dazu, sich mit Opfern zu identifizieren. Er ist gegen Wettbewerb und gegen Gewalt, aber er findet meist Entschuldigungen für die Linken, die Gewalt an wenden. Er benutzt gerne allgemeine Schlagwörter der Linken wie »Rassismus«, »Sexismus«, »Homophobie«, »Kapitalismus«, »Imperialismus«, »Neokolonialismus«, »Genozid«, »gesellschaftliche Veränderungen«, »soziale Gerechtigkeit«, »gesellschaftliche Verantwortung«. Am besten kann man linksgerichtete Ideologie vielleicht an ihrer Neigung erkennen, mit den folgenden Bewegungen zu sympathisieren: Feminismus, Schwulenbewegung, Bewegungen für die Rechte ethnischer Minderheiten, Political Correctness. Jeder, der stark mit ALLEN diesen Bewegungen sympathisiert, ist mit großer Sicherheit ein Linker42. 230. Die gefährlicheren Linken, die Machtbesessenen, erkennt man meistens an ihrer Arroganz oder an ihrem dogmatischen Verhältnis zur Ideologie. Doch der gefährlichste Linke ist der überangepasste Typus, der es vermeidet, verunsichernde Aggressivität zur Schau zu stellen und sich zu seiner linksgerich teten Ideologie nicht offensiv bekennt, dafür aber im Stillen und unauffällig kollektivistische Werte, »aufgeklärte« psychologische Methoden der Kindererziehung, Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft usw. fördert. Diese Krypto-Linken (wie wir sie nennen wollen) sind gewissen bourgeoisen Charakteren ähnlich, soweit es um praktische Aktionen geht, sie unterscheiden sich aber von jenen in Psychologie, Ideologie und Motivation. Der normale Bourgeois versucht, andere unter die Kontrolle des Systems zu bringen, um seine Lebensweise zu bewahren, oder einfach nur, weil er konventionell eingestellt ist. Der Krypto-Linke versucht, Menschen unter die Kontrolle des Systems zu bringen, weil er ein Fanatiker der kollektivistischen Ideologie ist. Der Krypto-Linke unterscheidet sich von dem normalen Linken des überangepassten Typus dadurch, dass seine aufrührerischen Impulse schwächer sind und er zuverlässiger sozialisiert ist. Er unterscheidet sich von dem gewöhnlich gut sozialisierten Bourgeois dadurch, dass er innerlich einen großen Mangel fühlt, der ihn dazu bringt, sich einer Sache völlig zu widmen und im Kollektiv aufzugehen. Und vielleicht ist sein (gut sublimiertes) Machtbedürfnis stärker als das des Durchschnitts-Bourgeois. ABSCHLUSSBEMERKUNG 231. Im Verlaufe dieser Abhandlung haben wir ungenaue Aussagen gemacht und Aussagen, die nur unter Vorbehalt und Einschränkung gelten; und manche unserer Darstellungen mögen schlicht falsch sein. Mangel an genügender Information und der Zwang zur Kürze machten es unmöglich, unsere Behauptungen genauer auszuführen und alle nötigen Einschränkungen vorzunehmen. Und in einer solchen Erörterung muss man sich selbstverständlich stark auf intuitives Ermessen verlassen, das sich mitunter als falsch erweist. Deshalb behaupten wir nicht, dass es sich in der vorliegenden Abhandlung um mehr als eine ungefähre Annäherung an die Wahrheit handelt. 232. Gleichwohl sind wir überzeugt, dass die allgemeinen Umrisse des Bildes, das wir hier gezeichnet haben, zutreffen. Nur ein möglicher Schwachpunkt muss angeführt werden. Wir haben die linke Ideologie in ihrer modernen Form als ein besonderes Phänomen unserer Zeit und als ein Symptom der Störung des power process dargestellt. Es könnte aber sein, dass wir uns hier irren. Überangepasste Charaktere, die zur Befriedigung ihres Machtstrebens anderen ihre eigenen moralischen Anschauungen aufzwingen wollen, gab es sicher auch schon in früheren Zeiten. Aber wir DENKEN, dass die entscheidende Rolle, die Minderwertigkeitsgefühle, geringe Selbstachtung, Machtlosigkeit und Identifikation mit Opfern spielen, eine Besonderheit der modernen linksgerichteten Ideologie ist. Auch in der linken Bewegung des 19. Jahrhunderts und im frühen Christentum gab es eine Identifikation mit Opfern durch Menschen, die selbst keine Opfer waren, aber soweit wir beurteilen können, waren die Symptome des geringen Selbstvertrauens usw. lange nicht so offensichtlich in diesen Bewegungen, wie sie sich in der modernen linksgerichteten Ideologie äußern. Wir sind aber nicht in einer Position, um mit Sicherheit behaupten zu können, es habe keine solchen Bewegungen vor der modernen linksgerichteten Ideologie gegeben. Das ist eine bedeutende Frage, der sich die Historiker widmen sollten.
CHRONOLOGIE 26. Mai 1978, Northwestern University, Evanston, Illinois Der Sicherheitsmann Terry Marker wird durch eine Paketbombe verletzt. 9.Mai 1979, Northwestern University, Evanston, Illinois Der Student John G. Harris wird im Technologischen Institut der Universität durch eine Paketbombe verletzt. 15. November 1979 Explosion einer Bombe im Frachtraum einer Boeing 727 der American Airlines. Zwölf Menschen erleiden eine Rauchvergiftung. 10.Juni 1980, Lake Forest, Illinois Der Präsident der Fluggesellschaft United Airlines, Percy A. Wood, wird durch eine Briefbombe verletzt. Auf einem der Bombensplitter finden die Ermittler die aufgestempelten Initialen FC. Juni 1980 Die Sondereinheit »UNABOM« wird gebildet. »UN« steht für »university« und »A« für »airline«. 8. Oktober 1981, University of Utah, Salt Lake City Eine Paketbombe wird in einem Seminarraum der Universität entdeckt und entschärft. Keine Verletzten. 5. Mai 1982, Vanderbilt University, Nashville, Tennessee Janet Smith, Sekretärin der Fakultät für Computerwissenschaft, wird durch eine Paketbombe verletzt. 2.Juli 1982, University of California, Berkeley, Kalifornien Diogenes J. Angelakos, Professor für Elektro-Ingenieurswesen und Computerwissenschaft, wird durch eine Rohrbombe verletzt. 15. Mai 1985, University of California, Berkeley, Kalifornien Der Air-Force-Pilot und Ingenieurstudent John E. Hauser wird durch eine Bombe schwer verletzt. 13. Juni 1985, Boeing Aircraft Corp., Aubum, Washington Eine an die Produktionsabteilung der Boeing-Flugzeugwerke adressierte Paketbombe kann entschärft werden. Keine Verletzten. 15. November 1985, Ann Arbor, Michigan Professor James V. McConnell und sein Assistent Nicklaus Sui- no von der University of Michigan werden durch eine Paketbombe verletzt. 11. Dezember 1985, Sacramento, Kalifornien Hugh C. Scrutton, der Besitzer eines Versandhandels für Computer, wird durch eine mit Nägeln gefüllte Bombe getötet. 20. Februar 1987, Salt Lake City, Utah Gary Wright, Besitzer eines Computergeschäfts, wird durch eine Bombe verletzt. Eine Zeugin beobachtet, wie ein Mann mit Kapuze und dunkler Sonnenbrille die Bombe deponiert. Nach ihren Aussagen wird vom FBI das erste und einzige Phantombild des Unabombers angefertigt. 1987 Die Spezialeinheit UTF (Unabomber Task Force) wird verstärkt. Sechs Jahre lang gibt es keine vom FBI dem Unabomber zugeordneten Anschläge. 22. Juni 1993, Tiburon, Kalifornien Dr. Charles Epstein, ein Genetiker der Universität von Kalifornien, wird durch eine Paketbombe verletzt. 24. Juni 1993, New Haven, Connecticut Dr. David Gelernter, ein Computerexperte der Yale-Universität, wird durch eine Paketbombe schwer verletzt. 24.Juni 1993 Die New York Times erhält einen Brief einer bis dahin unbekannten Gruppe »FC«, die darin ihre öko-anarchistischen Überzeugungen erläutert. 10. Dezember 1994, North Caldwell, New Jersey Der Werbemanager Thomas Mosser wird durch eine Bombe getötet. 24. April 1995 Der Computerwissenschaftler Dr. David Gelernter, die Biologen Dr. Phillip A. Sharp vom M.I.T. und Dr. Richard J. Roberts von den New England Biolabs erhalten Briefe von »FC«, in denen sie zur Einstellung ihrer Forschungen aufgefordert werden. Am gleichen Tag erhält die New York Times einen Brief von »FC«, der Gründe aufzählt, weshalb Gelernter, Epstein und Mosser als Anschlagsziele ausgewählt wurden. Gleichzeitig bietet »FC« an, die »terroristischen Aktivitäten« einzustellen, wenn ein von »FC« verfasstes Manifest veröffentlicht wird. Der Brief endet mit den Worten: »We reserve the right to engage in Sabotage.« 24. April 1995, Sacramento, Kalifornien Gilbert G. Murray, Präsident der kalifornischen Behörde für Forstwirtschaft, wird durch eine Briefbombe getötet. 27. Juni 1995 Der San Francisco Chronicle erhält einen Brief von »FC«, der die Warnung enthält, dass »eine Terrorgruppe, vom FBI >Unabomber< genannt, in den nächsten Tagen die Zerstörung eines Flugzeugs nach dem Start vom Los Angeles International Airport plant«. 19. September 1995 Washington Post und New York Times publizieren zunächst in Auszügen und später vollständig das 35000 Worte umfassende Manifest Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft von »FC«. Februar 1996 David Kaczynski nimmt auf Drängen seiner Frau Kontakt mit dem FBI auf und gibt den Verdacht zu Protokoll, dass sein Bruder Ted der Autor des Manifests sein könnte. 3. April 1996 Ted Kaczynski wird von FBI-Agenten in seiner Hütte in Lincoln, Montana, verhaftet. 22. Januar 1998 Vor Beginn der Gerichtsverhandlung gegen Ted Kaczynski wird von den Anwälten mit der Regierung und dem Richter ein plea bargain ausgehandelt, das Ted Kaczynski akzeptiert. Das bedeutet: viermal lebenslänglich und 30 Jahre Zuchthaus, keine Einweisung in eine Psychiatrie, keine Todesstrafe und keine Möglichkeit auf Begnadigung; zusätzlich Zahlung von 15.026.000 $ an die Hinterbliebenen und Familien der Opfer.
LEBENSLAUF THEODORE JOHN KACZYNSKI 22. Mai 1942 Theodore John Kaczynski wird in Chicago (111.) geboren. Seine Mutter Theresa (Wanda) Dombeck Kaczynski ist Lehrerin, sein Vater Theodore Richard Kaczynski ist Metzger. 1990 begeht der Vater Selbstmord. 1958 Ted Kaczynski beginnt als 16-Jähriger das Studium der Mathematik an der Harvard-Universität, das er 1962 mit dem »Bachelor of Arts« abschließt. 1959 Versuchsperson für eine Studie des Psychologen Prof. H. A. Murray am Institut für Soziale Beziehungen der Harvard Universität. 1963-1967 Fortsetzung des Studiums an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Abschluss mit dem »Master of Arts« und Promotion. Späteren FBI-Berichten zufolge »erste psychiatrische Konsultationen und Pläne für ein Leben in den Wäldern abseits der Zivilisation«. 1967-1969 Assistenzprofessor am Department of Mathematics der Universität von Kalifornien in Berkeley. 1969 Ted Kaczynski kündigt seine Professur. Gelegenheitsjobs als Lagerarbeiter. Reist mit seinem Bruder David nach Kanada, um ein Stück Land für den gemeinsam geplanten Ausstieg zu suchen. 1970 Ted Kaczynski schickt einige Texte zu den Themen »Technologie und Freiheit« an Zeitungen in Chicago und überregionale Magazine. Keiner der Texte wird veröffentlicht. Liest die Bücher Die technologische Gesellschaft und Autopsie einer Revolution des französischen Autors Jacques Ellul, die ihn stark beeinflussen. Ablehnung des Kaufgesuchs für das Grundstück in Kanada. Ted Kaczynski ist arbeitslos und lebt von der Unterstützung durch seine Familie. 19. Juni 1971 Clifford Gehring Senior verpachtet ein kleines Landstück in Lincoln, Montana, an Ted und David Kaczynski. 1972-1973 Ted Kaczynski baut sich auf dem gepachteten Landstück eine Hütte. Mit einem Gewehr geht er auf die Jagd, stellt Fallen auf, mit denen er Hasen fängt, und zieht in einem kleinen Garten Möhren und Kartoffeln. Er kartografiert bei seinen ausgedehnten Wanderungen die Landschaft und protokolliert auf über 24000 Seiten seinen Alltag und Experimente verschiedenster Art. Viel Zeit verbringt er in der Bibliothek von Lincoln. Die Bibliothekarin Sherri Wood zählt ihn zu ihren Stammkunden und besorgt ihm per Fernleihe auch seltene Fachliteratur. Nach Aussagen seiner Nachbarn Chris Waits und Butch Gehring beginnt er Mitte der 70er Jahre, mit Explosivstoffen zu experimentieren. 1973 Gelegenheitsjob in Salt Lake City. 1988 Ted Kaczynski beginnt eine umfangreiche Korrespondenz mit dem mexikanischen Landarbeiter Juan Sánchez Areola, einem illegalen Immigranten. Berät Areola auch bei verschiedenen juristischen Problemen. 3.April 1996 Ted Kaczynski wird von FBI-Agenten in seiner Hütte verhaftet. Nach späteren Angaben der Staatsanwaltschaft finden die Ermittler bei der Durchsuchung der Hütte zahlreiches Belastungsmaterial: zum Bombenbau geeignete Zünder, Batterien und Kabel, eine funktionsfähige Bombe und codierte Notizbücher, in denen Ted Kaczynski angeblich den Wunsch äußert, jemanden zu töten und sich an der Gesellschaft zu rächen. Vor allem diese Textstellen gehören später zu den Kaczynski am meisten belastenden Indizien der Staatsanwaltschaft. 18. Juni 1996 Ted Kaczynski wird in Sacramento wegen der Morde an Scrutton und Murray und der Anschläge auf Epstein und Gelernter und später in New Jersey wegen des Mordes an Thomas J. Mosser angeklagt. 25. Juni 1996 Ted Kaczynski bezeichnet sich als nichtschuldig im Sinne der Anklage. 15. Mai 1997 Nach Presseberichten fordert die US-Justizministerin Janet Reno die Todesstrafe für Ted Kaczynski, die Clinton-Regierung sei »tough on terrorists«. 12. November 1997 Nach Medienberichten Aufnahme von Gesprächen über ein plea bargain (eine US-spezifische Form der Absprache zwischen Anklage und Verteidigung, um das Verfahren abkürzen oder um zu einem Ergebnis kommen zu können, wenn dessen Zustandekommen auf Grund mangelnder Beweislage oder anderer Gründe schwierig oder unmöglich erscheint) . 5. Dezember 1997 Ted Kaczynskis Hütte wird von der Verteidigung als Beweisstück für seine Geisteskrankheit nach Sacramento gebracht. 22. Dezember 1997 Meinungsverschiedenheiten zwischen Ted Kaczynski und seinen Pflichtverteidigern über die Prozessstrategie. 5. Januar 1998 Der Prozessbeginn wird mehrfach verschoben, weil Ted Kaczynski gegen die Strategie seiner Verteidiger protestiert, die versuchen, ihn als geisteskrank darzustellen. Er will in einem politischen Prozess den Gerichtssaal als Bühne für seine Anschauungen nutzen. 7.Januar 1998 Ted Kaczynski schlägt den linksliberalen kalifornischen Staranwalt J. Toni Serra als neuen Verteidiger vor, der bereit ist, das Mandat ohne Honorar zu übernehmen. Die Staatsanwaltschaft und der Richter lehnen den Wechsel der Verteidigung als zu spät und als Prozessverzögerung ab. In der darauf folgenden Nacht unternimmt Ted Kaczynski nach TV-Berichten einen Selbstmordversuch in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis von Sacramento. 8.Januar 1998 Ted Kaczynski verlangt vom Richter, sich selbst verteidigen zu dürfen. 9.Januar 1998 Richter Garland D. Burell ordnet eine psychiatrische Untersuchung Ted Kaczynskis an, um dessen Fähigkeit feststellen zu lassen, sich selbst zu verteidigen. Die Untersuchung führt Dr. Sally Johnson durch, eine forensische Psychiaterin beim U.S. Bureau of Prisons. 17. Januar 1998 Das Gutachten der Psychiater attestiert Ted Kaczynski paranoide Verhaltensstörungen und Schizophrenie, aber auch die Fähigkeit, sich selbst verteidigen zu können. Das Gutachten steht kurze Zeit später im Internet und wird in den Medien ausgiebig kommentiert. 22. Januar 1998 Richter Burell lehnt Kaczynskis Bitte ab, sich selbst verteidigen zu dürfen und ordnet an, dass Kaczynski den Prozess mit seinen bisherigen Verteidigern fortsetzen muss. Hinter verschlossenen Türen kommt es nun zu intensiven Gesprächen über ein plea bargain, das Kaczynski akzeptiert. Damit bekennt er sich schuldig im Sinne der Anklage, es erfolgt aber keine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt und kein Vollzug der Todesstrafe. 4.Mai 1998 Ted Kaczynski wird zu viermal lebenslänglich und zusätzlich 30 Jahren Zuchthaus verurteilt, unter Ausschluss der Möglichkeit auf Begnadigung. Er wird in das Hochsicherheitsgefängnis von Florence (Colorado) überführt. 17. August 2001 Sein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wird endgültig abgelehnt.
1Im Original werden hier die Ausdrücke »leftism« bzw. »leftist« in einem besonderen, im folgenden erörterten Verständnis des Begriffs verwendet. Das Substantiv »leftist« wird im Folgenden der Kürze wegen mit »Linker« übersetzt, das Adjektiv »leftist« mit »linksgerichtet«. Anm. d. Ü. 2Wir behaupten nicht, dass ALLE, ja noch nicht einmal die meisten, Rüpel und rücksichtslosen Konkurrenten an Minderwertigkeitsgefühlen leiden. 3Im viktorianischen Zeitalter litten viele überangepasste Menschen an ernsthaften psychischen Problemen, weil sie ihren Sexualtrieb unterdrückten oder zu unterdrücken versuchten. Freud hat offensichtlich seine Theorien an Menschen von diesem Typ entwickelt. Heute hat sich der Fokus der Sozialisation von der Sexualität zur Aggressivität verschoben. 4Nicht unbedingt eingeschlossen hoch spezialisierte Ingenieure oder Vertreter der »reinen« Wissenschaften. 5Es gibt viele Individuen aus der Mittel- und Oberschicht, die einige dieser Werte ablehnen, aber im Allgemeinen ist ihre Ablehnung mehr oder weniger bedeckt. Solche Ablehnung erscheint in den Massenmedien nur in sehr geringem Maße. Der Tenor der Propaganda in unserer Gesellschaft ist zugunsten der genannten Werte. Der Hauptgrund, aus dem diese Werte sozusagen die offiziellen Werte unserer Gesellschaft geworden sind, liegt darin, dass sie für das industrielle System nützlich sind. Gewalt wird verurteilt, weil sie das Funktionieren des Systems stören würde. Rassismus wird verurteilt, weil ethnische Konflikte ebenfalls das System stören und Diskriminierung die Talente von Angehörigen von Minderheitengruppen verschwendet, die dem System nützlich sein können. Armut muss »geheilt« werden, weil die unteren Klassen dem System Probleme bereiten und der Kontakt mit ihnen die Moral der anderen Klassen schwächt. Frauen werden in der Arbeitswelt unterstützt, weil ihre Begabungen dem System nützen und vor allem, weil Frauen mit fester Arbeit besser in das System direkt eingebunden werden anstatt nur über ihre Familien. Dies schwächt die familiäre Solidarität. (Die Führer des Systems behaupten, sie wollen die Familie stärken, aber tatsächlich wollen sie die Familie nur als effizientes Werkzeug zur Sozialisation der Kinder im Sinne des Bedarfs der Gesellschaft nutzen. Wir behaupten in den Abschnitten 51 und 52, dass sich das System nicht leisten kann, die Familie oder andere kleine soziale Gruppen stark und autonom werden zu lassen.) 6Was genau mit power process gemeint ist, wird im Folgenden erläutert. Es ist sowohl eine Art Trieb zur als auch eine Art Prozess der Selbstverwirklichung, weil aber die Macht (power) eine signifikante Rolle dabei spielt, soll der Begriff im englischen Original stehen bleiben. Anm. d. Ü. 7Man kann ein wenden, dass die Mehrheit der Menschen keine eigenen Entscheidungen treffen will, sondern Führer wünscht, die ihr das Denken abnehmen. Es gibt ein Körnchen Wahrheit in diesem Ein wand. Menschen treffen gerne ihre eigenen Entscheidungen in kleinen Dingen, aber Entscheidungen in schwierigen, grundlegenden Fragen erfordern Auseinandersetzungen bis hin zu psychologischen Konflikten. Also verlassen sie sich bei schwierigen Entscheidungen lieber auf andere. Aber daraus folgt nicht, dass sie sich gerne Entscheidungen aufstülpen lassen ohne die Gelegenheit, diese irgendwie zu beeinflussen. Die meisten Menschen sind geborene Mitläufer, nicht Führer, aber sie möchten direkten persönlichen Zugang zu den Führern haben, sie wollen die Führer beeinflussen können und in gewissem Maße sogar an den schwierigen Entscheidungen teilhaben. Mindestens zu diesem Grad brauchen auch sie Autonomie. 8Manche dieser Symptome ähneln denen von Tieren in Käfighaltung. 9Eine Ausnahme stellen einige passive, nach innen gerichtete Gruppen dar wie die Amish, die kaum Auswirkungen auf die größere Gesellschaft haben. Außer diesen existieren heute noch ein paar echte kleinere Gemeinschaften in Amerika. Zum Beispiel Jugendbanden und »Sekten«. Jeder hält sie für gefährlich, und das sind sie auch, weil die Mitglieder dieser Gruppen primär zueinander loyal sind anstatt zum System, also kann das System sie nicht kontrollieren. Oder nehmen wir die Zigeuner. Im Allgemeinen werden Zigeuner für Diebstahl und Betrug nicht bestraft, weil ihre Loyalitäten so geartet sind, dass sich immer andere Zigeuner finden werden, die durch ihre Aussage die Unschuld der ersten »beweisen«. Ganz offensichtlich wäre das System in ernster Gefahr, wenn zu viele Menschen solchen Gruppen angehörten. Einige chinesische Philosophen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erkannten, dass die Modernisierung Chinas es erfordern würde, kleine soziale Gemeinschaften wie die Familie zu zerstören: »(Nach Sun Yat-sen) brauchte das chinesische Volk eine neue Welle des Patriotismus, die zu einer Verschiebung der Loyalitäten von der Familie zum Staat führen würde. […] (Nach Li Huang) mussten traditionelle Bindungen, besonders in der Familie, aufgegeben werden, wenn sich in China Nationalismus entwickeln sollte.« [Chester C. Tan, Chinese Political Thought in the Twentieth Century, p.124, p.297] 10Es ist uns bewusst, dass das Amerika des 19. Jahrhunderts seine ernsten Probleme hatte, aber um der Kürze willen müssen wir vereinfachen. 11Wir vernachlässigen die »Unterschicht«. Wir sprechen vom Mainstream. 12Einige Soziologen, Pädagogen, Psychologen und dergleichen versuchen angestrengt, diese sozialen Triebe in die erste Gruppe zu verschieben, damit möglichst jeder ein zufriedenstellendes Sozialleben hat. 13Ist das Bedürfnis nach unbegrenztem Erwerb materieller Güter wirklich ein durch die Werbe- und Marketingindustrie künstlich geschaffenes? Mit Sicherheit gibt es keinen angeborenen Trieb, Vermögen anzuhäufen. Es hat viele Kulturen gegeben, deren Völker nur einen geringfügig über das absolut Lebensnotwendige hinausgehenden materiellen Wohlstand anstrebten (australische Aborigines, traditionelle mexikanische Bauemkulturen, einige afrikanische Kulturen). Andererseits hat es auch viele vorindustrielle Kulturen gegeben, in denen materieller Reichtum eine wichtige Rolle spielte. Wir können deshalb nicht behaupten, dass die heutige erwerbsorientierte Kultur ausschließlich eine Schöpfung der Werbe- und Marketingindustrie wäre. Dennoch ist offensichtlieh, dass die Werbe- und Marketingindustrie einen bedeutenden Anteil an der Schaffung dieser Kultur hatte. Die großen Unternehmen, die Millionen für Reklame ausgeben, würden dies kaum tun, wenn es nicht erwiesen wäre, dass sie dieses Geld durch erhöhte Verkäufe wieder einnehmen. Ein Mitglied von FC hat vor einigen Jahren einen Verkaufsmanager getroffen, der ihm offen und ehrlich erklärte: »Unser Job ist es, den Leuten Sachen aufzuschwatzen, die sie weder wünschen noch brauchen.« Dann beschrieb er, wie ungeübte Verkäufer jemandem die tatsächlichen Eigenschaften eines Produkts erläutern und damit gar keine Verkäufe machen, während erfahrene und professionelle Verkäufer denselben Kunden eine Menge Waren verkaufen können. Dies zeigt, dass die Menschen dahingehend manipuliert werden, Waren zu kaufen, die sie nicht wirklich wollen. 14Das Problem der Ziellosigkeit scheint seit Mitte der 1990er Jahre an Bedeutung verloren zu haben, weil sich die Menschen heute physisch und ökonomisch weniger abgesichert fühlen als früher und das Bedürfnis nach Sicherheit bietet ihnen ein Ziel. Aber statt der Ziellosigkeit ist jetzt die Frustration über die Schwierigkeit, Sicherheit zu erlangen, das Problem. Wir betonen das Problem der Ziellosigkeit, weil Linke unsere sozialen Probleme dadurch lösen wollen, dass die Gesellschaft jedem Sicherheit garantiert; aber selbst wenn das möglich wäre, würde das alte Problem der Ziellosigkeit wieder auftreten. Die Frage ist nicht, ob die Gesellschaft gut oder schlecht für die Sicherheit der Menschen sorgt; sondern das Problem liegt darin, dass die Menschen für ihre Sicherheit vom System abhängen und sie nicht in ihrer Hand liegt. Dies ist übrigens ein Grund dafür, dass sich manche Menschen so stark für das Recht, Waffen zu tragen, einsetzen; der Besitz eines Gewehrs vermittelt ihnen das Gefühl, wenigstens dieser Teil der Sicherheit liege in ihrer Hand. 15Die Bemühungen der Konservativen, die staatlichen Reglementierungen zu reduzieren, haben kaum Auswirkungen auf Durchschnittsbürger. Zum einen kann nur ein Bruchteil der Bestimmungen aufgehoben werden, da die meisten unverzichtbar sind. Zum anderen betrifft die Aufhebung solcher Bestimmungen meistens Geschäftsvorgänge und nicht Einzelpersonen, sodass das Ergebnis vor allem darin besteht, dass der Regierung Macht entzogen und privaten Großunternehmen gegeben wird. Für den Durchschnittsbürger bedeutet dies bloß, dass Eingriffe in sein Privatleben weniger durch die Regierung, sondern durch große Firmen geschehen, denen zum Beispiel erlaubt wird, mehr Chemikalien in sein Trinkwasser zu leiten und damit sein Krebsrisiko zu erhöhen. Die Konservativen halten den Durchschnittsbürger für einen Dummkopf und nutzen seinen Zorn auf die Großen in der Regierung zur Vergrößerung der Macht der Großen in der Geschäftswelt. 16Wenn jemand den Zweck von Propaganda in einem bestimmten Fall gutheißt, nennt er sie im Allgemeinen »Erziehung« oder mit einem ähnlichen Euphemismus. Doch Propaganda bleibt Propaganda, unabhängig vom Zweck, für den sie eingesetzt wird. 17Siehe auch Anm. 13 18Wir wollen zur Panama-Invasion weder Zustimmung noch Ablehnung zum Ausdruck bringen und bringen das Beispiel nur zur Verdeutlichung unseres Punkts. 19Als die amerikanischen Kolonien noch unter britischer Herrschaft standen, gab es weniger gesetzlich garantierte Freiheiten als nach dem Inkrafttreten der amerikanischen Verfassung, und doch gab es im vorindustriellen Amerika mehr persönliche Freiheiten, sowohl vor als auch nach dem Unabhängigkeitskrieg, als nach der Industriellen Revolution. Wir zitieren aus dem Werk Violence in America: Historical and Comparative Perspectives, hg. von Hugh Davis Graham und Ted Robert Gurr, Kapitel 12, S. 476-478, Roger Lane: »Die allmähliche Erhöhung der Standards gesellschaftlichen Benehmens und mit ihr die zunehmende Zuverlässigkeit der offiziellen Polizei (im Amerika des 19. Jahrhunderts) … waren der gesamten Gesellschaft gemein. … Die Veränderung der sozialen Umgangsformen vollzieht sich so langfristig und so umfassend, dass ein Zusammenhang mit dem grundlegendsten zeitgenössischen gesellschaftlichen Prozess anzunehmen ist, dem Prozess der industriellen Urbanisierung selbst. … 1835 hatte Massachusetts eine Bevölkerung von etwa 660.940, davon waren 81% dort geboren und lebten in vorwiegend vorindustriellen ländlichen Gebieten. Die Bürger genossen beträchtliche persönliche Freiheiten. Ob sie Fuhrmänner, Farmer oder Handwerker waren, sie waren daran gewöhnt, ihren Tagesablauf selbst zu bestimmen, und das Wesen ihrer Tätigkeit machte sie voneinander unabhängig. … Persönliche Schwierigkeiten, Sünden, selbst Verbrechen verursachten im Allgemeinen kein größeres gesellschaftliches Interesse. … Doch die zweifache Bewegung in die Städte und in die Fabrik, die 1835 gerade begann, verursachte sichtbare Veränderungen des persönlichen Verhaltens, das ganze 19. Jahrhundert hindurch bis ins 20. Jahrhundert. Die Fabrik erforderte Regelmäßigkeit, das Leben wurde vom Rhythmus von Uhr und Kalender bestimmt und von den Forderungen der Vorarbeiter und Aufseher. Das Leben in enger Nachbarschaft in den Städten verbat nun viele Dinge, die zuvor nichts Anstößiges hatten. Sowohl Arbeiter als auch Angestellte in größeren Unternehmen waren auf ihre Kollegen angewiesen; da die Arbeit des einen vom anderen abhing, die eigenen Angelegenheiten waren nicht mehr nur die eigenen. Die Folgen dieser neuen Organisationsform wurden um 1900 sichtbar, als 76% der inzwischen 2.805.346 Einwohner von Massachusetts Städter waren. Gewalttätiges oder ungewöhnliches Verhalten, das in einer ungezwungenen, unabhängigen Gesellschaft toleriert werden konnte, war in der formelleren, kooperativen Atmosphäre der späteren Zeit nicht mehr tragbar. … Die Verstädterung hatte, kurz gesagt, eine Generation hervorgebracht, die fügsamer, stärker sozialisiert und >zivilisierter< war als ihre Vorfahren.« 20siehe auch Anm. 16 21Apologeten des Systems zitieren gerne Fälle, in denen Wahlen durch eine oder zwei Stimmen entschieden wurden, diese Fälle sind aber äußerst selten. 22»Geographische, religiöse und politische Unterschiede unberücksichtigt, lebt heute in technisch entwickelten Ländern der Mensch unter ganz verwandten Bedingungen. Der Alltag eines christlichen Bankangestellten in Chicago, eines buddhistischen in Tokio und eines kommunistischen in Moskau hat mehr Verwandtes als das Leben irgendeines der drei mit dem Leben irgendeines Mannes vor tausend Jahren. Diese Verwandtschaft ruht in der gemeinsamen Technik […].« L. Sprague de Camp, The Ancient Engineers; deutsch: Ingenieure der Antike, Düsseldorf/Wien 1965, S. 26. Die Lebensläufe der drei Bankangestellten sind nicht IDENTISCH. Ideologie hat sicher EINIGE Auswirkungen. Aber um zu überleben, müssen sich alle technologischen Gesellschaften in einer ANNÄHERND gleichen Richtung entfalten. 23Man stelle sich nur vor, ein verantwortungsloser Genetiker erschaffe einen Haufen von Terroristen. 24Ein weiteres Beispiel unerwünschter Folgen des medizinischen Fortschritts wäre eine verlässliche Heilmethode gegen Krebs. Selbst wenn die Behandlung so teuer wäre, dass sie nur der Elite zugute käme, würde sie den Anreiz, sich gegen den Austritt krebserregender Stoffe in die Umwelt einzusetzen, schwächen. 25Da es für die meisten paradox klingen mag, dass eine große Anzahl von guten Sachen zu einer schlechten Sache werden kann, wollen wir diesen Punkt mit einer Analogie illustrieren. Nehmen wir an, dass A mit B Schach spielt. Dabei schaut C, ein Großmeister im Schach, A über die Schulter. Selbstverständlich möchte Adas Spiel gewinnen, wenn C ihm also einen guten Zug empfiehlt, tut er A damit einen Gefallen. Nehmen wir jetzt aber an, C empfiehlt A ALLE Züge. Dann tut er A in jedem einzelnen Moment einen Gefallen, wenn er ihm den besten Zug zeigt, aber wenn er ALLE Züge für ihn tut, dann verdirbt er das Spiel, denn es hat keinen Sinn für A, das Spiel zu spielen, wenn jemand anderes alle seine Züge macht. Die Situation des modernen Menschen gleicht der von A. Das System erleichtert das Leben des Einzelnen auf vielerlei Weise, aber gerade dadurch beraubt es ihn der Kontrolle über sein eigenes Schicksal. 26Vgl. Anm. 16 27Wir betrachten hier nur die Konflikte zwischen allgemein anerkannten Werten. Um der Einfachheit willen verzichten wir auf eine Darstellung von Wertvorstellungen von »Außenseitern« wie der, dass die ursprüngliche Natur generell wichtiger sei als das wirtschaftliche Wohlergehen der Menschen. 28Eigeninteresse bedeutet nicht immer MATERIELLES Eigeninteresse. Es kann auch um die Erfüllung psychischer Bedürfnisse gehen, zum Beispiel die eigene Ideologie oder Religion zu fördern. 29Eine Einschränkung: Es ist im Interesse des Systems, in einigen Gebieten Freiheit zu einem genau umschriebenen Grad zu gewähren. Zum Beispiel nützt ökonomische Freiheit (mit angemessenen Einschränkungen und Auflagen) erwiesenermaßen dem Wirtschaftswachstum. Im Interest des Systems liegt aber nur geplante, fest umrissene und begrenzte Freiheit. Der Einzelne muss immer an der Leine geführt werden, selbst wenn diese Leine manchmal lang ist. Vgl. Abschnitte 94 und 97. 30Wir wollen damit nicht behaupten, die Leistungsfähigkeit oder das Überlebenspotenzial einer Gesellschaft stünden stets in einem umgekehrten Verhältnis zum Ausmaß von Unterdrückung oder Unbehagen, dem die Gesellschaft die Menschen aussetzt. Das ist sicherlich nicht der Fall. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass viele primitive Gesellschaften die Menschen weniger unterdrückt haben, als es die europäische Gesellschaft getan hat, aber die europäische Gesellschaft hat sich als wesentlich leistungsfähiger als jede primitive Gesellschaft erwiesen und war aufgrund ihres technologischen Fortschritts diesen Gesellschaften immer überlegen. 31Wer glaubt, eine leistungsfähigere Polizei sei unzweideutig eine gute Sache, weil sie Verbrechen verhindere, sei daran erinnert, dass das, was das System als Verbrechen definiert, nicht notwendigerweise auch von einem SELBST als Verbrechen betrachtet wird. Heute ist es ein »Verbrechen«, Marihuana zu konsumieren, und in einigen Staaten der USA auch der Besitz einer nichtregistrierten Handfeuerwaffe. Morgen ist vielleicht der Besitz JEGLICHER Feuerwaffe, registriert oder nicht, ein Verbrechen, und dasselbe mag für missbilligte Erziehungsmethoden wie die körperliche Züchtigung gelten. In manchen Ländern ist die Äußerung einer abweichenden politischen Meinung ein Verbrechen, und es gibt keine Gewissheit, dass dies in den USA nicht auch passieren könnte, da keine Verfassung und kein politisches System ewig dauern. Wenn eine Gesellschaft eine starke und mächtige Polizei braucht, dann liegt etwas in dieser Gesellschaft sehr im Argen; sie muss die Menschen stark unter Druck setzen; sie ist deshalb genötigt, Menschen unter Druck zu setzen, da sich so viele weigern, sich an die Vorschriften zu halten. In der Vergangenheit sind viele Gesellschaften ohne offizielle oder mit einer schwachen Polizei ausgekommen. 32Sicher hatten auch vergangene Gesellschaften Einflussmöglichkeiten auf menschliches Verhalten, diese waren aber verhältnismäßig primitiv und wirkungslos verglichen mit den technologischen Möglichkeiten, die jetzt entwickelt werden. 33Einige Psychologen haben ihre Geringschätzung menschlicher Freiheit allerdings öffentlich bekanntgegeben. Und der Mathematiker Claude Shannon wird in Omni (August 1987) mit den Worten zitiert: »Ich sehe eine Zeit vor mir, in der wir für die Roboter sein werden, was Hunde jetzt für Menschen sind, und ich stimme für die Maschinen.« 34Vgl. Anm. 16 35Das ist keine Science-Fiction! Nachdem wir den Abschnitt 154 niedergeschrieben hatten, stießen wir auf einen Artikel im Scientific American, demzufolge Wissenschaftler an Methoden, mit denen mögliche zukünftige Verbrecher identifiziert und mit biologischen und psychologischen Mitteln behandelt werden können. Einige Wissenschaftler setzen sich für die obligatorische Anwendung dieser Behandlungen ein, die in nächster Zeit verfügbar sein werden. (Siehe »Seeking the Criminal Element« von W. Wayt Gibbs, Scientific American,, März 1995.) Man mag denken, dies sei schon in Ordnung, weil damit ja nur die potenziellen Gewaltverbrecher behandelt würden. Doch dort würde man sicher nicht stehen bleiben. Als nächstes würde man auf diese Weise potenzielle Alkoholiker am Steuer behandeln (die auch Menschenleben bedrohen), dann würde man sich diejenigen vornehmen, die ihre Kinder prügeln, dann die Umweltschützer, die Holzfällertransporte sabotieren, und schließlich jeden, dessen Verhalten nicht systemkonform ist. 36Ein weiterer Vorteil der Natur als Gegen-Ideal zur Technologie liegt darin, dass die Natur vielen Menschen eine Art religiöser Verehrung einflößt, sodass die Natur vielleicht in religiöser Form angebetet werden könnte. Zwar hat die Religion in vielen Gesellschaften als Rechtfertigung und Stütze der etablierten Ordnung gedient, aber ebenso oft bot Religion die Basis für einen Aufstand. Es wäre also von Nutzen, den Aufstand gegen die Technologie mit einem religiösen Element zu versehen, umso mehr, als die westliche Gesellschaft heute keine starke religiöse Grundlage besitzt. Heutzutage wird die Religion entweder zur billigen und leicht zu durchschauenden Unterstützung von engstirnigem, kurzsichtigem Egoismus genutzt (einige Konservative bedienen sich ihrer auf diese Weise), oder sie wird zynisch missbraucht, um Geld damit zu machen (von vielen Predigern), oder sie ist zu krudem Irrationalismus degeneriert (bei fundamentalistischen protestantischen Sekten), oder aber sie stagniert einfach (im Katholizismus oder im gewöhnlichen Protestantismus). Am nächsten kommt der Vorstellung von einer starken, weit verbreiteten dynamischen Religion noch die Quasi-Religion der linksgerichteten Ideologie, die der Westen jüngst erlebt hat, aber die Linke heute ist zersplittert und hat kein klares, einheitliches, begeisterndes Ziel. Somit existiert ein religiöses Vakuum in unserer Gesellschaft, das man vielleicht durch eine Religion ausfüllen könnte, in deren Zentrum die Natur als Gegensatz zur Technologie steht. Es wäre allerdings ein Irrtum, wenn man versuchen würde, eine künstliche Religion zusammenzubasteln, die diese Rolle übernimmt. Eine solche erfundene Religion wäre ein Misserfolg. Ein Beispiel dafür ist die »Gaia«-Religion. Glauben ihre Anhänger WIRKLICH daran oder spielen sie bloss Theater? In diesem Fall wäre ihre Religion schließlich ein Flop. Es wäre wohl am besten, nicht den Versuch zu machen, in den Konflikt Natur gegen Technologie die Religion einzuführen, wenn man nicht selbst WIRKLICH an diese Religion glaubt und meint, dass sie auch in anderen Menschen tiefen, starken, echten Anklang finden wird. 37Wir setzen voraus, dass es den einen entscheidenden Durchbruch geben wird. Es ist auch denkbar, dass das industrielle System graduell und stückweise abgeschafft wird. Vgl. die Abschnitte 4 und 167 sowie die Anm. 38. 38Es ist sogar (entfernt) denkbar, dass die Revolution nur in einer massiven Haltungsänderung gegenüber der Technologie bestehen würde, die eine stufenweise und relativ schmerzlose Zersetzung des industriellen Systems zur Folge hätte. Das wäre aber ein ausgesprochener Glücksfall. Es ist viel wahrscheinlicher, dass der Übergang zu einer nichttechnologischen Gesellschaft sehr schwierig und voller Konflikte und Katastrophen sein wird. 39Die wirtschaftliche und die technologische Struktur einer Gesellschaft sind für das normale Leben eines Durchschnittsbürgers wesentlich wichtiger als ihre politische Struktur. Vgl. Abschnitte 95 und 119 und die Anm. 19 und 22. 40Diese Behauptung bezieht sich auf einen Anarchismus nach unserem besonderen Verständnis. Eine Reihe von sehr verschiedenen gesellschaftlichen Einstellungen wurden als »anarchistisch« bezeichnet, möglicherweise werden auch viele, die sich selbst zu den Anarchisten zählen, unsere Behauptung nicht akzeptieren. Auch sei angemerkt, dass es eine gewaltlose anarchistische Bewegung gibt, deren Mitglieder FC wahrscheinlich nicht als Anarchisten anerkennen würden und sicherlich auch die gewalttätigen Methoden von FC nicht für angemessen halten. 41Viele Linke sind auch durch Feindseligkeit getrieben, aber die Feindseligkeit entsteht wohl teilweise aus dem frustrierten Bedürfnis nach Macht. 42Wir möchten betonen, dass hier jemand gemeint ist, der mit diesen BEWEGUNGEN, wie sie heute in unserer Gesellschaft bestehen, sympathisiert. Jemand, der glaubt, dass Frauen, Homosexuellen usw. gleiche Rechte zustehen, ist nicht notwendigerweise ein Linker. Die feministische, Schwulen- usw. -bewegung, die heute in unserer Gesellschaft existieren, haben diesen besonderen ideologischen Ton, der linksgerichtete Ideologie charakterisiert, und wenn man zum Beispiel für die Gleichberechtigung von Frauen ist, folgt daraus nicht notwendigerweise, dass man mit der feministischen Bewegung, wie sie heute existiert, sympathisiert.

Telekom-Funkmast in Flammen: Polizei schließt Brandstiftung nicht aus

via Abendzeitung
Eine Telekom-Sendeanlage in Waldtrudering wird schwer beschädigt. Ein Anschlag gilt als wahrscheinlich. Staatsschutz und Generalstaatsanwalt ermitteln inzwischen. Waldtrudering – Ein Mobilfunkmast der Telekom ist in der Nacht auf Freitag in Waldtrudering in Flammen aufgegangen. Der Sachschaden wird von der Polizei auf rund eine Million Euro geschätzt. Nicht das erste Mal, dass in München Kommunikationseinrichtungen brennen. Ein Anschlag gilt deshalb derzeit als die wahrscheinlichste Ursache für den Brand.

Funkmast abgefackelt: Kein Netz mehr für Telekom-Kunden?

Wie eine überdimensionale Fackel ragte der etwa 30 Meter hohe Funkmast in den Nachthimmel. Die Flammen waren kilometerweit zu sehen. Gegen 3.15 Uhr ging bei der Berufsfeuerwehr der Alarm ein. Die Einsatzkräfte bekämpften die Flammen mit einem Wasserwerfer über eine Drehleiter in der Höhe sowie mit mehreren Schläuchen vom Boden aus. „Bereits nach 30 Minuten war der Brand gelöscht“, sagte ein Sprecher der Feuerwehr. Abschließend nahmen Mitarbeiter der Stadtwerke den Mast vom Stromnetz. Die Standsicherheit des Funkmastes sei nicht gefährdet, teilte die Feuerwehr am Freitag mit. Der Schaden an der Anlage dürfte sich nach Schätzungen im Millionenbereich bewegen. „Nach ersten Erkenntnissen“, so Polizeisprecher Werner Kraus, „wurde der Mobilfunkmast vollständig zerstört“. Die technischen Auswirkungen des Brandes für die Kunden halten sich laut Telekom allerdings in Grenzen. „Der Ausfall eines solchen Mobilfunkmasten in der Stadt hat keine gravierenden Auswirkungen“, sagte Telekom-Sprecher Markus Jodl auf AZ-Anfrage. „Der Mobilfunkverkehr wird durch die umliegenden Standorte recht gut aufgefangen. Lediglich die Netzqualität sinkt leicht.“

Brennender Funkmast: Vieles deutet auf Brandstiftung hin

Inzwischen hat der Staatsschutz, das Kommissariat K43, zuständig für Delikte aus dem linken Spektrum, die weiteren Ermittlungen übernommen. Am Freitagmittag zog die Generalstaatsanwaltschaft München das Verfahren an sich. Ein deutlicher Hinweis, dass die Behörden von einem Anschlag ausgehen und nicht von einem Blitzschlag, ausgelöst durch ein Gewitter über Waldtrudering. In und um München wurden bereits mehrere Anschläge auf Versorgungseinrichtungen verübt. Zuletzt gingen im Mai in Freimann 28 Glasfasertrommeln in Flammen auf. Im August 2021 löste ein Brandanschlag auf Erdkabel am Ostbahnhof einen weitreichenden Stromausfall aus. Linke Aktivisten übernahmen damals die Verantwortung. Brandstifter haben in den vergangenen Jahren in München und dem Umland mehrmals Funkmasten und Infrastruktureinrichtungen angezündet. Gesamtschaden: rund vier Millionen Euro.

[HH] ++ Update zum „Parkbank-Verfahren“ ++ Haftentlassung für einen der Gefährten

Gefunden auf kontrapolis [HH] ++ Update zum „Parkbank-Verfahren“ ++ Haftentlassung für einen der Gefährten Veröffentlicht am 1. Juni 2023 Seit im Juli 2019 drei anarchistische Mitstreiter*innen auf einer Hamburger Parkbank verhaftet und im November 2020 nach einem Monate andauernden Prozess … Weiterlesen

Brandstiftung an Baumaschinen im Steinbruch „Kammerbruch“

via Polizei Gotha
Am Freitagabend gegen 19:30 Uhr kam es zum Löscheinsatz der Feuerwehr im Steinbruch „Kammerbruch“ am Seeberg. Nachdem durch Zeugen eine Rauchentwicklung über dem Seeberg beobachtet wurde, konnten durch die Feuerwehr zwei in Brand stehende Baumaschinen im Steinbruch festgestellt und gelöscht werden. Es entstand hierbei an beiden Maschinen hoher Sachschaden. Die Polizei Gotha ermittelt nun wegen Brandstiftung.

Brennende Fahrzeuge im Industriegebiet

via Schwäbische Post
Ellwangen. Am frühen Freitagmorgen gegen 3.45 Uhr wurden dem Polizeipräsidium Aalen mehrere brennende Fahrzeuge auf einem Firmengelände im Industriegebiet Neunheim in der Veit-Hirschmann-Straße mitgeteilt. Beim Eintreffen der ersten Polizeistreife konnten die Beamten feststellen, dass bereits zwei Fahrzeuge im Vollbrand standen und das Feuer auf drei danebenstehenden Fahrzeuge übergriff. Die Autos wurden durch die Feuerwehr Ellwangen, die mit sechs Fahrzeugen und 28 Einsatzkräfte vor Ort kam, bis etwa 4.35 Uhr gelöscht. Bei dem Brand entstand ein Schaden im sechsstelligen Bereich. Weil die Fahrzeuge bereits längere Zeit auf dem Firmengelände unbewegt abgestellt waren, muss derzeit von einer Brandstiftung ausgegangen werden.

Zwei Bagger auf Baustelle angezündet

via LVZ
Gegen 4.30 Uhr am Dienstag haben auf einer Baustelle im Leipziger Osten mehrere Bagger gebrannt. Die Polizei ermittelt wegen Brandstiftung und bittet die Bevölkerung um Hinweise. Leipzig. Auf einer Baustelle in Anger-Crottendorf hat es am frühen Dienstagmorgen gebrannt. Wie die Polizei mitteilte, sind durch das Feuer zwei Bagger beschädigt worden. Es wurden keine Personen verletzt. Die Kriminalpolizei hat Ermittlungen wegen vorsätzlicher Brandstiftung aufgenommen. Gegen 4.30 Uhr wurde die Feuerwehr zu dem Brand in die Straße Am Güterring im Leipziger Osten gerufen. Der Hinweis kam von einer Bürgerin, hieß es von der Polizei. Den Angaben nach konnte das Feuer rasch gelöscht werden. Ein Rad- und ein Kettenbagger wurden von den Flammen erfasst. Wie hoch der Sachschaden ausfiel, konnten die Beamtinnen und Beamten am Morgen noch nicht beziffern.

200 000 Euro Schaden bei Großbrand auf Baustelle

via sz.de
Dutzende Kabeltrommeln brennen in Harlaching, das Feuer droht auf benachbarte Häuser überzugreifen. Die Polizei schließt eine Brandstiftung mit politischer Motivation nicht aus. Bei einem Großbrand auf einer Baustelle in Harlaching sind 26 Kabeltrommeln für Glasfaser- und Leerrohre zerstört worden. Die Flammen griffen auf Hecken und Zäune über und bedrohten Wohnhäuser, wie die Feuerwehr mitteilte. Eine Anwohnerin hatte in der Nacht zu Freitag die brennenden Kabeltrommeln gemeldet. Als die Einsatzkräfte an der Baustelle in der Bozzarisstraße ankamen, schlugen ihnen meterhohe Flammen entgegen. Durch die enorme Hitze gerieten den Angaben zufolge auf der gegenüberliegenden Straßenseite Hecken und Gartenzäune von Wohnhäusern in Brand. An einem Wohnhaus war eine Fensterscheibe durch die Hitzeeinwirkung gesprungen. Die Löscharbeiten dauerten bis in den frühen Morgen. Um an alle Glutnester zu gelangen, mussten die Einsatzkräfte einen Radlader anfordern, um die Kabeltrommeln auseinanderzuziehen. Der Schaden wird auf mehr als 200 000 Euro geschätzt. Die Polizei hat die Ermittlungen zur Brandursache aufgenommen. Sie schließt eine Brandstiftung mit möglicherweise politischer Motivation nicht aus.

Die Prostitution während des revolutionären Prozesses und des Krieges (1936-1939)

Dieser Text erschien in der Nummer 44 der anarchistischen Publikation Ekintza Zuzena im Jahr 2018.
Die Prostitution während des revolutionären Prozesses und des Krieges (1936-1939) Für die anarchistische Militanz war die Prostitution ein Kopfzerbrechen, sowohl vor als auch nach dem Juli 1936. Die revolutionäre Bewegung schien sich darüber im Klaren zu sein, was sie in Bezug auf die Kirche oder die Nicht-Privatisierung von Land zu tun hatte, musste aber bei einem tausendjährigen Thema wie Sexarbeiterinnen improvisieren.   Keine Organisation hatte ein klares Programm zu diesem Thema und erst mit der Gründung von Mujeres Libres begann die Arbeit mit definierten Kriterien und Zielen. Es waren die Anarchistinnen, die die Debatten anstießen, um einen gemeinsamen Plan für die Zukunft der Prostitution im Vorfeld der Revolution aufzustellen. In den Jahren vor dem Juli 1936 waren diejenigen, die sich mit dem Thema beschäftigten, Einzelfälle, wie Caracremada, der als letzter anarchistischer Maqui (A.d.Ü., Partisane) bekannt ist, der 1963 ermordet wurde. Zwischen Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre war das Llobregat-Becken eines der Arbeiterzentren, in denen der Widerstand am größten war, und 1932 kam es zu einer Erhebung von aufständischer Art. Ramon Vila, Caracremada, spielte bei dieser Revolte eine wichtige Rolle. Vor diesem Ereignis und seiner darauffolgenden Inhaftierung wurde Ramon Vila oft in den Bordellen von Berga gesehen. Er fuhr die mehr als vierzig Kilometer zwischen Figols und Berga auf Bergstraßen und suchte sich dort ein Mädchen aus. Er zahlte ihr fünf Peseten, um ihr eine Stunde lang Gesellschaft zu leisten. Allein in dem Zimmer zog sich niemand aus oder streichelte den anderen. Vila verbrachte die ganze Stunde damit, sich mit seiner Klassengefährtin zu unterhalten. Er sprach mit ihr über Anarchismus und die Notwendigkeit von individueller und sozialer Emanzipation. Er versuchte, sie davon zu überzeugen, die Branche zu verlassen und eine organisierte Arbeiterin und Kämpferin zu werden. Zeitzeugen berichten, dass mehr als eine Frau nach so viel Ansprache auf ihn hörte, aus der Prostitution ausstieg und sich anschließend an der revolutionären Bewegung von 1936 beteiligte. Diese Anekdote wurde mir von dem Historiker und Militanten Ricard Vargas Golarons erzählt, der sie wiederum von Ramonet Xic und Caracremadas eigener Schwester, Pepeta Vila, gehört hatte. Auch Josep Clara stellt auf Seite 20 seiner Biografie über Ramón fest, dass er diese Arbeit gemeinsam mit anderen Kampfgefährten leistete: „Er traf sich mit anderen Gefährten des Ideals, um den Frauen in den Freudenhäusern zu helfen. Es heißt, dass es ihm durch das Predigen der Lehre von der sozialen Befreiung gelungen sei, einige von ihnen dazu zu bringen, das sogenannte ‚älteste Gewerbe der Welt‘ aufzugeben“. Eine andere Anekdote aus dieser Zeit hat mir der Anthropologe José Luis Ruiz Peinado erzählt. In den 1930er Jahren erklärten Militante der CNT den Sexarbeiterinnen die Notwendigkeit, für ihre Interessen zu kämpfen und von den Bossen verschiedene Verbesserungen zu fordern. Ihnen wurde erklärt, dass sie das Recht auf einen Ruhetag haben und dafür bezahlt werden sollten, und dass sie dies von den Zuhältern oder Madams einfordern sollten. Die Tage vergingen und da die Mädchen sich nicht trauten, den Zuhältern – viele von ihnen skrupellose Schläger – ihre Forderung mitzuteilen, erschienen eines Morgens mehrere bewaffnete Anarchisten und nahmen sie „mit Gewalt“ mit. Sie verbrachten einen Tag auf dem Lande in Baix Llobregat und genossen ein Picknick. Nach dem proletarischen Ausbruch vom 19. Juli 1936 Revolutionäre Prozesse verändern nicht nur die sozialen und politischen Beziehungen, sondern auch die persönlichen und die Liebesbeziehungen. „Die Botschaft muss Brot und Orgasmus sein“, versicherte David Cooper, „sonst ist die Revolution, selbst wenn sie siegt, die Mühe nicht wert.“ Abel Paz, der die Ereignisse in Barcelona im Juli 1936 direkt miterlebte, beschrieb die Situation folgendermaßen: „Der Geist der Solidarität und Brüderlichkeit entstand spontan: Männer und Frauen, befreit von den Vorurteilen, die die bourgeoise Ideologie jahrhundertelang in sie hineingelegt hatte, brachen mit der alten Welt und marschierten einer Zukunft entgegen, die sich jeder als die Erfüllung seiner oder ihrer sehnlichsten Wünsche vorstellte“. Abel Paz hielt auch den Eindruck anderer Zeugen fest, die von einem „großen Befreiungsfest der Energie und der Leidenschaften“ sprachen und miterlebten, wie eine Gruppe von Frauen eine Bankfiliale plünderte und mit den Möbeln und Geldscheinen ein Lagerfeuer anzündete, wobei sie lachend und zufrieden zusahen, wie das Geld verbrannte. Wenn auch etwas idealistisch, dachten die Protagonisten dieser Ereignisse, dass die Prostitution, von der sie glaubten, dass sie die Sexarbeiterinnen so erniedrigte, tendenziell zurückgehen und langfristig sogar verschwinden würde, wenn die sexuellen Beziehungen gesünder und die Löhne weniger notwendig würden. „Wahre Freiheit lässt keine Sklaven zu“, sagten die Militanten von Mujeres Libres, „die Prostituierte ist eine mit Ketten und Elend belastete Sklavin […]. Sie ist das eklatanteste Beispiel für den Zusammenhang zwischen ökonomischer Ausbeutung und sexueller Unterwerfung von Frauen“. Mujeres Libres kämpften nicht nur für die Abschaffung des Sexgewerbes, sondern erarbeiteten auch innovative Vorschläge, die zu einer Veränderung der Mentalität der Männer, des Geschlechterverhaltens und der sexuellen Muster führen sollten. Die Trotzkistin Mary Low gibt in ihren Memoiren Cuaderno Rojo de Barcelona das Gespräch einiger Milizionäre in der Straßenbahn wieder, nachdem sie von einem Plakat überrascht wurden, das ein Ende der Prostitution forderte. Als die Männer den Aufruf zu Ende gelesen hatten, machten sie sich als Erstes Gedanken darüber, wie sie ihre „sexuellen Triebe“ loswerden könnten, wenn die Prostituierten verschwänden. Selbst wenn der Krieg gewonnen wurde und eine soziale Revolution stattfand, glaubten sie nicht, dass die Frauen „so frei“ werden würden, dass sie ihren ständigen Drang nach Sex befriedigen könnten. Es kam ihnen nicht in den Sinn, zu analysieren, dass in einer Gesellschaft, in der die Arbeit nicht im Mittelpunkt steht oder Freizeit und Arbeitszeit nicht aufgeteilt sind, in der die Menschen nicht der Mittel zur Ernährung und Produktion beraubt sind und in der, kurz gesagt, die zwischenmenschlichen Beziehungen freundschaftlicher, komplizenhafter und befriedigender sind, die Frauen genauso eifrig oder sogar noch eifriger sein könnten, Liebe zu machen, wie sie es waren. Sie wussten nichts von den Chroniken der Eroberung Amerikas, die von skandalisierten Kolonialisten geschrieben wurden und in sie behaupteten, dass die indigene Bevölkerung einen Großteil des Tages mit Sex verbrachte. Mary Low erklärt, dass die Milizionäre das Gespräch verfolgten und sich fragten, was sie mit den Huren machen würden, die es bereits gab, wenn die Prostitution verboten würde. Sie bezweifelten, dass es einen Weg geben würde, sie zu ändern, ob sie einen Job in einer Fabrik annehmen würden. Einer von ihnen schlug vor, dass sie Krankenschwestern werden oder an die Front gehen sollten. Ein anderer entgegnete, dass viele bereits an der Front waren, sich aber wegen fehlender Kontrollen viele Soldaten mit Geschlechtskrankheiten angesteckt hatten. Kämpfende Sexarbeiterinnen Der Film Libertarias erzählt die Geschichte einer Gruppe von Militanten der CNT, die in ein Bordell eindringen, dessen Schließung, die Züchtigung von La Madama und den Kunden und die Rede einer Anarchistin gegen Prostitution und für die Revolution. Die Aktion geht an die Front, wo Militante und ehemalige Prostituierte aus dem geschlossenen Bordell Seite an Seite mit anderen Milizionären und Milizionärinnen kämpfen. Die Beteiligung von Prostituierten am sozialen Kampf überraschte den Rest des Proletariats nicht. Jahre zuvor hatten viele von ihnen an einigen der wichtigsten Aufstände in Barcelona teilgenommen. Zum Beispiel 1918 während der Brotrevolte oder 1909 während der so genannten (für die Bourgeoisie) Tragischen Woche, in der Prostituierte eine führende Rolle im Aufstand spielten, indem sie den Bau von Barrikaden und das Niederbrennen von Kirchen anführten. „María Llopis Berges, eine berühmte Prostituierte, die als ‚Quaranta centims‘ bekannt war, führte eine Gruppe von Männern und Frauen durch den Paralelo; zuerst zerschlugen sie die Möbel und Fenster von Cafés, die sich weigerten, zu schließen, dann warfen sie eine Straßenbahn um und griffen eine Patrouille der Guardia Civil an“ (Joan Connelly Ullman, La semana trágica, S. 50). Der Historiker Agustín Guillamon sichert, dass während des Aufstands vom 19. Juli einige Prostituierte im Kampf gegen die Putschisten mitwirkten. „Wenn es eine Revolution gibt, gibt es keine Prostitution“. Der Slogan vieler Revolutionäre, die sicherten, dass es bei einer echten sozialen Revolution keine Prostitution geben sollte, denn wenn es Zufriedenheit gibt, braucht man nicht zu zahlen. Andere entgegnen, dass sie Fälle wie den einiger Menschen mit funktionaler Vielfalt nicht berücksichtigen, die ohne Partner und ohne Hände nicht in der Lage wären, sich selbst zu befriedigen und trotzdem Hilfe bräuchten. Die Debatte ist offen. Die einen sagen, dass, wenn der Tausch wegfällt, die Hilfe von der Gemeinschaft als Ganzes käme oder dass jemand aus Zuneigung oder aus reiner Befriedigung des Vergnügens ihnen helfen würde, während die anderen bedauern, dass in aufständischen Zeiten diese Probleme und Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen nie berücksichtigt werden. Während des so genannten Spanischen Bürgerkriegs nahm die Prostitution gerade deshalb zu, weil sich das, was als revolutionärer Prozess begonnen hatte, sehr bald in einen innerbourgeoisen Krieg verwandelte, mit seinen regulären Armeen, seinen Befehlshabern und seinen bourgeoisen Regierungen. Und bekanntlich nimmt in jedem Krieg das Sexgewerbe zu. In seinem Buch La prostitución en la España contemporánea (Prostitution im heutigen Spanien) weist Jean Louis Guereña darauf hin, dass es noch nie zuvor so viel Sex gab, aber er versichert uns, dass auch die Zahl der Prostituierten zunahm. Nach Ansicht des Autors haben einerseits ökonomische Bedürfnisse – manchmal aufgrund des Todes des Ehemannes – und andererseits der Drang nach sofortigem Vergnügen angesichts der Schrecken des Krieges das Wachstum des Gewerbes ausgelöst. Die meisten Milizionäre drängten sich, wenn sie von der Front kamen, auf den Straßen, wo sich Prostituierte anboten, oder „überfielen“ die Bordelle, von denen einige zwar geschlossen, andere aber wieder geöffnet wurden. Die Zeitung Liberación de Alicante warnte im Juli 1937: „Die Prostitution von Minderjährigen findet vor den Augen derjenigen statt, die nichts sehen wollen und sie ignorieren“. Laut Jean Louis Guereña war die Prostitution auf nationaler Ebene erlaubt, weil in einer Gesellschaft, „die auf dem festen Pfeiler der christlichen Familie gegründet war, das Bordell noch immer als wesentlicher Bestandteil der moralischen Ordnung, des Schutzes der weiblichen Jungfräulichkeit und der Ruhe der christlichen Familien angesehen wurde. Und wie ein Jurist 1944 argumentierte, würde die Unterdrückung der Prostitution ein viel ernsteres sexuelles Problem schaffen als ihre Regulierung“. Die Zunahme des Sexgewerbes erfolgte trotz des Aufkommens internationaler abolitionistischer Organisationen und Propaganda und trotz der Besorgnis der Vereinten Nationen über dieses Thema. Es sei daran erinnert, dass die Republik 1935 eine Maßnahme zur Abschaffung der Prostitution erlassen hatte, die zu Beginn des Krieges wieder zurückgenommen wurde. Mary Low verweist in ihrem Cuaderno Rojo de Barcelona auf die großen Plakate mit dem Slogan: „Machen wir der Prostitution ein Ende“: „Das erste Mal, dass ich ein Plakat gegen Prostitution sah, war, als ich mit der Straßenbahn die Ramblas entlangfuhr. Es war die erste Erwähnung des Themas, die ich gesehen habe. Ich war sehr froh, dass die Perspektiven erweitert wurden. Das Plakat war riesig und bedeckte einen ganzen Zaun. Es erregte die Aufmerksamkeit aller […]. Die Prostituierten selbst begannen, sich um ihre eigenen Interessen zu kümmern. Es dauerte nicht lange, bis es ihnen in den Sinn kam, sich selbst zu behaupten. Und eines Tages wurde ihnen klar, dass auch sie einen Platz in der Revolution hatten. Sie erhoben sich gegen die Bosse, denen die Bordelle gehörten, und besetzten die „Arbeitsplätze“. Sie riefen ihre Gleichberechtigung aus. Nach einer Reihe von stürmischen Debatten gründeten sie eine Gewerkschaft/Syndikat und beantragten die Aufnahme in die CNT (Confederación Nacional del Trabajo). Sie genossen die gleichen Vorteile wie alle anderen Gewerkschaften. Von da an hingen die Bordelle anstelle des üblichen Bildes des „Heiligen Herzens“ ein Schild mit der Aufschrift: „Es wird gebeten, die Frauen als Kameradinnen zu behandeln“. Wie bereits erwähnt, waren es die Militanten der Gruppe Mujeres Libres, deren Zeitschrift ab April 1936 erschien, die sich am engagiertesten mit dem Thema Prostitution auseinandersetzten. Ihre Initiatorinnen waren die Schriftstellerin Lucía Sánchez Saornil, die Juristin und Pädagogin Mercedes Comaposada Guillén und die Ärztin Amparo Poch y Gascón. In ihrer Zeitschrift stellten sie klar: „Wir kämpfen nicht gegen Männer“. Mujeres Libres trat zunächst für die Abschaffung der Prostitution ein und setzte sich später, als sie mit der Unmöglichkeit dieser Maßnahme konfrontiert wurde, für die Würde der Sexarbeiterinnen ein. Sie behauptete, dass Prostitution nur dann abgeschafft werden kann, wenn die sexuellen Beziehungen befreit werden. Der abolitionistische Eifer dieser Gruppe hatte nichts mit dem Puritanismus anderer Sektoren/Bereiche zu tun, die für ein Verbot der Prostitution eintraten. Obwohl Anarchisten und Revolutionäre im Allgemeinen viele Einschränkungen hatten – wie zum Beispiel, dass sie nicht mit der Heteronormativität brachen und in vielen Fällen Homosexualität kritisierten – versuchten sie, den Puritanismus der damaligen Zeit abzustreifen. Mujeres Libres zum Beispiel forderten die Liebe außerhalb der Ehe, da sie diese bourgeoise Institution als Symbol für die Unterwerfung des Menschen unter den Staat und das Eigentum sahen. In Nr. 3 der Zeitschrift Mujeres Libres, die wenige Tage vor dem Ausbruch des Aufstands im Juli 1936 erschien, unterzeichnete Amparo Poch y Gascón eine „Lobrede auf die freie Liebe“, in der es hieß, dass angesichts der: „Die entwürdigende Akzeptanz der Ehe – Vertrag und Regulierung des Unveräußerlichen – hat jene rote und runde, volle und beredte, überwältigende und vielversprechende Frucht hervorgebracht: den Ehebruch. Er ist der natürliche und menschliche Protest gegen das schwere Hindernis für das Erhabene und Unwägbare; und er rechtfertigt wie ein frisches Lachen, zwischen spöttisch und ehrlich, das volle Recht auf die Freiheit zu lieben, das Überfließen über alle künstlichen Kanäle, der Bewertung der Persönlichkeit. […] Wirf ein neues Modul für die Einschätzung deines Geschlechts ins Leben. Das Leben hat genug von der Frau-Ehefrau, schwer, zu ewig, die ihre Flügel und ihren Geschmack für das köstlich Kleine und das edel Große verloren hat; es hat genug von der Frau-Prostituierten, die nichts mehr hat als die knappe tierische Wurzel; es hat genug von der Frau-Tugend, ernst, weiß, fade, stumm […]. Lerne zu verschwinden und dich deiner Anwesenheit zu entledigen; und erkenne den Wert des freien ‚Ich‘. Mit nichts, weder für Geld noch für Frieden noch für Ruhe… Freie Liebe!“ Wie heute gab es auch eine Strömung, die die Ausbeutung von Prostituierten relativierte und sie mit anderen Lohnverhältnissen oder sogar mit der Unterwerfung und Verfügbarkeit für einen Ehemann, den sie verabscheuten, gleichsetzte. Bereits 1910 erklärte Emma Goldman in ihrem Artikel „Die Heuchelei des Puritanismus“: „Es gibt keinen Ort, an dem eine Frau nach ihren Fähigkeiten, ihren Verdiensten und nicht nach ihrem Geschlecht behandelt wird. Es ist daher fast unvermeidlich, dass sie mit sexuellen Gefälligkeiten für ihr Recht zu existieren oder eine Position zu bekleiden, bezahlen muss. Es ist nur eine Frage des Grades, ob sie sich an einen Mann, ob ehelich oder außerehelich, oder an viele verkauft. Auch wenn unsere Reformer es nicht wahrhaben wollen, ist es die ökonomische und soziale Unterlegenheit der Frauen, die für die Prostitution verantwortlich ist“. Liberatorios1 der Prostitution Zunächst wurde versucht, Sexarbeiterinnen durch Bildung und materielle Unterstützung davon zu überzeugen, ihren Beruf aufzugeben. Es wurden Reformatorien, die sogenannten Liberatorios de prostitución, eröffnet, um die soziale Wiedereingliederung durch verschiedene Maßnahmen zu fördern. Zunächst wurde eine medizinisch-psychiatrische Behandlung angeboten und später wurden ethische und berufliche Schulungen durchgeführt, damit die Frauen eine andere Arbeit finden konnten. Doch diese „andere Arbeit“ entging nicht der Ausbeutung, egal wie sehr die Kollektivierung und das Loblied auf die Arbeit in kollektivierten Fabriken auch gesungen wurde. Zu diesem Thema ist Michael Seidmans Buch empfehlenswert: Zu einer Geschichte der Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit:Barcelona während der Spanischen Revolution, 1936-38. Infolgedessen arbeiteten viele weiterhin im Sexgewerbe und begannen zu kämpfen, um sich „von den Liberatorios zu befreien“2. Laut Fernando Díaz-Plaja kamen auf jede Frau, die es schaffte, „sich wieder einzugliedern und in einer Werkstatt oder einem Büro zu arbeiten, zehn, die in ihren früheren Beruf zurückkehrten“, entweder als Selbstständige oder in Bordellen. Die starke männliche Nachfrage erzeugte das Angebot, und Fabrikarbeit, selbst wenn sie für die Republik geleistet wurde, war entfremdend. Francisco Martínez argumentiert, dass „in Barcelona, wie auch in Valencia, die FAI die Kontrolle über die Bordelle im Barrio Chino (A.d.Ü., runtergekommene Altstadt) übernahm“. In diesem Fall war es nicht ihr Ziel, dem Sexgewerbe ein Ende zu setzen. Vielmehr ging es darum, ihn zu humanisieren. Sie versuchten, den Kunden bewusst zu machen, dass sie die „öffentlichen Frauen“ richtig behandeln müssen, indem sie ihnen erklärten, dass jede von ihnen ihre Schwester oder ihre Mutter sein könnte. Auf jeden Fall, so Francisco Martínez weiter, „war es ein Beruf, der eine ’soziale Funktion‘ erfüllte“. Laut dem Historiker Agustín Guillamon waren die „Liberatorios“ Zentren, in denen die Prostitution ausgeübt wurde, in denen aber auch versucht wurde, sie zu überzeugen, einen anderen Beruf zu wählen. Der damalige Leiter des Gesundheitsdienstes der Generalitat erklärte: „Die Prostituierte stellt die letzte Stufe eines Prozesses der Fehlanpassung in seiner dreifachen Ausprägung dar: sozial, amourös, biologisch […] Wir dachten daran, Liberatorios mit etwa zweihundert Plätzen einzurichten, die das Aussehen und die Annehmlichkeiten eines Heims hatten – und niemals die Ähnlichkeit eines Gefängnisses“. An Orten, an denen der revolutionäre Prozess weiter fortschritt, wurde der gesamte Sexugewerbe für ein paar Monate verboten. In diesem Zusammenhang zitiert Guillamón in seinem Buch La revolución de los comités das Boletín de Información CNT-FAI, Nummer 37 (29. August 1936), in dem es heißt „In Puigcerdá, einer Stadt, die an französisches Territorium grenzt und Sommerresidenz der ‚parasitären Kasten der spanischen Aristokratie und Plutokratie‘ ist, entwickeln zahlreiche aus Frankreich eingewanderte Militante ‚ihre Aktivitäten, die auf die schnelle Vergesellschaftung des sozialen und natürlichen Reichtums abzielen. Es wurden einheitliche Löhne eingeführt, ohne Unterscheidung von Kategorien und Berufen. Es gibt keine Zwangsarbeitslosen und keine Schmarotzer“. Puigcerdá wurde als libertärer Kanton bezeichnet und Antonio Martín als Gouverneur der Grenze, der von den Libertären hoch gelobt und von ihren Gegnern kriminalisiert wurde. In Puigcerdá wurde die Prostitution abgeschafft und „Arbeit für die unglücklichen Huren bereitgestellt“. Die Entscheidung war also viel radikaler und weitreichender als die bedauerliche Regelung in Barcelona“. Die Geschlechtskrankheiten und die Stigmatisierung von Prostituierten, Milizionärinnen und Frauen im Allgemeinen Während ihres Aufenthalts an der Front litten die Milizionärinnen unter der Bevormundung und dem Machismo der Militärhierarchen und Cenetista-Anführer, die sie ausschlossen, weil sie als Überträgerinnen von Geschlechtskrankheiten (für sie und nicht für die Männer) und vielen anderen Problemen galten. Begriffe wie Milizionärinnen , Prostitution, Frauen und Geschlechtskrankheiten waren eng miteinander verknüpft. Wenn Frauen im Allgemeinen in den Schützengräben abgelehnt wurden, wurden Prostituierte im Besonderen verfolgt. In diesem Zusammenhang weist Emilienne Morin, Durrutis Lebensgefährtin, darauf hin: „Es gibt ein Kapitel in der Kolonne, das ich klarstellen möchte: Es ist völlig falsch, dass Durruti Prostituierte erschießen ließ. Tatsächlich kamen einige Prostituierte auf eigene Faust und mussten nach Barcelona zurückkehren, weil sie Angst vor der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten hatten, das ist alles. „Interviú, S. 52 (12.-18. Mai 1977). Interview von Pedro Costa Muste. An der Front war das Militärgesundheitsamt präsent, eine Institution, die jederzeit handeln konnte; sie konnte die Räumlichkeiten einer Lokalität betreten und die Prostituierten untersuchen und sie schließen, wenn sie Personal mit Geschlechtskrankheiten fand. Im Bulletin von Igualada wurden die Sexarbeiterinnen sogar als „eine Herde entwürdigter Frauen“ bezeichnet. „Der Prozess der Diskreditierung der Figur der Milizionärin, die oft einfach oder fast mit einer Prostituierten gleichgesetzt wurde, war in der hispanischen Öffentlichkeit offenbar allgemein verbreitet“, sagt Jean Louis Guereña. Die Front schien kein geeigneter Ort für Frauen zu sein (oder galt nach der traditionellen Frauenrolle immer noch als solcher), ein Beispiel, dem man folgen sollte. Es stimmt jedoch, dass es einigen mehr oder weniger „reformierten“ Prostituierten gelang, sich in bestimmte republikanische Milizen zu integrieren. Sogar Propaganda-Comics wurden gemacht, um Soldaten zum Handeln zu bewegen. Wie die Publikation „Hay que evitar ser tan bruto como el soldado canuto“ (Man muss vermeiden, so brutal zu sein wie der dümmste Soldat) zeigt. Herausgegeben vom Comisariado General de Guerra (A.d.Ü., Generalkommissariat des Krieges). Ziel war die Bekämpfung der Prostitution als Mittel zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Fernando Hernández Holgado zitiert in seinem Buch Mujeres encarceladas: la prisión de Ventas de la República al franquismo Regina García: „Von den Frauen und Krankenschwestern der Miliz, einschließlich der armen Frauen, die einst in den frühen Morgenstunden auf den Straßen Gefälligkeiten anboten, hieß es, dass sie mehr Opfer unter den Kämpfern verursachten als die Kugeln der nationalistischen Soldaten, weil es keine Gesundheitsüberwachung gab und die Moral fehlte“. Auf der nationalistischen Seite war das Bild der Milizionärinnen noch schlechter. Holgado zitiert einen berüchtigten Satz von Antonio Vallejo-Nájera, der in der Revista española de Medicina y Cirugía de Guerra, Jahrgang II, Nr. 9, Mai 1939 veröffentlicht wurde. Dieser Fachmann, Leiter der psychiatrischen Dienste von Francos Armee und erster Professor für Psychiatrie in Madrid, behauptete: „Wenn Frauen normalerweise einen sanften, süßen und freundlichen Charakter haben, liegt das an den Bremsen, die auf sie einwirken; aber da die weibliche Psyche viele Berührungspunkte mit dem Kindlichen oder Tierischen hat, wird, wenn die Bremsen, die die Frauen sozial eindämmen, verschwinden und sie von Hemmungen befreit werden, die die instinktiven Impulse zurückhalten, der Instinkt der Grausamkeit im weiblichen Geschlecht geweckt und überwindet alle intelligenten und logischen Hemmungen.“ Rodrigo Vescovi Ekintza Zuzena nº44
1A.d.Ü., Liberatorio ist ein Ort in dem man befreit werden soll (sic). 2A.d.Ü., „liberarse de los liberatorios“, hier handelt es sich um ein Wortspiel, etwa ‚sich von den Befreiungsorten zu befreien‘.

Die Heuchelei des Puritanismus (Emma Goldman 1917)

Gefunden auf marxists.org, die Übersetzung ist von uns.
Die Heuchelei des Puritanismus (Emma Goldman 1917) Erstmals veröffentlicht: Emma Goldman, Anarchism and Other Essays (Dritte überarbeitete Auflage), New York: Mother Earth Publishing Association, 1917.
Als er über den Puritanismus in Bezug auf die amerikanische Kunst sprach, sagte Gutzon Borglum: „Der Puritanismus hat uns so lange egozentrisch und heuchlerisch gemacht, dass uns Aufrichtigkeit und Ehrfurcht vor dem, was in unseren Impulsen natürlich ist, regelrecht herausgezüchtet wurden, mit dem Ergebnis, dass es in unserer Kunst weder Wahrheit noch Individualität geben kann.“ Herr Borglum hätte hinzufügen können, dass der Puritanismus das Leben selbst unmöglich gemacht hat. Mehr als die Kunst, mehr als der Ästhetizismus, stellt das Leben die Schönheit in tausend Variationen dar; es ist in der Tat ein gigantisches Panorama des ewigen Wandels. Der Puritanismus hingegen beruht auf einer festen und unverrückbaren Vorstellung vom Leben; er basiert auf der calvinistischen Idee, dass das Leben ein Fluch ist, der dem Menschen durch den Zorn Gottes auferlegt wurde. Um sich zu erlösen, muss der Mensch ständig Buße tun, jeden natürlichen und gesunden Impuls verleugnen und sich von Freude und Schönheit abwenden. Der Puritanismus feierte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in England seine Schreckensherrschaft und zerstörte und zermalmte jede Manifestation von Kunst und Kultur. Es war der Geist des Puritanismus, der Shelley seine Kinder raubte, weil er sich nicht dem Diktat der Religion beugen wollte. Es war derselbe engstirnige Geist, der Byron von seinem Heimatland entfremdete, weil das große Genie gegen die Eintönigkeit, Langweiligkeit und Kleinlichkeit seines Landes rebellierte. Es war auch der Puritanismus, der einige der freiesten Frauen Englands in die konventionelle Lüge der Ehe zwang: Mary Wollstonecraft und später auch George Eliot. Und vor kurzem hat der Puritanismus einen weiteren Tribut gefordert – das Leben von Oscar Wilde. Tatsächlich ist der Puritanismus seit jeher der schädlichste Faktor im Reich von John Bull, der als Zensor der künstlerischen Ausdrucksformen seines Volkes fungiert und nur die Dumpfheit der mittelständischen Respektabilität absegnet. Es ist also purer britischer Jingoismus, der Amerika als das Land des puritanischen Provinzialismus bezeichnet. Es stimmt, dass unser Leben durch den Puritanismus verkümmert ist und dass dieser das Natürliche und Gesunde in unseren Impulsen abtötet. Aber es ist auch wahr, dass wir es England zu verdanken haben, dass dieser Geist auf amerikanischem Boden Einzug gehalten hat. Er wurde uns von den Pilgervätern vermacht. Auf der Flucht vor Verfolgung und Unterdrückung errichteten die Pilger der Mayflower in der Neuen Welt eine Herrschaft der puritanischen Tyrannei und des Verbrechens. Die Geschichte Neuenglands und insbesondere von Massachusetts ist voll von den Schrecken, die das Leben in Düsternis, Freude und Verzweiflung, Natürlichkeit in Krankheit, Ehrlichkeit und Wahrheit in abscheuliche Lügen und Heuchelei verwandelt haben. Der Entenschemel und der Peitschenpfahl sowie zahlreiche andere Foltermethoden waren die beliebtesten englischen Methoden zur Reinigung der Amerikaner. Boston, die Stadt der Kultur, ist in die Annalen des Puritanismus als „blutige Stadt“ eingegangen. Sie rivalisierte sogar mit Salem, was die grausame Verfolgung nicht genehmigter religiöser Ansichten anging. Auf dem berühmten Common wurde eine halbnackte Frau mit einem Baby auf dem Arm wegen des Verbrechens der freien Meinungsäußerung öffentlich ausgepeitscht; und an der gleichen Stelle wurde 1659 Mary Dyer, eine weitere Quäkerin, gehängt. Tatsächlich war Boston der Schauplatz von mehr als einem mutwilligen Verbrechen, das der Puritanismus begangen hat. In Salem wurden im Sommer 1692 achtzehn Menschen wegen Hexerei getötet. Massachusetts war auch nicht der einzige Staat, der den Teufel mit Feuer und Schwefel vertrieb. Wie Canning zu Recht sagte: „Die Pilgerväter haben die Neue Welt heimgesucht, um das Gleichgewicht der Alten Welt wiederherzustellen.“ Die Schrecken dieser Zeit haben ihren höchsten Ausdruck in dem amerikanischen Klassiker Der scharlachrote Buchstabe gefunden. Der Puritanismus benutzt zwar nicht mehr die Daumenschraube und die Peitsche, aber er hat immer noch einen äußerst schädlichen Einfluss auf den Verstand und die Gefühle des amerikanischen Volkes. Nichts anderes kann die Macht eines Comstocks erklären. Wie die Torquemadas der Vor-Bellum-Zeit ist Anthony Comstock der Alleinherrscher der amerikanischen Moral; er diktiert die Maßstäbe für Gut und Böse, für Reinheit und Laster. Wie ein Dieb in der Nacht schleicht er sich in das Privatleben der Menschen, in ihre intimsten Beziehungen. Das Spionagesystem, das dieser Mann Comstock aufgebaut hat, stellt die berüchtigte Dritte Abteilung der russischen Geheimpolizei in den Schatten. Warum duldet die Öffentlichkeit einen solchen Angriff auf ihre Freiheiten? Ganz einfach, weil Comstock nur der lautstarke Ausdruck des Puritanismus ist, der den Angelsachsen im Blut liegt und von dem sich selbst Liberale noch nicht vollständig emanzipieren konnten. Die visionslosen und bleiernen Elemente der alten Young Men’s and Women’s Christian Temperance Unions, der Purity Leagues, der American Sabbath Unions und der Prohibition Party mit Anthony Comstock als Schutzpatron sind die Totengräber der amerikanischen Kunst und Kultur. Europa kann sich zumindest einer kühnen Kunst und Literatur rühmen, die sich tief in die sozialen und sexuellen Probleme unserer Zeit hineinbegeben und eine scharfe Kritik an all unseren Betrügereien üben. Wie mit dem Messer eines Chirurgen wird jeder puritanische Kadaver zerlegt und so der Weg für die Befreiung des Menschen von den toten Lasten der Vergangenheit geebnet. Aber mit dem Puritanismus als ständiger Kontrolle des amerikanischen Lebens ist weder Wahrheit noch Aufrichtigkeit möglich. Nichts als Düsternis und Mittelmäßigkeit diktieren das menschliche Verhalten, schränken die natürlichen Ausdrucksmöglichkeiten ein und unterdrücken unsere besten Triebe. Der Puritanismus ist im zwanzigsten Jahrhundert genauso ein Feind von Freiheit und Schönheit, wie er es war, als er auf dem Plymouth Rock landete. Er lehnt sie ab, aber da er die wahren Funktionen der menschlichen Gefühle nicht kennt, ist der Puritanismus selbst der Urheber der unsagbarsten Laster. Die gesamte Geschichte der Askese beweist, dass dies nur zu wahr ist. Sowohl die Kirche als auch der Puritanismus haben das Fleisch als etwas Böses bekämpft; es musste um jeden Preis unterdrückt und versteckt werden. Das Ergebnis dieser bösartigen Haltung wird erst jetzt von modernen Denkern und Erziehern erkannt. Sie erkennen, dass „Nacktheit sowohl einen hygienischen Wert als auch eine spirituelle Bedeutung hat, die weit darüber hinausgeht, dass sie die natürliche Neugierde der Jugendlichen besänftigt oder krankhaften Gefühlen vorbeugt. Sie ist eine Inspiration für Erwachsene, die längst über ihre jugendliche Neugierde hinausgewachsen sind. Der Anblick der essenziellen und ewigen menschlichen Gestalt, die uns in ihrer Kraft, Schönheit und Anmut am nächsten ist, ist eines der wichtigsten Stärkungsmittel des Lebens.“1 Aber der Geist des Purismus hat den menschlichen Geist so verdorben, dass er die Schönheit der Nacktheit nicht mehr zu schätzen weiß und uns zwingt, die natürliche Form unter dem Vorwand der Keuschheit zu verbergen. Die Keuschheit selbst ist jedoch nur eine künstliche Auferlegung der Natur, die eine falsche Scham über die menschliche Gestalt zum Ausdruck bringt. Die moderne Vorstellung von Keuschheit, besonders in Bezug auf die Frau, ihr größtes Opfer, ist nichts anderes als die sinnliche Übertreibung unserer natürlichen Triebe. „Die Keuschheit hängt von der Menge der Kleidung ab“, und deshalb beeilen sich Christen und Puristen stets, den „Heiden“ mit Fetzen zu bedecken und ihn so zu Güte und Keuschheit zu bekehren. Der Puritanismus mit seiner Pervertierung der Bedeutung und Funktionen des menschlichen Körpers, insbesondere in Bezug auf die Frau, hat sie zum Zölibat, zur wahllosen Zucht einer kranken Rasse oder zur Prostitution verdammt. Die Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit wird deutlich, wenn wir die Folgen betrachten. Der unverheirateten Frau wird absolute sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt, mit der Folge, dass sie als unmoralisch oder abgefallen gilt. Dies führt zu Nervenschwäche, Impotenz, Depressionen und einer Vielzahl von Nervenleiden, die mit verminderter Arbeitsfähigkeit, eingeschränkter Lebensfreude, Schlaflosigkeit und der Beschäftigung mit sexuellen Wünschen und Vorstellungen einhergehen. Das willkürliche und verderbliche Diktum der totalen Kontinenz erklärt wahrscheinlich auch die geistige Ungleichheit der Geschlechter. So glaubt Freud, dass die intellektuelle Unterlegenheit so vieler Frauen auf die Denkhemmung zurückzuführen ist, die ihnen zum Zweck der sexuellen Repression auferlegt wurde. Nachdem der Puritanismus die natürlichen sexuellen Wünsche der unverheirateten Frau unterdrückt hat, segnet er andererseits ihre verheiratete Schwester für ihre unkontinuierliche Fruchtbarkeit in der Ehe. Er segnet sie sogar nicht nur, sondern zwingt die durch die vorherige Repression übersexualisierte Frau, Kinder zu gebären, ungeachtet ihrer geschwächten körperlichen Verfassung oder ihrer ökonomischen Unfähigkeit, eine große Familie zu gründen. Verhütung, selbst mit wissenschaftlich sicheren Methoden, ist absolut verboten; ja, schon die Erwähnung des Themas wird als kriminell angesehen. Dank dieser puritanischen Tyrannei sind die meisten Frauen schon bald am Ende ihrer körperlichen Kräfte. Krank und erschöpft sind sie völlig unfähig, ihre Kinder auch nur ansatzweise zu versorgen. Zusammen mit dem ökonomischen Druck zwingt das viele Frauen dazu, lieber das Äußerste zu riskieren, als weiter Leben zu gebären. Der Brauch, Abtreibungen vorzunehmen, hat in Amerika so große Ausmaße angenommen, dass es kaum noch zu glauben ist. Jüngste Untersuchungen haben ergeben, dass auf hundert Schwangerschaften siebzehn Abtreibungen entfallen. Dieser erschreckende Prozentsatz bezieht sich nur auf die Fälle, die den Ärzten bekannt sind. In Anbetracht der Geheimhaltung, in die diese Praxis notwendigerweise gehüllt ist, und der daraus resultierenden Ineffizienz und Vernachlässigung, fordert der Puritanismus ständig Tausende von Opfern für seine eigene Dummheit und Heuchelei. Obwohl die Prostitution gejagt, eingesperrt und in Ketten gelegt wird, ist sie dennoch der größte Triumph des Puritanismus. Sie ist sein liebstes Kind, ungeachtet aller heuchlerischen Scheinheiligkeit. Die Prostituierte ist die Furie unseres Jahrhunderts, die wie ein Wirbelsturm über die „zivilisierten“ Länder hinwegfegt und eine Spur von Krankheit und Unheil hinterlässt. Das einzige Heilmittel, das der Puritanismus für dieses ungeborene Kind anbietet, ist eine noch stärkere Repression und eine noch gnadenlosere Verfolgung. Der neueste Frevel ist das Page-Gesetz, das dem Staat New York das schreckliche Versagen und Verbrechen Europas auferlegt, nämlich die Registrierung und Identifizierung der unglücklichen Opfer des Puritanismus. Auf ebenso dumme Weise versucht der Puritanismus, die schreckliche Geißel seiner eigenen Schöpfung einzudämmen – die Geschlechtskrankheiten. Besonders entmutigend ist, dass dieser Geist der stumpfen Engstirnigkeit sogar unsere so genannten Liberalen vergiftet und sie dazu verleitet hat, sich dem Kreuzzug gegen genau das anzuschließen, was aus der Heuchelei des Puritanismus entstanden ist – Prostitution und ihre Folgen. In vorsätzlicher Blindheit weigert sich der Puritanismus zu sehen, dass die wahre Präventionsmethode diejenige ist, die allen klar macht, dass „Geschlechtskrankheiten keine mysteriöse oder schreckliche Sache sind, die Strafe für die Sünde des Fleisches, eine Art schändliches Übel, das durch puristische Verleumdung gebrandmarkt wird, sondern eine gewöhnliche Krankheit, die behandelt und geheilt werden kann.“ Der Puritanismus hat mit seinen Methoden der Verdunkelung, Verschleierung und Verheimlichung günstige Bedingungen für das Wachstum und die Verbreitung dieser Krankheiten geschaffen. Die Bigotterie des Puritanismus zeigt sich am deutlichsten in der sinnlosen Haltung gegenüber der großen Entdeckung von Prof. Ehrlich, der das wichtige Heilmittel gegen Syphilis mit vagen Anspielungen auf ein Mittel gegen „ein bestimmtes Gift“ verschleierte. Die fast grenzenlose Fähigkeit des Puritanismus zum Bösen ist darauf zurückzuführen, dass er sich hinter dem Staat und dem Gesetz verschanzt. Unter dem Vorwand, das Volk vor „Unmoral“ zu schützen, hat er den Staatsapparat imprägniert und seiner Anmaßung der moralischen Vormundschaft die gesetzliche Zensur unserer Ansichten, Gefühle und sogar unseres Verhaltens hinzugefügt. Kunst, Literatur, das Theater, das Postgeheimnis, ja sogar unsere intimsten Vorlieben sind diesem unerbittlichen Tyrannen ausgeliefert. Anthony Comstock oder ein anderer ebenso ignoranter Polizist hat die Macht erhalten, das Genie zu entweihen und die erhabenste Schöpfung der Natur – die menschliche Gestalt – zu beschmutzen und zu verstümmeln. Bücher, die sich mit den wichtigsten Fragen unseres Lebens befassen und versuchen, Licht in gefährlich verdunkelte Probleme zu bringen, werden gesetzlich als Straftaten behandelt und ihre hilflosen Autoren ins Gefängnis geworfen oder in die Zerstörung und den Tod getrieben. Nicht einmal im Herrschaftsbereich des Zaren wird die persönliche Freiheit täglich in einem solchen Ausmaß beschnitten wie in Amerika, der Hochburg der puritanischen Eunuchen. Hier ist der Sonntag, der einzige Tag der Erholung, der den Massen bleibt, abscheulich und völlig unmöglich gemacht worden. Alle Autoren, die sich mit primitiven Bräuchen und der antiken Zivilisation befassen, sind sich einig, dass der Sabbat ein Tag der Feste war, frei von Sorgen und Pflichten, ein Tag der allgemeinen Freude und des Frohsinns. In allen europäischen Ländern sorgt diese Tradition für eine gewisse Erleichterung im Vergleich zur Eintönigkeit und Dummheit unseres christlichen Zeitalters. Überall füllen sich Konzertsäle, Theater, Museen und Gärten mit Männern, Frauen und Kindern, vor allem mit Arbeiterinnen und Arbeitern und ihren Familien, die voller Leben und Freude sind und die normalen Regeln und Konventionen ihres Alltags vergessen. An diesem Tag zeigen die Massen, was das Leben in einer gesunden Gesellschaft wirklich bedeuten könnte, in der die Arbeit von ihrem gewinnbringenden und seelenzerstörenden Zweck befreit ist. Der Puritanismus hat den Menschen sogar diesen einen Tag geraubt. Natürlich sind nur die Arbeiterinnen und Arbeiter davon betroffen: Unsere Millionäre haben ihre luxuriösen Häuser und ausgeklügelten Clubs. Die Armen hingegen sind zur Monotonie und Langweiligkeit des amerikanischen Sonntags verdammt. Die Geselligkeit und der Spaß des europäischen Lebens unter freiem Himmel werden hier mit der Düsternis der Kirche, der stickigen, keimgesättigten Landstube oder der verrohenden Atmosphäre des Hinterzimmersaloons vertauscht. In den Prohibitionsstaaten fehlt es den Menschen sogar an letzterem, es sei denn, sie können ihren mageren Verdienst in gepanschten Schnaps investieren. Was die Prohibition angeht, weiß jeder, was für eine Farce sie ist. Wie alle anderen Errungenschaften des Puritanismus hat auch sie den „Teufel“ nur noch tiefer in das menschliche System getrieben. Nirgendwo sonst trifft man so viele Trunkenbolde wie in unseren Prohibitionsstädten. Aber solange man den fauligen Atem der Heuchelei mit Duftbonbons lindern kann, ist der Puritanismus siegreich. Angeblich ist die Prohibition aus Gründen der Gesundheit und der Ökonomie gegen den Alkohol, aber da der Geist der Prohibition selbst abnormal ist, schafft sie nur ein abnormales Leben. Jede Anregung, die die Fantasie beflügelt und die Lebensgeister weckt, ist für unser Leben so notwendig wie Luft. Er belebt den Körper und vertieft unsere Sicht auf die menschliche Gemeinschaft. Ohne Anreize in der einen oder anderen Form ist schöpferische Arbeit unmöglich, ebenso wie der Geist der Freundlichkeit und Großzügigkeit. Die Tatsache, dass einige große Genies zu oft ihr Spiegelbild im Kelch gesehen haben, rechtfertigt nicht den Versuch des Puritanismus, die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle zu fesseln. Ein Byron und ein Poe haben die Menschheit tiefer bewegt als alles, was Puritaner je zu tun hoffen können. Erstere haben dem Leben Sinn und Farbe gegeben; letztere verwandeln rotes Blut in Wasser, Schönheit in Hässlichkeit, Vielfalt in Gleichförmigkeit und Verfall. Puritanismus, in welcher Form auch immer, ist ein giftiger Keim. Oberflächlich betrachtet mag alles stark und kraftvoll aussehen, doch das Gift bahnt sich beharrlich seinen Weg, bis das gesamte Gewebe dem Untergang geweiht ist. Mit Hippolyte Taine hat jeder wahrhaft freie Geist erkannt, dass „Puritanismus der Tod der Kultur, der Philosophie, des Humors und der guten Gemeinschaft ist; seine Merkmale sind Stumpfheit, Monotonie und Düsternis.“
1The Psychology of Sex, Havelock Ellis.

Zu einer Geschichte der Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit

Gefunden bei Etcetera, die Übersetzung ist von uns.
Zu einer Geschichte der Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit: Barcelona während der Spanischen Revolution, 1936-38, Michael Seidman
Die Untersuchung der Abneigung gegen die Arbeit – Absentismus (A.d.Ü., von der Arbeit fern bleiben), Verspätungen, Unpünktlichkeiten, Delikte, Sabotage, langsames Arbeitstempo, Disziplinlosigkeit und Gleichgültigkeit – kann dazu dienen, unser Verständnis zweier zeitgleicher politischer Ereignisse zu vertiefen: der Spanischen Revolution und der französischen Volksfront1. Eine Analyse der Abneigung gegen die Arbeit in den Fabriken von Paris und Barcelona während der Volksfrontregierung in Frankreich und während der Spanischen Revolution zeigt wesentliche Kontinuitäten im Leben der Arbeiterklasse. Absentismus, Disziplinlosigkeit und andere Formen der Arbeitsverweigerung gab es schon vor dem Sieg der Volksfront in Frankreich und dem Ausbruch von Krieg und Revolution in Spanien. Es ist jedoch bezeichnend, dass dieser Widerstand auch noch Jahre später anhielt, nachdem die Parteien und Gewerkschaften/Syndikate, die für sich in Anspruch nahmen, die Arbeiterklasse zu vertreten, in beiden Fällen die politische und – auf unterschiedlichen Ebenen – die ökonomische Macht übernommen hatten. Tatsächlich wurden die linken Parteien und Gewerkschaften/Syndikate in beiden Situationen, der reformistischen wie der revolutionären, in zahllose Konfrontationen mit Arbeitern gezwungen, die sich weigerten zu arbeiten. Die Abneigung gegen die Arbeit im 20. Jahrhundert wurde von vielen marxistischen Arbeitshistorikern und Modernisierungstheoretikern, zwei wichtigen, wenn auch nicht dominierenden Schulen der Arbeitshistoriografie, ignoriert und/oder unterschätzt2. Trotz der Unterschiede, die in vielen Fällen bestehen, teilen die beiden Richtungen eine fortschrittliche Sicht der Geschichte. Viele Marxisten sehen die Arbeiterklasse als allmählich klassenbewusst, sie entwickelt sich von „an sich zu für sich“, formiert sich und strebt manchmal nach der Enteignung der Produktionsmittel. Modernisierungstheoretiker sehen, dass sich die Arbeiter an die Art, die Struktur und die allgemeinen Anforderungen der Industriegesellschaft anpassen. Weder Marxisten noch Modernisierungstheoretiker haben die anhaltende Kultur der Arbeiterklasse ausreichend berücksichtigt, die ihren unbändigen Wunsch, nicht zu arbeiten, offenbart. Aber diese fortschrittliche Sichtweise der Arbeiterklasse kann das Fortbestehen von Absentismus, Sabotage und Gleichgültigkeit nicht angemessen analysieren. In beiden Fällen kann diese Haltung auch nicht als „primitiv“ oder als Beispiel für „falsches Bewusstsein“ abgetan werden. Das Fortbestehen vieler Formen der Abneigung gegen die Arbeit kann eine verständliche Reaktion auf die langfristigen Härten im Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter und eine gesunde Skepsis gegenüber den von Rechten und Linken vorgeschlagenen Lösungen darstellen. In diesem Aufsatz wird die revolutionäre Situation in Barcelona untersucht und versucht, die Divergenz im Klassenbewusstsein zwischen militanten linken Arbeitern, die die Entwicklung der Produktivkräfte während der Spanischen Revolution unterstützten, und der großen Zahl nicht-militanter Arbeiter, die sich weiterhin gegen die Arbeit wehrten, zu zeigen, oft genauso wie sie es zuvor getan hatten. So wurden während der Spanischen Revolution verschiedene Arten von Klassenbewusstsein gegeneinander ausgespielt. Es geht nicht darum zu bestimmen, welches die „wahre“ Form des Klassenbewusstseins war, sondern darum zu zeigen, wie die Abneigung gegen die Arbeit die revolutionären Bestrebungen der Militanten untergrub und ihre Rechte als Vertreter der Arbeiterklasse in Frage stellte. * * * * * Zweifelsohne hat die Abneigung gegen die Arbeit eine lange Geschichte, die weit vor dem Bürgerkrieg und der Revolution zurückreicht. Im 19. Jahrhundert hielten die katalanischen Arbeiter wie ihre französischen Kollegen die Tradition des dilluns sant (Heiliger Montag) aufrecht, eines inoffiziellen Feiertags, den viele Arbeiter ohne Genehmigung als Fortsetzung ihrer sonntäglichen Ruhezeit nahmen. Die Kämpfe um den Arbeitskalender dauerten bis ins 20. Jahrhundert an, sogar während der Zweiten Republik. Im Jahr 1932 zum Beispiel wollten die Arbeiter am zweiten Maitag nicht zur Arbeit gehen, da der erste Tag ein Sonntag gewesen war. Noch wichtiger war der ständige Kampf gegen die „Wiedererlangung“ von Feiertagen mitten in der Woche, wenn es sich um traditionelle Feiertage handelte. Trotz ihrer Abneigung gegen den Klerus und ihrer tiefen Entchristlichung hielten die katalanischen Arbeiterinnen und Arbeiter daran fest, diese Feste zu feiern. 1927 stellte der Arbeitgeberverband (Fomento del Trabajo Nacional) mit Sitz in Barcelona fest, dass Arbeitgeber, die versuchten, ihre Beschäftigten zu zwingen, andere Feiertage als die Sonntage nachzuholen, trotz des Gesetzes in ernsthafte Schwierigkeiten gerieten3. In der Praxis kam es im Frühjahr und Sommer 1927 zu mehrtägigen Streiks, um gegen die Feiertagsregelung zu protestieren. Im Jahr 1929 kämpften die Arbeiterinnen und Arbeiter erneut für die Beibehaltung ihrer traditionellen Feiertage. In der Provinz Barcelona war der Konflikt besonders heftig, da „der Druck der Arbeiterklasse die Wiedererlangung der gesetzlichen Feiertage unter der Woche behinderte“4. Die „sozialen Spannungen“ in Barcelona machten die Wiedererlangung dieser Feiertage unmöglich. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in Barcelona kämpften hart für eine kürzere Arbeitswoche und dies war der Hauptgrund für die zahlreichen Streiks während der Zweiten Republik. Ende 1932 und Anfang des darauffolgenden Jahres streikten die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Holzindustrie für eine 44-Stunden-Woche. 1933 streikten die in der CNT organisierten Bauarbeiter fast drei Monate lang für eine 40-Stunden-Woche und erreichten Ende August eine 44-Stunden-Woche anstelle der zuvor geforderten 48 Stunden. Im Oktober 1933 setzten die Wasser-, Gas- und Elektrizitätsbranchen der CNT und der UGT die 44-Stunden-Woche durch, ohne dass Streiks nötig waren5. Als die 48-Stunden-Woche im November 1934 wieder eingeführt wurde, kam es zu Streiks, bei denen die Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabriken nach 44 Stunden verließen. Die Abneigung der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit während der Zweiten Republik äußerte sich nicht nur kollektiv in Form von Arbeitsniederlegungen und Streiks, sondern auch in individuellen Aktionen wie Fernbleiben von der Arbeit, vorgetäuschten Krankheiten und Gleichgültigkeit. 1932 warfen Industrielle in der Textilindustrie ihren eigenen Vorarbeitern ungerechtfertigtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz vor6. Der Stolz der mechanischen Bauindustrie Barcelonas, La Maquinista Terrestre y Marítima, behauptete, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter während eines Brückenbauprojekts in Sevilla ihre Wunden durch Selbstverstümmelung infizierten, um von ihrem Krankengeld zu profitieren. Daraufhin stieg die Versicherungsgesellschaft von La Maquinista aus. Die katalanischen Unternehmer lehnten eine allgemeine Unfall- und Entschädigungsversicherung generell ab, weil sie befürchteten, dass diese die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu verleiten könnte, ihre Krankheit zu verlängern. Sie verließen sich auf die Erfahrungen der Versicherungsgesellschaften, die hinreichend bewiesen hatten, dass es vorgetäuschte Krankheiten gab, zu denen noch die Selbstbeschädigung hinzukam7. Die Äußerungen der katalanischen Industriellen während der rechtsgerichteten Bienio Negro (1934-35), dass die Arbeiterinnen und Arbeiter oft „den geringsten Arbeitswillen“ zeigten, könnte man als einen überraschenden Zufall bezeichnen. Während der gesamten 1930er Jahre kämpften die Bosse hart gegen die ständigen Forderungen der CNT und der UGT, die Akkordarbeit abzuschaffen. Die anarchosyndikalistischen Militanten der CNT schafften die Akkordarbeit in ihren Kollektiven ab, als die Revolution ausbrach, als Reaktion auf den Putsch, aber fast sofort waren die anarchosyndikalistischen und marxistischen Militanten, die die Kontrolle über die Fabriken übernommen hatten, gezwungen, auf den Widerstand der Arbeiter zu reagieren. Nach der Niederlage der Generäle am 18. Juli, in den Tagen vor der Revolution, forderte die CNT die Arbeiterinnen und Arbeiter wiederholt auf, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Am 26. Juli rief eine Notiz in der CNT-Zeitung Solidaridad Obrera die Busfahrer dazu auf, ihr Fernbleiben von der Arbeit zu rechtfertigen. Am 28. Juli forderte ein anderer Artikel alle Arbeiterinnen und Arbeiter der Hispano-Olivetti eindringlich auf, zur Arbeit zurückzukehren, und warnte, dass Sanktionen gegen diejenigen verhängt würden, die keinen guten Grund für ihr Fernbleiben von der Arbeit hätten. Obwohl Solidaridad Obrera am 30. Juli verkündete, dass die Arbeit in fast allen Branchen wieder aufgenommen worden war, rief die anarchosyndikalistische Zeitung am 4. August zur „Selbstdisziplin“ auf. Einen Tag später erinnert die Friseurgewerkschaft alle ihre Mitglieder daran, dass sie verpflichtet sind, 44 Stunden pro Woche zu arbeiten, und dass sie keine Verkürzung der Arbeitszeit zulassen wird. Von Beginn der Revolution an war die Abneigung gegen die Arbeit ein Problem für die Militanten der Gewerkschaften/Syndikate, die die Fabriken und Geschäfte in Barcelona verwalteten. Diese Abneigung gegen die Arbeit widersprach natürlich der anarchosyndikalistischen Theorie der Selbstverwaltung, die die Arbeiterinnen und Arbeiter dazu aufforderte, mit Beginn der Revolution die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz zu übernehmen. Mit anderen Worten: Sowohl anarchosyndikalistische als auch marxistische Militante forderten die Arbeiterinnen und Arbeiter enthusiastisch auf, sich für ihre Rolle als Arbeiter einzusetzen. Sie wehrten sich auch gegen die Forderungen der gewerkschaftlichen/syndikalistischen Militante, die sich manchmal über die mangelnde Aufmerksamkeit für die Fabrikvollversammlungen und die fehlenden finanziellen Beiträge an die Gewerkschaften/Syndikate beschwerten. Tatsächlich argumentierten die Aktivisten, dass die einzige Möglichkeit, die Arbeiterinnen und Arbeiter an den Vollversammlungen teilnehmen zu lassen, darin bestand, sie während der Arbeitszeit und damit auf Kosten der Produktion einzuberufen. Das Kollektiv Construcciones Mecánicas änderte beispielsweise seine Pläne, Vollversammlungen sonntags abzuhalten, mit der Begründung, dass „niemand kommen würde“, und wählte stattdessen den Donnerstag8 aus. Im revolutionären Barcelona schienen die Arbeiterinnen und Arbeiter manchmal zu zögern, sich an ihrer eigenen Demokratie zu beteiligen. Nach seinen eigenen Berechnungen (die mit Vorsicht zu genießen sind) vertrat die CNT im Mai 1936 nur 30 % der Industriearbeiterinnen und -arbeiter (gegenüber 60 % der Industriearbeiterinnen und -arbeiter im Jahr 1931). So traten die „Hunderttausende“ von Arbeiterinnen und Arbeitern, die angeblich wenig „Klassenbewusstsein“ hatten, auf der Suche nach sozialem Schutz und stabiler Arbeit in die Gewerkschaften/Syndikate ein9. H. Rudiger, ein Vertreter der I. Internationale (IAA)10 in Barcelona, schrieb im Juni 1937, dass die CNT vor der Revolution nur zwischen 150.000 und 175.000 Mitglieder in Katalonien hatte. In den Monaten nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs stieg die Zahl der CNT-Mitglieder auf fast eine Million an. Rüdiger kam zu dem Schluss, dass: „Vier Fünftel von ihnen sind neue Mitglieder. Ein großer Teil von ihnen kann nicht als Revolutionäre angesehen werden. Du kannst jede Gewerkschaft/Syndikat als Beispiel dafür nehmen. Viele von ihnen könnten in der UGT sein.“11 Die militanten Syndikalisten versuchten, bestimmte Wünsche ihrer Mitglieder zu erfüllen. Wie bereits erwähnt, ging die Textil- und Bekleidungsgewerkschaft der CNT zu Beginn der Revolution auf eine Forderung ein, die schon Jahre zuvor erhoben worden war: die Abschaffung der Produktionsanreize, insbesondere der Akkordarbeit, die laut der Gewerkschaft/Syndikat „eine der Hauptursachen für die miserablen Arbeitsbedingungen“ der Arbeiterinnen und Arbeiter war. Ob es nun an der geringen Produktivität oder an der Gleichgültigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter lag, die Abschaffung der Akkordarbeit wurde jedoch bald von der Gewerkschaft/Syndikat selbst kritisiert: „In den Industriezweigen unserer Gewerkschaft/Syndikat (CNT), in denen früher viel im Akkord gearbeitet wurde, ist die Produktivität mit der Einführung des festen Wochenlohns gesunken. Angesichts dessen können wir unsere Ökonomie nicht auf eine solide Basis stellen und erwarten von allen Arbeiterinnen und Arbeitern (…), dass sie die Werkzeuge und neuen Materialien mit äußerster Sorgfalt einsetzen und ihre maximale produktive Leistung erbringen.“12 In den Gewerkschaften/Syndikate der Bekleidungsindustrie gab es während der gesamten Revolution immer wieder Probleme mit der Akkordarbeit. Das Schneiderkollektiv F. Vehils Vidals mit fast 450 Beschäftigten, das Hemden und Strickwaren herstellte und verkaufte, führte im Februar 1937 ein ausgeklügeltes Anreizsystem ein, um die Beschäftigten zu motivieren. 1938 wurde die Akkordarbeit in der neu gegründeten Gruppe der Schneiderwerkstätten wieder eingeführt und ein Schuhmacher, der Mitglied der Textilgewerkschaft,- syndikat CNT war, protestierte gegen die Wiedereinführung und drohte, die Arbeit niederzulegen. Im Mai 1938 wurden die Eisenbahnarbeiter und -arbeiterinnen in Barcelona über die fast vollständige Wiedereinführung der Akkordarbeit informiert. „Die Anordnungen der Vorarbeiter müssen befolgt werden. Die Arbeiter erhalten einen angemessenen Lohn pro gefertigtem Stück. Sie dürfen die Grundregel der Zusammenarbeit nicht vergessen und dürfen nicht versuchen, den Vorarbeiter zu betrügen. Eine Liste der geleisteten Arbeit (…) muss monatlich vorgelegt werden, zusammen mit einem Bericht, der die erzielten Ergebnisse mit denen der Vormonate vergleicht und die Ausführung der Arbeit und ihre Abweichungen begründet.“13 Im August 1937 schlug der Technische Verwaltungsrat der Baugewerkschaft CNT eine Revision der anarchosyndikalistischen Lohntheorien vor. Der Vorstand stand vor folgendem Dilemma: Entweder die Arbeitsdisziplin wiederherstellen und den Einheitslohn abschaffen oder eine Katastrophe erleben. Der Vorstand erkannte die „bourgeoisen Einflüsse“ der Arbeiterinnen und Arbeiter an und sprach sich für die Wiedereinführung von Anreizen für Facharbeiter und Vorarbeiter aus. Kurzum, er empfahl, nur noch „rentable Arbeit“ zu verrichten: Die Arbeit sollte kontrolliert werden, die „Massen müssen moralisch umerzogen werden“ und ihre Arbeit sollte nach Wert und Qualität entlohnt werden. Im Juli 1937 wurde in einer gemeinsamen Erklärung der CNT und der Gewerkschaft/Syndikates des Baugewerbes vereinbart, dass die Löhne proportional zur Produktion sein sollten. Die Techniker jeder Sektion würden eine „Mindestleistungsskala“ festlegen. „Wenn ein Kamerad dieses Minimum nicht einhält, wird er sanktioniert und anschließend rausgeworfen, falls er rückfällig wird.“ Der CNT-UGT-Bericht empfahl die Veröffentlichung von Leistungstabellen sowie Propaganda, um die Moral zu steigern und die Produktivität zu erhöhen. Dies führte oft dazu, dass die Bauarbeiter zu wenig leisteten und nach Abschluss eines Projekts arbeitslos wurden. Sowohl öffentlich als auch privat verteidigte die marxistische UGT die Position, die Löhne an die Produktion zu koppeln und Verstöße gegen die Regeln zu bestrafen. Am 1. Februar 1938 forderte die UGT ihre Mitglieder auf, keine Kriegsforderungen zu stellen, und mahnte sie zu härterer Arbeit. Außerdem berichtete die Gewerkschaft/Syndikat der Maurer der UGT am 20. November 1937, dass der Lohnkonflikt im Baugewerbe die Arbeit zum Stillstand gebracht hatte und sogar sabotiert worden war. Sie berichtete auch, dass einige Arbeiter sich weigerten zu arbeiten, weil ihr Lohn weniger als 100 Peseten pro Woche betrug. Die Gewerkschaft/Syndikat der Maurer bezeichnete diese Haltung der Arbeiter als „katastrophal und unzeitgemäß“14. Am 15. Dezember 1937 erklärte sie, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter mit den niedrigsten Löhnen sie mit den anderen gleichstellen wollten und dass die Festlegung von Mindestlöhnen zwischen ihnen und der CNT diskutiert wurde. Im Januar 1938 berichtete die Baugewerkschaft der UGT, dass der Präsident der CNT-Bauföderation die vorgeschlagene Lohnerhöhung von einer Verbesserung der Arbeitsdisziplin abhängig machen wollte. Angesichts der zahlreichen Lohnforderungen wendeten die Gewerkschaften/Syndikate verschiedene Taktiken an, um die Produktivität zu steigern, und versuchten, die Löhne von der Produktion abhängig zu machen. Wenn die Löhne in gewerkschaftlich/syndikalistisch kontrollierten Kollektiven oder Betrieben erhöht wurden, wurde dies an eine entsprechende Produktionssteigerung geknüpft. Im Juli 1937 forderte die Gewerkschaft der Zinngießer der CNT, die Löhne an die Produktion zu koppeln. Die Gewerkschaft der CNT für Metallbau meldete am 11. Juni 1938, dass die Lohnerhöhungen proportional zum Anstieg der geleisteten Arbeitsstunden sein würden. Die kleine Bekleidungsfirma J. Lanau mit ihren 30 Arbeiterinnen und Arbeiter befand sich in einer ähnlichen Situation. Laut dem Buchhaltungsbericht vom November 1937 waren die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter im Falle von Unfall, Krankheit und Mutterschaft versichert. Die Arbeiterinnen und Arbeiter behaupteten, ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef zu haben und verfügten über einen Kontrollkomitee, das aus zwei Vertretern der CNT und einem der UGT bestand. Die Produktion lag jedoch unter 20%, und um das Problem zu lösen, empfahl der Buchhalter dem Betrieb, „die Produktionsquoten“ in den beiden Werkstätten und in der Verkaufsabteilung zu klären. Lohnkonflikte und Diskussionen über die Akkordarbeit waren nicht die einzigen Probleme, die die Unzufriedenheit der Arbeiterinnen und Arbeiter offenbarten, und auch die Gewerkschaften/Syndikate sahen sich – genau wie die Bosse vor der Revolution – mit ernsten Problemen in Bezug auf das Arbeitsprogramm konfrontiert. Während der Revolution respektierte die katalanische Arbeiterklasse, der die Religion so gleichgültig war, weiterhin die traditionellen Feiertage in der Mitte der Woche. Die anarchosyndikalistische und kommunistische Presse kritisierte oft die starke Verteidigung dieser Traditionen, die – wie wir gesehen haben – in der Kultur der Arbeiterklasse verankert zu sein schienen. Solidaridad Obrera im Januar 1938 und Síntesis (die gemeinsame Publikation des Cros-Kollektivs CNT-UGT) vom Dezember 1936 verkündeten, dass religiöse und traditionelle Feiertage nicht als Vorwand für Arbeitsausfälle genutzt werden dürfen. Die Feier religiöser Feiertage an Arbeitstagen (Beobachter sahen nie einen nennenswerten Einfluss der Sonntagsmesse unter den Arbeiterinnen und Arbeiter in Barcelona) sowie Absentismus und Unpünktlichkeit deuteten jedoch auf einen ständigen Wunsch hin, der Fabrik zu entfliehen, auch wenn sie rationalisiert oder demokratisiert wurde. Kämpfe um die Arbeitszeiten und Feiertage waren häufig. Im November 1937 weigerten sich mehrere Eisenbahner, am Samstagnachmittag zu arbeiten und wurden von der UGT sanktioniert. Der Zentrale Kontrollkomitee der Gas- und Elektrizitätsarbeiter wollte eine Liste der Arbeiterinnen und Arbeiter, die am Neujahrstag 1937 ihre Arbeit niedergelegt hatten, um gegen sie vorgehen zu können15. Am 4. Oktober 1937 gaben CNT-Vertreter auf einer offiziellen Sitzung des Rates für Gas und Elektrizität zu, dass einige ihrer Mitglieder den Arbeitsplan nicht einhielten. Als einer der UGT-Delegierten fragte, ob die Konföderation (A.d.Ü., gemeint ist die CNT) den Arbeitskalender erfüllen könne, antwortete der CNT-Vertreter: „Ich fürchte nicht. Sie (die undisziplinierten Arbeiter) werden die gleiche Haltung wie immer beibehalten und keine Kompromisse eingehen wollen (…) Es ist sinnlos, irgendetwas zu versuchen, denn sie ignorieren die Vereinbarungen und Anweisungen der Komitees, der Sektionskommissionen usw. Sie schenken keine Beachtung, ob die Anweisungen von der einen (anarchosyndikalistischen) oder der anderen (marxistischen) Gewerkschaft/Syndikat kommen“. In vielen Industriezweigen waren die Gefährtinnen und Gefährten oft „krank“. Im Februar 1937 erklärte die Gewerkschaft/Syndikat der Metallarbeiter freimütig, dass einige Arbeiterinnen und Arbeiter von Arbeitsunfällen profitierten. Im Dezember 1936 beschwerte sich ein führender Militanter der der Gewerkschaft für Blech (A.d.Ü., hojalata) über „die Unregelmäßigkeiten, die in fast allen Werkstätten in Bezug auf Krankheitsurlaub und Arbeitszeiten begangen werden“. Im Januar 1937 berichtete ein anderer Blechschmied von „Zügellosigkeit“ in mehreren Werkstätten: „Es gibt viele Arbeiter, die einen Tag oder einen halben Tag ausfallen lassen, nur weil es ihnen gefällt und nicht weil sie krank sind.“16 Die technische Kommission der Maurer der CNT machte auf den Fall eines Arbeiters aufmerksam, der mit einem „Epileptiker“-Zertifikat bei einem Besuch von Mitgliedern dieser Kommission erwischt wurde, während er seinen Garten reparierte17. Diebstähle wurden in Werkstätten und Kollektiven verzeichnet. Die Gewerkschat/Syndikate für nicht eisenhaltiges Metal der CNT behauptete, dass ein Gefährte, der in einer von der CNT kontrollierten Fabrik arbeitete, Werkzeuge mitnahm, als er zur Armee ging. Im Dezember 1936 meldete die mechanische Abteilung der berühmten Durruti-Kolonne der Gewerkschaft/Syndikat der Metallarbeiter von Barcelona, dass ein Gefährte „vielleicht versehentlich“ Arbeitswerkzeuge mitgenommen hatte, und forderte die Gewerkschaft/Syndikat auf, ihn dazu zu bringen, die gestohlenen Geräte so schnell wie möglich zurückzugeben. Die Gewerkschaft/Syndikat der Schuhmacher der CNT registrierte weitere Diebstähle. Einige militante Gewerkschaftler/Syndikalisten und Vorarbeiter der Kollektive wurden häufig der Unterschlagung und Veruntreuung von Geldern beschuldigt18. Angesichts von Sabotage, Diebstahl, Fehlzeiten, Unpünktlichkeit, angeblichen Krankheiten und anderen Formen des Widerstands der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Arbeit und den Arbeitsplatz arbeiteten die Gewerkschaften/Syndikate und Kollektive zusammen, um strenge Regeln und Vorschriften aufzustellen, die der kapitalistischen Kontrolle der Unternehmen gleichkamen und sie sogar übertrafen. Am 18. Juni 1938 verzeichneten die CNT- und UGT-Vertreter des Kollektivs Gonzalo Coprons y Prat, das Militäruniformen herstellte, einen gravierenden Produktionsrückgang, für den sie keine „zufriedenstellende Erklärung“ hatten. Die Gewerkschaftsvertreter forderten die Einhaltung der Produktionsquoten, des Arbeitsplans, eine strenge Kontrolle der Abwesenheiten und „die Festigkeit der moralischen Autorität der Techniker“19. Das Schneiderkollektiv F. Vehils Vidal, das ein ausgeklügeltes Anreizsystem für seine 450 Beschäftigten eingerichtet hatte, verabschiedete auf der Generalvollversammlung am 5. März 193820 bald ein strenges Maßnahmenpaket. Ein Arbeiter war für die Überwachung der Fehlzeiten zuständig, und mehrfaches Zuspätkommen bedeutete die Entlassung. Die Gefährtinnen und Gefährten, die krank waren, wurden von einem Vertreter des Kollektivrats besucht. Wenn sie nicht zu Hause waren, wurden sie entlassen. Es war verboten, das Kollektiv während der Arbeitszeit zu verlassen, und alle Arbeiten, die im Kollektiv erledigt wurden, waren für das Kollektiv erforderlich, sodass persönliche Projekte verboten waren. Gefährtinnen und Gefährten, die die Läden mit Paketen verließen, waren verpflichtet, diese den Wachleuten zu zeigen, die sie kontrollierten. Wenn ein Arbeiter Diebstahl, Betrug oder etwas anderes Unehrliches beobachtete, musste er es melden, wenn er nicht im Falle einer Unterlassung dafür verantwortlich gemacht werden wollte. Die Techniker mussten wöchentlich einen Bericht über Mängel und Verstöße in ihren Abteilungen erstellen. Es war nicht erlaubt, die „Ordnung innerhalb oder außerhalb des Unternehmens“ zu stören, und alle Beschäftigten, die nicht an den Vollversammlungen teilnahmen, wurden entlassen. Andere Kollektive in der Bekleidungsindustrie führten ähnliche Maßnahmenpakete ein. Im Februar 1938 legte der CNT-UGT-Rat von Pantaleoni Hermanos ein intensives Arbeitsprogramm und Sanktionen für diejenigen fest, die zu spät zur Arbeit kamen. Ein Gefährte sollte für das Ein- und Auschecken zuständig sein. Zugewiesene Aufgaben und Regeln mussten ohne „Kommentare“ und innerhalb der vorgegebenen Zeit akzeptiert werden. Alle Bewegungen, auch innerhalb der Fabrik, mussten vom Sektionsleiter genehmigt werden, und bei Verstößen konnten Sanktionen verhängt werden, indem die Arbeiterinnen und Arbeiter suspendiert und 3 bis 8 Tageslöhne abgezogen wurden. Werkzeuge durften nicht ohne die Genehmigung des Kollektivs mitgenommen werden, und für alle Arbeiterinnen und Arbeiter wurde eine Probezeit von einem Monat festgelegt. Der Kontrollkomitee der CNT-UGT in der Firma in Rabat warnte, dass jeder Gefährte und jede Gefährtin, der der Arbeit fernblieb und nicht krank war, seinen Lohn verlieren würde. Die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Firma, die meisten von ihnen Frauen, wurden gewarnt, dass Ungehorsam zum Verlust ihres Arbeitsplatzes führen könnte, und das in einer Branche, in der die Arbeitslosenquote bekanntlich hoch ist. Die Firma warnte alle Arbeiterinnen und Arbeiter, dass sie unter Androhung der Entlassung an Vollversammlungen teilnehmen müssten und dass sich Gespräche während des Arbeitstages nur auf die Arbeit beziehen dürften. Andere Kollektive wie Artgust, die ihre Beschäftigten erfolglos aufgefordert hatten, die Produktion zu erhöhen, verschärften ebenfalls ihre Regeln und verboten Gespräche, Zuspätkommen und sogar das Telefonieren. Im August 1938 verbot die Vollversammlung der Casa A. Lanau in Anwesenheit von Vertretern der CNT, der UGT und der Generalitat ausdrücklich das Fernbleiben von der Arbeit, das Vortäuschen von Krankheiten und das Singen während der Arbeitszeit. Die Lagerhäuser von Santeulália kontrollierten alle Pakete, die in ihrem Werk ein- und ausgingen. Die Gewerkschaften/Syndikate UGT und CNT in Badalona – einer Stadt im Industriegürtel Barcelonas – initiierten eine Krankenstandskontrolle und vereinbarten, dass alle Arbeiterinnen und Arbeiter Abwesenheiten begründen mussten, die angesichts der auf 48 Stunden verkürzten Arbeitswoche „unverständlich“ und missbräuchlich waren21. Die Strenge dieser Regeln und Vorschriften war möglicherweise eine der Folgen des Rückgangs der Produktion und der Disziplin in vielen Textil- und Bekleidungsbetrieben. Am 15. Juni 1937 erstellte der CNT-UGT-Buchhalter von Casa Mallafré einen Bericht über die Schneidereien. Er kam zu dem Schluss, dass die Leitung des Kollektivs ehrlich war und ethisch gehandelt hatte, dass aber die Produktion „der heikelste Teil des Problems“ war und dass „in der Produktion das Geheimnis des kommerziellen und industriellen Scheiterns oder Erfolgs liegt“. Die Produktion in den Werkstätten blieb also auf einem extrem niedrigen Niveau, und der Buchhalter warnte, dass sie – selbst wenn sie kollektiviert oder sozialisiert würde – scheitern könnte. Die normale Produktion reichte immer noch nicht aus, um die Wochenlöhne zu decken, und müsste erhöht werden, wenn das Unternehmen überleben sollte. Ein anderes Kollektiv der CNT-UGT-Bekleidungsindustrie, Artgust, schrieb am 9. Februar 1938: „Trotz unserer ständigen Forderungen an das Fabrikpersonal ist es uns noch nicht gelungen, die Produktion zu verbessern“22. Artgust forderte die CNT und die UGT auf, vor dem Missverhältnis zwischen hohen Kosten und niedriger Produktivität zu warnen. In vielen Kollektiven wurden Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen oder suspendiert. Ein Gefährte in einer CNT-Schuhwerkstatt wurde wegen der niedrigen Produktion aufgefordert, seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Ein unzufriedener Schneider, der darum gebeten hatte, an einen anderen Arbeitsplatz versetzt zu werden, griff einen Kollegen körperlich an, beleidigte den Betriebsrat und bedrohte den Geschäftsführer und einen Techniker. Er wurde im Juni 1938 von seinem Job suspendiert23. Eine Militante der Gruppe Mujeres Libres der CNT wurde der Unmoral, des ungerechtfertigten Fernbleibens und sogar der Kuppelei unter ihren Gefährtinnen beschuldigt, die Disziplinarmaßnahmen gegen sie forderten. Dieser Vorwurf der „Unmoral“ war während der Spanischen Revolution häufig zu hören und zeigt, dass für Syndikalistinnen und Syndikalisten Misserfolge oder Fehler bei der Arbeit „unmoralisch“ oder einfach pervers waren. Auch Aktivitäten, die nicht direkt mit der Produktion zusammenhingen, wurden als schädlich angesehen. Die Militanten der CNT wollten der „Unmoral“ ein Ende setzen, indem sie die Schließung von Vergnügungsstätten wie Bars oder Musik- und Tanzlokalen um zehn Uhr nachts erzwangen24. Prostituierte sollten durch Arbeitstherapie reformiert werden, um die Prostitution wie in der Sowjetunion zu beseitigen. Sex und Schwangerschaften sollten bis nach der Revolution in den Hintergrund verdrängt werden25. Die Gewerkschaften der Metallarbeiter CNT-UGT versuchten, die Disziplinlosigkeiten, die in mehreren Kollektiven aufgetreten waren, zu kontrollieren. Im Jahr 1938 wurde erneut ein Arbeiter aus einem Kollektiv wegen „Unmoral“ entlassen, d.h. weil er unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben war. Ein anderes Kollektiv wollte eine „gewissenlose“ Frau entlassen, die wiederholt falsche Entschuldigungen für ihr Fernbleiben von der Arbeit angegeben hatte26. Im August 1936 warnte die Gewerkschaft der Metallarbeiter der CNT Gefährten, die die ihnen zugewiesenen Aufgaben nicht erfüllten, dass sie „ohne jede Rücksicht“ ersetzt würden. Wie in der Textilbranche gaben mehrere Kollektive in der Metallbranche Kontrollblätter für den Krankenstand heraus: „Der Rat ist verpflichtet, den Krankenstand durch einen Gefährten zu kontrollieren, den jeder in seine Wohnung einlassen muss (…) Die Kontrolle kann mehrmals am Tag erfolgen, so oft der Rat es für notwendig hält.“27 Das Kollektiv der Aufzugs- und Industrieanlageninstallateure erklärte, dass jeder Versuch, den Krankenstand zu betrügen, mit einem Rauswurf bestraft würde. Am 1. September 1938 wies die Vollversammlung des Unternehmens Masriera i Carreras, das eine UGT-Mehrheit hatte, darauf hin, dass „einige Gefährten die Angewohnheit haben, jeden Tag 15 Minuten zu spät zur Arbeit zu kommen“, und beschloss einstimmig, für jede fünf Minuten Verspätung eine halbe Stunde Lohn pro Tag abzuziehen. Im Januar 1937 legte die Gewerkschaft/Syndikat der Lampenarbeiter fest, dass ein Arbeiter, der eine halbe Stunde zu spät kommt, die Hälfte seines Lohns verliert. Im Juli 1937 legte das Kollektiv Construcciones Mecánicas eine Strafe von 15 Minuten Lohnabzug für das Händewaschen oder Anziehen vor Ende des Arbeitstages fest. Im öffentlichen Dienst waren die Probleme ähnlich gelagert. Am 3. September 1937 stellte der Generalrat der Gas- und Elektrizitätsindustrie einen Produktionsrückgang fest und erklärte, dass das Gemeinwohl gegen eine Minderheit verteidigt werden müsse, der es an „Moral“ fehle. Bei häufigem Fernbleiben oder Unpünktlichkeit konnten Arbeiterinnen und Arbeiter suspendiert oder entlassen werden. Arbeitervollversammlungen waren während der Arbeitszeit ausdrücklich verboten, und der Rat erklärte, dass er bei Bedarf disziplinarische Maßnahmen ergreifen würde. Im Januar 1938 legte der Ökonomische Rat der CNT „die Pflichten und Rechte des Produzenten“ fest: „Bei allen Tätigkeiten ist die Person, die die Arbeit verteilt, offiziell verantwortlich (…) für die Quantität, die Qualität und das Verhalten der Arbeiter.“ Diese verantwortliche Person war befugt, einen Arbeiter wegen „Faulheit oder Unmoral“ zu entlassen, und andere Vorarbeiter sollten die kleinsten Vorfälle „verdächtigen Ursprungs“ daraufhin überprüfen, ob sie echt oder „vorgetäuscht“ waren: „Alle Arbeiter und Angestellten müssen eine Karte haben, in der die Einzelheiten ihres beruflichen und sozialen Charakters eingetragen werden.“28 Die Gewerkschaften/Syndikate ergänzten ihre Zwangsvorschriften und -regelungen mit umfangreichen Propagandakampagnen, um ihre Mitglieder zu überzeugen und zu zwingen, härter zu arbeiten. Diese Propaganda machte deutlich, dass niedrige Produktivität und Disziplinlosigkeit weit verbreitet waren. Das Kollektiv Vehils Vidal rief eindringlich zu „Liebe zur Arbeit, Aufopferung und Disziplin“ auf. Das CNT-UGT-Kollektiv Pantaleoni Hermanos rief seine Beschäftigten auf, „sich der Arbeit zu widmen“. Die Schuhmacher forderten „Moral, Disziplin und Aufopferung“29. Im April 1937 veröffentlichte die Zeitschrift des großen Textilunternehmens Fabra i Coats eine ganze Seite, in der sie ihre Arbeiterinnen und Arbeiter aufforderte, „zu arbeiten, zu arbeiten und zu arbeiten“30. Die CNT warnte ihre Mitglieder oft davor, Freiheit mit Zügellosigkeit zu verwechseln und wies darauf hin, dass diejenigen, die nicht hart arbeiteten, Faschisten seien31. Die Konföderation erkannte, dass Arbeiterinnen und Arbeiter oft eine bourgeoise Mentalität hatten, weil sie nicht so hart arbeiteten, wie sie sollten. Nach Ansicht der CNT mussten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter zwischen sofortigen Vorteilen und echten Verbesserungen in der Zukunft entscheiden. Die Zeit der Selbstdisziplinierung war gekommen. Im Februar 1937 erklärte das Kollektiv Marathon CNT-UGT, ein Hersteller von Automotoren, in seiner Zeitung Horizontes: „Es gibt viele Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Kollektivierung nichts anderes sehen als einen einfachen Wechsel der Begünstigten und die vereinfachend glauben, dass sich ihr Beitrag zur Fabrik (…) darauf beschränkt, ihre Dienste in der gleichen Weise zu erbringen wie zu Zeiten, als die Fabrik privat war. Sie sind nur an den Löhnen am Ende des Monats interessiert“. Im Mai 1937 versuchten die Militanten von Marathon, ihre Mitglieder davon zu überzeugen, dass sie das Beste aus den Maschinen machen sollten, die sie einst verabscheuten. Im Januar 1938 veröffentlichte die CNT-Zeitung Solidaridad Obrera einen Artikel mit dem Titel: „Strenge Disziplin wird am Arbeitsplatz durchgesetzt“, der von den Zeitungen der CNT und UGT mehrfach nachgedruckt wurde: „Leider gibt es einige, die die Bedeutung des heroischen Kampfes, den das spanische Proletariat führt, verwechselt haben. Sie sind weder Bourgeois, noch Militärs, noch Priester, sondern Arbeiter, echte Arbeiter, Proletarier, die es gewohnt sind, brutale kapitalistische Repression zu ertragen.… Ihr undiszipliniertes Verhalten am Arbeitsplatz hat das normale Funktionieren der Produktion gestört (…) Früher, als die Bourgeoisie zahlte, war es logisch, ihren Interessen zu schaden, die Produktion zu sabotieren und so wenig wie möglich zu arbeiten (…) Aber heute ist es ganz anders (…) Die Arbeiterklasse beginnt mit dem Aufbau einer Industrie, die als Grundlage für die neue Gesellschaft dienen kann.“ In einem vertraulichen Gespräch mit CNT Mitgliedern des Optikerkollektivs stimmte Ruiz y Ponseti, einer der wichtigsten UGT-Anführer und ein prominenter Kommunist, zu, dass das Verhalten der Arbeiterinnen und Arbeiter der schädlichste Faktor für die Kollektive sei. Laut diesem UGT-Anführer waren die Arbeiterinnen und Arbeiter, auch wenn er es nicht öffentlich erklärte, einfach nur „Massen“, deren Kooperation leider für den Erfolg der Unternehmen notwendig war32. Im revolutionären Barcelona waren die Anführer und Militanten der Organisationen, die behaupteten, die Arbeiterklasse zu vertreten, also gezwungen, den hartnäckigen Widerstand der Arbeiter zu bekämpfen. Der anhaltende Kampf der Arbeiter gegen die Arbeit in einer Situation, in der Arbeiterorganisationen die Produktivkräfte lenkten, wirft die Frage auf, inwieweit diese Organisationen wirklich die Interessen der Arbeiterklasse vertraten. Es scheint, dass die CNT, die UGT und die PSUC (Katalanische Kommunistische Partei) den Standpunkt derjenigen widerspiegelten, die diese Organisationen als „bewusste“ Arbeiter betrachteten. Diejenigen, denen das „Klassenbewusstsein“ fehlte und die in der Überzahl waren, hatten keine formelle oder organisierte Vertretung. Diese Arbeiterinnen und Arbeiter schwiegen aus naheliegenden Gründen weitgehend über ihre Arbeitsverweigerung. Schließlich war ihre Arbeitsverweigerung subversiv in einer Revolution und einem Bürgerkrieg, in dem eine neue herrschende Klasse eifrig an der ökonomischen Entwicklung arbeitete. Das Schweigen der Arbeiterinnen und Arbeiter war eine Form der Verteidigung und eine bestimmte Art des Widerstands, aber das verhindert seine Quantifizierung. Ein großer Teil dieses Widerstands wurde nicht gezählt oder aufgezeichnet. Die Geschichte ihrer Arbeitsverweigerung lässt sich zum Teil aus den Protokollen der Vollversammlungen der Kollektive rekonstruieren und paradoxerweise auch aus der Kritik der Organisationen, die behaupteten, die Klasse zu vertreten. Die Kämpfe gegen die Arbeit offenbaren eine Distanz und Trennung zwischen den Militanten, die sich für die Entwicklung der Produktionsmittel einsetzten, und der großen Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich nicht für das Ideal der Militanten aufopfern wollten. Während die Militanten das Klassenbewusstsein mit der Kontrolle und Entwicklung der Produktivkräfte, der Schaffung einer produktivistischen Revolution und der übermenschlichen Anstrengung, den Krieg zu gewinnen, gleichsetzten, bestand der Ausdruck des Klassenbewusstseins vieler Arbeiterinnen und Arbeiter darin, die Arbeit und ihre Zeitpläne zu meiden, wie es vor der Revolution oft der Fall gewesen war.
1In diesem Artikel wurde die Untersuchung der französischen Volksfront beiseite gelassen, da sie als weiter von unserer Geschichte entfernt gilt. In jedem Fall ist die Schlussfolgerung dem Fall von Barcelona während der spanischen Revolution sehr ähnlich. 2Zur marxistischen Geschichtsschreibung vgl. Georg Lukacs, History and Class Consciousness (Cambridge, Mass. 1971), 46-82; Georg Rudé, Ideology and Popular Protest (New York, 1980), 7-26; vgl. auch die jüngste Neuformulierung von Lukacs‘ Position in Eric Hobsbawn, Workers: Worlds of Labor (New York, 1984), 15-32. Die Ansichten der Modernisierungstheoretiker finden sich in Peter N. Stearns, Revolutionary Syndicalism and French Labor: A Cause without Rebels (New Brunswick, NJ 1971) und idem, Lives of Labour: Wolk in a Maturing Industrial Society (New York, 1975). Für eine Kritik an Lukacs‘ Ansatz siehe Richard J. Evans (Hrsg.), The German Working Class (London 1982), 26-27. 3Fomento del Trabajo Nacional, actas, 15 abril 1932; Fomento, actas, 14 febrero 1927 4Federación de Fabricantes de Hilados y Tejidos de Cataluña, Memoria (Barcelona 1930) 5Albert Balcells, Crisis económica y agitación social en Cataluña de 1930 a 1936 (Barcelona 1971), 218 6Federación de Fabricantes, Memoria (Barcelona 1932) 7Alberto del Castillo, La Maquinista Terrestre y Marítima: Personaje histórico, 1855-1955 (Barcelona 1955), 464-65. Fomento, Memoria, 1932, 143 8Actas de Juntas de los militantes de las Industrias Construcciones Mecánicas, 25 febrero 1938, carpeta (a partir de ahora c.) 921, Servicios Documentales, Salamanca (a partir de aquí SD). 9Balcells, Crisis, 196; Albert Pérez Baró, 30 meses de colectivismo en Cataluña (Barcelona 1974), 47 10Hier verwechselt der Autor die I. Internationale die 1864 gegründet wurde mit der anarchosyndikalistischen Internationale die 1922 in Berlin gegründet wurde, beide tragen auf Spanisch dasselbe Akronym, nämlich AIT. 11H. Rudiger, „Materiales para la discusión sobre la situación española“. Rudolf Rocker Archives, nº 527-30, Instituto Internacional de Historia Social, Amsterdam. El muestreo por mi realizado sobre 70 trabajadores dio resultados algo diferentes. El 54% de los obreros escogidos se afilió a la CNT después de junio de 1936. De cualquier modo, casi todos los demás, el 42%, se afilió a la Confederación después de marzo de 1936. Solo el 4% estaba ya afiliado antes de 1936. Este fenómeno ha sido analizado por Balcells como la «recuperación sindical bajo el Frente Popular». 12Boletín de Información, 9 abril 1937 13Red Nacional de Ferrocarriles, Servicio de Material y Tracción, Sector Este, mayo 1938, c. 1043, SD.11 1051, SD. 14Libro de actas del Comité UGT, Sociedad de Albañiles y Peones, 20 noviembre 1937, c. 1051, SD. 15Carta del Consejo Obrero, MZA, Sindicato Nacional Ferroviario UGT, 24 noviembre 1937, c. 467, SD; Actas de la reunión del Pleno, 1 enero 1937, c. 181, SD. 16Sindicato de la Industria Sidero-Metalurgia, Sección lampista, Asamblea General, 25 diciembre 1936, c. 1453, SD. 17Boletín del Sindicato de la Industria de Edificación, Madera y Decoración, 10 noviembre 1937. 18Actas de la reunión de Junta de Metales no-ferrosos CNT, 18 agosto 1938, c. 847, SD; Sección mecánica, CNT-FAI, Columna Durruti, Bujaraloz, 13 diciembre 1936, c. 1428, SD; Actas de la Sección de Zapatería, 15 mayo 1938, c. 1436, SD. 1099, SD. 19Gonzalo Coprons y Prat, Empresa Colectivizada, Vestuarios militares, c. 1099, SD. 20Esta información está basada en el Projecte de Reglamentació interior de l’empresa, c. 1099, SD. 21Projecte d’estatut interior per el cual hauran de regir-se els treballadors, c. 1099, SD; Assemblea ordinaria dels obrers de la casa «Artgust», 6 setiembre 1938, c. 1099, SD; Acta aprobada por el personal de la casa «Antonio Lanau», 15 agosto 1938, c. 1099, SD; Magetzems Santeulália, c. 1099, SD; Boletín del Sindicato de la Industria Fabril y Textil de Badalona y su radio, febrero 1937. 1099, SD. 22Carta de Artgust a la Sección Sastrería CNT, 9 febrero 1938, c. 1099, SD. 23Actas de la Sección de Zapatería, 29 setiembre 1938, c. 1436, SD; Carta del Consejo de Empresa al Sindicato de la Industria Fabril CNT, Sección sastrería, 23 junio 1938, c. 1099, SD. 24Las diez de la noche es una hora bastante temprana para Barcelona. Actas de los metalúrgicos de CNT, 11 marzo 1937, c. 1179, SD. Carta del Comité de la fábrica nº 7, (n.d.) c. 1085, SD. 25Dr. Félix Martí Ibáñez, Obra: Diez meses de labor en sanidad y asistencia social (Barcelona 1937), 77; «Ruta», 1 enero 1937. 26Carta del Comité de Control, 16 julio 1938, c. 505, SD; Carta fechada el 29 noviembre 1938, c. 505, SD. 27Fábrica de artículos de material aislante, Normas para el subsidio de enfermedades, 1937, Archivos Pujol, Barcelona. 28José Peirats, La CNT en la Revolución española, 3 vols. (París 1971), 3; Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937.21. 29Projecte Reglamentació Interior, 5 marzo 1938, c. 109, SD; Projecte d ́estatut interior per el cual hauran de regir-se els treballadors, febrero 1938, c. 1099, SD; Actas de la Sección zapatería, 15 mayo 1938, c. 1436, SD. 30Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 31Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937. 32Revista dels Treballadors de Filatures Fabra i Coats, abril 1937 Boletín del Sindicato de la Industria de la Edificación, Madera y Decoración, 10 setiembre 1937.Véase Informe Confidencial, 27 enero 1938, c. 855, SD.