Category Archives: Texte & Publikationen

Gegen jeden Nationalismus

Militär und militärische Auseinandersetzungen sind das eskalativste Mittel zur Sicherung der herrschenden Verhältnisse. Militärische Waffen wie Maschinengewehre, Panzer, Drohnen und die an den Schalthebeln Sitzenden sind das endgültige Mittel um beherrschte Territorien, Ressourcen und Eigentum zu verteidigen – durch Zwang zur Unterwerfung, Ausbeutung und Unterdrückung. Überall da, wo sich die Militarisierung einer Gesellschaft zuspitzt, verstärken …

KANAILLE – Beiträge für die Umwälzung aller Verhältnisse – NR.6

Die sechste Ausgabe der „KANAILLE – Beiträge für die Umwälzung aller Verhältnisse“ ist erschienen. Erhältlich in Berlin in ausgewählten Spätis, Cafes und Kneipen, Infoläden, in der Anarchistischen Bibliothek und manchen Buchläden. Ältere Ausgaben gibt es auch online unter kanaille.noblogs.org.

Inhalt:

  • Muss die Krise zur Katastrophe werden?
  • Sozialstaatliche Entlastungen – oder Wie die Politik versucht, in der Krise die Kontrolle zu behalten
  • Die Krise aller Krisen – Energieknappheit und das Ende unserer Zivilisation
  • Weder Rechts noch Links – wir wählen die Revolte
  • Rezension zu „Katastrophismus, Desasterverwaltung und nachhaltige Knechtschaft“
  • „Zögern heißt Tod“ – Wie die deutsche Klimabewegung daran arbeitet, die Welt zu retten
  • Müntzer und der neuzeitliche grüne koloniale Ablasshandel
  • Sie nennen es Fortschritt
  • You will find me if you want me in the garden
  • Gegen jeden Nationalismus
  • Die anarchistische Internationale und der Krieg
  • Die Schildkröte im Netz aus gequirlter Scheiße und Ödnis
  • Inflation leicht erklärt. Die oder das Bö(r)se

 

Apocalypse now!“ scheint das Leitmotiv einer Epoche zu werden, die sich materiell auf Umstrukturierungen von gigantischem Ausmaß zubewegt. Die klammheimliche Lust am Weltuntergang wird zur metropolenspezifischen Reaktion auf eine neue Ära voller unerträglicher Widersprüche, die nur Vorboten jener Umwälzungen sind. Schon einmal − während der 20er Jahre − erwies sich, was als „Untergang des Abendlandes“ interpretiert und erlebt wurde, als globale Krise der Kapitalakkumulation, die bekanntlich nicht das Ende der Welt, wohl aber einen weiteren Abschnitt kapitalistischer Entwicklung einleitete, an deren Ausgangspunkt Faschismus und ein verheerender Krieg standen.

Diese Zeilen schrieben die Revolutionären Zellen 1983 in einem Beitrag unter dem Titel „Krieg − Krise − Friedensbewegung. In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod“, der kürzlich aufgrund der aktuellen Weltlage wieder aus den Archiven gekramt und herumgereicht wurde. Unschwer sind darin einige Parallelen zur heutigen Situation zu erkennen und erschreckend vieles hat auch 40 Jahre später kaum was an Aktualität eingebüßt.

Der Zeitgeist ist in Anbetracht von Corona, Umweltkatastrophen, Kriegen und Inflation auf jeden Fall wieder voll auf Endzeitstimmung getrimmt. Ein Phänomen, dem durch die Flut an Katastrophenmeldungen, die über unsere Bildschirme flimmern, nur schwer zu entkommen ist. Das wissen auch die Regierungen für sich zu nutzen. Die Kunst der Katastrophenverwaltung ist für sie eine unverzichtbare Disziplin in Sachen Herrschaftssicherung. Eine Rezension in dieser Zeitung beschäftigt sich genau damit.

Der Kapitalismus befindet sich durch die Digitalisierung der Wirtschaft und der Modernisierung der Arbeitsmärkte, wie schon oft in krisenbehafteten Zeiten, mitten in einem Umstruktrurierungsprozess mit erheblicher Tragweite. Die Inflation als Folge von Krieg, Lieferengpässen, Ressourcenknappheit und Spekulationen an der Börse leitet gerade die nächste globale Finanz- und Wirtschaftkrise ein, deren Folgen noch nicht abzuschätzen sind. Dafür hat die Rüstungsindustrie mit 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr wieder Hochkonjunktur, und mit ihr auch der nationale Taumel, der schon immer mit der Kriegstreiberei einher ging. Zwar in neuem Gewand, aber mit altbekannten Parolen, klopft vielerorts der Faschismus wieder an die Tür, oder sitzt sogar schon fest im Sattel der Macht. Wie zuletzt die Wahlen in Italien zeigten. Unsere Antwort darauf kann nur „Gegen jeden Nationalismus“ heißen. Diesen Zusammenhängen wird in dem gleichnamigen Text nachgegangen.

Da wir bekanntlich immer am Puls der Zeit sind, steht diese Ausgabe der Kanaille also ganz im Zeichen der Krise. Dabei wollen wir uns aber nicht auf einen Krisendiskurs einlassen, wie er derzeit in der öffentlichen Debatte vorherrscht. Diese Zeilen verfolgen nicht das geringste Interesse zur Schadensbegrenzung beizutragen. Das wäre heuchlerisch. Umso mehr sind wir aber der festen Überzeugung, dass die Zerstörung des Bestehenden und die Umwälzung aller Verhältnisse unausweichlich sind, um den Weg frei zu machen und mit dem Leben zu experimentieren. Wie auch immer dies aussehen mag. Der Text „You will find me in the garden“ kann im Kleinen vielleicht Inspiration dafür sein, was sich im Hier und Jetzt für Möglichkeiten dazu bieten.

Es wäre falsch, mit Blick auf das Krisengeschehen allein auf die Verantwortlichen der aktuellen Misere zu zielen. Genauso von Bedeutung für das Überleben des Systems sind seine falschen Kritiker*innen, die schon heute unermüdlich daran arbeiten, sich einen Platz in der Politik von morgen zu sichern. Ein Blick auf die Klimabewegung kann hierbei sehr aufschlussreich sein, wie dem Text „Zögern heißt Tod“ zu entnehmen ist. Während Fridays for Future noch immer an Demonstrationen für eine bessere Zukunft festhält und trotz Weltuntergangsstimmung noch nicht von einem Revival des Punks und seinem etwas weniger optimistischen „No Future“ abgelöst wurde, sind die klimabewegten Schwesterorganisationen schon einen Schritt weiter und praktizieren den Zivilen Ungehorsam unter wesentlich dramatischeren Titeln wie „Letzte Generation“ oder „Aufstand gegen das Aussterben“.

Und wenn wir schon dabei sind; auch eine andere Parole der Punks hat in einer mindestens genau so dramatischen Inszenierung seine Gültigkeit nun eingebüßt: „God shave the Queen“ − Königin Elisabeth ist tot. Auch wenn wir nicht auf dem aktuellen Stand sind, was die Trends von Frisuren angeht, halten wir es hier ganz mit den antikolonialen Beileidsbekundungen, die nach ihrem Ableben das Internet fluteten: Fuck the Queen und die Kings natürlich gleich mit! Diesem Kapitel der Weltgeschichte haben wir jedoch aus Rücksicht auf unsere Leser*innenschaft keinen eigenen Text gewidmet. Apropos Queen, Im Gegensatz zu ihr ist der Kolonialismus nicht tot zu kriegen. Vielmehr findet dieser anhand aktueller Verteilungskämpfe um natürliche Ressourcen und Energiequellen seine tödliche Fortsetzung mit grünen Anstrich. Auch dies ein Thema dem wir mit dem Text „Müntzer und der neuzeitliche grüne koloniale Ablasshandel“ unsere Aufmerksamkeit schenken wollen.

Ganz grundsätzlich stellt sich natürlich auch die Frage nach dem wie weiter. Überall sind vermeintlich schlaue Vorschläge zu vernehmen um die Folgen einer Krise abzufedern. Diese richten sich vor Allem an die Politik, deren Aufgabe aber gerade darin besteht, das Desaster zu verwalten um den kapitalistischen Normalbetrieb am Laufen zu halten. Kaum wer ist bereit, die Ursachen die dem Ganzen zu Grunde liegen, in aller Konsequenz in Frage zu stellen und als solche zu bekämpfen. Das aus gutem Grund. Denn es würde bedeuten mit dem Narrativ des Fortschritts ein für alle mal zu brechen. Hierzu gibt es einige Gedanken entlang aktuellen technologischer Entwicklungen, die zeigen sollen, dass das Festhalten am westlichen Fortschrittsdenken nur immer tiefer in eine Abhängigkeitsspirale führt.

In dem Beitrag „Die Krise der Krisen“ gibt es dann weiterführende Analysen zur der Frage der Energie, welche, wie kein anderes Thema seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine, zum Inbegriff der Krise wurde und uns gleichzeitig in aller Deutlichkeit die Doppelmoral der Herrschenden vor Augen führt. Die Russen sind böse, zumindest das ist soweit sicher. Ansonsten scheint mal wieder der individuelle Verzicht die Gunst der Stunde zu sein. Wie uns der Waschlappen himself, Robert Habeck, mit seinen jämmerlichen Spartipps weismachen will. Zur Befriedung des Gemüts gibt es dann kleine Häppchen à la 9-Euro-Ticket und allerlei Prämien um davon abzulenken, dass viele schon bald tief in der Schuldenfalle stecken werden, oder noch schlimmer. Der Text „Entlastung in der Krise, oder wie die Politik versucht in der Krise die Kontrolle zu behalten“ entlarvt diese Strategie der Ampelkoalition.

Aber worin besteht eigentlich der Zusammenhang von Inflation und Krieg. Es lohnt sich durchaus etwas genauer hin zuschauen, als blindlings den Erklärungen der Regierung zu glauben. Das tun wir mit der Frage: “Die oder das Bö(r)se?“ Denn die aktuellen Preissteigerungen sind viel eher auf Spekulationen an den Finanzmärkten zurück zu führen, als dass es eine tatsächliche Knappheit an Rohstoffen gäbe. Das Ergebnis bleibt aber dasselbe. Die Armen zahlen drauf während die Reichen weiter Gewinne einstreichen. Btw, der Lidl Gründer Dieter Schwarz ist aktuell der reichste Deutsche. Dieser Fakt sollte auch die letzten Unentschlossenen von einem schlechten Gewissen befreien, um sich mal schön auf seinen Nacken die Taschen zu füllen. Der organisierte Ladendiebstahl, wie das von manchen auch schon vorbildlich praktiziert wurde, bietet sich sowieso an, um die Umverteilung von oben nach unten selbst in die Hand zu nehmen und sich von staatlichen Almosen ein Stück weit unabhängiger zu machen.

Währenddessen tönt Brechmittel-Olaf „You never walk alone“ aus dem Kanzleramt und man wundert sich wie das genau aussehen soll. Die Vorstellung jedenfalls, dass der Bundeskanzler im Namen der guten Sache fröstelnd in seiner Luxusvilla am Stadtrand sitzt, erscheint äußerst unwahrscheinlich. Ist es wohl auch. Aber hey, jetzt wo die Regierung im Namen von Demokratie und Menschenrechte politisch korrekt mit Aserbaidschan und Katar neue Gas-Verträge anstrebt, ist das ja auch gar nicht mehr nötig. Was soll da schon schief gehen. Wer sich eine Fußballweltmeisterschaft erkaufen kann, wird schon nicht verkehrt sein. Vergessen sind die tausenden migrantischen Arbeitssklav*innen die sich auf den Baustellen Katars für die FIFA zu Tode schufteten. Für wie dumm halten die uns eigentlich…? Wobei, hört man sich um, stimmen erschreckend viele in den Kanon von Regierung und Massenmedien mit ein. Die moralische Erpressung funktioniert erneut, und die Herrschenden machen sich die genau gleichen Reflexe zu nutzen, die schon bei den Corona-Maßnahmen angesteuert wurden. Wer drauf reinfällt, ist selber schuld…

Für alle anderen, die wie wir, den von der Bundesregierung angekündigten Wutwinter kaum erwarten können und schon gierig Benzinkanister und leere Weinflaschen im Keller preppern, lohnt es sich ein paar Gedanken über Möglichkeiten und Perspektiven von Protesten zu machen. Wie kommt es, dass sich heute so viele positiv auf Volk und Nation beziehen, während gleichzeitig kaum noch ein Klassenbewusstsein zu erkennen ist? Die Welt hat sich verändert und es ist an der Zeit, die Logik der Politik hinter sich zu lassen. Eine Einordnung von Konstellationen auf der Straße nach einem klassischen links/rechts Schema, wird uns ohnehin nicht weiter helfen, aktuelle Ereignisse begreifen zu können. Klar ist, es gilt sich einzumischen. Versprechen tun wir uns aber weit mehr von Momenten, die diffus, wild und unkontrolliert zu Tage treten, statt den selben alten Schuh immer wieder aufs Neue zu wiederholen. Einfache Antworten wird es zwar nicht geben, aber eines steht fest: „Weder Rechts noch Links, wir wählen die Revolte“.

 

Unter anderem an diesen Orten in Berlin gibt es die Kanaille:

  • Kalabal!k (Reichenberger Str. 63a)
  • Schwarze Risse (Gneisenaustr. 2a)
  • Müßiggang (Oranienstr. 14a)
  • Kad(t)erschmiede (Rigaer Str. 94)
  • New Yorck im Bethanien (Mariannenplatz 2A)

Alfredo M. Bonanno – Insurrektionalistischer Anarchismus

Alfredo M. Bonanno Insurrektionalistischer Anarchismus
– Einleitung von der Soligruppe für Gefangene – Einleitung zur zweiten Auflage – Einleitung zur zweiten spanischen Ausgabe des Sammelbandes meiner Schriften mit dem Titel: No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia – Ihr könnt uns nicht aufhalten. Der revolutionäre anarchistische Kampf in Italien – Einleitung zur ersten Auflage – Ausgeschlossene und Eingeschlossene – Veränderungen der Welt der Arbeit und der Schule a) Beziehungen zwischen Inflation und Beschäftigung b) Der neue Beruf: Flexibilität c) Die Welt der Schulbildung – Verlust der Sprache – Verlust der Kultur – Die gute Technologie – Die Sprache der Technik – Das „Ende“ der Krise – Affinität – Informelle Organisation – Das revolutionäre Projekt – Redaktionelle Anmerkungen
Einleitung von der Soligruppe für Gefangene, Oktober 2022 Diese Textsammlung, wenn auch mit ähnlichen Titel, ist nicht dieselbe wie die 2015 von Edition Irreversibel und Konterband veröffentlicht wurde, die den Namen Anarchismus und Aufstand, von Alfredo Maria Bonanno. Diese Textsammlung ist eine von einer Reihe von Texten die Alfredo M. Bonanno vor langer Zeit veröffentlichte, welche wir nun ins Deutsche übersetzt und selber veröffentlicht haben. Die Zusammenstellung und der Sinn dahinter stammt nicht aus unserer Hand, am Ende dieser Textsammlung stehen die Quellen. In kommender Zeit werden neben dieser Sammlung genauso Stück für Stück alle Teile des Buches Movimento e progetto rivoluzionario. Astensionismo elettorale anarchico veröffentlicht werden, von welchen wir schon ein paar übersetzt haben. Aus dieser Reihe haben wir Movimento fittizio e movimento reale und I limiti dell’anarcosindacalismo, genauso wie Critica del sindacalismo, Contro l´amnistia und Autogestione e anarchismo fertiggemacht und auch bald veröffentlichen. So werden wir peu à peu die Schriften von Alfredo übersetzten, veröffentlichten und verbreiten. Für jeden Text werden wir eine Einleitung veröffentlichen, genauso wie die Gründe warum wir dies Taten und welche unsere Absichten und Ideen dahinter sind. Bei diesem Text ist es eher ein skurriler Zufall, da wir der Meinung waren, dass sich Alfredo mit der Frage der nationalen Befreiungsbewegungen näher beschäftigen würde, welches er aber nicht tut, sofern er sie nur am Rande erwähnt. Dies bemerkten wir aber mit voller Gewissheit ganz zum Schluss. Wir sind auch der Meinung, dass diese Textreihe nicht wirklich mit dem übereinstimmt, was Alfredo selber zu seinen Einleitungen schreibt, zwar ist es für ihn als gewisser Sammelband für das bessere Verständnis des aufständischen Anarchismus zu verstehen, finden wir hier doch Texte vor, die eher eine Analyse der Situation, vor allem in Italien, in den 90ern sind. Dennoch beherbergt diese Textsammlung viele Fragen und Analysen, die im gegenwärtigen Zeitgeist und in der gegenwärtigen Situation, zu überprüfen sind, die als sehr aktuell und eloquent verstanden werden müssen. Alfredo analysiert nicht nur den modernen kapitalistischen Staat und die technologischen Entwicklungen des Kapitals, sondern auch deren Schwachstellen, ihre immanenten und inhärenten krisenhaften Imperative, sprich das Kapital ist Krise, es gerät nicht immer wieder in welche, sondern ist von diesen nicht zu trennen. Die genaueren Aspekte, die er entlang dieser Schrift hervorbringt, sollten von der gegenwärtigen realen revolutionären Bewegung überprüft werden, man sollte die Zeit, in der es geschrieben wurde, berücksichtigen und dennoch mitten in einer weltweiten ökonomischen Krise, die sich zuspitzt, das Kapital ist gerade mehr als gewohnt in die Schieflage geraten, was dieses stets charakterisiert, wo die destruktive Kraft des Kapitals das komplette Leben auf diesem Planeten zu zerstören droht, ist diese Schrift ein wichtiger Vorschlag für alle Anarchisten, Anarchistinnen und sämtlichen Revolutionären zu verstehen, die der Herrschaft des Kapitalismus ein Ende setzen werden. Wir könnten noch vieles mehr zu dieser Textsammlung sagen, aber dies würde das qualvolle Lesen dieser erleichtern. Wir haben uns, wie bei allen Übersetzungen, uns viel Mühe gegeben, was nicht ausschließt, dass uns einige Fehler unterlaufen sind, sollte dies irgendwem auffallen, bitte meldet euch bei uns. Trotzdem bedanken wir uns an dieser Stelle bei dem Gefährten der uns mit der Korrektur aus dem Italienischen geholfen hat nochmals. Einleitung zur zweiten Auflage Hinter jedem Aspekt der anarchistisch insurrektionalistischen1 Theorie steht ein Projekt, ich sage nicht, ein erstickter Rahmen, der in allen seinen Teilen vollständig ist, sondern ein Projekt, das hinreichend erkennbar ist, weit über diese Seiten und die vielen anderen hinaus, die ich in meinem Leben zu diesem gequälten Thema geschrieben habe. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, kann eine analytische Klärung nicht viel ausrichten, sondern läuft Gefahr, das zu bleiben, was sie ist: eine Ansammlung von Worten, die vorgeben, der Realität entgegenzuwirken, ein unangemessen idealistischer Anspruch. Die verlockenden Sukkulenten der klassischen deutschen Philosophie, mit ihren verführerischen Stacheln, haben schon viel Schaden angerichtet, ich hoffe, sie sind nicht noch mehr Spiegel für naive revolutionäre Lerchen. Das soll nicht heißen, dass man das Problem der Methode ohne weiteres angehen kann, ohne zu berücksichtigen, was in allen Soßen gesagt worden ist, sogar von der klassischen deutschen Philosophie selbst, das wäre Naivität. In dieser Perspektive gibt es keine Abkürzungen oder bevorzugten Rezepte, sondern nur die harte revolutionäre Arbeit, das Studium und die Aktion. Die Ausrutscher, die ich in den letzten Jahren bei so vielen mehr oder weniger kantigen Zerstörern gesehen habe, trösten mich in dieser Starrheit der Absichten. Es wäre sinnlos, die eigene Radikalität für extrem zu halten, wenn man dann nur die Hand versteckt, ohne den Stein zu werfen. Dies ist kein Wettlauf um das aussagekräftigste Bild, um den Zauberspiegel, der sich mit schillernden Farben füllt und vier Sonntagsgedanken aus Perugina-Küssen kostbar garniert. Dieses Büchlein veranschaulicht eine Methode, die anarchische und insurrektionalistische Methode, aber sie spricht von einer Erfahrung, nicht von Theorien, die sich mehr oder weniger widersprechen oder sogar vertragen. Eine Erfahrung, die sich im Laufe der Zeit fortsetzt und sich sozusagen vor Ort, in der konkreten Aktion, ablagert, die ihre Form und ihren literarischen Ausdruck fast zufällig in Artikeln, Berichten, Flugblättern oder anderen, sporadisch den Erfordernissen des Augenblicks anvertrauten Texten findet. Anstatt darin ein Element der Dissoziation2 zu sehen, sehe ich darin, wie ich es immer gesehen habe, eine besondere Bewegung, ein charakteristisches Zusammentreffen von Ideen und Aktionen, so dass von den letzteren ein besonderes Licht auf die ersteren fällt und umgekehrt, ohne Lösung der Kontinuität. Viele, vom Innenminister abwärts, bis hin zum letzten Fan der Phantasie, haben darin eine unverdauliche Mischung aus kraftvollem, reifem Denken und alberner, kindischer Phantasie gesehen. Was kümmert mich das? Ich verfüge über eine ausreichend dicke Haut, um zu erkennen, dass es gleichermaßen weh tut, wenn die Kritik von einem Carabinieri kommt, der davon träumt, mir möglichst viele Jahre Gefängnis zu verpassen, und wenn sie in das Lob eines Schwachsinnigen oder in das literarische Geschwafel eines Esels getarnt, ich würde fast sagen, verpackt ist. Jede Methode beruht auf der Realität, sonst ist sie keine Methode und kann auch kein Projekt beleben, sie ist nur eine Bewegung nervöser und unermüdlicher Beine, ein Spaziergang im Märchenwald, ein Enträtseln von Sphinx-Rätseln, ein Lösen von Problemen der Darstellenden Geometrie, die nur für Kinder schwierig sind. Das Leben ist eine zu harte Lektion, um sie zu akzeptieren, selbst als Mitreisende, als schwindelnde Parasiten, die gerne über ihre Eindrücke und ihre Sehnsucht nach Freiheit sprechen. Ein schweres Wort, sehr schwer. Die Versuchung, frei zu sein, ist ungeheuerlich, man müsste sich die Brust aufreißen. Schon das Wort Freiheit ist ein Skandal, dass man es sagen kann, ohne rot zu werden, ist ein Skandal. Dass ich darauf bestehe, dieses Wort auszusprechen, ohne mich den Konsequenzen zu stellen, die das Wesen dessen, was dieses Wort impliziert und mir vor Augen führt, mit sich bringt, ist ebenso skandalös. Freiheit kann man ja nicht sagen, also ist dieses Wort Freiheit trügerisch und täuscht mich, sobald ich es ausspreche. Es wird zwar gesagt, aber es ist ein grundlegender Zusatz erforderlich, um mich selbst in Gefahr zu bringen. Diese Hinzufügung gibt dem Wort eine neue Bedeutung, unterbricht es und legt es kritisch bloß, durchschneidet die vielen bedeutungsvollen Brücken mit einem beharrlichen Geplapper, das von Laien in der Stimmung der Verrücktheit genährt wird, und entblößt es, indem es die Möglichkeit der Verwirklichung an die Oberfläche bringt. Verwirklichung der Freiheit um jeden Preis. In dieser fragenden Phase gibt es einen Mechanismus, der in seinen Details noch verfolgbar ist, das Wort schwingt noch in der kritischen Geste mit, die sich mit dem bereits Gesagten auseinandersetzt, aber es ist nicht nur dies. Die tiefe Bedeutung dieses Wortes liegt gerade darin, dass man sich offen der eigenen Wahrheit stellen kann, ohne dass irgendetwas als Schutzschild dient, hinter dem man die Schläge abfedern kann. Der Mechanismus, von dem ich spreche, die revolutionäre Methode, kann nicht darauf abzielen, die Ergebnisse zu beruhigen – in diesem Fall wäre es eine wirklich positive Kritik, die philosophisch darauf ausgerichtet ist, zu bewahren und nicht zu zerstören -, sondern er ist darauf ausgerichtet, weiter zu beunruhigen, ein letztes Mal vor der Beteiligung zu zerreißen, nicht nur mir, sondern allen eine mögliche Schlussfolgerung zugänglich zu machen, die sich gerade durch die Anwendung der Methode und die Übernahme revolutionärer Verantwortung bietet. Die außergewöhnliche neue Kondition/Bedingung, die ich auf diese Weise erahnen kann, ist die insurrektionalistische Methode, ein endloser Abgrund, von dem die wenigen angedeuteten Spuren, die ich als bereits geschehen ansehe, nur ein entferntes und blasses Bild sind. Der Abstand zwischen dem Denken und der Aktion kann manchmal viel kürzer werden, und dann ist es der richtige Moment, um zuzuschlagen. Triest, 20. Oktober 2007 Alfredo M. Bonanno   Einleitung zur zweiten spanischen Auflage des Sammelbandes meiner Schriften mit dem Titel: No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia3 Die Gefährten und Gefährtinnen, die die erste Auflage von No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia veröffentlicht haben, teilten mir mit, dass sie in die zweite Auflage eine Einleitung von mir einfügen möchten. Ich teile dieses Bedürfnis, weil die Auswahl der veröffentlichten Schriften das Vorhandensein von etwas Gemeinsamen, das Vorhandensein eines sowohl insurrektionellen als auch anarchistischen Projekts, vermuten lässt. Der Text: El proyeto revolucionario, der in dem Buch enthalten ist, umfasst El trabajo del revolucionario, aus dem Jahr 1988, Afinidad y organización informal, aus dem Jahr 1985, Organización de sintesis y organización informal, ebenfalls aus dem Jahr 1985, Autonomia del individuo und ein Teil meines Buches Autogestione e anarchismo, aus dem Jahr 19774. In diesen Schriften spreche ich das Problem des revolutionären Projekts an, aber viele Aspekte davon werden nicht vertieft, zumindest auf der Grundlage der Überlegungen, die ich in den letzten Jahren anstellen konnte. Viele Gefährten und Gefährtinnen haben die Anwesenheit dieses revolutionären Projekts in meinen Analysen hervorgehoben und wie es seit dem Kampf in Comiso gegen den im Bau befindlichen amerikanischen Stützpunkt in den Jahren 1982-1983 immer detaillierter und dringlicher in Form von Schriften und Aktionen geworden ist. Doch das Konzept des Insurrektionalismus selbst, der mögliche Traum eines insurrektionelen Anarchismus, der in der Lage ist, die Macht anzugreifen, indem er nicht nur die Herzen, sondern auch die Körper der Menschen bewegt, die methodologischen korrekten Konzepte der Affinität, der informellen Organisation, der Basiskerne, der Eingeschlossenen und der Ausgeschlossenen usw., machen das Projekt nicht deutlich. Was meine ich mit Projekt? Nicht nur eine bestimmte Menge mehr oder weniger umfangreicher, mehr oder weniger interessanter Analysen, Pamphlete, Bücher, Zeitungen, ja nicht einmal eine Reihe konkreter Aktionen, vom Kampf in Comiso bis zu den gegenwärtigen Kämpfen gegen den Bau von Hochgeschwindigkeitszügen. Mein Projekt lebt in meinem Herzen und ernährt sich von meinem Leben. Ich möchte mich bei dieser einleitenden Gelegenheit bemühen, etwas mehr zu sagen. Zunächst einmal, was es nicht ist, um so die Bedenken derjenigen zu zerstreuen, die mir oft vorgeworfen haben, ich sei zu sehr auf organisatorische Details fixiert. Das Projekt ist kein Fundament. Aber wenn es kein Fundament gibt, d.h. wenn es sich nicht auf eine stereotype Form reduzieren lässt – und die Staatsrechtslehre der Macht alles tut, um diese Form den Polizisten und Richtern zur Verfügung zu stellen – was ist es dann? Ich denke, es ist eine Vorwegnahme von etwas, das später kommen kann, von einer Verwirklichung, die immer in der Schwebe hängt und nie vollständig verwirklicht wird, von einer Konkretheit, die vor mir und vor Tausenden von Gefährtinnen und Gefährten atmet, einer Konkretheit, die von Fakten genährt wird, die aber in denselben Fakten nicht abgeschlossen ist. Das Projekt ist in den vielen Strömen, in denen es weiter pulsiert, ein Verweis auf die Zukunft. Es spricht von etwas, das heute zu tun ist, aber auf eine mögliche zukünftige Verwirklichung projiziert wird. Das Projekt beinhaltet also eine mögliche Bedingung, die in der Zukunft verwirklicht werden wird, an die ich glaube und für die ich bereit bin zu kämpfen. Ich spreche hier von einer Idee, artikuliert und wunderbar, komplex und schwer zu verstehen, ich spreche von Anarchie. Und ich spreche von einem Wert, der für mich hier ist, in meinem Herzen, als Vorgriff auf die Zukunft, auf die Zukunft, an die ich glaube, und nicht als literarische Übung. Der Wert, den das Projekt für mich hat, ist ein gegenwärtiger Wert, der mein Leben lenkt, der mich dazu bringt, jetzt Entscheidungen zu treffen und zu handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen durchzuführen), und nicht ein bloßer Zeithorizont, auf den ich zusteuere, und sei es nur aus der einfachen Tatsache heraus, dass ich lebe und mich dem Tod nähere. Es gibt kein Projekt ohne einen Glauben an die Zukunft, genauso wie es keine Zukunft ohne ein mehr oder weniger detailliertes Projekt gibt. Ich erinnere mich daran, dass die Parole der schwarzen Insurrektion in Los Angeles vor etwa fünfzehn Jahren „No future“ lautete, und dies markierte die Grenze dieser Revolte, es war in gewisser Weise sein eigener Grabgesang. Wenn ich ein Projekt habe, kann ich die Starrheit der Gegenwart, die stumpfe Bösartigkeit bestimmter Machtverhältnisse, das passive Hohngelächter der Macht, die nur auf einen Fehler von mir wartet, um mich zu zerstören, durchbrechen, mit meinem Projekt bin ich direkt in der Zukunft, ich akzeptiere nicht mehr die Unterordnung unter die Gegenwart, deshalb bin ich kaum kontrollierbar. Die Zukunft, meine Zukunft, aber auch die der Gesellschaft als Ganzes, ist nicht nur möglich, sondern auch realisierbar, und diese Möglichkeit der Verwirklichung ist mit meiner Erfahrung und der Erfahrung, die die Welt und die Gesellschaft sammeln, verflochten. Ein Projekt zu haben und für seine mögliche Verwirklichung zu agieren, bedeutet nicht nur zu träumen, sondern auch zu agieren, also Aktionen auf der Grundlage dessen, was ich bin, und auf der Grundlage dessen, was die Gesellschaft ist, auf der historischen Grundlage, die mich begleitet und die uns alle begleitet, zu realisieren. In die Zukunft projiziert zu leben bedeutet nicht, die eigene Geschichte und die Geschichte, in die die Gesellschaft eingebettet ist, zu vergessen, sondern sie kennenzulernen, indem man die vielen Unterschiede begreift, nicht nur die individuellen, sondern auch die kontinentalen, nationalen, regionalen, bis hin zu den einzelnen Gemeinschaften, den kleinsten. Ich denke, dass das Projekt, an dem ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe, etwas ist, das ständig im Entstehen begriffen ist, aber noch nicht in der einen oder anderen Realisierung zu erkennen ist. Deshalb bleibe ich ungerührt von der Kritik, die immer wieder an Anarchistinnen und Anarchisten geübt wird, wonach sie bei all ihrer harten Arbeit, ihren Aktionen und Theorien immer mit der Faust im Sack dastehen. Die Schönheit der Anarchie liegt gerade darin, dass sie sich der Geschichte entzieht und ihren festen Platz in der Zukunft hat. Diese Idee widerspricht jeder Logik der Entschlossenheit, jedem dialektischen Mechanismus, mehr oder weniger revidiert und modifiziert, jedem Anspruch, die Geschichte als Lehrmeister des gelebten Lebens zu sehen. Aber das Projekt ist, wie gesagt, kein Traum, der die unglaublichsten und absurdesten Formen annehmen kann, es ist ein Traum der besonderen Art, ein Tagtraum. Das Projekt, das sich an eine zukünftige Möglichkeit wendet, trägt die historische Notwendigkeit in sich, die es lebendig und funktionsfähig macht, die es dem möglichen Schicksal einer bloßen literarischen Flüchtigkeit entzieht. Sie ist in der Möglichkeit der Zukunft verwurzelt, aber in ihrem Inneren wird sie von den Koordinaten der Geschichte genährt, sie ist Geschichte, deshalb reagiert sie auf bestimmte Prinzipien, sie kann nicht ohne sie auskommen. Obwohl sie nicht deterministisch denkbar ist, bestimmt sie in ihrer Verwirklichung die vor ihr liegende Wirklichkeit. Der Insurrektionalismus entstand als Projekt aus dem begrenzten Traum der „grand soire“, aus der Revolution als spontanem und unvorhersehbarem Ereignis, aus dem vagen Millenarismus, der spätestens seit der Pariser Kommune weit verbreitet war. Der insurrektionalistische Anarchismus ist ein revolutionäres Projekt, das sich in die Zukunft projiziert, aber er hat seine Grundlage in der Geschichte und im Erbe der Kämpfe, die die Ausgebeuteten in der ganzen Welt angehäuft haben. Dieses Erbe macht die Möglichkeit der Zukunft lesbar. Wäre das insurrektionalistische Projekt nicht anarchistisch, würde es vor den tragischen Farcen enden, die von so vielen autoritären Revolutionen auf der ganzen Welt gespielt wurden und weiterhin gespielt werden. Nur das anarchistische Projekt der organisierten Revolte bietet eine positive Möglichkeit, die Idee der sozialen Revolution mit Leben zu füllen und aktiv zu gestalten, ohne sich in kleinliche Projekte zurückzuziehen, die oberflächlich betrachtet scheinbar bessere Aussichten bieten können. Der anarchistische Insurrektionalismus als ein Projekt und als eine Aktion, die nie ganz abgeschlossen ist, weil sie sich ständig an die Zukunft wendet, kann sein und kann auch nicht sein, er muss nicht sein, so wie die Anarchie nicht notwendigerweise ein Merkmal der Zukunft ist, es ist keineswegs sicher, dass die Welt auf die Anarchie zusteuert, wie die kropotkinschen Deterministen im 19. Jahrhundert glaubten. Bedeutet diese Macht nicht auch das mögliche Scheitern des insurrektionalistischen Projekts? Nein. Der Indeterminismus5 ist eines der logischen Merkmale der Möglichkeit, die Tatsache, dass ein Projekt nicht verwirklicht wird, weder hier und jetzt noch dort und dann, beweist nicht die Unzuverlässigkeit des Projekts selbst. Und wenn es das Projekt selbst ist, das unvollständig und unvollendbar ist, gibt es keinen Zweifel an seiner Gültigkeit, die niemals durch dieses oder jenes Scheitern zerstört werden kann. Das revolutionäre Agieren ist diese Unvollständigkeit, es sei denn, man modifiziert das Projekt und reduziert die Revolution auf einen einfachen Wechsel des Herrschers/Chefs. Diese wenigen Anmerkungen sollen verdeutlichen, dass das insurrektionalistische Projekt weder ein mehr oder weniger literarisch abgestimmtes Regelwerk ist, noch eine einfache Handlungsperspektive, wie man sie in Guerilla-Handbüchern findet. Träume sind oft viel komplexer als die Realität. Triest, 6. Januar 2007 Alfredo M. Bonanno   Einleitung zur ersten Auflage Ein unangenehmer Widerspruch lauert unaufgelöst in diesem Buch und droht, der Leserschaft die Arbeit zu erschweren. Ich sage gleich, dass diese einleitenden Zeilen überhaupt nicht hilfreich sein werden. Gleichzeitig sind sie aber auch für streng logische Zwecke unverzichtbar. Die hier vertretene These ist das Ergebnis eines langen Weges des Ringens und Nachdenkens. Es handelt sich um eine schwierige und komplexe These, die nicht nur schwer darzulegen ist – was vielleicht ein Manko des Autors ist -, sondern auch ein für alle Mal in einige klare Elemente zu fassen ist. Hier liegt der Widerspruch: das ganze Buch, das zu verschiedenen Zeiten über mehr oder weniger fünfzehn Jahre hinweg entstanden ist, spürt die Dringlichkeit und die Leidenschaft des Augenblicks, diese Einleitung, die kalt ist, tut es nicht. Hier habe ich die anatomische Absicht, die mit meinem ganzen Selbst kämpft, die grundlegenden Elemente des insurrektionalistischen Anarchismus aufzudecken. Wird das möglich sein? Ich weiß es nicht. Ich versuche es. Sollte die Lektüre dieser einleitenden Notizen das legitime Bedürfnis der Leserin oder des Lesers nach frischer Luft zu sehr bedrohen, dann lasst sie oder ihn das überspringen und tschüss. Die Insurrektion der großen Massen oder eines ganzen Volkes zu einem bestimmten Zeitpunkt setzt bestimmte bereits vorhandene Elemente voraus, setzt zerrüttete soziale und ökonomische Verhältnisse voraus, wenn nicht gar eine Situation extremer Unfähigkeit des Staates, die Ordnung und die Einhaltung der Gesetze aufrechtzuerhalten, aber er setzt auch Individuen und Gruppen von Individuen voraus, die in der Lage sind, diese Zerrüttung jenseits der äußeren Zeichen, mit denen sie sich manifestiert, zu begreifen. Mit anderen Worten, man muss von Zeit zu Zeit in der Lage sein, über die oft zufälligen und sekundären Motivationen, die die ersten insurrektionellen Feuer, die ersten Zusammenstöße, die ersten Warnungen begleiten, hinauszusehen, um seinen eigenen Beitrag zum Kampf zu leisten und ihn nicht im Gegenteil als einfache und zersetzte Ungeduld mit der politischen Herrschaft an der Macht zu bremsen oder zu unterschätzen. Doch wer sind die Personen, die bereit sind, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen? Es könnten die Anarchistinnen und Anarchisten sein, nicht wegen ihrer grundlegenden ideologischen Entscheidung, ihrer erklärten Ablehnung jeglicher Autorität, sondern wegen der kritischen Fähigkeit, die sie haben sollten, um Kampfmethoden und Organisationsprojekte zu bewerten. Außerdem können nur diejenigen, die rebellieren, die bereits rebelliert haben, wenn auch im Mikrokosmos ihres eigenen Lebens, die mit den Folgen dieser Rebellion konfrontiert waren und sie in vollen Zügen gelebt haben, die sensiblen Nerven und die nötige Intuition haben, um die Zeichen der sich anbahnenden insurrektionalistischen Bewegung zu erkennen. Nicht alle Anarchistinnen und Anarchisten sind Rebellen, und nicht alle Rebellen sind Anarchistinnen und Anarchisten. Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht genügt, ein Rebell zu sein, um die Rebellion der anderen zu verstehen, sondern dass man auch bereit sein muss, zu verstehen, sich in die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, mit denen man konfrontiert ist, zu vertiefen und sich nicht von der Flut der lautstarken Demonstrationen der populären Bewegung mitreißen zu lassen, selbst wenn diese mit dem Wind in den Segeln läuft und die ersten Erfolge die Fahnen der Illusion hochhalten. Kritik ist immer das erste Mittel, der Ausgangspunkt, aber es muss eine partizipatorische Kritik sein, eine Kritik, die das Herz mit einbezieht, die die Emotionen des tatsächlichen Kampfes gegen die Feinde aller Zeiten zum Klingen bringt, deren Gesichter zum ersten Mal im Staub aufgedeckt werden, und nicht eine mürrische Bewertung des Für und Wider. Aber ein Rebell ist nicht genug, selbst wenn sich hundert Rebellen zusammentun, werden sie hundert Moleküle sein, die in der zerstörerischen Agonie der ersten Stunden verrückt werden, wenn der Kampf heftig lodert und alles hinwegfegt. Wichtige Figuren, die als Beispiel und Ansporn dienen, sind die Rebellen, die sich den Bedürfnissen des Augenblicks beugen. Je mehr ihr Gewissen sie zu dem oft blinden, aber wirksamen und radikalen Angriff veranlasst, desto mehr erkennen sie selbst eine unüberwindbare Grenze, sie sehen keinen organisatorischen Ausweg, sie warten auf Vorschläge, die von den aufbegehrenden Massen kommen, ein Wort hier, ein Wort dort, im Herzen des Kampfes, in den Momenten der Pause, wenn alle reden wollen, während sie darauf warten, den Kampf wieder aufzunehmen. Und sie sind sich nicht bewusst, dass selbst in diesen erheiternden Momenten immer auch Politiker lauern. Die Massen haben also nicht die Tugenden, die wir ihnen oft zuschreiben. Die Vollversammlung ist sicherlich kein Ort, an dem man sein Leben aufs Spiel setzt, aber das eigene Leben wird durch die Entscheidungen, die in der Vollversammlung getroffen werden, aufs Spiel gesetzt. Und die politischen Tiere, die in diesen kollektiven Momenten ihre Häupter erheben, haben immer eine klare Vorstellung davon, was sie vorschlagen wollen, sie haben ein schönes Programm der Rekuperation6, der Rückkehr zur Normalität, des Aufrufs zur Ordnung in der Tasche. Natürlich werden sie nichts sagen, was nicht politisch korrekt ist, und so werden sie für Revolutionäre gehalten, aber sie sind es doch, die politischen Tiere aller Zeiten, die den Grundstein für den Wiederaufbau der zukünftigen Macht legen, die den revolutionären Schwung rekuperieren7 wird, indem sie ihn in mildere Bahnen lenkt. Lasst uns die Zerstörung begrenzen, Gefährten und Gefährtinnen, bitte, schließlich ist es das, was uns gehört, was wir zerstören. Vor anderen zu schießen und schneller zu sein, ist eine Wildwest-Tugend, die für einen Tag gut ist, danach muss man wissen, wie man seinen Kopf benutzt, und seinen Kopf zu benutzen bedeutet, einen Plan zu haben. Und der Anarchist/Anarchistin kann nicht einfach ein Rebell sein, er muss ein Rebell mit einem Projekt sein. Das heißt, er muss sein Herz und seinen Mut mit dem Wissen und der Voraussicht der Aktion vereinen. Seine Entscheidungen werden daher immer vom Feuer der Zerstörung entzündet, aber durch das Holz der kritischen Analyse genährt werden. Wenn wir einen Moment darüber nachdenken, gibt es kein Projekt, das spontan, wie man so schön sagt, mitten im Getümmel geboren werden kann. Es wäre töricht zu glauben, dass alles vom aufständischen Volk kommen muss, ein blinder Determinismus, der uns geknebelt in die Hände des ersten Politikers zu liefern droht, der auf einen Stuhl klettert und in der Lage ist, ein paar organisatorische und programmatische Linien anzudeuten, indem er mit vier rhetorisch aneinandergereihten Worten Rauch in die Augen wirft. Auch wenn die Insurrektion in erster Linie ein revolutionärer Moment großer kollektiver Kreativität ist, ein Moment, der analytische Anregungen von beträchtlicher Intensität liefern kann (man denke an die aufständischen Arbeiter der Pariser Kommune, die auf die Uhren schossen), kann er nicht die einzige Quelle theoretischer und planerischer (A.d.Ü. bezogen auf die Projektualität) Erkenntnisse sein. Die höchsten Momente des bewaffneten Volkes beseitigen zwar präventive Verzögerungen und Ungewissheiten, sie machen deutlich, was vorher verschwommen war, aber sie können nicht etwas beleuchten, das nicht da ist. Diese Momente sind der starke Scheinwerfer, der ein revolutionäres und anarchistisches Projekt realisierbar macht, aber dieses Projekt, auch in seinen methodologischen Umrissen, muss vorher existiert haben, muss vorher ausgearbeitet worden sein, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, und, soweit möglich, experimentiert worden sein. Wenn wir andererseits in Massenkämpfe, in Auseinandersetzungen um Zwischenforderungen eingreifen, tun wir das dann nicht fast ausschließlich, um unser methodologisches Erbe anzudeuten? Dass Fabrikarbeiter Arbeit fordern und versuchen, Entlassungen zu vermeiden, dass eine Gruppe von Obdachlosen versucht, eine Unterkunft zu bekommen, dass Gefangene für ein besseres Leben in Strafanstalten streiken, dass Schüler gegen eine Schule ohne Kultur rebellieren, all das interessiert uns bis zu einem gewissen Punkt. Wenn wir uns als Anarchistinnen und Anarchisten an diesen Kämpfen beteiligen, wissen wir sehr wohl, dass die quantitative Antwort, d.h. das Wachstum unserer Bewegung, sehr relativ ist, egal wie sie ausfällt. Oft vergessen die Ausgeschlossenen auch, wer wir sind, und es gibt keinen Grund, sich an uns zu erinnern, geschweige denn einen Grund, der auf Dankbarkeit beruht. In der Tat haben wir uns immer wieder gefragt, was wir als Anarchistinnen und Anarchisten und damit als Revolutionärinnen und Revolutionäre inmitten dieser rachsüchtigen Kämpfe tun, wir, die wir gegen die Arbeit, gegen die Schule, gegen jedes staatliche Zugeständnis, gegen das Eigentum und sogar gegen jede Art von Abmachungen sind, die gnädigerweise ein besseres Leben im Gefängnis ermöglichen. Die Antwort ist einfach. Wir sind dort, weil wir eine andere Methode haben. Und unsere Methode hat die Form eines Projekts. Wir sind an der Seite der Ausgeschlossenen, in diesen intermediären Kämpfen, weil wir ein anderes Modell vorschlagen, eines, das auf der Selbstorganisation der Kämpfe, auf dem Angriff, auf der permanenten Konfliktualität beruht. Das ist unsere Stärke, und nur für den Fall, dass die Ausgeschlossenen diese Angriffsmethode akzeptieren, sind wir bereit, an ihrer Seite zu kämpfen, selbst für ein Ziel, das an sich nur auf der Grundlage einer Forderung basiert (A.d.Ü., somit diese auch nicht verlässt). Eine Methode bliebe in jedem Fall ein toter Buchstabe, ein Sammelsurium bedeutungsloser Worte, wenn sie sich nicht in einem Projekt artikuliert, einem Projekt, das in der Lage ist, dem spezifischen Problem, mit dem die Ausgeschlossenen konfrontiert sind, Substanz zu verleihen. So viele ängstliche Kritiker des anarchistischen Insurrektionalismus wären zu ihrem unterbrochenen Schlaf zurückgekehrt, wenn sie diesem Aspekt Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Was nützt es uns, wenn wir uns vorwerfen, dass wir auf hundert Jahre alten methodologischen Forderungen beharren, wenn das, was wir sagen, nicht beachtet wird? Der Insurrektionalismus, von dem wir sprechen, ist etwas anderes als die glorreichen Tage auf den Barrikaden, auch wenn er in bestimmten Momenten die geeignetsten Anregungen für einen Kampf bieten kann, der auf einen Zusammenstoß auf den Barrikaden ausgerichtet ist. Nur, dass er an sich, als revolutionäre Theorie und Analyse, als Methode, die in einem Projekt verkörpert ist, diesem apokalyptischen Moment nicht unbedingt Rechnung trägt, sondern sich unabhängig von Fahnenschwingen und Gewehrsalven entwickelt und vertieft. Viele Gefährten und Gefährtinnen sind sich der Notwendigkeit des Angriffs voll bewusst und bemühen sich nach Kräften, ihn zu realisieren. Sie erkennen verwirrt die Schönheit des Kampfes und der Konfrontation mit dem Klassenfeind, aber sie wollen sich nicht einem Mindestmaß an kritischer Reflexion unterziehen, sie wollen nichts von revolutionären Projekten hören, und so vergeuden sie weiterhin den Enthusiasmus ihrer Rebellion, der sich in tausend Rinnsale ergießt und schließlich in kleinen und uneinheitlichen Manifestationen der Intoleranz erlischt. Es gibt natürlich keine einheitliche Typologie dieser Gefährten und Gefährtinnen und man kann sagen, dass jeder von ihnen ein Universum für sich darstellt, aber sie alle, oder fast alle, haben ihre Verärgerung über jeden Diskurs, der methodologische Klarstellungen beinhaltet, gemeinsam. Unterscheidungen stören sie. Was nützt es mir, wenn ich von Affinitätsgruppen, von informeller Organisation, von Basiskernen, von Koordination spreche? Ist nicht alles klar, der Missbrauch und die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die Grausamkeit der Macht stehen vor uns, deutlich sichtbar, sind sie nicht in den Menschen und Dingen verwirklicht, die in der Sonne liegen, als ob nichts sie stören könnte? Welchen Sinn ergeben Diskussionen, für die noch Zeit zu finden ist? Warum nicht sofort, hier und jetzt, angreifen, ja, warum nicht gleich die erste Uniform angreifen, die zur Hand ist? Schließlich war sogar ein „vernünftiger“ Mensch wie Malatesta in gewisser Weise dieser Meinung, als er sagte, dass er die individuelle Rebellion dem Abwarten vorzog, bis die Welt auf den Kopf gestellt wurde, um zu agieren. Ich persönlich habe nie etwas dagegen gehabt, ganz im Gegenteil. Die Rebellion ist der erste Schritt, die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Brücken hinter uns abgebrochen werden, dass die Verbindungen, die uns mit tausend starken Fäden an die Gesellschaft und die Macht binden, wenn nicht gekappt, so doch zumindest geschwächt werden, die Verbindungen mit der Familie, mit der herrschenden Moral, mit der Arbeit, mit dem Gehorsam gegenüber Gesetzen. Ich glaube aber, dass dieser Schritt nicht ausreicht. Ich glaube, wir müssen weiter gehen, über die Möglichkeiten nachdenken, unserer Aktion eine größere organisatorische Kraft zu verleihen, so dass die Rebellion in eine projektuale Intervention in Richtung einer verallgemeinerten Insurrektion umgewandelt wird, so dass wir von der individuellen Insurrektion, dem ersten und notwendigen Schritt, weitergehen. Dass dieser zweite Moment für viele Gefährten und Gefährtinnen nicht sympathisch ist, ist eine ganz klare Tatsache. Da sie sich von allen Bemühungen in dieser Richtung entfremdet fühlen, gehen sie dazu über, das Problem zu unterschätzen oder, was noch schlimmer ist, alle anderen Gefährten und Gefährtinnen zu verachten, die dem organisatorischen Problem Aufmerksamkeit und Mühe widmen. Dieses Buch versucht, einige wesentliche Elemente für eine eingehende Betrachtung des organisatorischen Aspekts des insurrektionalistischen Anarchismus zu liefern. Insbesondere geht es um die Probleme der Affinität und damit der Affinitätsgruppen, der Informalität und damit der informellen Organisation, der Selbstorganisation der Kämpfe und damit der Basiskerne und der Koordinierung zwischen diesen von Anarchisten und Nicht-Anarchisten gebildeten Kernen (A.d.Ü. nuclei8) mit den von Anarchisten gebildeten Affinitätsgruppen mittels der informellen Organisation. Wie wir sehen, hat das Thema recht schwierige methodologische Merkmale, die die Verfügbarkeit bestimmter Konzepte erfordern, die oft aufgrund ihrer allgemeinen Bedeutung, die nicht immer mit der Bedeutung übereinstimmt, die sie im Kontext einer insurrektionalistischen Organisationstheorie annehmen, falsch dargestellt werden, und die vor allem ein wenig kritische Aufmerksamkeit erfordern, das heißt, dass wir uns von den Vorurteilen befreien, die manchmal unsere Sichtweise einschränken, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Diese Einleitung wird auf den folgenden Seiten eher schematisch auf diese Konzepte eingehen, der Text wird deutlicher, aber vielleicht auch schwieriger zu verstehen sein, wenn man diese Schlüsselkonzepte nicht vorher verstanden hat. Eine anarchistische Gruppe kann sogar unter völlig Fremden gebildet werden. Es ist mir schon oft passiert, dass ich in Italien und anderen Ländern die Räume von anarchistischen Gruppen betreten habe und fast niemanden kannte. Die bloße Anwesenheit an einem bestimmten Ort, die Haltung, die Art zu sprechen und sich zu verhalten, die Diskussion, die persönlichen Äußerungen, die mehr oder weniger von den grundlegenden ideologischen Entscheidungen des orthodoxsten Anarchismus durchdrungen sind, führen dazu, dass ein Anarchist in kurzer Zeit das Gefühl hat, mit den anwesenden Gefährten in bester Weise und zur gegenseitigen Zufriedenheit zu kommunizieren. Es ist nicht meine Absicht, hier über die Art und Weise zu sprechen, wie eine anarchistische Gruppe organisiert werden kann. Es gibt viele Möglichkeiten, und jeder wählt seine Gefährten so, wie er es für richtig hält. Aber es gibt eine besondere Art und Weise, eine anarchistische Gruppe zu gründen, und das ist diejenige, die in erster Linie, aber nicht ausschließlich, das ist offensichtlich, die reale oder mutmaßliche Affinität zwischen allen Teilnehmern berücksichtigt. Nun ist diese Affinität ein Gut, das sich nicht in einer Grundsatzerklärung, in einem apriorischen Programm, in der Teilnahme an konkreten Kämpfen oder in einem Zeugnis der „Militanz“ findet, wie weit diese auch zurückreichen mag. Die Affinität ist ein Gut, das durch gegenseitiges Kennenlernen entsteht. Deshalb gibt es Fälle, in denen man annimmt, mit jemandem verwandt zu sein, nur um später festzustellen, dass man gar nicht verwandt ist, und umgekehrt. Eine Affinitätsgruppe ist also ein Schmelztiegel, in dem Affinitätsbeziehungen reifen und sich festigen. Da aber die Vollkommenheit Sache der Engel und nicht der Menschen ist, muss auch die Affinität mit intellektuellem Scharfsinn betrachtet werden und darf nicht törichterweise als Allheilmittel für all unsere Schwächen akzeptiert werden. Ich kann nur dann entdecken, dass ich eine Affinität zu jemandem habe, wenn ich mich in Bezug auf diese Person in Gefahr begebe, d.h. wenn ich mich offenbare, wenn ich jede Vortäuschung ablege, die mich normalerweise wie eine zweite Haut schützt, die härter und widerstandsfähiger ist als die physische. Und diese Enthüllung meiner selbst kann nicht nur durch Plaudern, Erzählen, Warten auf das Plaudern des anderen erfolgen, sondern sie muss in den Dingen, die wir gemeinsam tun, in der Aktion stattfinden. Es gibt kleine Signale, die wir in der Praxis oft nicht überprüfen, die aber viel bedeutsamer sind als Worte, die wir in der Praxis besser überprüfen. Und aus diesem gegenseitigen Austausch entwickeln sich die Bedingungen, die für ein gegenseitiges Kennenlernen notwendig sind. Wenn die gesamte Aktivität der Gruppe nicht auf das Tun um des Tuns willen ausgerichtet ist, auf das Ziel, quantitativ zu wachsen, auf das Ziel, hundert zu werden, während es gestern nur zehn waren, wenn dieses numerische Kalkül im Hintergrund bleibt, während das wesentliche Ziel das qualitative Ziel wird und bleibt, die anderen Gefährten und Gefährtinnen zu spüren, sie vereint zu fühlen und an der eigenen Spannung zur Aktion teilzuhaben, an dem eigenen Wunsch, die Welt zu verändern, wenn dies geschieht, befinden wir uns in der Gegenwart einer Affinitätsgruppe. Wenn dies nicht der Fall ist, ist die Suche nach Affinität wieder einmal die Suche nach einer Schulter, an die man sich anlehnen kann, um die Tränen zu vergießen, die wir alle so dringend brauchen. Die Bildung einer Affinitätsgruppe ist also nicht ausschließlich eine Angelegenheit theoretischer Diskussionen, sondern fließt im Wesentlichen in die praktische Tätigkeit der Gruppe ein, in die Entscheidungen, die sie trifft, um in die Realität einzugreifen, in die sozialen Kämpfe, denn durch diese Entscheidungen und diese Kämpfe kann jeder einzelne Teilnehmer seine Kenntnisse mit allen anderen Gefährten vertiefen, und hier, in diesem vielfältigen und komplexen Prozess, auch die theoretische Vertiefung. Die Affinität ist also einerseits ein gegenseitiges Wissen, andererseits ein Wissen in der Aktion, in der Praxis, in der Verwirklichung der eigenen Ideen. Der Blick zurück, den ich meinen Gefährten in Bezug auf meine Person gestatte, geht somit in den Blick nach vorn über, den wir alle zusammen, sie und ich, in die Zukunft werfen, wenn wir gemeinsam ein Projekt aufbauen, das heißt, wenn wir beschließen, in die Realität der Kämpfe einzugreifen und zu sehen, wie und in welche Richtung wir eingreifen können. Die beiden Momente, das rückwärtige Moment, das aus dem Moment des Wissens, sagen wir des Individuums, besteht, und das vorwärts gerichtete Moment, die Projektualität, die aus dem Wissen, sagen wir der Gruppe, besteht, schweißen zusammen und machen die Affinität der Gruppe selbst aus, so dass sie in jeder Hinsicht als „Affinitätsgruppe“ betrachtet werden kann. Der auf diese Weise erlangte Zustand ist nicht für alle Zeiten in Stein gemeißelt. Er (Der Zustand) bewegt sich, er entwickelt sich und macht Rückschritte, er verändert sich im Laufe der Kämpfe, und innerhalb der Kämpfe nimmt er Nahrung auf, um sich theoretisch und praktisch zu verändern. Es gibt keine Monolithizität9, keinen Beschluss aus der Führungsspitze, keinen Glauben, auf den man schwören muss, keine Zehn Gebote, auf den man sich in Momenten des Zweifels und der Angst verlassen kann. Alles muss in der Gruppe diskutiert werden, und im Laufe der Kämpfe muss alles von Grund auf neu überdacht werden, auch wenn es scheint, dass die festen Punkte für immer garantiert sind. Die Ausarbeitung eines Projektes der Intervention bleibt das gemeinsame Erbe der Affinitätsgruppe, da dies gerade das geeignetste Feld für die Untersuchung und Erforschung der Bedingungen ist, unter denen sie zu agieren beschließt. So hat die Affinitätsgruppe im Vergleich zu einer Gruppe, die einer Syntheseorganisation10 angehört, offensichtlich eine geringere Vorstellung von ihren Möglichkeiten der Intervention. Aber die Breite der Interessen einer anarchistischen Synthesestruktur ist nur scheinbar. Im Rahmen der Syntheseorganisation erhält die Gruppe zum Zeitpunkt des Kongresses eine Ansprache und kann sich zwar frei für alle Probleme interessieren, die eine in Klassen geteilte Gesellschaft kennzeichnen, aber sie arbeitet im Wesentlichen im Rahmen des Kongressdiktats. Da sie an die ein für alle Mal akzeptierten programmatischen Grundsätze gebunden ist, ist sie weit davon entfernt, anders entscheiden zu können, und da sie das nicht kann, tut sie es auch nicht, und indem sie es nicht tut, hält sie sich schließlich an die starren Grenzen, die auf dem Kongress von der Organisation gesetzt wurden, die als notwendige und unvermeidliche Bedingung in erster Linie den Schutz der Organisation selbst vorsehen, das heißt, die Macht so wenig wie möglich zu „stören“, um nicht „verbannt“ zu werden. Alle diese Grenzen werden von der Affinitätsgruppe umgangen, einige leicht, andere nur durch den Mut der Entscheidungen der Gefährten in ihr. Das ändert nichts an der Tatsache, dass auch eine solche Struktur den Gefährten und Gefährtinnen keinen Mut geben kann, wenn sie ihn nicht selbst besitzen, sie kann keine Entscheidungen zum Angriff vorschlagen, wenn in jedem von ihnen kein rebellischer Geist vorhanden ist, sie kann nicht agieren, wenn jeder beschließt, nur an das Nachmittagsgeschwätz zu denken. Nachdem sie sich mit den Problemen der Realität auseinandergesetzt, die unverzichtbaren Dokumente gefunden und die Analysen formuliert hat, beschließt die Affinitätsgruppe, die Initiative zu ergreifen. Dies ist eines der grundlegenden Merkmale dieser Art von anarchistischer Struktur. Sie wartet nicht darauf, dass Probleme auftauchen, wie eine Spinne inmitten ihres Netzes, sie sucht sie, sie drängt sie zu einer Lösung, die, einmal vorgeschlagen, natürlich von der aus der Realität der Ausgeschlossenen, die direkt unter den negativen Folgen des Problems leiden, akzeptiert werden muss. Um jedoch einen Vorschlag der Projektualität für einen sozialen Kontext zu machen, der unter einem besonderen Angriff der Macht leidet, einem spezifischen, umschriebenen Angriff, der in einer oder mehreren repressiven Quellen und in einem bestimmten Territorium identifizierbar ist, ist es notwendig, physisch inmitten der Ausgeschlossenen, in diesem Territorium, anwesend zu sein und eine eingehende Kenntnis der Probleme zu haben, die das repressive Faktum im Gange kennzeichnen. So richtet sich die Affinitätsgruppe immer auf eine lokalisierte Intervention, indem sie ein bestimmtes Problem gemeinsam mit den Leuten angeht und all jene Bedingungen schafft, psychologische und praktische, individuelle und kollektive, theoretische Vertiefung und Verfügbarkeit von Mitteln, damit dieses Problem mit den methodologischen Merkmalen angegangen wird, die die des Insurrektionalismus sind: Selbstorganisation, permanente Konfliktualität, Angriff. Es ist nicht immer so, dass eine einzelne Affinitätsgruppe über die praktischen und theoretischen Möglichkeiten verfügt, eine solche Intervention durchzuführen. Wie die (wenigen und oft umstrittenen) Erfahrungen zeigen, ist es aufgrund des Ausmaßes des Problems, der Komplexität der Intervention, der Weite des Territoriums und der Langsamkeit der Mittel, die für die Verbreitung des vorgeschlagenen Modells der Projektualität in Zusammenarbeit mit den Ideen und Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung eingesetzt werden müssen, oft erforderlich, dass breitere Kräfte zusammenarbeiten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ständigen Kontakt mit anderen Affinitätsgruppen zu halten, um eine breitere Intervention ins Auge zu fassen, die Anzahl der Gefährten und Gefährtinnen, die Verfügbarkeit von Mitteln und die Klarheit der Ideen an die Komplexität und den Umfang des zu behandelnden Problems anzupassen. So wurde die informelle Organisation geboren. Mehrere anarchistische Affinitätsgruppen schließen sich zu einer informellen Organisation zusammen, deren Ziel es ist, das Problem anzugehen, das die Intervention einer einzelnen Affinitätsgruppe unzureichend machte. Natürlich müssen alle Gruppen, die an der informellen Organisation teilnehmen, die Intervention in ihren Grundzügen teilen und sich dann sowohl an praktischen Aktionen als auch an theoretischen Ausarbeitungen beteiligen. In der Praxis kommt es oft vor, dass Affinitätsgruppen informelle Beziehungen zueinander haben, die sich auf Dauer verfestigen, d.h. in regelmäßigen Treffen zur Vorbereitung spezifischer Kämpfe oder – noch besser – in Treffen, die im Verlauf bestimmter Kämpfe stattfinden. Das macht es einfacher, Informationen über einzelne laufende Interventionen, laufende Projekte und Anfragen aus der Welt der Ausgeschlossenen zu verbreiten. Das „Funktionieren“ einer informellen Organisation ist sehr einfach. Es gibt keine Namen, um sie zu unterscheiden, da es keine Ziele für quantitatives Wachstum gibt. Es gibt keine festen Strukturen (abgesehen von einzelnen Affinitätsgruppen, die ihre Arbeit völlig unabhängig voneinander machen), sonst würde der Begriff „informell“ keinen Sinn mehr ergeben. Es gibt keine „konstituierenden“ Momente, es gibt keine Kongresse, sondern nur regelmäßige Treffen (die vorzugsweise direkt im Verlauf der Kämpfe stattfinden), es gibt keine Programme, sondern nur das gemeinsame Erbe der insurrektionalistischen Kämpfe und die Methodologie, die sie kennzeichnet: Selbstorganisation, permanente Konfliktualität, Angriff. Positiv ist, dass der Zweck der informellen Organisation der ist, der ihr von den einzelnen Affinitätsgruppen, die sie bilden, gegeben wird. In der Regel handelt es sich bei den wenigen Erfahrungen, die gemacht wurden, um ein spezifisches Problem, wie z.B. die Zerstörung der Raketenbasis in Comiso 1982-1983. Es könnte sich aber auch um eine Reihe von Interventionen handeln, bei denen die informelle Organisation so artikuliert wird, dass sie den einzelnen Gruppen in verschiedenen Situationen eine Möglichkeit zur Intervention bietet, z.B. durch wechselnde Verpflichtung, wenn es darum geht, lange an einem bestimmten Ort präsent zu sein (in Comiso blieben die anwesenden Gruppen gut zwei Jahre dort). Ein weiteres Ziel könnte sein, analytische und praktische Mittel für die Untersuchung, aber auch finanzielle Unterstützung zur Verfügung zu stellen, über die die einzelne Gruppe vielleicht nicht verfügt. Positiv ist, dass die informelle Organisation in erster Linie dazu dient, die verschiedenen Affinitätsgruppen und die Gefährten und Gefährtinnen in den Gruppen kennenzulernen. Das ist, wenn man darüber nachdenkt, ein anderer Grad der Untersuchung der Affinität. Dieses Mal sind die Grenzen des zu erreichendes Zieles, die Untersuchung der Affinität, die durch den Teil des Projektes intensiviert wird, aber die Vertiefung des individuellen Wissens nicht ausschließt, auf der Ebene von mehreren Gruppen zu finden. Daraus folgt, dass auch die informelle Organisation eine Struktur der Affinität ist, denn sie basiert auf der Menge der Affinitätsgruppen, die sie bilden. Diese Überlegungen, die wir seit fast fünfzehn Jahren mehr oder weniger artikulieren, sollten allen interessierten Gefährten und Gefährtinnen das Wesen der informellen Organisation rechtzeitig bewusst gemacht haben. Das scheint nicht der Fall zu sein. Das größte Missverständnis rührt meiner Meinung nach von dem – in einigen von uns latent vorhandenen – Wunsch her, unsere Muskeln zu zeigen und uns eine starke Struktur der Organisation zu geben, weil es keine andere Möglichkeit gäbe, eine Macht zu bekämpfen, die ihrerseits muskulös und stark ist. Das erste Merkmal einer starken Struktur sollte nach Ansicht dieser Gefährten und Gefährtinnen (mehr oder weniger deutlich) spezifisch und robust, zeitlich stabil und gut sichtbar sein, um quasi ein Leuchtfeuer im Nebel der Kämpfe der Ausgeschlossenen zu sein, ein Leuchtturm, ein Wegweiser, ein Bezugspunkt. Leider! Wir sind nicht dieser Meinung. Die gesamte ökonomische und soziale Analyse des postindustriellen Kapitalismus macht deutlich, wie von einer solchen Struktur, die stark und für das bloße Auge sichtbar ist, die Macht einen Bissen abbekommen würde. Das Verschwinden einer Zentralität der Klasse (zumindest von dem, was in der Vergangenheit fälschlicherweise für Zentralität gehalten wurde) macht einen Angriff durch starre Strukturen, die deutlich sichtbar und stark in ihren Artikulationen sind, undurchführbar. Sollten diese Strukturen nicht beim ersten Aufprall zerstört werden, würden sie mit Sicherheit in die Sphäre der Macht kooptiert werden, mit der Aufgabe der Rekuperation und des Recyclings der unbeugsamsten Elemente. Aber in diesem Punkt verweisen wir auf die Lesart der hier vorgestellten Texte, die sicherlich viel überzeugender sind. Solange die Affinitätsgruppe in sich geschlossen bleibt, eine Gruppe von Gefährten und Gefährtinnen, die sich selbst Regeln geben und diese einhalten, und mit geschlossen bleiben meine ich nicht nur, dass sie nicht aus ihrem Sitz herausgehen und sich auf die üblichen Diskussionen unter Eingeweihten beschränken, sondern auch, dass sie mit Erklärungen und entsprechenden Dokumenten auf die verschiedenen repressiven Abläufe der Macht reagieren, die von der Macht vorgeschlagen werden, solange die Dinge auf dieser Ebene bleiben, unterscheidet sich die Struktur der Affinität von jeder anderen anarchistischen Gruppe nur in ihren offensichtlichen Aspekten, in ihren Worten, in ihren „politischen“ Entscheidungen, in der Art und Weise, wie sie die verschiedenen Reaktionen auf die Anmaßungen der Macht, unser Leben und das Leben aller Ausgeschlossenen zu regeln, interpretiert. Der tiefe Sinn, der wesentliche Zweck, eine „andere“ Struktur zu sein, d.h. auf organisatorischen Entscheidungen zu basieren, die sich von allen anderen anarchistischen Gruppen unterscheiden, die Affinität, wird nur bei dem Einsatz eines spezifischen Kampfprojekts effektiv wirksam. Und das kennzeichnende Element dieses Projekts, jenseits der Worte oder Motivationen, die es mehr oder weniger analytisch tiefgründig und praktisch wirksam machen, ist die Anwesenheit der Ausgeschlossenen, d.h. der Leute, kurz gesagt, der mehr oder weniger großen Massen, die unter den repressiven Effekten der Macht leiden, gegen die sich dieses Projekt richtet, indem sie auf die insurrektionalistische Methode zurückgreifen. Die Teilnahme der Massen ist daher das Gründungselement des insurrektionalistischen Projekts und, ausgehend von der Bedingung der Affinität der einzelnen anarchistischen Gruppen, die daran teilnehmen, auch das Gründungselement dieser Affinität selbst, die eine arme elitäre Kameradschaft11 bliebe, wenn sie sich auf das gegenseitige Streben nach einer tieferen persönlichen Bekanntschaft zwischen Gefährten und Gefährtinnen beschränken würde. Es wäre jedoch unsinnig, Menschen zu Anarchisten und Anarchistinnen zu machen, indem man ihnen vorschlägt, unseren Gruppen beizutreten, um den Kampf anarchistisch zu führen. Das wäre nicht nur Unsinn, sondern eine schreckliche ideologische Forcierung und würde den ganzen Sinn von Affinitätsgruppen und der eventuellen informellen Organisation, die geschaffen wurde, um mit dem repressiven Angriff umzugehen, den zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Gebiet, ein mehr oder weniger beständiger Teil der Ausgeschlossenen von der Macht erleidet, auf den Kopf stellen. Um Organisationsstrukturen zu schaffen, die in der Lage sind, die Ausgeschlossenen so zu gruppieren, dass sie Angriffe gegen die Repression starten können, ist es notwendig, autonome Basiskerne ins Leben zu rufen, die natürlich jeden anderen Namen annehmen können, der auf das Konzept der Selbstorganisation hinweist. Damit kommen wir zum zentralen Punkt des insurrektionalistischen Projekts: die Konstituierung/Bildung der autonomen Basiskerne (der Einfachheit halber akzeptieren wir diesen Begriff hier). Ihr wesentliches, sofort sichtbares und nachvollziehbares Merkmal ist, dass Anarchisten und Nicht-Anarchisten an ihnen teilnehmen. Aber es gibt noch andere Punkte, die schwieriger zu verstehen sind und die sich bei den wenigen praktischen Versuchen als Quelle für nicht wenige Missverständnisse erwiesen haben. In erster Linie sind es quantitative Strukturen. Wenn es sich um Strukturen dieser Art handelt, und das tun sie tatsächlich, muss deutlich gemacht werden, dass sie ein besonderes Merkmal haben. Sie sind reale Bezugspunkte, keine festen Orte, an denen die Menschen sich selbst zählen und an denen deshalb all jene Verfahren eingerichtet werden müssen, die eine aggregierte Persistenz im Laufe der Zeit ermöglichen (Mitgliedschaft, Zahlung eines Mitgliedsbeitrags, Bereitstellung von Dienstleistungen usw.). Da die autonomen Basiskerne nur den Zweck des Kampfes haben, funktionieren sie wie eine Lunge in ihrer Atmungsfunktion: sie schwellen an, wenn der Kampf intensiver wird und schrumpfen, wenn der Kampf schwächer wird, um beim nächsten Zusammenstoß wieder anzuschwellen. In den toten Winkeln, zwischen einer Verpflichtung und einer anderen – und mit Verpflichtung ist hier jeder Moment des Kampfes gemeint, selbst das Verteilen eines einfachen Flugblatts, die Teilnahme an einer Kundgebung, aber auch die Besetzung eines Gebäudes oder die Sabotage eines Instruments der Macht – bleibt der Kern als Referenz in der Zone, als Zeichen einer informellen organisatorischen Präsenz. Wenn man ein stabiles quantitatives Wachstum der autonomen Basiskerne für möglich hält, muss man sie in parasyndikalistische Organismen umwandeln, d.h. in etwas Ähnliches wie die Cobas12, die die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter in den verschiedenen Produktionssektoren verteidigen, indem sie ein breites Spektrum an defensiven und fordernden Interventionen zugunsten ihrer Vertreterinnen und Vertreter vorschlagen, mit der Folge, dass die Stimme des Organismus, der die Forderung vorschlägt, umso stärker ist, je höher die Zahl der Delegationen ist. Der autonome Kern hat nichts von alledem. Er schlägt keinen Forderungskampf mit der Methode von Forderungen und Delegation vor, er schlägt keinen Protest für allgemeine Ziele vor, die von der Verteidigung von Arbeitsplätzen über Lohnerhöhungen bis hin zum Gesundheitsschutz in den Fabriken usw. reichen können. Der Basiskern wird geboren und stirbt mit seinem einzigen Ziel, das im Moment der Aufnahme des Kampfes identifiziert wird, ein Ziel, das an sich auch einen fordernden Charakter haben kann, aber nicht mit der repräsentativen Methode der Delegation angestrebt wird, sondern mit der direkten Methode des unmittelbaren Kampfes, des permanenten und unangekündigten Angriffs, der Zurückweisung jeder politischen Kraft, die behauptet, jemanden oder etwas zu vertreten. Die Anhänger der Basiskerne können daher nicht legitimerweise eine mehrfache Unterstützung erwarten, die einen breiten Bereich ihrer Bedürfnisse abdeckt. Sie müssen verstehen, dass es sich dabei nicht um eine parasitäre Unterstützung handelt, sondern um ein Instrument des Kampfes gegen ein bestimmtes Ziel, und dass er als Instrument nur dann gültig bleibt, wenn sie die ursprüngliche Entscheidung beibehalten, nur auf die oben genannten insurrektionalistischen Kampfmethoden zurückzugreifen. Die Teilnahme an den Kernen ist daher absolut spontan, da sie durch keinen anderen Nutzen als den spezifischen und ausschließlichen der größeren Stärke und Organisation bei der Erreichung des gemeinsam festgelegten Angriffsziels erbeten oder angeraten werden kann. Es ist daher mehr als logisch zu erwarten, dass diese Organisationen nie eine hohe, geschweige denn stabile quantitative Zusammensetzung erreichen werden. Wenn man sich auf einen Kampf vorbereitet, gibt es immer nur wenige, die das zu erreichende Ziel sehen, es teilen und darüber hinaus bereit sind, sich selbst zu gefährden. Wenn der Kampf beginnt und die ersten Ergebnisse erzielt werden, werden auch die Zögerlichen und Schwachen zum Mitmachen verleitet und der Kern schwillt an, nur um zu sehen, wie diese Teilnehmer in letzter Minute wieder verschwinden, eine Tatsache, die an sich völlig physiologisch ist und die nicht negativ beeindrucken oder ein negatives Urteil über dieses spezifische Instrument der Massenorganisation unterstützen sollte. Ein weiterer Punkt, bei dem Unklarheit herrscht, ist die begrenzte Lebensdauer des autonomen Kerns, die auf das Erreichen (oder die gemeinsame Einigung über die Unmöglichkeit des Erreichens) des gesetzten Ziels beschränkt ist. Viele fragen sich: Wenn die Kerne „auch“ als Umgruppierungspunkte fungieren, warum lassen wir sie dann nicht für eine andere mögliche zukünftige Nutzung als die jetzige am Leben? Die Antwort hängt wieder einmal mit dem Konzept der „Informalität“ zusammen. Jede Struktur, die im Laufe der Zeit über den Zweck hinaus besteht, für den sie geboren wurde, wenn ihre wesentliche Existenzbedingung dieser Zweck war und nicht eine allgemeine, weitreichende Verteidigung derer, die an ihr teilnehmen, schrumpft früher oder später zu einer stabilen Struktur und wandelt ihren ursprünglichen Zweck in einen neuen und scheinbar legitimen Zweck des quantitativen Wachstums, der Stärkung zur besseren Erreichung einer Vielzahl von Zwecken, die alle gleichermaßen interessant sind und die sich dem nebulösen Horizont der Ausgeschlossenen nicht entziehen können. Parallel zur Verwurzelung der informellen Struktur in ihrer neuen stabilen Form werden geeignete Personen gefunden, um diese Struktur zu leiten, immer diejenigen, die am fähigsten sind und am meisten Zeit zur Verfügung haben, kurz gesagt, früher oder später wird sich der Kreis um eine Struktur schließen, die sich selbst als revolutionär und sogar anarchistisch bezeichnet und die damit ihren wahren und einzigen Zweck entdeckt hat: ihr eigenes Überleben. Selbst die seltenste Form der Macht, wie die, die wir in der „Stabilität“ einer organisatorischen Struktur, auch wenn sie anarchistisch und revolutionär ist, entstehen sehen, zieht eine Menge Leute an, die natürlich alle gutgläubige Gefährten und Gefährtinnen sind, die Gutes für die Menschen tun wollen, und so weiter und so fort. Ein letztes organisatorisches Element, das manchmal unverzichtbar sein kann, ist die „Koordinierung von autonomen Basiskernen“. Diese Struktur, die die gleichen Merkmale der Informalität aufweist, setzt sich aus einigen wenigen Vertretern der Basis zusammen, und es ist fast immer unabdingbar, dass sie mit angemessenen Mitteln für den zu erreichenden Zweck ausgestattet wird. Wenn die einzelnen Kerne aufgrund ihrer Funktion als „Lunge“ auch eine Informalität in Bezug auf das Fehlen eines Veranstaltungsortes, eines Treffpunktes, haben können, da der Kern sich direkt auf dem Platz treffen kann, kann dies für die Koordination nicht geschehen, dies erfordert einen offiziell zugänglichen Ort, der im Falle eines Kampfes, der sich über Monate oder Jahre hinzieht und ein ziemlich großes Gebiet betrifft, auch wenn es durch die Besonderheit des Problems, das das Projekt hervorgebracht hat, begrenzt ist, zum Ort wird, an dem die verschiedenen Aktivitäten der Kerngruppen koordiniert werden. Die Präsenz der Affinitätsgruppen ist in der Koordination nicht direkt sichtbar, und dasselbe gilt für die informelle Organisation. Natürlich sind alle anarchistischen Gefährten und Gefährtinnen, die sich im Kampf engagieren, in den verschiedenen Basiskernen präsent, aber dies ist fast immer nicht der beste Ort für anarchistische Propaganda im klassischen Sinne. Was innerhalb der Koordination und in den einzelnen Kernen vor allem getan werden muss, ist eine analytische Klärung des Grundproblems, des Ziels, das man erreichen will, und dann eine Vertiefung der insurrektionalistischen Mittel, die im Kampf eingesetzt werden sollen. Die Aufgabe der Gefährten und Gefährtinnen besteht darin, sich an dem Projekt zu beteiligen und gemeinsam mit allen Beteiligten die Mittel und Methoden zu vertiefen, die eingesetzt werden sollen. Obwohl dies in dieser Schematisierung einfach erscheint, erweist es sich in der Praxis als sehr kompliziert. Die Funktion der „Koordination der autonomen Basiskerne“ ist daher die der Verknüpfung von Kämpfen. Hier wird nur ein Problem angedeutet (extrem unverdaulich für Anarchisten, aber sehr einfach für Nicht-Anarchisten): die Notwendigkeit, im Falle eines Massenangriffs gegen Machtstrukturen die einzelnen Aufgaben vor dem eigentlichen Angriff zu verteilen, d.h. sich bis ins kleinste Detail darüber zu verständigen, was zu tun ist. Viele stellen sich diese Gelegenheiten des Kampfes als ein Fest der Spontaneität vor: das Ziel liegt vor aller Augen, du musst nur dorthin gehen, die Kräfte, die es bewachen, in die Flucht schlagen und es zerstören. Ich habe es hier so formuliert, obwohl ich weiß, dass viele hundert verschiedene Nuancen sehen werden, aber der Kern ändert sich nicht. In solchen Fällen müssen entweder alle Teilnehmer genau wissen, was zu tun ist, da der Kampf in einem Gebiet stattfindet und bewaffneter Widerstand zu überwinden ist, oder wenn nur einige wenige wissen, was zu tun ist, und der Rest nicht, wird die Verwirrung genauso groß sein, wenn nicht sogar schlimmer, als wenn niemand weiß, was zu tun ist. Deshalb ist ein Plan erforderlich. Es gab Fälle, in denen ein bewaffneter militärischer Plan nötig war, um ein Flugblatt zu verteilen (z.B. während der Insurrektion in Reggio Calabria). Aber kann dieser Plan wirklich allen zugänglich gemacht werden, selbst ein paar Tage vor dem Angriff? Ich glaube nicht. Es gibt Gründe zur Vorsicht, die dagegen sprechen. Zum anderen müssen die Details des Angriffsplans allen Beteiligten zugänglich gemacht werden. Daraus folgt, dass nicht jeder mitmachen kann, sondern nur diejenigen, die auf irgendeine Weise bekannt sind, entweder durch ihre Mitgliedschaft in den autonomen Basiskernen oder durch ihre Mitgliedschaft in Affinitätsgruppen, die durch informelle Organisation Teil der Koordination geworden sind. Damit soll verhindert werden, dass die Polizei und die Geheimdienste die Koordination unterwandern, was in solchen Fällen mehr als wahrscheinlich ist. Unbekannte Personen sollten von anderen, die sie kennen, verbürgt werden. Das mag unangenehm sein, aber es lässt sich nicht vermeiden. Das Problem wird noch komplizierter, wenn das aktuelle Projekt, selbst in seinen Grundzügen, vielen Gefährten und Gefährtinnen bekannt ist und diese daran interessiert sein könnten, sich an einer dieser Angriffsaktionen zu beteiligen, über die wir gerade sprechen. In diesem Fall konnte der Zustrom beträchtlich sein (im Fall von Comiso kamen in den Tagen der versuchten Besetzung etwa dreihundert Gefährten aus ganz Italien und sogar aus dem Ausland) und die Notwendigkeit, die Anwesenheit von Infiltratoren zu vermeiden, noch viel ernster. Die Gefährten und Gefährtinnen, die erst im letzten Moment eintrafen, konnten sich daher in der Organisation der Aktion fremd fühlen und nicht verstehen, was vor sich ging. Auf die gleiche Weise finden sich all diejenigen, die sich entscheiden, die oben genannte Überprüfung nicht zu akzeptieren, de facto als Außenseiter wieder. Und nun zwei letzte Fragen: Warum halten wir die Methodologie und das insurrektionalistische Projekt für das am besten geeignete Mittel für die revolutionäre Auseinandersetzung heute? Was versprechen wir uns vom Einsatz insurrektionalistischer Mittel in einer Situation, in der es sich nicht um eine laufende Insurrektion handelt? In Bezug auf die erste Frage macht die Analyse der heutigen gesellschaftlichen und ökonomischen Formation deutlich, dass diese Mittel am besten geeignet sind und jeden Kampf, der auf der Grundlage von synthetischen Strukturen geführt wird, die im Kleinen wie im Großen alle Mängel der Parteiformen der Vergangenheit reproduzieren, entweder unmöglich machen oder nur für die Umstrukturierung der Herrschaft nützlich sind. Der größte Teil dieses Buches befasst sich eingehend mit diesem Problem. Die zweite Frage kann damit beantwortet werden, dass wir nicht wissen, welche Bedingungen a priori für die Entwicklung einer Insurrektion gegeben sein müssen. Jede Gelegenheit kann die richtige sein, auch wenn es ein kleines, scheinbar unbedeutendes Experiment ist. Aber es gibt noch mehr: Ein Projekt des insurrektionalistischen Kampfes zu entwickeln, es aus einem spezifischen Problem heraus zu entwickeln, das in der Tiefe als repressive Tatsache zum Nachteil beträchtlicher Massen von Ausgeschlossenen wirkt, ist kein einfaches „Experiment“, es ist eine Insurrektion im Gange, ohne damit übertreiben zu wollen, was klein beginnt und fast sicher klein bleibt. Was zählt, ist die Methode, und in dieser Richtung haben Anarchisten und Anarchistinnen noch einen weiten Weg vor sich, sonst wären sie nicht auf die vielen Insurrektionen eines ganzen Volkes vorbereitet, die stattgefunden haben und weiterhin stattfinden. Letztendlich ist dieses Buch ein Beitrag zu dem großen Problem „Was tun?“   Catania, 21. November 1998 Alfredo M. Bonanno   Ausgeschlossene und Eingeschlossene Das Ende der Ideologien, aber nicht ganz. Kein politischer Apparat kann jemals ganz ohne sie auskommen. Die grundlegenden Veränderungen in der Produktionsstruktur des Kapitals, die in den letzten zehn Jahren weltweit stattgefunden haben, haben plötzlich fast alle bestehenden ideologischen Hüllen entleert. Das soll nicht heißen, dass die politische Funktion als Verwaltungs- und Repressionsaktionen des Staates besser auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen abgestimmt ist. Unmittelbar hinter den alten Gespenstern sind andere aufgetaucht, deren Merkmale nicht leicht zu erkennen sind, da es sich um ideologische Hüllen handelt, die sich noch in der Entstehung befinden. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge können wir nur sagen, dass ihr Ziel dasselbe ist wie immer: irrationale Gefühle und Instinkte anzusprechen, um ein Verhalten zu erreichen, das der Aufrechterhaltung der von der herrschenden Klasse auferlegten Ordnung dient. Zu den unmittelbarsten Bewegungen, die sofort in den Vordergrund der Nachrichten sprangen, gehört die alte Fata Morgana der Freiheit, die in den logischen Fallen des alten Liberalismus einbalsamiert und in aller Eile entstaubt wurde, um eine Grundlage für die finstersten Operationen zur Verwaltung der neuen Märkte im Osten zu schaffen. Dass jeder Liberalismus auf einer präzisen Unterscheidung zwischen zwei Kategorien von Menschen beruht, denjenigen, die in den Genuss der Menschenrechte kommen, in erster Linie der politischen, aber auch der konkreteren, wie z.B. des Rechts auf Leben, und denjenigen, die diese Rechte nur in eingeschränktem Maße haben und daher anfällig für eine mögliche Aussetzung oder Unterdrückung sind. Historisch gesehen muss hier nicht daran erinnert werden, dass Locke, der Paladin der politischen Freiheit, sein privates Vermögen den Investitionen verdankte, die er in die englischen Unternehmen getätigt hatte, die fast ein Jahrhundert lang im Sklavenhandel tätig waren, und dass die englische Revolution selbst, aus der die Idee des politischen Liberalismus hervorging, den Sieg über Spanien als eine große Eroberung betrachtet hatte, da sie mit dem Frieden von Utrecht die Zerstörung des spanischen Monopols im Sklavenhandel erreicht und diese lukrative Tätigkeit selbst und in großem Maßstab aufgenommen hatte. Wenn wir genau hinsehen, besteht die neue ideologische Hülle, wie sie zumindest von den dafür verantwortlichen akademischen Organisationen schnell vorbereitet wird, in Wirklichkeit aus einer Aufpfropfung der alten liberalen Heuchelei in den sozialen Körper, der heute so zersetzt wie eh und je zu sein scheint. Von diesem uralten Gerede wird nur eine Sache wichtig, und die ist tatsächlich über jeden Zweifel erhaben. Die Menschen sind nur im Prinzip gleich, in der Praxis werden sie in zwei Kategorien eingeteilt: diejenigen, die Rechte haben, und diejenigen, die keine haben. Mit Rechten ist hier die substanzielle Möglichkeit gemeint, Zugang zu den Quellen des Wohlstands zu erhalten, transformative Bewegungen herbeizuführen, die in der Lage sind, die Unterschiede in der Einkommensverteilung zu verringern, mit anderen Worten, alles, was die Hoffnung auf eine bessere und weniger schwierige Zukunft als die Gegenwart zulässt. Ob diese neuen politischen Bewegungen, die in der Praxis weltweit auf eine Phase der unternehmerischen Öffnung ausgerichtet sind, die sich als mögliche Teilhabe der unteren Schichten an den Lebensbedingungen der oberen Schichten definieren lässt, eine Reduzierung des gesamten Machtapparats der Staaten bewirken können, bleibt abzuwarten, während andererseits die ideologische Wirkung dieser Perspektive im Gange ist, eine Wirkung, die dazu beiträgt, die besten Voraussetzungen für die produktive Gestaltung der Welt in einer postindustriellen Perspektive zu schaffen. Der wesentliche Punkt dieses Prozesses ist, dass nur ein kleiner und sehr kleiner Teil der Produzenten Zugang zu menschenwürdigen Lebensbedingungen haben wird. Mit menschenwürdigen Bedingungen meinen wir eine immer größere Übereinstimmung zwischen den Möglichkeiten, die der Staat und das kapitalistische System insgesamt bieten, und der Möglichkeit, sie auszubeuten. Der Rest, die große Mehrheit, wird einen Platz in der Segregation finden müssen, in jener „schmutzigen“ Arbeit, die die alten Liberalisten, wie zum Beispiel Mandeville, mit Sklavenarbeit verglichen. Nicht „schmutzig“ im Sinne der alten körperlichen Verrohung, sondern „schmutzig“ im wahren Sinne des Wortes, in dem Sinne, dass es die Intelligenz schmutzig macht, sie herabsetzt, sie auf das Niveau von Maschinen reduziert und ihr die charakteristischste Eigenschaft des Menschen, die Unberechenbarkeit, entzieht. In diesem Kontext, in dem die ideologische Modernisierung mit tiefgreifenden Veränderungen in der Produktionsstruktur einhergeht und zu einem koordinierten System von realen und imaginären Prozessen führt, die alle synchron auf Flexibilität, Anpassung, demokratischer und vollversammlungsbezogener Diskussion und der kritischen Ablehnung jeglicher Autorität, die nicht effizient ist, basieren, wird die alte Funktion des Staates, der die Verwaltung und Repression zentralisiert, schwächer werden. Und dieses Verblassen ist in der Ordnung der Dinge, im Geist der Zeit, wenn man so will. Aber hier muss die Frage gestellt werden: Ist dieses Verblassen eine gute Sache? Die Antwort, zumindest für Anarchisten, sollte positiv ausfallen. Und so wäre es auch gewesen, wenn sie nicht in jüngster Zeit auf Überlegungen gestoßen wären, die wir hier hervorheben möchten. Beginnen wir mit den positiven Aspekten. Jede Verringerung der Macht der Staaten ist eine positive Bewegung, die größere, wenn auch reduzierte Räume der Freiheit, konsequentere Verteidigungsbewegungen, das Warten auf bessere Zeiten, das Überleben, wenn man so will, aber auch organisatorische Formen des Kampfes ermöglicht, die die großen repressiven Giganten mit Leichtigkeit zerstören. Die Teilnahme an Kämpfen, die Staaten zersetzten, ist daher eine positive Bewegung, und in diesem Zusammenhang waren nationale Befreiungskämpfe – leider nicht immer – Gelegenheiten, den monolithischen Charakter der Macht zu untergraben und mögliche Linien sozialer Divergenz vorzuschlagen, Alternativen, die in der Lage sind, praktikable andere Wege aufzuzeigen. Oft wurde all dies durch das Aufkommen substanziellerer Bewegungen, kapitalistische Umstrukturierungen im Vordergrund, imperialistische Umwälzungen in der Machtverteilung auf Weltebene, den Mechanismus der ungleichen Entwicklung usw. überschattet. Im Moment überschneiden sich andere Überlegungen mit den vorherigen. Das heißt nicht, dass wir nationale Befreiungskämpfe und alle Bewegungen, die auf die eine oder andere Weise dazu beitragen, die zentralisierenden Staaten der Vergangenheit aufzubrechen, negativ bewerten sollten, aber es sind dennoch Überlegungen, die das Problem auf eine andere Grundlage stellen, die der Zeit, in der wir leben, besser entspricht. Zunächst einmal müssen wir die internationalen Ströme betrachten, die die verschiedenen Repressions- und Produktionsapparate der einzelnen Staaten im Rahmen von Vereinbarungen ausgleichen, die mehr oder weniger intime, mehr oder weniger hybride Zusammenschlüsse vorsehen, die in jedem Fall ausreichen, um jene Datenzirkulation zu gewährleisten, auf der jede Struktur der Kontrolle und der inneren Ordnung letztlich beruht. Diese Suprastrukturen werden sich in den nächsten Jahren ausweiten und die Welt, wie wir sie bereits kennen, neu aufteilen, wobei sich die Linien nicht so sehr von den bisherigen unterscheiden. So sehr sich diese neuen spaltenden Formen auch in ganz anderes ideologisches Papier verpackt präsentieren, erfüllen sie doch die Aufgabe, die alte Staatsmacht in ihren jetzigen zersetzenden Formen wiederherzustellen. Man könnte spekulieren, und das nicht zu Unrecht, dass die Ausarbeitung des Nationalismus als ideologisches Bindeglied bestimmter Auflösungsprozesse ein gar nicht so dummes Instrument ist, das absichtlich eingesetzt wird, um ansonsten unmögliche Strukturveränderungen zu ermöglichen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die heutige weltweite Produktionsstruktur keine großen zentralisierten Staaten duldet, die daher in ihren Beziehungen zum Kapital zu elefantös sind, das auf der anderen Seite immer mehr an Kapazität gewinnt, um Produktionsprozesse zu beschleunigen. Zweitens muss der Notwendigkeit Rechnung getragen werden, das demokratische Instrument der Konsensbildung an die veränderten Produktionsbedingungen anzupassen. Wenn letztere ein dequalifiziertes Individuum hervorbringen, das durch die prekäre Lohnarbeit nicht nur in Bezug auf seine Arbeitsfähigkeit, sondern auch in Bezug auf seine psychische Zusammensetzung im weitesten Sinne instabil wird, wenn dieses Individuum als Element der Gesellschaft, der Familie, der Arbeitskategorie, der Freizeitumgebung, der es angehört, kurz gesagt, als soziales Element, ständig in instabilen Verhältnissen gehalten wird, dann kann es nicht gezwungen werden, sich mit einer monolithischen Staatsbürokratie zu befassen, die heute mehr denn je der Vergangenheit anzugehören scheint. In dem Maße, in dem das Individuum, vor allem durch die Schule, der Instrumente der kulturellen Qualifizierung beraubt wird, die es endgültig von einem Subjekt in einen Staatsbürger eines demokratischen Staates verwandeln sollten, werden die Staatsapparate demokratisiert und fordern das Subjekt – das immer noch der so genannte Staatsbürger der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten ist – zur maximalen Kooperation auf. Andererseits wäre eine demokratische Umstrukturierung der modernen Staaten ohne eine qualitative Verflachung der Individuen, ohne die Auflösung der traditionellen Organisationsformen des Proletariats und vor allem ohne die Vernichtung jener Klasseneinheit nicht möglich gewesen, die sich in der Vergangenheit immer wieder in wenn auch nicht revolutionären, so doch zumindest in Bewegungen geäußert hatte, die in der Lage waren, die Akkumulationsprozesse des Kapitals zu bremsen und zu stören. Schließlich müssen wir die Tatsache berücksichtigen, dass diese zersetzenden Bewegungen auf zwei Ebenen wirken, von denen nur die zweite aus revolutionärer Sicht interessant erscheint. Die erste dieser Ebenen ist die offizielle Ebene, die von der Mittelklasse der fortschrittlichsten Länder gefördert wird, mit dem Ziel, die alten monolithischen Strukturen der Staaten auf einer akzeptableren Basis wiederherzustellen, entsprechend den neuen Produktionsprozessen des Kapitals. Und diese Basen erscheinen im Vergleich zu früheren Verwaltungen unzusammenhängend, nicht zuletzt, weil sie ideologisch geschickter sein müssen. Diese offizielle Bewegung des Staatszerfalls hat ihre Wurzeln in der regionalistischen These, die die administrative und in gewisser Hinsicht auch die politische Dezentralisierung zum Schlüssel für ein regeneriertes und effizienteres Staatssystem machte. Das weitgehende Scheitern des Regionalismus in Staaten wie Italien, einem guten Beispiel auf diesem Gebiet, darf uns nicht über eine Umkehrung dieses Trends hinwegtäuschen. Die herrschenden Klassen müssen die beherrschten Klassen illusorisch dazu bringen, sich an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Dieses Bedürfnis ist so alt wie die Welt, aber in den letzten Jahrzehnten ist es nicht nur eine schamlos und ständig verletzte Fassade, sondern eine unvermeidliche Realität geworden. Der italienische „Leghismus“ (A.d.Ü.: Separatismusbestrebung der damaligen Partei Lega Norte), ein Phänomen, das heute nicht nur in Italien auf großes Interesse stößt, muss auf diese Richtung des Zerfalls der monolithischen Staaten der Vergangenheit zurückgeführt werden und kann sich daher als Erbe und extremer Rationalisierer des alten Regionalismus betrachten. Der Übergang zwischen diesen beiden Arten, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, ist jedoch nicht kontinuierlich, denn es gibt einen Bruch, der vielleicht nicht sehr wichtig ist aus Sicht derjenigen, die Staaten als den Feind betrachten, den es in jedem Fall zu besiegen gilt, ohne zu subtil zu sein, aber wichtig für diejenigen, die versuchen, die Zusammensetzung des Feindes besser zu verstehen, um seine Schwachstellen zu erkennen: und dieser Bruch liegt genau in der ideologischen Veredelung, die mit der einfachen und offensichtlichen Beobachtung betrieben wird, dass die wohlhabenden Klassen der ökonomisch reichsten Regionen davon profitieren würden, einen verkleinerten Staat in Eigenregie zu verwalten. Andererseits hat sich diese ideologische Veredelung wie immer als unverzichtbar erwiesen, um die Menschen auf einer emotionalen Ebene anzusprechen, indem die Frustrationen der breiten Massen, die ohnehin weit vom Wohlstand der engstirnigen herrschenden Klassen entfernt sind, an den klassischen Symbolen der Diversität abgeladen werden: dem Schwarzen, dem Juden, dem Einwanderer, dem Dieb, dem Gewalttätigen, oder indem nationalistische Mythen konstruiert werden, die manchmal an die Lächerlichkeit grenzen. Aber in diesen Dingen ist das Lächerliche weit davon entfernt, ein negatives Element zu sein, denn in der allgemeinen Abwesenheit von kritischem Licht wird es zu einem Element des Zusammenhalts und der verbindenden Kraft innerhalb der breiten Masse. Diese Ebene der Zersetzung, die von den herrschenden Klassen gesteuert und verwaltet wird, die jedes Interesse daran haben, für sich selbst privilegierte Zonen zu schaffen, mögliche teutonische Schlösser, in denen sie sich verschanzen können, um ihren privilegierten Zustand der Eingeschlossenheit zu verwalten, indem sie auf Distanz bleiben und mit dem Hauptinstrument der Ignoranz den ständigen Druck der Ausgeschlossenen verwalten, manifestiert sich heute auf europäischer Ebene und könnte morgen globale Dimensionen annehmen. Der Zerfall des Sowjetimperiums brachte den kolossalsten Schub für diese Art von Partikularismus mit sich, der in Regionen, in denen die ethnischen Besonderheiten in vierzig Jahren erzwungener Gemeinsamkeit nicht ausgelöscht worden waren, noch verstärkt wurde. Und es war diese Besonderheit, die es fast immer auf sich nahm, sich zu entwickeln und an die Bedingungen des laufenden Klassenkonflikts anzupassen, das ideologische Element, bis es zu den Zuspitzungen von Grausamkeit und Brutalität kam, die man im ehemaligen Jugoslawien in Aktion sehen kann. Trotz der unterschiedlichen Situationen und damit trotz der extremen Vielfalt im Verhalten der einzelnen Staaten zeichnet sich ein hinreichend klarer Trend ab, der sich in der Hypothese eines gesteuerten Zerfalls oder eines fließenden Übergangs zu einer anderen Art der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zusammenfassen lässt. Das Rezept für diesen Übergang ist komplex und besteht auf jeden Fall, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, aus einem administrativen und einem ideologischen Element. Diese beiden Elemente durchdringen und unterstützen sich gegenseitig, indem sie sich gegenseitig hervorbringen, ohne dass eines von ihnen den möglichen Rückgriff auf repressive Instrumente und eine vorübergehende Verwaltung der Macht ausschließen kann, die objektiv als eine Rückkehr in die Vergangenheit angesehen werden könnte. Politischer Pragmatismus zieht sich angesichts solcher Kleinigkeiten nicht zurück. Aber es bleibt die andere Ebene der Zersetzung, die in die Köpfe der Menschen eindringt, die auf individueller Ebene wirkt und die der Staat nicht vermeiden kann, weil er die Zersetzung selbst steuern muss und keine Verhaltensmodelle und Wertmaßstäbe aus der Vergangenheit vorschlagen kann. Die einzige Grenze, die sie diesem mangelnden Sinn für den Staat entgegensetzen kann, ist die kulturelle Segregation, die viel rigider und effektiver ist als die physische Segregation, die wir in der Vergangenheit zu sehen gewohnt waren. Eine noch nie dagewesene Apartheid, die unüberwindbar ist, weil sie auf der Abwesenheit von Begehren beruht, denn man kann nicht begehren, was man nicht kennt. Aber vorläufig, und es ist nicht absehbar, bis wann, findet dieser Zerfall statt und geht einher mit dem Verschwinden des ideologischen Bindeglieds, was für die Länder des Ostens positiv und für den sogenannten antikommunistischen Westblock negativ ist. Die Funktion, die der proletarische Internationalismus in der UdSSR oder in China hatte, bestand darin, ein Gegengewicht zur Angst vor dem Kommunismus zu schaffen, die von den Herrschaftsinteressen des Westens geschürt wurde. Als all das verschwand, wurden die großen Illusionen durch kleine Phantasien ersetzt, die in einigen Fällen in die Tat umgesetzt wurden, wie im Fall der verschiedenen Nationalismen, die de facto auf der europäischen Bühne agieren, und in einigen anderen Fällen noch in der Planung sind. Es ist nicht unwichtig, einige Überlegungen zu den Elementen dieser zerstörerischen Erosion von unten anzustellen, die heute nicht nur in Staaten mit fortgeschrittenem Kapitalismus zu beobachten ist. Beginnen wir mit dem Niedergang der Idee des Fortschritts. Dieses Konzept, das seinen Ursprung in der Aufklärung hat, sollte laut liberalistischem Geschwätz zuerst den Rechtsstaat und dann den demokratischen Staat untermauern, der es allen ermöglicht, zur Verbesserung der öffentlichen Angelegenheiten beizutragen. Nur, dass die Illusionen des Fortschritts13, um den Titel eines berühmten Buches von Georges Sorel zu verwenden, gerade dazu dienten, Hoffnungen auf Verbesserungen zu schüren, sowohl kurzfristige, reformistische, als auch langfristige, revolutionäre. Revolutionäre und reformistische Politiker teilten die Erwartung einer besseren Zukunft, die durch die objektive Bewegung der Geschichte garantiert wird. Diese Idee war alles andere als eine leere Übung müßiger Geister, sondern nährte in Millionen von Menschen Träume von zukünftigem universellem Überfluss, vom Greifen in den Haufen, indem sie Utopie und Verwaltungspragmatismus in denselben Korb warf. All das kam zu einem Ende und trug Stück für Stück zum fortschreitenden Zerfall bei. In diesem Punkt identifizieren sich marxistische und liberalistische Ideologien miteinander. Beide versprachen Wohlstand und Arbeit für alle, einen allgemeinen, aber differenzierten Konsum und ein exponentielles ökonomisches Wachstum. Dann wurde erkannt, dass die Nachfrage nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden kann und dass sich die Verbraucher in zwei Gruppen aufteilen müssen: diejenigen, die Zugang zum Konsum haben, und diejenigen, die ihre Bedürfnisse schrittweise bis zum Überleben reduzieren müssen. Auf globaler Ebene wird dies in den unterentwickelten Ländern deutlich, wo Menschen an Hunger, Krankheiten und mittelalterlichen Plagen sterben, ganz im Gegensatz zu den privilegierten Lebensbedingungen der herrschenden Klasse. Und diese Gegensätze sind nicht nur räumlich weit entfernt und durch Wüste oder Sümpfe begrenzt, sondern finden sich Seite an Seite in den großen Metropolen, die vielleicht der deutlichste Beweis für das Scheitern der progressiven Ideologie sind. Bei der kontinuierlichen Entwicklung der sozialen Bedingungen in den letzten Jahren haben sich bestimmte Prozesse verstärkt, die jetzt als echte Veränderungen angesehen werden können. Die Struktur der Herrschaft hat sich von einer klaren Herrschaftsbeziehung zu einer Beziehung verschoben, die auf Angleichung und Kompromissen beruht. Dies hat dazu geführt, dass die Nachfrage nach Dienstleistungen gegenüber der Nachfrage nach traditionellen Waren (z. B. langlebigen Konsumgütern) deutlich gestiegen ist. Dies hat zu einer Beschleunigung der IT-basierten Aspekte der Produktion und der damit verbundenen Robotisierung der Produktionssektoren geführt, was dazu geführt hat, dass der tertiäre Sektor (Handel, Tourismus, Transport, Kreditwesen, Versicherungen, öffentliche Verwaltung usw.) gegenüber den anderen Sektoren (Industrie und Landwirtschaft) die Oberhand gewonnen hat. All dies bedeutet nicht, dass der Industriesektor an Konsistenz oder produktiver Bedeutung verloren hat, sondern nur, dass er prozentual immer weniger Arbeiter beschäftigen wird, während die bisherigen Produktionsstandards beibehalten oder sogar erhöht werden. Das Gleiche gilt auch für die Landwirtschaft, die eine starke Beschleunigung der produktiven Industrialisierung erleben wird und sich daher nur noch statistisch und nicht mehr sozial vom Industriesektor unterscheiden kann. Im Wesentlichen sieht die Situation wie ein „Übergang“ aus, kein deutlicher und klarer Übergang, sondern eine Tendenzlinie. Es gibt keinen Bruch zwischen der industriellen und der post-industriellen Periode. Die Phase, in der wir uns befinden, ist sicherlich die der Überwindung veralteter Produktionsstrukturen, die umstrukturiert werden, aber es ist noch nicht die Phase der vollständigen Schließung von Fabriken und der Einführung der Herrschaft der computerisierten Produktion. Die Tendenz zur Auflösung von Produktionseinheiten und zur Stimulierung kleiner unabhängiger Kerne, die die Logik der Selbstausbeutung innerhalb des zentralisierten industriellen Produktionsprojekts voll anwenden, ist sicherlich bereits vorherrschend; aber wie es sich für die vorsichtigen Strategien des Kapitals gehört, wird sie weiterhin von langsamen Anpassungen innerhalb des industriellen Sektors im traditionellen Sinne begleitet werden. Das gilt viel mehr für eine Situation wie in Italien, die rückständiger ist als das japanische oder amerikanische Modell. In einem langsamen und unumkehrbaren Prozess werden die Arbeiterinnen und Arbeiter von gestern nach und nach aus den Fabriken entfernt und in eine Atmosphäre hoher Konkurrenzfähigkeit katapultiert, die mit allen Mitteln versucht, ihre Produktionskapazitäten zu steigern – das einzig akzeptable Gut für die computerisierte Logik der Produktionszentren. Die atomisierte kapitalistische Konfliktualität ist das tödlichste Element, das es gibt, das in der Lage ist, die andere Konfliktualität, die revolutionäre, die darauf abzielt, den Klassengegensatz nicht rekuperierbar zu machen, auszulöschen. Der höhere Verdienst der Bewohner der produktiven „Inseln“, ihre scheinbar größere „Freiheit“, ihre Möglichkeit, ihre Arbeitszeiten selbst zu bestimmen, ihre qualitativen Unterschiede (wenn auch immer in der Wettbewerbslogik des Marktes, der von den Zentren, die die Aufträge liefern, angetrieben wird), all das erzeugt die Überzeugung, dass sie im gelobten Land angekommen sind: dem Reich des Glücks und des Wohlstands. Immer höhere Gewinne und immer mehr übersteigerte „Kreativität“. Und diese Inseln des Todes werden sich mit ideologischen und praktischen Barrieren umgeben, die vor allem darauf abzielen, alle, die nicht dazugehören, in die stürmische See des unmöglichen Überlebens zurückzutreiben. Das Problem, das sich daraus ergibt, ist genau das der Ausgeschlossenen. Erstens, diejenigen, die am Rande stehen. Sie wurden aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen, weil sie sich nicht in die neue Wettbewerbslogik des Kapitals einfügen konnten, und sie sind oft nicht bereit, ein Mindestmaß an Überlebenschancen zu akzeptieren, das ihnen von einem Sozialstaat zugewiesen wird, der in einer Produktionssituation, die dazu neigt, die Tugenden des „Selfmademan“ zu verherrlichen, zunehmend als eine Ruine der Vergangenheit angesehen wird. Das werden nicht nur die Gruppen sein, die ethnisch zu dieser sozialen Rolle verurteilt sind, sondern im Zuge des sozialen Wandels, über den wir hier sprechen, werden auch soziale Gruppen daran teilhaben, die bisher in einer einschläfernden Lohnarbeit gefangen waren und nun in eine sich schnell und radikal verändernde Situation geworfen werden. Selbst die verbleibende Unterstützung, die diese zusätzlichen Gruppen genießen können (Frührente, Abfindungsfonds, verschiedene Sozialleistungen usw.), wird sie nicht dazu bringen können, eine Situation zu akzeptieren, die auch in qualitativer Hinsicht immer diskriminierender wird. Vergessen wir nicht, dass das Konsumniveau dieser ausgegrenzten Gruppen nicht einmal im Entferntesten mit dem der ethnischen Gruppen verglichen werden kann, die nie in die Lohnarbeitszonen aufgenommen wurden. Dies wird zweifellos zu Explosionen des „sozialen Unwohlseins“ anderer Art führen, die die Revolutionäre mit den grundlegenden Antrieben der Rebellion in Einklang bringen müssen. Und dann sind da noch die Eingeschlossenen, die in den „Inseln“ der Privilegien ersticken werden. Hier wird der Diskurs, der komplizierter zu werden droht, nur dann wesentlich, wenn man bereit ist, dem Menschen und seinem wirklichen Bedürfnis nach Freiheit Anerkennung zu schenken. Gerade die „Rückkehrer“ aus diesem Gebiet werden mit ziemlicher Sicherheit zu den rücksichtslosesten Vollstreckern der Logik des Angriffs auf das Kapital in seiner neuen Form gehören. Wir steuern auf eine Zeit blutiger Zusammenstöße und harter Repression zu. Der soziale Friede, der einerseits erträumt und andererseits gefürchtet wurde, bleibt der unzugänglichste Mythos jenes utopischen Kapitals, das sich als Erbe der „friedlichen“ Logik des Liberalismus wähnte, das das Wohnzimmer vom Staub des Tages säuberte und in der Küche schlachtete, das sich zu Hause eine wohltätige Gesinnung gab und in den Kolonien mordete. Die neuen Möglichkeiten für kleine, erbärmliche, obszöne tägliche Freiheiten werden mit einer tiefgreifenden, grausamen und systematischen Diskriminierung großer Teile der Gesellschaft bezahlt. Dies wird – früher oder später – innerhalb derselben privilegierten Schichten zum Wachstum eines Bewusstseins der Ausbeutung führen, das unweigerlich zu Rebellionen führen wird, selbst wenn diese auf einige wenige Personen beschränkt sind, selbst wenn es sich um die Besten handelt. Abschließend muss gesagt werden, dass der neuen kapitalistischen Perspektive eine starke ideologische Unterstützung wie in der Vergangenheit fehlt, die den Ausbeutern, insbesondere den mittleren Führungskräften, Halt geben könnte. Wohlstand um des Wohlstand willen ist zu wenig, vor allem für große Gruppen von Menschen, die in der jüngeren Vergangenheit direkt von befreienden Utopien, revolutionären Träumen und (wenn auch eingeschränkten und unglücklichen) Versuchen von insurrektionalistischen Projekten erfahren oder einfach nur darüber gelesen haben. Und es wird nicht lange dauern, bis die Letzteren die Ersteren einholen. Nicht alle, die dazugehören, werden glücklich im künstlichen Glück des Kapitals leben. Viele von ihnen werden erkennen, dass das Elend eines Teils der Gesellschaft das Wohlbefinden der anderen vergiftet und die Freiheit selbst (umgeben von Stacheldraht) zu einem königlichen Gefängnis macht. In den letzten Jahren hat das industrielle Projekt einige Kurskorrekturen erfahren, nicht zuletzt durch die Aufpfropfung von staatlichen Kontrollen und Methodologien, die mit den politischen Interessen der Konsensverwaltung verbunden sind. Betrachtet man es von der technischen Seite, kann man sehen, wie sich die Organisation der Produktion verändert. Sie steht nicht mehr im Mittelpunkt der Tätigkeit, die an einem bestimmten Ort, z. B. der Fabrik, ausgeübt werden soll, sondern verteilt sich immer mehr über das gesamte Gebiet, auch in großer Entfernung. Dies ermöglicht die Entwicklung von Industrieprojekten, die eine bessere und ausgewogene Verteilung der Produktionseinheiten über das Gebiet berücksichtigen und einen Aspekt der sozialen Ungleichgewichte der Vergangenheit auslöschen: Ghettos und industrielle Superkonzentrationen, Gebiete mit hoher Umweltverschmutzung und systematischer Zerstörung von Ökosystemen. Das Kapital blickt nun in eine ökologische Zukunft, schöpft aus dem großen Kessel der Umweltschützer und vertritt eine Ideologie des Schutzes der natürlichen Ressourcen, die es möglich erscheinen lässt, eine Stadt der Zukunft mit einem „menschlichen Gesicht“ zu bauen, sei es nun sozialistisch oder nicht. Das eigentliche Motiv, das das kapitalistische Projekt in diese fernen Länder der Utopie von gestern treibt, ist sehr einfach und keineswegs menschenfreundlich: es beruht auf der Notwendigkeit, das Unbehagen der Klasse zu minimieren und den tatsächlichen Konflikt mit einer honigsüßen progressiven Anpassung zu glätten, die auf unbegrenztem Vertrauen in die Technologie beruht. Es liegt auf der Hand, dass den Eingeschlossenen die attraktivsten Vorschläge gemacht werden, nicht zuletzt, um – so weit wie möglich – Ausfälle zu vermeiden, die der kapitalistischen Zukunft ein echter Dorn im Auge sein werden, da die einzelnen Subjekte, die ihre Planung in einem revolutionären Sinne ändern werden, wenn sie aus der Sphäre des Produktionsprozesses selbst kommen, über echte Mittel verfügen werden, die sie der Revolution gegen die Hegemonie der Ausbeutung zur Verfügung stellen können. Doch diese saint-simonistische Hoffnung14, die Welt durch „gute“ Technologie zu beherrschen, erweist sich schon jetzt als unbegründet, weil sie das Problem der physischen Dimensionen, die dem Ghetto der Ausgeschlossenen zuzuordnen sind, nicht berücksichtigt. Letztere können innerhalb des Gartenprojekts in einer Mischung aus Glück und Entbehrung recycelt werden, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Spannungen und ständige Wutausbrüche werden die ersehnte Utopie der Ausbeuter ernsthaft gefährden. Das war schon vorher klar. Die Probleme des Wettbewerbs und des Monopolismus drohten die Produktionsstrukturen in eine Reihe von wiederkehrenden „Krisen“ zu verwickeln. In den meisten Fällen handelt es sich um Produktionskrisen. Für die damalige Mentalität war es in der Tat unabdingbar, die sogenannten „Skaleneffekte“ zu erzielen, und das war nur möglich, indem man mit immer größeren Produktionsvolumina arbeitete und gleichzeitig die Fixkosten so gut wie möglich verteilen konnte. Daher die Standardisierung der Produktionsprozesse, die Anhäufung von Produktionseinheiten an bestimmten Orten, die chaotisch nach einer kolonisierenden Logik verteilt sind (z. B. die sizilianischen „Kathedralen in der Wüste“15), die Einheitlichkeit des Produkts, die Parzellierung von Kapital und Arbeit usw. Die ersten Korrekturen kamen durch das massive Eingreifen des Staates zustande. Die Möglichkeiten, die sich durch diese Präsenz eröffneten, waren vielfältig. Der Staat war nicht länger ein passiver Zuschauer, ein bloßer „Kassierer“ des Kapitals, sondern ein aktiver Akteur, ein „Bankier“ und Unternehmer. Im Wesentlichen geht es darum, die Produktion von Gebrauchswerten zu verringern und die Produktion von Tauschwerten zu erhöhen, um sozialen Frieden zu schaffen. Das Kapital fand eine Teillösung und beendete damit seine Wettbewerbszeit. Der Staat half mit, um die ökonomische Produktion vollständig in die Produktion von sozialem Frieden umzuwandeln. Dieses letzte utopische Projekt ist offensichtlich unerreichbar. Früher oder später geht die Maschine kaputt. Der neue Produktionsprozess – der schon oft als postindustriell bezeichnet wurde – ermöglicht niedrige Produktkosten auch bei nicht großvolumiger Verarbeitung; er erlaubt erhebliche Veränderungen in der Produktion, auch ohne Kapitalerhöhung; er entwickelt nie dagewesene Möglichkeiten für Veränderungen in der Produkt–Uniformität. Das eröffnet der Mittelklasse, den Führungskräften in der Produktion und der vergoldeten Isolation der herrschenden Klassen Horizonte der „Freiheit“, die vorher unvorstellbar waren. Aber es erinnert sehr an die Freiheit der Burg der Deutschordensritter im Nazi-Stil. Rund um die Mauern der Burg, die von bewaffneten Männern wimmelt, herrscht nur der Frieden der Friedhöfe. Keiner der Verfechter der Ideologien des postindustriellen Neokapitalismus hat sich die Frage gestellt, was er angesichts der Gefahr, die auf ihn zukommt, tun soll. Künftige Aufstände werden immer blutiger und schrecklicher werden. Und sie werden es noch mehr sein, wenn wir wissen, wie wir sie in einer Insurrektion der Massen verwandeln können. Die negative Auslese gegenüber denjenigen, die von der Burg der teutonischen Ritter ausgeschlossen werden, wird nicht nur durch die reale Arbeitslosigkeit hervorgerufen, sondern vor allem durch den fehlenden realen Zugang zu Daten. Das neue Produktionsmodell wird zwangsläufig die Verfügbarkeit von Datenwissen verringern. Das ist nur zum Teil eine Folge der Computerisierung der Gesellschaft. Vielmehr ist sie eine der Voraussetzungen für die neue Herrschaft, die seit mindestens zwei Jahrzehnten geplant ist und ihren Höhepunkt in der Schule der Massen findet, die schon vor langer Zeit von adäquaten kulturellen Mitteln entleert wurde. Genau wie zur Zeit der industriellen Revolution führte das Aufkommen der Maschinen zu einer Verringerung der Selbstbestimmungsfähigkeit großer Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern und damit zu ihrem Eindringen in die Fabriken, wodurch die bisherige bäuerliche Kultur zerstört und dem Kapital eine Belegschaft ausgeliefert wurde, die praktisch nicht in der Lage war, die neue mechanisierte Welt, die sich abzeichnete, zu „verstehen“; die Computerrevolution, die vom Staat auf den Anpassungsprozess der kapitalistischen Widersprüche aufgepfropft wurde, ist dabei, das Industrieproletariat in die Hände eines neuartigen Mechanismus zu geben, der mit einer Sprache ausgestattet ist, die nur von einer privilegierten Minderheit verstanden wird. Der Rest wird zurückgedrängt und gezwungen, das Schicksal des Ghettos zu teilen. Das alte Wissen, selbst das, das von Intellektuellen durch den deformierenden Spiegel der Ideologie gefiltert wurde, wird in Maschinensprache kodiert und mit den neuen Bedürfnissen kompatibel gemacht. Dies wird eine der historischen Gelegenheiten sein, um unter anderem den mageren Realgehalt des ideologischen Blödsinns zu entdecken, mit dem wir in den letzten zwei Jahrhunderten gefüttert worden sind. Das Kapital wird dazu neigen, alles aufzugeben, was sich nicht sofort in diese neue, allgemeine Sprache übersetzen lässt. Traditionelle Bildungsprozesse werden inhaltlich immer mehr entwertet und ihre tatsächliche (und selektive) Warensubstanz freigelegt. Als Ersatz für die Sprache wird ein neuer Verhaltenskanon bereitgestellt, der aus mehr oder weniger präzisen Regeln besteht und im Prinzip aus den alten Prozessen der Demokratisierung und des Funktionierens von Vollversammlungen besteht, die das Kapital bereits perfekt zu kontrollieren gelernt hat. Dies hat den doppelten Nutzen, dass die Ausgegrenzten beschäftigt bleiben und an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten „teilhaben“ können. Die computerisierte Gesellschaft von morgen hat vielleicht ein sauberes Meer und eine „fast“ perfekte Erhaltung der begrenzten Umweltressourcen, aber sie wäre ein Dschungel von Verboten und Regeln, die zu ihrem Entsetzen in eine tiefgreifende persönliche Entscheidung zur Beteiligung am Gemeinwohl umgewandelt werden. Ohne eine Orientierungssprache sind die Ghettoisierten nicht mehr in der Lage, zwischen den Zeilen der Kommunikation der Macht zu lesen, und es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sich spontan, irrational und selbstzerstörerisch aufzulehnen. Die Zusammenarbeit derjenigen, die von der fiktiven Freiheit des Kapitals angewidert sind, die revolutionär einen kleinen Teil der Technologie beisteuern, die sie dem Kapital entrissen haben, wird nicht ausreichen, um eine Brücke zu bauen oder eine Sprache zu finden, auf der eine kluge und korrekte Gegeninformation aufbauen kann. Die organisatorische Arbeit zukünftiger Insurrektionen wird notwendigerweise dieses Problem lösen müssen, um – vielleicht bei Null beginnend – die wesentlichen Bedingungen einer Kommunikation zu konstruieren, die im Begriff ist, unterbrochen zu werden, und die gerade im Moment ihrer Schließung durch spontane und unkontrollierte Reaktion zu Demonstrationen von solcher Gewalt führen könnte, dass vergangene Erfahrungen leicht in der Bedeutungslosigkeit verblassen würden. Man darf sich das Ghetto nicht als Slum der Vergangenheit vorstellen, als einen Harlekinmantel aus dem Müll der Überflüssigen, der über das Leid der Entbehrung geworfen wird. Das neue Ghetto, das durch die Regeln der neuen Sprache kodifiziert ist, wird ein – natürlich passiver – Nutzer der Technologien der Zukunft sein und auch in der Lage sein, die rudimentären manuellen Fähigkeiten zu besitzen, die es ihm ermöglichen, Objekte zu bedienen, die nicht nur Bedürfnisse befriedigen, sondern selbst ein großes und kolossales Bedürfnis sind. Diese Gesten werden so verarmt sein, dass sie perfekt zu der allgemeinen Verarmung der Lebensqualität im Ghetto passen. Sogar Objekte von beträchtlicher produktiver Komplexität können zu relativ niedrigen Kosten geliefert und mit jenem panischen Gefühl der Exklusivität beworben werden, das die Käufer jetzt in den Bann der Projekte des Kapitals zieht. Wenn sich die Produktionsbedingungen geändert haben, werden wir außerdem nicht mehr eine serielle Wiederholung desselben Objekts mit erheblichen Schwierigkeiten (vor allem in Bezug auf die Kosten) für Modifikationen und technologische Entwicklungen haben, sondern (sogar innerhalb des Ghettos) eine Reproduktion von artikulierten, flexiblen, austauschbaren Prozessen, die in der Lage sind, (zu geringen Kosten) die neuen Ideen der Kontrolle zu nutzen und in besonderer Weise in der Lage sind, die Nachfrage selbst zu beeinflussen, sie zu orientieren und die wesentlichen Bedingungen der Produktion des sozialen Friedens zu realisieren. Eine solche scheinbare Vereinfachung des Lebens, sowohl für die Eingeschlossenen als auch für die Ausgeschlossenen, eine solche technologische „Freiheit“ lässt Ökonomen und Soziologen heute träumen, die sich – wie die guten Menschen, die sie immer waren – erlauben, die Umrisse einer klassenübergreifenden Gesellschaft zu skizzieren, die in der Lage ist, „gut zu leben“, ohne die Ungeheuer des Klassenkampfes, des Kommunismus oder der Anarchie zu wecken. Der Rückgang des Interesses an den Gewerkschaften/Syndikaten und die Entleerung der reformistischen Bedeutung, die diese Organisationen in der Vergangenheit hatten, und ihre Umwandlung in eine bloße Übermittlungskette für die Weisungen der Arbeitgeber werden als Beweis für das Ende des Klassenkampfes und das Aufkommen der klassenübergreifenden Realität gesehen, und das alles parallel zum Aufkommen der postindustriellen Gesellschaft. Das ist aus mehreren Gründen, die wir weiter unten sehen werden, nicht sinnvoll. Die Gewerkschafts- Syndikatsbewegung (welcher Art auch immer) hat ihre revolutionäre Bedeutung verloren (falls sie jemals eine hatte), und sogar ihre reformistische Bedeutung, nicht weil der Klassenkampf vorbei ist, sondern weil sich die Bedingungen des Kampfes grundlegend verändert haben. Letztendlich stehen wir vor einer Fortsetzung mit immer größer werdenden und unlösbaren Widersprüchen. Schematisch können zwei Phasen rekonstruiert werden. Im Industriezeitalter herrschen Kapitalkonkurrenz und ein Produktionsprozess, der auf Herstellung basiert. Der wichtigste ökonomische Sektor ist der sekundäre Sektor, der produzierte Energie als transformierende Ressource und Finanzkapital als strategische Ressource nutzt. Die Technologie dieser Zeit ist im Wesentlichen mechanisch und die prominenteste Produzentenfigur ist die des Fabrikarbeiters. Die in den Projekten angewandte Methodologie ist empirisch, d.h. sie basiert auf Experimenten, während die Organisation des gesamten Produktionsprozesses auf ökonomischem Wachstum bis ins Unendliche basiert. In der postindustriellen Periode, auf die wir uns zubewegen, in die wir aber noch nicht ganz eingetreten sind, insbesondere in der italienischen Situation, setzt sich der Staat über die kapitalistische Konkurrenz durch und setzt seine Systeme der Konsensbildung und Produktionsordnung im Wesentlichen zum Zweck des sozialen Friedens durch. Die technische Herstellungsweise wird durch die Verarbeitung von Daten und die Umwandlung von Dienstleistungen ersetzt. Der vorherrschende ökonomische Sektor wird der tertiäre Sektor (Dienstleistungen, eben), der quartäre Sektor (spezialisierte Finanzen), der quinäre Sektor (Forschung, Freizeit, Bildung, öffentliche Verwaltung). Die wichtigste transformative Ressource ist die Information, die aus einem komplexen System der Datenübertragung besteht, während die wichtigste strategische Ressource das Wissen ist, das langsam das Finanzkapital ersetzt. Die Technologie verlässt die mechanische Komponente und bewegt sich auf die intellektuelle zu; der typische Mitarbeiter dieser neuen Technologie ist nicht mehr der Arbeiter, sondern der Techniker, der Fachmann, der Wissenschaftler. Die in den Projekten angewandte Methodologie basiert auf abstrakter Theorie und nicht mehr auf Experimenten, während die Organisation des Produktionsprozesses auf der Kodifizierung von theoretischem Wissen beruht. Die Dämmerstunde der Arbeiter-Zentralität -. Indem er sich auf die industrielle Produktionsphase konzentrierte, betrachtete der Marxismus den Beitrag der Arbeiterklasse zur revolutionären Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche als grundlegend. Daraus ergab sich eine tiefgreifende Konditionierung der Strategie der revolutionären Bewegung, die sich an den Zielen der Machteroberung orientierte. Dahinter steckt der von Marx gepflegte Hegelsche Irrglaube, dass der dialektische Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie durch eine indirekte Stärkung des Proletariats durch die Stärkung des Kapitals und des Staates verschärft werden kann. Auf diese Weise wurde jeder Sieg der Unterdrückung als Vorzimmer des zukünftigen proletarischen Sieges gelesen. All dies in einer fortschrittlichen – typisch aufklärerischen – Vision von der Konstruierbarkeit des „Geistes“ in der Welt der Materie. Mit zweifellos interessanten Modifikationen hat sich diese alte Vorstellung vom Klassenkampf bis gestern gehalten, zumindest in einigen der alptraumhaften Träume, die die Überlebenden der alten Projekte von Ruhm und Eroberung von Zeit zu Zeit hatten. Auf theoretischer Ebene hat es nie eine ernsthafte kritische Analyse dieser rein fantastischen Situation gegeben. Man war sich nur mehr oder weniger einig, dass die zentrale Rolle der Arbeiterinnen und Arbeiter an eine andere Stelle verlagert wurde. Zunächst zaghaft, im Sinne einer Verbreitung der Fabrik im Gebiet. Dann, noch entscheidender, im Sinne einer fortschreitenden Ersetzung der klassischen sekundären durch tertiäre Produktionsprozesse. Auch die Anarchistinnen und Anarchisten hatten ihre Illusionen, und auch diese sind untergegangen. Um die Wahrheit zu sagen, hatten sie nie die Illusion von der Zentralität der Arbeiterklasse, aber sie sahen die Rolle der Arbeit oft als grundlegend an, wobei die Industrie die Führung über den primären Sektor (Landwirtschaft) übernahm. Diese Illusionen wurden durch den Anarcho-Syndikalismus genährt. Die letzten Feuer in diesem Sinne wurden mit der Wiedergeburt und dem anschließenden Erlöschen des Enthusiasmus für die aus der Asche auferstandene spanische CNT gesehen, und es waren viele, angefacht vor allem von denen, die heute als die radikalsten Verfechter der neuen „Wege“ des reformistischen Anarchismus erscheinen. Die zugrundeliegende Vorstellung, die diese Form der Zentralität der Arbeiter antreibt (die sich von der der Marxisten unterscheidet, aber nicht so unterschiedlich ist, wie gemeinhin angenommen wird), war der Schatten der Partei. Die anarchistische Bewegung fungierte lange Zeit vor allem als synthetisierende Organisation, also mit dem schwerlastigen Teil der Partei. Natürlich könnten einige Gefährten einwenden, dass diese Aussagen zu allgemein sind, aber sie können nicht leugnen, dass die Mentalität, die die Synthesebeziehung bestimmt, die eine spezifische anarchistische Organisation mit der äußeren Realität der Bewegung herstellt, eine Beziehung ist, die der der klassischen „Partei“ nahe kommt. Gute Absichten allein sind nicht genug. Genau, diese Mentalität ist überholt. Nicht nur bei den jüngeren Gefährten und Gefährtinnen, die ein offenes und ungezwungenes Verhältnis zur revolutionären Bewegung wünschen, sondern vor allem in der gesellschaftlichen Realität selbst. Wenn die für die Industrie typischen Produktionsbedingungen einen syndikalistischen/gewerkschaftlichen Kampf oder eine auf Syntheseorganisation basierende Strategie verständlich machten, so ist heute, in einer tiefgreifend veränderten Realität, in einer postindustriellen Perspektive, die einzig mögliche Strategie für Anarchistinnen und Anarchisten die informelle, d.h. von Gruppen von Gefährtinnen und Gefährten, die sich mit präzisen Zielen zusammenschließen, auf der Grundlage von Entscheidungen der Affinität (A.d.Ü., oder eher durch?) dazu beitragen, Basiskerne zu schaffen, die auf Zwischenziele ausgerichtet sind, und in der Zwischenzeit die Bedingungen schaffen, um die Situationen in insurrektionalistische Bedingungen zu verwandeln. Die Partei des Marxismus ist tot. Auch die Syntheseorganisation der Anarchisten. Wenn ich Kritik wie die von sozialen Ökologinnen und Ökologen lese, die vom Tod des Anarchismus sprechen, wird mir klar, dass es sich dabei um ein sprachliches Missverständnis handelt und dass es an der Fähigkeit mangelt, sich mit den Themen auseinanderzusetzen. Was für sie – und auch für mich – tot ist, ist der Anarchismus, der sich als organisatorischer Bezugspunkt der kommenden Revolution verstand, der sich als Synthesestruktur verstand, die darauf abzielte, all die vielfältigen Formen zusammenzufassen, in denen sich die menschliche Kreativität zur Zerschlagung der staatlichen Konsens- und Unterdrückungsstrukturen verwirklicht. Was tot ist, ist der statische Anarchismus der traditionellen Organisationen, der auf den Ansprüchen von Forderung und Quantität beruht. Die Hoffnung, dass eine soziale Revolution zwangsläufig aus unseren Kämpfen resultieren muss, hat sich als unbegründet erwiesen. Es kann so sein, oder es kann auch nicht so sein. Der Determinismus ist tot, und das blinde Gesetz von Ursache und Wirkung ist damit auch tot. Die revolutionären Mittel, die wir einsetzen, einschließlich der Insurrektion, führen nicht zwangsläufig zu einer sozialen Revolution. In Wirklichkeit gibt es das Kausalmodell, das den Positivisten des letzten Jahrhunderts so wichtig war, nicht. Genau deshalb wird eine Revolution möglich. Kürzere Datenübertragungszeiten führen zu schnelleren Entscheidungen. Indem diese Zeiten auf Null zurückgesetzt werden (wie es bei der „Echtzeit“ der Fall ist), werden programmatische Entscheidungen nicht beschleunigt, sondern verändert. Sie sind etwas anderes. Durch den Wechsel der Projekte werden auch die Elemente der produktiven Investitionen verändert, indem man vom traditionellen (hauptsächlich finanziellen) Kapital zum Kapital der Zukunft (hauptsächlich intellektuell) übergeht. Die Verwaltung des Verschiedenen ist eines der grundlegenden Elemente von Echtzeit. Aber die Macht, indem sie das Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie verfeinert, Wettbewerbswidersprüche eindämmt, die Konsensbildung organisiert und, was noch viel wichtiger ist, all dies in einer Echtzeitperspektive programmiert, schneidet diese einen großen Teil der Gesellschaft ein für alle Mal aus: den Teil der Ausgeschlossenen. Die Veränderung der Geschwindigkeit der Produktionsabläufe wird vor allem einen kulturellen und sprachlichen Wandel zur Folge haben. Und hier liegt die größte Gefahr für die Ghettoisierten. Um der Macht die Legitimität zu negieren und ein „vielfältiges Verhalten“ zu erzeugen, braucht es eine Sprach-, wenn nicht sogar eine Interessengemeinschaft. Die Partei hat das Gleiche getan und die Gewerkschaften/Syndikate auch. Die Sprachgemeinschaft wurde in eine fiktive Opposition von Klassenunterschieden übersetzt, die durch die Forderung nach Verbesserungen und den Widerstand, diese zu gewähren, charakterisiert war. Aber etwas zu fordern, setzt eine „Gemeinschaft“ mit denjenigen voraus, die die Sache, die du fordern willst, vertreten. Jetzt zielt das globale Unterdrückungsprojekt darauf ab, diese Gemeinschaft zu zerschlagen. Nicht unbedingt durch spezielle Gefängnismauern, Ghetto-Viertel, Trabantenstädte oder große Industriezonen, sondern ganz einfach durch die Dezentralisierung der Produktion, die Verbesserung der Dienstleistungen, die Ökologisierung der Produktionsmentalität und die absolute Ausgrenzung der Ausgeschlossenen. Und diese Trennung wird dadurch erreicht, dass sie schrittweise der gemeinsamen Sprache beraubt werden, die sie bis dahin mit dem anderen Teil der Gesellschaft hatten. Sie werden nicht mehr wissen, worum sie bitten sollen. Die Konsensbildung basierte in einer Ära, die man noch als industriell bezeichnen konnte, auf einer möglichen Beteiligung an den produktiven Vorteilen. In einer Epoche, in der die Möglichkeiten der Veränderung des Kapitals praktisch unendlich sind, braucht das Duo Kapital-Staat eine eigene Sprache, die sich von der Sprache der Ausgeschlossenen unterscheidet, um diese Aussicht bestmöglich zu realisieren. Die Unzugänglichkeit zur vorherrschenden Sprache wird eine noch wirksamere Segregation darstellen als die traditionellen Grenzen des Ghettos. Die immer schwieriger werdende Erschließung der dominanten Sprache wird nach und nach immer schwieriger werden, bis sie absolut „anders“ wird. Von diesem Moment an wird sie aus den Wünschen der Ausgeschlossenen verschwinden und völlig ignoriert werden. Von diesem Moment an sind die Eingeschlossenen für die Ausgeschlossenen „anders“ und umgekehrt. Für das repressive Projekt ist diese Fremdartigkeit unerlässlich. Die grundlegenden Konzepte der Vergangenheit, wie die der Solidarität, des Kommunismus, der Revolution und der Anarchie, fanden ein sinnvolles Fundament in der anerkannten Bedeutung des Gedankens der Gleichheit. Aber für die germanischen Ritter, die in der Burg leben, werden die Ausgeschlossenen keine Menschen sein, sondern bloße Dinge, Gegenstände, so wie für unsere Vorfahren Sklaven bloße Dinge waren, die man kaufen und verkaufen konnte. Wir fühlen uns dem Hund gegenüber nicht gleichberechtigt, weil dieses Tier nur bellt, also nicht unsere Sprache „spricht“. Deshalb lieben wir ihn zwar, aber wir empfinden ihn als „anders“ und machen uns keine Gedanken über sein Schicksal, zumindest nicht auf der Ebene aller Hunde insgesamt, sondern hängen lieber an dem Hund, der uns mit Herablassung, Zuneigung oder Wildheit gegenüber seinen Feinden versorgt. Das Gleiche gilt für alle, die nicht dieselbe Sprache haben wie wir. Beachte, dass man hier nicht „Ausdrucksweise“ mit „Sprache“ verwechseln sollte. Unsere fortschrittliche und revolutionäre Tradition hat uns bewusst gemacht, dass alle Menschen gleich sind, ungeachtet der Unterschiede in Hautfarbe und Sprache. Stattdessen haben wir es hier mit einer möglichen Entfaltung des repressiven Projekts in dem Sinne zu tun, dass den Ausgeschlossenen die Möglichkeit genommen wird, mit den Eingeschlossenen zu kommunizieren. Indem sie die Verwendbarkeit des geschriebenen Wortes stark einschränkt, indem sie Zeitungen und gedrucktes Papier allmählich durch das per Kabel übertragene Wort, durch Bilder, Farben und Musik ersetzt, kann die Macht von morgen eine Sprache konstruieren, die nur für die Ausgeschlossenen geeignet ist, die ihrerseits verschiedene, sogar kreative Wege der sprachlichen Reproduktion entwickeln, aber immer innerhalb ihres eigenen Codes, völlig abgeschnitten von jeglichem Kontakt mit dem Code der Eingeschlossenen und damit von jedem möglichen Verständnis der Welt der Letzteren. Und von Unverständnis bis hin zu Desinteresse und Engstirnigkeit ist der Weg kurz. In diesem Sinne befindet sich der Reformismus auf dem Weg in den Tod. Es werden keine „Ansprüche“ möglich sein, weil wir nicht wissen, was wir von einer Welt fordern sollen, die uns nicht mehr interessiert und uns nichts Verständliches mehr sagt. Abgeschnitten von der Sprache der Eingeschlossenen, werden die Ausgeschlossenen folglich auch von der von ihnen entwickelten Technologie abgeschnitten sein. Sie werden vielleicht in einer besseren, atemberaubenderen Welt leben, mit weniger Gefahren durch apokalyptische Konflikte, mit einer allmählichen Abschwächung der Spannungen auf ökonomischer Basis, aber mit einer Zunahme der Spannungen auf irrationaler Basis. Von den eher peripheren Gebieten des Planeten, in denen die Durchsetzung des Projektes der Ausbeutung trotz seiner „Echtzeit“ immer auf Hindernisse ethnischer und geografischer Natur stoßen wird, bis hin zu den zentraleren Gebieten mit einem fortgeschrittenen Grad an Rigidität in der Klassenspaltung wird es eine Verschiebung weg von Konflikten auf ökonomischer Basis hin zu Konflikten irrationaler Natur geben. Die Eingeschlossenen und ihre Projekte der Kontrolle mögen das Ziel verfolgen, einen Konsens zu erreichen, indem sie die ökonomischen Schwierigkeiten der Ausgeschlossenen verringern, sie mögen ihnen sogar vorgefertigte Sprachen zur Verfügung stellen, die auf die partielle und sklerotische Nutzung16 eines Teils der herrschenden Technologie ausgerichtet sind, sie mögen sogar eine bessere Lebensqualität ermöglichen, aber sie werden nicht in der Lage sein, die Ausbrüche irrationaler Gewalt zu verhindern, die aus dem Gefühl der Nutzlosigkeit, der Langeweile und der tödlichen Atmosphäre des Ghettos entsteht. Die Massenbewegungen, die einige unserer Gefährten und Gefährtinnen heute so beeindrucken und ihnen ihre Gefährlichkeit (und ihrer Meinung nach auch ihre Nutzlosigkeit) vor Augen führen, weisen auf die am ehesten vorhersehbare Entwicklung der Kämpfe von morgen hin. Viele Jugendliche sind praktisch nicht mehr in der Lage, die Situation, in der sie sich befinden, kritisch zu beurteilen. Ohne das Mindestmaß an Kultur, das die Schulen einst vermittelten, und bombardiert mit Botschaften, die auf grundloser und zweckloser Gewalt beruhen, werden sie auf tausend Arten zu einer unbewussten, irrationalen, spontanen Rebellion getrieben, ohne die „politischen“ Ziele, die frühere Generationen klar zu erkennen glaubten. Die „Orte“ dieser kollektiven Explosionen und die Wege dorthin sind sehr unterschiedlich. Die Anlässe auch. In jedem Fall kann man jedoch einen Weg der Intoleranz gegenüber der Verwaltung des Todes zurückverfolgen, den die kapital-staatliche Kombination durchsetzen will. Es ist völlig sinnlos, sich von solchen Demonstrationen einschüchtern zu lassen, denn ihnen fehlt der Interpretationsschlüssel, den uns die Tradition als Indikator für revolutionäre Instanzen in Massenbewegungen gelehrt hat. Es geht nicht darum, Angst zu haben, sondern zur Tat zu schreiten17, bevor es zu spät ist. Veränderungen in der Welt der Arbeit und der Schule Der Glaube, dass die Planung einer konstanten Steigerung des kollektiven Wohlstands durch die Ausweitung der Nachfrage etwas Illusorisches und Unmögliches ist, erschüttert alle materiellen Erwartungen und verschiebt den Eintritt von Randgruppen in den Bereich des sinnvollen Konsums auf unbestimmte Zeit. Mit Schrecken stellt man fest, dass dieser Bereich im Gegenteil schrumpft, dass der Staat immer weniger in der Lage ist, ein akzeptables Wohlergehen zu gewährleisten, da immer größere Bevölkerungsschichten aus den Grenzen der Imperien drängen und jedes mittelfristige Rezept zu einem periodischen Scheitern wird, das prompt mit Definitionen eines hoffnungsvollen Possibilismus übermalt wird. Monumentale Programme entpuppen sich als minderwertige politische Betrügereien. Es wird nicht nur versäumt, das Armutsproblem durch eine umfassende soziale Umstrukturierung zu lösen, sondern es besteht auch der bewusste Unwille, das Problem zu lösen. Die Vereinigten Staaten als das reichste Land stellen damit die Geißel einer düsteren Zukunft für ihre proletarischen Massen dar, die sich auf dem Weg in die Deentlohnung18 und Marginalisierung befinden. In einer Welt, die immer mehr die Form von Nachrichtenverbreitung und Informationsverwaltung annimmt, vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich, anstatt sich zu verringern, und dieser inzwischen unüberbrückbare Abgrund ist in den solidesten und monolithischsten staatlichen Verhältnissen, in denen der Dezentralisierungsprozess noch in seinen formalen Aspekten stecken bleibt, noch viel größer. Ein riesiges Universum von heruntergekommenen Gebäuden breitet sich wie ein Lauffeuer aus und bedeckt selbst Gebiete, die früher als entwickelt galten, als Zentren der Geschäfte und des Ideenaustauschs, mit erschreckenden Flecken von radikalem Elend. Die Metropolen stellen den extremen Bruchpunkt dieses konzentrierten Universums innerhalb einer kontinuierlichen und ununterbrochenen Bewegung der Kommunikation dar. So ist man inmitten der Menschen auf sich allein gestellt, isoliert in der Wüste, die das globale Dorf selbst beinhaltet. Es ist nicht nur ein Problem des ökonomischen Wohlstands. Es ist auch das Scheitern aller Freiheitsversprechen, aller Hoffnungen auf eine endgültige Bestätigung der Würde des Menschen, egal welcher Rasse und welchen sozialen Standes. Die Werte, die im globalen Dorf herrschen, sind alles andere als universell. Es sind Werte der Trennung, der Ghettoisierung, der endlosen Wiederholung aller Klischees, die Barrieren errichten und die erzwungene Konzentration ermöglicht haben. Im Gegenteil, von vielen Seiten, sowohl von der Rechten als auch von der Linken, kommen Argumente, die universelle Werte, die für alle gelten, für unangemessen erklären; Konzepte wie Gleichheit, die real und nicht fiktiv ist, werden oft mit wenig Unterscheidungsvermögen kritisiert. Bei der Verteidigung von Unterschieden werden einerseits Affinitäten markiert, die angemessene Reaktionen jenseits der alten Klassenmuster verfestigen könnten; andererseits werden Unterschiede, die keine solchen sind, wie die zwischen Nationen und Völkern, verschärft, wobei manchmal auf Diskurse zurückgegriffen wird, die mehr als vierzig Jahre lang begraben schienen. In diesem Hexenkessel scheint keine starke zentralistische Staatsperspektive akzeptabel zu sein, und das ist den Menschen definitiv bewusst geworden. Eines der Symptome, und in anderer Hinsicht vielleicht auch eine der Ursachen, dieses von unten nach oben verlaufenden Zerfalls des Staatsverständnisses ist in der Krise der humanistischen Kultur zu suchen, der traditionellen Grundlage jedes starken Staates. Die unglaubliche Absenkung der Qualität der Schulbildung, einschließlich der Hochschulbildung, erreicht gerade in den Geisteswissenschaften und den höchsten Abschlüssen in Ländern mit dem höchsten industriellen Entwicklungsstand ungeahnte Ausmaße. Dies wird keineswegs durch einen ansonsten zu vernachlässigenden Zuwachs an technologischer Kultur kompensiert, und auf jeden Fall wäre diese letztere Kultur, selbst wenn sie in einem Lebens- und Denkmodell identifizierbar wäre, wie es die alte humanistische Kultur war, für einen starken und verwaltungsmäßig einheitlichen Staat nicht ausreichend. Dieser reale Zustand der Auflösung des Staatsverständnisses kann für einen Anarchisten sehr interessant sein, wenn dieser wirklich in der Lage ist, aus den historischen Fesseln einer überholten -Ansammlung revolutionärer Konzeptionen auszubrechen. Gleichzeitig bleibt dieser Zustand ein Nährboden für die Ausbreitung unzähliger politischer Bewegungen, die sich auf einzelne Argumente stützen und nicht in der Lage sind, eine globale Vision des Lebens und der Gesellschaft zu bieten, wie es der Anarchismus ist. Auf dem Terrain des Verzichts auf den traditionellen Staat gibt es daher viele Referenzen, die politisch bleiben und deren einziger Zweck es ist, die tiefgreifenden Veränderungen des Kapitalismus in der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten im globalen Maßstab zu begleiten. Aber das ist eine andere Sache. a) Beziehungen zwischen Inflation und Beschäftigung Es gibt viele Definitionen von Inflation, die sich in der einfachen Beobachtung eines Aufwärtstrends des allgemeinen Preisniveaus zusammenfassen lassen. Für das neoklassische ökonomische Denken (bis in die 1920er Jahre) war Inflation nur auf den Fall eines totalen Währungskollapses (z. B. in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg) beschränkt, bei dem Preissteigerungen jenseits jedes logischen Maßes und jeder Progression liegen. Der normale Preistrend wurde als ausgleichender Trend des Marktes betrachtet, der auf diese Weise die günstigen Perioden, in denen die Preise plötzlich stiegen, mit Abwärtsphasen ausglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen war der Preisanstieg ein ununterbrochenes Phänomen, das parallel zum Anstieg der Geldeinkommen verlief. Die neoklassischen Ökonomen gingen davon aus, dass es trotz der ständigen Ungleichgewichte und Abweichungen vom Vollbeschäftigungsniveau eine spontane Tendenz zur Rückkehr zum Gleichgewicht im System gibt, da eine Reihe von automatischen Mechanismen als Korrektiv wirken. Zu diesen Mechanismen gehören auch die Auswirkungen von Preisbewegungen. Sie sagten, dass in einem ökonomischen System mit einem Überangebot und daher einer Tendenz zu steigender Arbeitslosigkeit ein Rückgang der Preise (als Ergebnis einer Erhöhung des Produktangebots) zu einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung führen würde (als Ergebnis eines Rückgangs der Löhne). In Wirklichkeit sahen die Dinge anders aus. Der Preisverfall führte zu einer Verringerung der ökonomischen Aktivität und damit zu einem Rückgang der Nachfrage nach Einkäufen19 (aufgrund des Rückgangs der verfügbaren Lohnlinien, d.h. erhöhter Arbeitslosigkeit), was nicht zu einer Wiederherstellung des optimalen Beschäftigungsniveaus führte, sondern im Gegenteil zu immer größerer Arbeitslosigkeit. Keynes war der erste, der der Meinung war, dass nur staatliche Eingriffe die Situation korrigieren könnten. Er zeigte den Zusammenhang zwischen Nachfrage, Einkommensniveau und Beschäftigung auf. Die Einwirkung auf die Beschäftigung wirkte sich also auf die Nachfrage aus, was die Produktion ankurbelte und einen Mechanismus in Gang setzte, der zur Vollbeschäftigung tendierte. Das Denken dieses englischen Ökonomen entwickelte sich angesichts der Ereignisse, die den Kapitalismus in den 1930er Jahren betrafen. Damals herrschte hohe Arbeitslosigkeit in einem Kontext, der den Unternehmern selbst bei einem starken Rückgang der Kosten (sinkende Löhne, sinkende Zinsen für Kapitalkredite) keine Aussicht auf künftige Investitionen bot, und das, weil sie ihre Produkte mit ziemlicher Sicherheit nicht verkaufen konnten. Die Arbeitslosigkeit hat heute andere Merkmale als in den 1930er Jahren. Das liegt an den institutionellen Mechanismen, die diesen Prozess verlangsamen (Tarifverträge, gewerkschaftliche/syndikalistische Kämpfe usw.), und ist nicht unbedingt mit sinkenden Löhnen und damit mit einer geringeren Kampfbereitschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter verknüpft. Im Gegenteil, sie kann auch aus der Angst der Arbeitgeber entstehen, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Zum Beispiel kann eine übermäßige Gewerkschafts-, Syndikatsmacht die andere Seite dazu bringen, keine neuen Mitarbeiter einzustellen und damit die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. In diesem Fall – dem von Mitte der 1980er Jahre – reicht Keynes‘ Rezept zur Stützung der Nachfrage nicht aus. Es entsteht die merkwürdige Situation, dass die Unterstützung der Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter, die zunächst als Mittel zur Stärkung der schwächeren Partei ausgegeben wurde, in der Praxis aber auf die Aufrechterhaltung der Nachfrage abzielt, einen ebenso unvermeidlichen Zweck erfüllt, nämlich die Verringerung der Investitionen aufgrund des Rückgangs der Renditeerwartungen für das Kapital, was zu einem Rückgang der Produktion und damit zu einem Anstieg der Inflation führt. Das Kapital hat zwei Möglichkeiten, mit der Inflation umzugehen. Die erste geht davon aus, dass das kapitalistische System von einem inhärenten Mechanismus gesteuert wird, der es spontan zum Gleichgewicht der Vollbeschäftigung führt, der optimalen Situation, in der individuelles und kollektives Wohlergehen übereinstimmen sollten. Der zweite ist der Meinung, dass der Kapitalismus in sich widersprüchlich ist und daher eine Gleichgewichtssituation unmöglich ist. Die einzige Lösung besteht also darin, in widersprüchlichen Situationen, die nicht miteinander vereinbar sind, mittelfristig den maximalen Gewinn zu erzielen. Im ersten Fall wird die Inflation als Anomalie betrachtet, als ein mehr oder weniger vorübergehendes Übel, das geheilt werden kann und das das System beeinträchtigt, wenn es sich der Vollbeschäftigung nähert oder wenn es sich diametral von ihr entfernt. Die Verantwortung für das nicht perfekte Funktionieren des Systems wird also in dem nicht konformen Verhalten einer oder mehrerer Kategorien von ökonomischen Akteuren (Unternehmer, Gewerkschaften/Syndikate, Arbeitskräfte usw.) gesucht, die durch ihr Handeln/ihre Aktion den Prozess der Wiederherstellung des Gleichgewichts einleiten sollten. Im zweiten Fall wird die Inflation als eine der Bedingungen für die Entwicklung des Systems selbst betrachtet, eine Form, die sie im Gesamtzusammenhang der Probleme der kapitalistischen Akkumulation annimmt. So wird eine bestimmte Kategorie von ökonomischen Subjekten – die Unternehmer – identifiziert, die die Investitionsentscheidungen treffen. Die Inflation wird in dieser Perspektive zu einem der Instrumente, die zur Durchsetzung der Interessen der herrschenden Seite eingesetzt werden können. Sie ist keine Krankheit mehr, die es zu vermeiden gilt, sondern ein unausweichliches Ereignis im turbulenten Leben des kapitalistischen Systems. Die Inflation der Nachfrage ist die klassische Form der Inflation, die durch einen Überschuss der Nachfrage über das Angebot an Waren und Dienstleistungen bestimmt wird, woraus ein Anstieg der Marktpreise resultiert. Langfristig führt der Nachfrageüberschuss zu einem Anstieg der Zirkulation des Geldes (die übrigens aus einem nominalen Anstieg der Einkommen resultiert, so dass die Inflation der Nachfrage von Anfang an mit der Inflation der Kosten verbunden ist, wie wir gleich sehen werden), einem Anstieg der Geldmenge, der nicht mit dem produktiven Niveau des Kapitals und dem Niveau des Produktangebots übereinstimmt. Es ist klar, dass es nicht möglich ist, festzustellen, was zuerst steigt: die Marktpreise oder die Löhne, und daher kann kein eindeutiger Unterschied zwischen der Inflation der Nachfrage und der Inflation der Kosten festgestellt werden. Wenn wir jedoch eine – wenn auch enge – Unterscheidung treffen wollen, ist es nur möglich, von einer Steigerung der Nachfrage zu sprechen, wenn wir es mit autonomen Expansionen der Nachfrage zu tun haben, die nicht an vorherige Erhöhungen der Produktionskosten (vor allem der Lohnkosten) gebunden sind. Dies ist der Fall, wenn eine nachfragefördernde ökonomische Politik nach dem Rezept von Keynes verfolgt wird, die in gewisser Weise einer Art Einkommensumverteilung entspricht, da sie vom Staat nur durch den Rückgriff auf öffentliche Schulden erreicht werden kann, da Steuern und Gebühren immer unzureichend sind. Die Staatsverschuldung besteht sowohl aus den Summen, die große und kleine Kapitalisten und Sparer dem Staat leihen, als auch aus dem Papiergeld, das gedruckt und ausgegeben wird. Der erste Teil ist theoretisch nicht inflationsfördernd, aber in der Praxis ist er es, weil er die Nachfrage anregt und damit zur Erhöhung der Marktpreise beiträgt; der zweite Teil der Staatsverschuldung ist zweifellos eine treibende Kraft für die Inflation (durch die Erhöhung der umlaufenden Geldmenge steigen die Preise). Die Inflation der Kosten ist ein Anstieg der Verbraucherpreise, der auf einen direkten oder indirekten Anstieg der Produktionskosten (in erster Linie der Arbeitskosten) zurückzuführen ist. Schließlich wirken sich auch Erhöhungen der Kosten für die in der Produktion verwendeten Rohstoffe inflationär aus, aber es wäre korrekter, diese Erhöhungen auf den ursprünglichen Anstieg der Löhne in den rohstoffproduzierenden Industrien selbst zurückzuführen. Nun ist der Arbeitsmarkt kein Wettbewerbsmarkt, sondern ein Monopolmarkt (basierend auf gewerkschaftlichen/syndikalistischen Lohnverhandlungen). Daraus folgt, dass man in der Kosteninflation keine Wettbewerbselemente finden kann, die auf die Existenz eines hypothetischen Ausgleichsmechanismus hindeuten könnten. Hier ist die Grundlage des Mechanismus ausschließlich sozialer und politischer Natur. Diese Inflation ist also ein sozialer Konflikt über die Art und Weise, wie das Nationaleinkommen verteilt werden kann, der auf den ständigen Versuchen einiger sozialer Gruppen beruht, ihre Verfügungsmöglichkeiten (und damit ihren Konsum) schneller zu erhöhen, als es mit den Zielen anderer Gruppen und dem abstrakten Konzept der allgemeinen ökonomischen Stabilität vereinbar ist. Dies führt zu einem kontinuierlichen Anstieg der Preise und einer Spirale aus Preis-Lohn- und Lohn-Preis-Verhältnis. In den letzten Jahren war es so, dass es selbst unter Bedingungen, die eine Preissenkung ermöglicht hätten, immer wieder zu Steigerungen kam, scheinbar ohne Grenzen. Solange es nun einen erheblichen Anstieg der Arbeitsproduktivität gibt, führt dies nicht zu weiteren Preiserhöhungen, weil der Anstieg durch die günstige Konjunkturentwicklung gedeckt ist und der bisherige Anstieg sogar als günstiger Beitrag zur Realisierung der Produktion angesehen wird, weil er die immer befürchtete Krise der Überproduktion hinausschiebt oder vermeidet (jedenfalls nie ganz). Aber diese ständigen Steigerungen schlagen sich früher oder später, vor allem unter den Bedingungen, dass es keine parallelen Produktivitätssteigerungen gibt, im weitesten Sinne auf die Reallöhne, nieder (d.h. auch im sehr weiten Sinne der Neuzusammensetzung der Arbeitskräfte unter den derzeitigen allgemeinen Lebensbedingungen der Gesellschaft mit fortgeschrittenem Kapitalismus, wenn nicht sogar postindustriell). Daraus folgt, dass ständige Erhöhungen der Geldlöhne notwendig sind, was sich auf die Arbeitskosten und damit auf den industriellen Gewinn auswirkt. Natürlich kann dieser letzte Schritt durch verschiedene Faktoren verzögert werden (Selbstfinanzierungsfähigkeit der Unternehmen, expandierende Märkte, geringe Abhängigkeit vom Finanzmarkt usw.), aber sobald er ausgelöst wird, wird er zu einer unaufhaltsamen Ursache der Kosteninflation. Die internationalen Ursachen der Inflation sind ökonomische und politische Elemente, die andernorts zu einem Anstieg der Rohstoffpreise führen, die, wenn sie importiert werden, einen Inflationsprozess von immensen Ausmaßen verursachen. Dies führt zu einer Reihe von Konsequenzen in Form von Erwartungen, Konflikten und Abwehrhaltungen in der Gesellschaft und damit auf dem Arbeitsmarkt. Die monopolistische Situation der Löhne verhindert korrigierende Eingriffe im kapitalistischen Sinne und setzt die Unternehmen den vollen Auswirkungen der internationalen Inflation aus, die nicht durch drastische Lohn- oder Beschäftigungskürzungen abgemildert werden kann. Der einzige Weg, den Kapitalisten dann einschlagen können, ist die Erhöhung der Preise. Was sind die kapitalistischen Versuche, das Inflationsproblem zu lösen? Einkommenspolitik ist der Weg, den die Linke vertritt (natürlich immer im Namen des Kapitals). Das Ziel ist nicht so sehr, die Inflation zu beeinflussen, sondern die Arbeitslosigkeit, und wenn man Ersteres ändert, ändert man Letzteres. Es ist sicher, dass einige beschäftigungsfördernde Maßnahmen in der Vergangenheit (auch in jüngster Zeit) zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Reallöhnen und Arbeitsproduktivität geführt haben, d.h. zu einer Verschlechterung der Produktionsbedingungen und damit zu einer Verringerung der Gewinne und folglich zu einem Rückgang der Investitionen. Jetzt, angesichts der Inflation, spüren die Arbeiterinnen und Arbeiter zuerst die Kürzung der Reallöhne, die sie bekommen, also kämpfen sie für eine Erhöhung der Geldlöhne bei gleichzeitigem Erhalt der Beschäftigung. Die Unternehmer werden ihrerseits dazu gedrängt, zunächst einmal die Nachfrage nach Arbeitskräften zu straffen, während sie gleichzeitig versuchen, die Produktion zu rationalisieren. All dies erhöht den reinen Geldlohn, lässt aber die Probleme der Beschäftigung und der Produktivität ungelöst. Bleibt nur noch die Lösung, alle Kostensteigerungen auf die Preise umzulegen. Daraus ergibt sich eine konstante Senkung des Reallohns (im weitesten Sinne wie zuvor) und eine prompte Reaktion mit weiteren Erhöhungen des Nominallohns. Was die Beschäftigung angeht, betrachten wir nun die vorherige Situation (industrielle Ökonomie). Die Beschäftigungsentwicklung in einer traditionellen Ökonomie wird von vielen Faktoren beeinflusst. Insbesondere die folgenden Faktoren erhöhen die Arbeitslosigkeit: die Anhebung des Rentenalters, der Zustrom höherer potenzieller Bildungsabschlüsse, die Zunahme der Arbeit von Frauen, der Zustrom von Arbeitskräften vom Land in die Stadt in Situationen geringerer industrieller Kapazität. Lohnerhöhungen haben auch einen Einfluss auf die steigende Arbeitslosigkeit. Die Unternehmen gehen dazu über, Arbeitskräfte einzusparen, indem sie die Zusammensetzung der Investitionen ändern (erste Versuche zur Automatisierung der Fabriken werden unternommen), Arbeitsrhythmen werden beschleunigt (Überstunden, Zeitmessung usw.). Umstrukturierung spart Arbeit und erhöht die Arbeitslosigkeit. In dieser Phase – die für Italien zwischen 1973 und 1980 anzusetzen ist – entwickelte sich auch eine sehr breite Schicht von Nicht-Erwerbstätigen, die nicht als „arbeitslos“ definiert werden konnten, da sie nicht auf der Suche nach Arbeit waren, sondern sich einfach „durchschlugen“ oder die Arbeit verweigerten und auch alle Verfahren, die zur Rolle der Arbeitslosen als Arbeitssuchende führen. In diesem Klima der Rezession haben die Ökonomen erkannt, dass das System nicht spontan zum Gleichgewicht tendiert, so wie es in einem Klima der anfänglichen ökonomischen Entwicklung der Fall war, als es aus einer pathologischen ökonomischen Situation kam, die durch den Krieg und die Notwendigkeit des Wiederaufbaus verursacht wurde. Nach der Krise von 1973 haben die Ökonomen den Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit besser verstanden. In der Tat besteht innerhalb bestimmter Grenzen ein umgekehrtes Verhältnis zwischen der Veränderung der Löhne (und damit des Preisniveaus) und der Arbeitslosigkeit. Wenn die Löhne und die daraus resultierende Nachfrage nach Waren steigen (und damit die Arbeitslosigkeit sinkt), steigt das Preisniveau (d. h. die Inflation). Die erste Folge dieser Entdeckung war, dass Keynes‘ These von der sozialen Stabilität als Folge der Vollbeschäftigung zu einer Illusion wurde. Ein Anstieg der Beschäftigung führt zwangsläufig zu einem Anstieg der Preise und damit zu einer ökonomisch und sozial instabilen Situation. Es war Milton Friedman, der auf die Notwendigkeit einer „natürlichen“ Arbeitslosenquote schloss, die in konstantem Verhältnis zu einem hypothetischen optimalen Preisniveau stehen sollte, damit es weder zu sozialen noch zu ökonomischen Störungen kommen würde. Doch dieser theoretische Hinweis stieß auf praktische Hindernisse, die den Kapitalismus in den späten 1970er Jahren an den Rand des Zusammenbruchs brachten, von dem er sich mit dem Übergang zur postindustriellen Phase erholte. Diese Hindernisse waren: die gewerkschaftliche/syndikalistische Indexierung, die Grenzen der Arbeitskräftemobilität, die Starrheit der Investitionen, die Utopie der Vollbeschäftigung, die unzureichenden Marktinformationen und schließlich die tatsächlichen Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter. Es war wiederum Friedman, bald gefolgt von Franco Modigliani und Ezio Tarantelli, der feststellte, dass die Förderung der Nachfrage einen Anstieg der Arbeitslosigkeit bedeutete und nicht, wie Keynes gedacht hatte, einen Rückgang. Für Italien kann die postindustrielle Wende um 1981 herum angesetzt werden. Während die italienische Ökonomie zuvor ein System progressiver Anpassungen angesichts des internen und externen Inflationsdrucks (z.B. auch angesichts steigender Ölpreise) bevorzugt hatte, gibt es seither viel härtere und effektivere Anpassungsprozesse. Die Kämpfe sind praktisch erloschen. Der Weg des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Konflikts ist, wenn auch nur formal, versperrt. Das große Gerede über die „terroristische“ Gefahr trägt dazu bei, den letzten autonomen Widerstand des Arbeiterkampfes zu brechen. Es wird ein Klima der Einschüchterung und Kriminalisierung geschaffen, das dazu führt, dass diese Anpassungen kapitalistisch durchgesetzt werden können. Der Rückgang der Beschäftigung nimmt dramatisch zu und breitet sich in der gesamten Industrie aus. Es kommt zu einer effektiven Schließung der großen Industrieanlagen. In der Lombardei beträgt der jährliche Rückgang nach 1981 um sieben Prozent. Nicht nur das Beschäftigungsniveau ändert sich, sondern auch die Klassenstruktur selbst. Die absurden Träume der alten und neuen Marxisten verblassen. Die Thesen der organisierten Autonomie erweisen sich als unbegründet. Die italienische ökonomische Welt begann sich durch eine doppelte Aktion zu verändern. Erstens eine Produktionskrise, die zu einem deutlichen Rückgang der Auslastung von Industrieanlagen führt. Zweitens eine Produktivitätssteigerung infolge von Entlassungen, die bei älteren Arbeitern und Frauen beginnen und sich dann auf jüngere und mittelalte Arbeiter ausweiten. Der Arbeitsmarkt verändert sich entsprechend. Der kämpferischste Kern der Arbeiterklasse löst sich durch den weit verbreiteten Einsatz von Instrumenten zur Stabilisierung des Produktionszyklus auf: in erster Linie Entlassungsfonds. Die Löhne kommen zum Stillstand und die seltsamen Phänomene, die im letzten Jahrzehnt so häufig auftraten, dass die Löhne selbst in Zeiten geringerer Produktion stiegen, treten nicht mehr auf. Jetzt wird die Beschäftigung nicht mehr durch starre Gewerkschafts- Syndikatsverträge verteidigt, und vor allem ist sie nicht mehr beängstigend in ihrer Fähigkeit zum autonomen Kampf, auch jenseits der Hinweise der Gewerkschaft/Syndikat und der Rekuperation der KPI (Kommunistische Partei Italien). Da das Kapital keine Angst mehr hat, wird die Beschäftigung in Bezug auf den Produktionszyklus weniger starr. Die ersten positiven Ergebnisse für das Kapital zeichneten sich ab. In einer Situation starrer Beschäftigung blieb den Kapitalisten – um ihre Produktionsprobleme zu lösen – nur der Weg, die Preise zu erhöhen und damit die Inflation zu steigern. Nach 1981 erholte sich das italienische ökonomische System. Die Inflation verlangsamt sich. Lohnindexierungen haben eine geringere Verhandlungsmacht und machen es dem Kapital somit leichter, zu manövrieren. Die Produktivität von Unternehmen wächst durch die externe Mobilität von Arbeit. Ein heftiger Einsatz von Instrumenten zur Einkommensstabilisierung (Abfindungsfonds) beginnt. Die Arbeiterklasse ist am Ende. Die Gewerkschaften/Syndikate, die von ihrer wahren Kampfkraft lebten, nur um sie zu kontrollieren und ganz sicher nicht, um sie zu beleben, sind ebenfalls am Ende. Es wird mit neuen Formen der Kontrolle des Arbeitsmarktes experimentiert. Insbesondere Fiat und Montedison bewegen sich auf ein anderes System der Einstellungskontrolle und auf eine Liquidierung von überschüssigen Arbeitskräften zu, die fast ausschließlich auf Entlassungen basiert. Die Produktivität stieg also nicht aufgrund eines verstärkten Einsatzes von Produktionsfaktoren (technologische Verbesserungen und Beschäftigungszuwächse), sondern im Gegenteil aufgrund einer rationelleren Ausbeutung der vorhandenen Faktoren. Die Gewerkschaften/Syndikate sahen sich gezwungen, Vorschläge zu machen, die sie einige Jahre zuvor selbst für absurd hielten, wie Solidaritätsverträge, Ausbildungsverträge, die Abrufe für junge Menschen zuließen, und die Verkürzung der Arbeitszeit als Versuch, die Beschäftigung auszuweiten (was in der Praxis höchst zweifelhaft war, da Italien die niedrigste jährliche Stundenauslastung seiner Arbeitskräfte aufweist). Ab 1983 begann man in großen Unternehmen zu erkennen, dass die bloße Unterauslastung der Anlagen angesichts der Durchschnittszeiten nicht ausreicht, um eine Lösung des Problems zu gewährleisten. Daher nehmen Renovierungs-, Umstrukturierungs- und Innovationsprojekte zu. Der Staat und die Gewerkschaften/Syndikate haben ihrerseits ein großes Interesse daran, eine neue Politik der Arbeitsplatzerfindung zu schaffen. Wieder einmal werden die Interessen der Kapitalisten mit denen der Gewerkschaften/Syndikate und des Staates gleichgesetzt. Erstere sind sehr besorgt über eine zukünftige Umschichtung der überschüssigen Arbeitskräfte (sonst würde die Nachfrage nach Gütern zu stark schrumpfen); letztere und dritte sind besorgt unter dem Gesichtspunkt der immer möglichen sozialen Unruhen und haben nun die Illusion einer spontanen Wiederaufnahme des Arbeitsangebots verloren. So werden die tertiären Sektoren mit massiven staatlichen Investitionen ausgebaut, mit Hilfe der Gewerkschaften/Syndikate, die jetzt die Variable der Arbeitermobilität ausufern lassen, und zur großen Freude der Kapitalisten, die gerade aus diesem Sektor Nahrung für den Strukturwandel ihrer Unternehmen finden. Dem Staat wird gesagt, dass monetäre Maßnahmen allein nicht mehr ausreichen, um die Produktionseffizienz der Unternehmen zu reorganisieren. Es ist eine Übertragung von Finanzinvestitionen erforderlich. Daher eine ökonomische Politik, die auf öffentlichen monetären Zuwendungen an die Industrie basiert, um technologische Innovationen zu ermöglichen, eine Kreditpolitik und eine Kapitalbeschaffung auf dem Aktienmarkt, die niedrige Zinsen begünstigt. Es geht nicht mehr nur um die Finanzierung der Industrie, sondern um ein allgemeines ökonomisches Klima (von der Börse bis zum Anleihemarkt, von Devisen bis zu Staatsschulden), das günstige Bedingungen für Innovationen schafft. Das alte Konzept der Bevorzugung einiger weniger Industriesektoren zu begünstigen, die als „führend“ gelten, ist verschwunden (oder wird bald verschwinden). Jetzt bewegen sich alle Branchen auf technologische Verbesserungen zu, die den gesamten Produktionsapparat betreffen, von der Produktqualität bis zur Verwaltung. Elektronik ist weit verbreitet. Diese Situation, die mindestens bis 1981 konstant blieb, brachte die auf Nachfragestützung basierende Beschäftigungspolitik (und damit die neokeynesianischen Ökonomen in Verruf) in den Fokus. Dies führte zu einer begrenzten Umverteilung der Einkommen, aber vor allem zu einer Verringerung des Verhandlungspotenzials der Gewerkschaften/Syndikate, die vor der Wahl standen, entweder die Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterstützen und Träger des Inflationsprozesses zu werden oder die Forderungen der Kapitalisten zu unterstützen und als Verräter der Interessen der produktiven Klasse zu erscheinen. Die monetaristische Politik ist die klassische Wahl der Konservativen und Technokraten. Sie basiert auf der Annahme, dass eine Kontrolle der umlaufenden Geldmenge und der Geschwindigkeit des Geldumtauschs dazu beitragen kann, die Inflation in einem für die kapitalistische Entwicklung akzeptablen Rahmen zu halten. Das führt zwangsläufig zu einer Arbeitslosigkeit, die über dem natürlichen Niveau liegt (das jetzt mit der Schulpflicht stark gestiegen ist). Aber das ist ein Opfer, das gebracht werden muss, um größeren Schaden zu verhindern. Die Lohnabhängigen müssen die Vorteile einer Verlangsamung des Preisanstiegs erkennen und die Tatsache, dass diese Vorteile erst nach einer gewissen Zeit und nicht sofort eintreten. Ein dritter Weg besagt – basierend auf den Analysen von Modigliani und Tarantelli – dass eine klare Trennung zwischen den beiden vorherigen Wegen nicht möglich ist. Diese beiden Ökonomen argumentieren (um die Wahrheit zu sagen, der zweite nicht mehr, da er von den Roten Brigaden getötet wurde) für die Notwendigkeit, die Nachfrage und damit die Beschäftigung zu stützen, sprechen aber gleichzeitig von der Notwendigkeit, das Reallohnniveau zu senken. Modigliani erklärte auch, dass der einzige Ausweg, um die totale Zerschlagung der Gewinne zu vermeiden, die jeden Investitionsanreiz zerstört, die Senkung der überhöhten Arbeitskosten ist. Deshalb: Löhne und Entlassungen stoppen. Der erste Aspekt des Rezepts ermöglicht eine Neuausrichtung der Produktivität, der zweite eine rasche Umstrukturierung des Industriesektors. Frühere Befürchtungen hinsichtlich dieser Lösung und möglicher sozialer Unruhen haben sich als unbegründet erwiesen. Modigliani und Tarantelli haben seit langem darauf hingewiesen, dass die Vorteile einer solchen Perspektive in Bezug auf die politische Stabilität es ermöglichen, soziale Unruhen zu vermeiden, weil sich die Menschen besser regiert fühlen, weil sie sehen, dass der Preisanstieg verzögert wird und weil alle der Illusion kurzfristiger Vorteile unterliegen, gerade weil sie in einer Situation der wirtschaftlichen und institutionellen Wiederbelebung leben. b) Die neue Professionalität der Arbeit: Flexibilität Die Professionalität der Arbeit wird heute durch das Produktionssystem anders gefordert. Es geht weder um einen einfachen Mangel an Professionalität noch um eine erweiterte Professionalität. Es gibt erhebliche Probleme in Bezug auf die Flexibilität. Das Konzept der horizontalen Spezialisierung bedeutet, oberflächlich zu arbeiten, im Gegensatz zu der vertikalen Spezialisierung, die die Produktionswelt der Vergangenheit brauchte. Um die Probleme im Zusammenhang mit den veränderten Anforderungen an die Professionalität, die das Produktionssystem an das Bildungssystem richtet, besser verstehen zu können, müssen wir kurz gesagt die Bedingungen, unter denen diese Anforderungen gestellt werden, die Art und Weise, wie sie gestellt werden, und die möglichen Antworten kennen. Die allgemeine Situation des Produktionssystems ist die einer tieferen Integration zwischen der technologischen Komponente und der sozio-organisatorischen Komponente. Die technischen Hilfsmittel haben an Quantität und Qualität zugenommen und die Menschen, die sie bedienen, haben jetzt verschiedene Aufgaben, die unterschiedliche berufliche Fähigkeiten erfordern. Man kann also sagen, dass der massenhafte (und qualitative) Einzug der Technologie in das Produktionssystem eine tiefgreifende Veränderung der sozialen Organisation, die ihm zugrunde liegt, bewirkt hat. Diese Veränderung kann in zwei Aspekten beschrieben werden: a) einem quantitativen Aspekt, der durch einen erheblichen Rückgang der Beschäftigung gekennzeichnet ist, obwohl die Beziehung zwischen Computerisierung und Beschäftigung viel schwieriger ist als eine banale Gleichung zwischen Zunahme auf der einen und Abnahme auf der anderen Seite; b) einem qualitativen Aspekt, der durch eine tiefgreifende Veränderung in der Verteilung der Professionalität gekennzeichnet ist. Der erste dieser beiden Aspekte wirkt sich auf den zweiten aus, da er einen Druck auf der Ebene der endogenen Entscheidungen des Produktionssystems ausübt, der wiederum zu Signalen für das Bildungssystem wird. Diese Entscheidungen werden erst zu einem späteren Zeitpunkt zu Orientierungsentscheidungen, sowohl für diejenigen, die die Lehrpläne erstellen, als auch für die Schüler selbst. All dies führt dazu, dass ein neues Modell der Professionalität entsteht, das heute weit verbreitet ist. Letztendlich wird das Problem unserer nahen Zukunft vielleicht nicht so sehr das der Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen möglichen sozialen (revolutionären) Umwälzungen sein, sondern eher das Problem der Trennung von Wissen, das Problem der Schaffung einer absolut unüberwindbaren kulturellen Mauer zwischen denen, die eine operative und entscheidungsbefugte Professionalität besitzen, und denen, die nur eine exekutive Pseudoprofessionalität besitzen. Der zweite Aspekt, der qualitative Aspekt, kommt dann mit seiner ganzen Bedeutung zum Vorschein. Die Veränderung betrifft die Art und den Inhalt der Professionalität sowie ihre Verteilung auf die verschiedenen Ebenen, in denen die Produktionseinheit gegliedert ist. Das hat offensichtliche Auswirkungen auf die Dauerhaftigkeit innerhalb derselben Einheit, auf der einst die „Möglichkeit einer Karriere“ beruhte. Heutzutage ist diese Möglichkeit viel geringer, auch wegen der geringeren Professionalität, daher ist Flexibilität so wichtig. Aber dazu später mehr. Die Abflachung der Professionalität ergibt sich aus dem System, das innerhalb der Produktionseinheit aufgebaut wurde. Es ist ein „geschlossenes“ Modell oder zumindest eines, das sich nach dem abstrakten Ideal der Automatisierung abschotten will. Der menschliche Bediener und die sich verändernde physische Realität können nicht in ein computergestütztes System der Regulierung und Kontrolle „passen“. Dieses System basiert auf einer mathematischen Logik und modelliert auf dieser Logik den Produktionsprozess der Umwandlungen durch eine Reihe von Informationen, die die Bedienterminals in Echtzeit erreichen. Es ist also das zwischengeschaltete Automatisierungssystem zwischen Mensch und Realität, das die „technische Expertise“ beinhaltet, die der Transformationsprozess weiterhin erfordert. Dem Menschen bleibt nur die Aufgabe, die Ausnahmen zu überwachen und zu kontrollieren. Die neue „Professionalität“ hat also ganz andere Merkmale als die der Vergangenheit, und zwar nicht nur im Bereich der traditionellen Produktion (Industrie- oder Fabriksektor), sondern auch in der Dimension des Produktionssystems, die die so genannten „freien Tätigkeiten“ umfasst, vom Handwerk bis zu den freien Berufen. Schematisch lässt sich diese neue Funktion wie folgt beschreiben: (a) Visualisierungsprozesse. Diese sind unverzichtbar und erfordern eine Ausbildung des Auges und eine Reaktion des visuellen Reizes mit Geschwindigkeiten, die noch vor wenigen Jahren für den optischen Apparat unfassbar gewesen wären. Die Lektüre eines Videos ist eine sehr komplexe Angelegenheit, die die visuelle Anpassung nur schrittweise und mit einer „Ausbildung“ oder, wenn man so will, einer jahrelangen Konditionierung abdecken kann. Bei diesen Visualisierungsprozessen muss man aber auch die programmatischen Reaktionen einbeziehen, also alles, was nach der reinen visuellen Wirkung kommt. Mit anderen Worten: Auf die „Lektüre“ des Videos folgt die Ausarbeitung eines mentalen Schemas, das dem Subjekt einen ausreichenden Hinweis auf den stattfindenden Prozess gibt. Dabei geht es nicht so sehr um die einzelnen Elemente des Prozesses, sondern um eine globale Idee, die in groben Zügen die mehr oder weniger gute Eignung des tatsächlichen Prozesses für ein Sicherheitssystem angibt, das in der Lage ist, die Ausnahmen festzulegen. Einige dieser Ebenen sind in der Tat diskretionärer Natur und wären durch eine rein mathematische Verarbeitung nicht leicht zu erreichen, da die Auflösung der entsprechenden Algorithmen selbst mit modernen Computern nicht zu bewältigen ist. b) Konzeptualisierungsprozesse. Dies ist das Element der Bewertung, die das Subjekt durch das mentale Schema vornehmen muss. Hier sehen wir die tatsächliche Verschlechterung der Fähigkeit zu konzeptionieren, d.h. die Probleme, die die Realität aufwirft, in Ideen umzuwandeln, um eine Entscheidung zu treffen, d.h. den Willen auf die Bedürfnisse eines zu erreichenden Ziels abzustimmen. Die Grenzen des Ermessensspielraums in diesen Prozessen der Konzeptualisierung sind sehr streng. Hier stirbt das Subjekt. Seine Autonomie schwindet genau in dem Moment, in dem die ganze Technologie zur Verfügung steht, um die großen Probleme zu lösen, die ihn in der Vergangenheit behindert haben. Je weniger Dinge es (A.d.Ü., das Subjekt) zu tun hat, desto weniger Dinge wird es tun wollen, denn desto weniger Dinge wird es können. Langsam verwandelt sich das denkende Subjekt in ein Subjekt, das die beste Lösung innerhalb eines Schemas findet, das nur funktioniert, um ein Ziel zu erreichen, das außerhalb seiner Wünschbarkeit liegt. Die Werteskala, auf die sich ein solcher Prozess stützt, ist außerhalb der Wünsche des Einzelnen festgelegt. Bei der Verarbeitung von Informationen teilt der Computer den Menschen in zwei Hälften. c) Prozesse verstehen. Auch diese werden reduziert. Weniger Möglichkeiten für Ideen, weniger Möglichkeiten, etwas zu verstehen. Niemand kann außerhalb der Konzepte, die Unterscheidungen verarbeiten, verstehen. Je weniger Dinge es zu verstehen gibt, desto weniger versteht man. Wenn es weniger Dinge zu verstehen gibt, hat man die Illusion, mehr, schneller und besser zu verstehen. Das gibt ein Gefühl der Sicherheit, das typisch für Menschen ist, die wenig wissen und sich vormachen, dass ihr bescheidenes Wissen mehr oder weniger „alles“ Wissen ist. Zweifel und die damit verbundenen Mühen sind typisch für diejenigen, die die Grenzen ihres Wissens erweitern und dabei feststellen, dass sie neue, immer weiter entfernte Grenzen entdecken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „neue“ Professionalität sehr reduzierte Inhalte hat, die mit der Verfeinerung einiger Fähigkeiten und dem endgültigen Niedergang anderer einhergehen. Unter diesen Fähigkeiten, die neu bewertet werden, steht in einer hypothetischen Werteskala die Aufmerksamkeit an erster Stelle. Das ist eine Fähigkeit, die man entwickeln kann und die darin besteht, die Wahrnehmung des Prozesses und seine Umwandlung in ein mentales Schema innerhalb bestimmter Grenzen konstant zu halten. Diese Beständigkeit neigt natürlich dazu, in ihrer Häufigkeit nachzulassen, nicht nur wegen der Müdigkeit, sondern auch wegen der Wiederholungen und den verschiedenen Trieben des Verlangens und der Erinnerung. Die Wiederaufnahme dieser Senkungen innerhalb der Toleranzgrenzen, die in einer sehr kurzen Zeit erfolgen muss, kennzeichnet die Aufmerksamkeit, die, wie wir sehen, eine geistige Fähigkeit ist, die auf der Schnelligkeit des Eingreifens in anormalen Situationen beruht. Wenn Ausnahmen im Verhalten des Prozesses auftreten, muss die Aufmerksamkeit ihre Fähigkeit zeigen, die Normalität wiederherzustellen. Auch das Verantwortungsbewusstsein, das bei der Betrachtung des Niveaus der neuen Professionalität berücksichtigt wird, ist nicht so sehr (oder zumindest nicht nur) eine ideologische Konditionierung und bedingungslose Akzeptanz bestimmter Werte (das reibungslose Funktionieren des Produktionssystems), sondern eine reale „Fähigkeit“, die wie die Aufmerksamkeit auch quantifizierbar ist. Tatsächlich wird das Verantwortungsbewusstsein von denjenigen, die die verschiedenen Ebenen der „Professionalität“ des betrieblichen Subjekts bewerten, unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit betrachtet, in einer bestimmten Zeiteinheit in eine genau festgelegte Reihe von Wahlmöglichkeiten einzugreifen und diejenige und nur diejenige Wahl zu treffen, die das bestmögliche Funktionieren des Systems ermöglicht. Es wäre falsch zu denken, dass diese Möglichkeit nur technischer Natur ist. Die Inhalte des Verantwortungsbewusstseins werden, sobald sie einzeln genommen werden, null und nichtig und kündigen ihre ideologische Essenz auf. Wenn man diese Überlegungen berücksichtigt, kann man eine unterschiedliche Verteilung der Professionalität in der traditionellen Fabrik und in der postindustriellen Produktionseinheit schematisch darstellen. a) In der traditionellen Fabrik gibt es eine große Bandbreite an differenzierten Aufgaben und kulturellen Ebenen. Sie reicht von einem Bereich mit niedrigem Gehalt bis zu einem mit hohem und sehr hohem Gehalt. Auf der Nachfrageseite zeigt sich, dass das traditionelle Produktionssystem weniger niedrige und hohe Professionalität absorbiert, während die Arbeitskräftenachfragekurve auf den mittleren Ebenen stark ansteigt. Das bedeutet, dass in der Fabrik in der Vergangenheit die durchschnittliche Professionalität viel gefragter war als die niedrige und hohe Professionalität. b) In der postindustriellen Produktionseinheit hingegen ist die niedrige Professionalität stark gefragt, während die durchschnittliche Professionalität tendenziell auf ein Minimum sinkt und die hohe Professionalität (die in jedem Fall deutlich unter dem quantitativen Niveau der niedrigen Professionalität bleibt) dann wieder erheblich zunimmt. In dieser Situation ist die Möglichkeit einer Versetzung oder Mobilität innerhalb derselben Produktionseinheit nicht mehr gegeben. Mit anderen Worten: es ist nicht möglich, von niedriger zu hoher Professionalität überzugehen, weil es einen Engpass bei den Anforderungen der durchschnittlichen Professionalität gibt. Dieser Engpass, der immer größer wird, bis er zu einer echten kulturellen Mauer wird, macht die interne Struktur der Produktionseinheit mit der Zeit immer starrer, sodass nur noch interstrukturelle Mobilität möglich ist. Deshalb ist es so wichtig, dass du flexibel bist und dich auf immer neue Arbeitsmöglichkeiten einlassen kannst. Die tiefe Trennung zwischen den Bereichen niedriger und hoher Professionalität bleibt jedoch immer bestehen. Bevor wir dieses Thema verlassen, müssen wir daran denken, dass, so sehr das Konzept der neuen Professionalität auch darauf abzielt, den einzelnen Akteur von Inhalten zu entleeren und nur einige seiner Fähigkeiten zu schärfen, die Überlegung immer noch gültig ist, dass der Unterschied zwischen niedriger und hoher Professionalität nicht ausschließlich durch die Schärfung der individuellen Fähigkeiten gelöst wird, sondern auch durch die Wiederherstellung von Inhalten, einschließlich der traditionellen oder kulturellen Inhalte im engeren Sinne. Es ist außerdem logisch, dass diese Wiederherstellung ausschließlich in der Sphäre der Hochprofessionalität stattfindet, die auch die Aufgabe hat, die ideologischen Bedingungen zu schaffen, die es den niederen Berufsschichten ermöglichen, ihre reale Ausbeutungssituation zu akzeptieren. Die Flexibilität ist, wie wir gesehen haben, eines der zentralen Konzepte, die im Übergang von den 1970er zu den 1990er Jahren entwickelt wurden. Die letzte Periode der 1970er Jahre, die die spektakulärsten Rückentwicklungsprozesse innerhalb des altmodischen kapitalistischen Systems markierte, kann als eine Zeit des Bruchs in Erinnerung bleiben, in der die Gewissheiten einer fernen und nicht so fernen Vergangenheit zusammenbrachen. Die erste dieser Gewissheiten war die Programmierung des kapitalistischen Projekts, das auf fortschreitender Akkumulation und der Abflachung von Konflikten durch die Veredelung des Staates als Produzent und nicht mehr nur als Polizist beruht. Es ist nicht mehr legitim, von einer „Krise“ (in Anführungszeichen) zu sprechen. Das geht nur, wenn die ökonomische Theorie selbst und nicht nur die produktive Struktur in dieses Konzept einbezogen wird. Gerade die Theorien (sowohl die neoklassischen als auch die managementorientierten im engeren Sinne), die für die Möglichkeit plädierten, Ordnung in die Vielfalt der Phänomene zu bringen, um zu einer Programmlinie für die Entwicklung des Kapitals zu gelangen, wurden Ende der 1970er Jahre besiegt. Das ist genau die Situation, die nicht nur die Struktur, sondern auch die Theorien betrifft, die die Vernunft über die Kraft der Ereignisse siegen lassen wollten. Die erste Entdeckung, die zu Beginn der 1980er Jahre gemacht wird, ist genau die der fehlenden Ordnung in der ökonomischen Realität. Das ist zweifellos eine Entdeckung der Krisensituation, aber es ist auch eine neue Theorie, die die frühere Bedeutung von Krisen auf Null zurücksetzt und sie zu einem Kraftpunkt für das Vorwärtskommen macht. Unternehmen arbeiten in Situationen extremer Unsicherheit und Instabilität. Die Kontrolle über die industrielle Situation ist praktisch verloren. Turbulenzen sind eine ständige Realität. Die Elemente dieser Turbulenzen werden anschließend mit großer Genauigkeit theoretisch isoliert: die Gewerkschafts- Syndikatsbewegung der 1960er Jahre, das hohe Beschäftigungsniveau, die Inflation, die Währungsinstabilität. Es wird die These entwickelt, dass diese turbulente Realität nicht anpassbar ist. Die Pluralität der Kräfte in Aktion wird daher nur in kurzfristigen Situationen nachvollziehbar. Dies erfordert eine neue Fähigkeit des Produktionsunternehmens: Flexibilität, d.h. die Fähigkeit, sich an diese Situation ständiger Instabilität und Turbulenz anzupassen, im Gegensatz zur früheren Situation, in der die Widersprüche des Produktionssystems an die Starrheit der Struktur des einzelnen Unternehmens angepasst werden sollten. Es geht also darum, die Flexibilität bei Entscheidungen, bei der Organisation von Produktionszyklen, beim Einsatz von Arbeitskräften, bei Programmen und bei der Anwendung von Ideologien zu maximieren. In diesem Sinne werden die Organisationsstrukturen dezentralisiert, bürokratische Aspekte (Buchhaltung, Steuern usw.) versuchen, ihre ewige Unbeweglichkeit zu verlieren, und das Paket an Arbeitskräften wird verschoben und stößt bei diesem vermeintlich sehr gefährlichen Vorhaben auf weniger Widerstand als erwartet. Risiken (einschließlich des Risikos sozialer Verwerfungen) werden Teil der Marktstrategie und werden hier durch Umstrukturierung (d. h. die Unterteilung von Produktionseinheiten) gelöst. In einem turbulenten und feindlichen Ambiente passt sich die Produktionseinheit an und wird flexibel. Wie das weiche Schilfrohr biegt es sich, um dem Sturm zu trotzen. Was früher starr und geordnet war, in stabilen Formen, die erfolglos mit den ständigen Widrigkeiten einer Umwelt kämpften, die sich per Definition für feststehend hielten, bricht jetzt auf tausend Arten zusammen, in hundert produktiven Strukturen, in Dutzenden von verschiedenen Denkweisen und vielfältigen Zielen. Der Pluralismus hält Einzug in die Welt der Produktion und entdeckt, dass er schließlich das einzige Element ist, das sich harmonisch mit einer politischen Situation mit demokratischer Struktur verbinden kann. Die autoritären Ideologien und repressiven Praktiken der Vergangenheit sind nur noch eine vage Erinnerung. Die harte Arbeit, die alle leisten, um den sogenannten „Terrorismus“ zu bekämpfen (einschließlich der Gefährten und der Gefährtinnen, die diesen Begriff leichtfertig verwenden, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie damit wieder für genau die Sache funktional werden, die sie bekämpfen wollen), trägt dazu bei, dieses neue Gewand der Possibilisten20 in weißen Kitteln zu befeuern. Die „Bösen“ werden beiseite geschoben, aber nicht auf brutale Art und Weise (es wird immer wieder über die Grenzen und Gefahren repressiver Entscheidungen gesprochen, die auf der Idee eines „Notstands“ basieren). War es ein Zufall, dass der Weg der Flexibilität gewählt wurde, um die Situation der 1970er Jahre zu überwinden, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die Technologie spezifische Apparate zur Verfügung stellte, die die Unternehmen in der Praxis flexibel machen konnten? Sicherlich nicht, und ebenso sicher ist es nicht möglich, die Bedingungen dieser Beziehung festzulegen, d.h. wie die Technologie diese Entscheidungen beeinflusst hat und diese Entscheidungen die Entwicklung der technologischen Forschung beeinflusst haben. Das Gleiche und noch viel mehr ist in den letzten Jahren passiert. Wir werden nie wissen, wie sehr die Technologie heute das Produktions- und Sozialsystem als Ganzes zu flexiblen Entscheidungen drängt und wie sehr diese Entscheidungen – die inzwischen unverzichtbar geworden sind – zu technologischen Erfindungen drängen, die zunehmend in der Lage sind, organisatorische Flexibilität zu realisieren. Die Irrationalität wird zur Grundlage des theoretischen Projekts der Ökonomie und verdrängt die alten mechanistischen Mythologien des Gleichgewichts. Das bringt die neoklassische Theorie zurück in den Bereich der neuesten Entwicklungen in der Wissenschaft, die natürlich weit von den Mechanismen des 19. Jahrhunderts entfernt sind. Aber das hier, so interessant es auch ist, ist eine ganz andere Sache. c) Die Welt der Schule Vorbei sind die Zeiten, in denen die Schule als geschlossenes System mit eigenen Problemen betrachtet werden konnte, die man nach draußen tragen musste, um sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen (Nachbarschaft, Fabrik usw.). Jetzt wird die Schule voll in die allgemeinen Bedingungen des sozialen Konflikts hineinprojiziert. Nur sind sich die Schülerinnen und Schüler (und die Lehrkräfte) dieser Realität nicht unbedingt bewusst und in sie eingebunden, obwohl sie de facto projiziert wird. In der Praxis erfüllt die Schule sehr spezifische Funktionen, die zunehmend an die produktiven Realitäten angepasst werden. 1) Qualifizierung. Die Funktion, qualifizierte Arbeitskräfte zu produzieren, ist stark zurückgegangen, da das Produktionssystem nicht mehr auf vertikale Spezialisierungen angewiesen ist, die sich durch hohe Qualifikationen und geringe Anpassungsfähigkeit auszeichnen, sondern im Gegenteil auf horizontale Spezialisierungen mit Menschen, die eine Vielzahl von Dingen beherrschen, über geringe Qualifikationen verfügen und daher eine größere Bereitschaft haben, sich an wechselnde Arbeitsplätze anzupassen oder sogar ein langes Leben zu führen, indem sie einfach nach Arbeit suchen. 2) Unbestimmtheit der Lehrinhalte. Grundsätzlich sind die kulturellen Inhalte der Qualifizierung immer verfügbar und angesichts des beträchtlichen wissenschaftlichen Fortschritts gibt es auf allen Ebenen sehr zugängliche Instrumente für die Vermittlung dieser Inhalte (z. B. Lehrbücher, audiovisuelle Medien, Computer, Filme, Aufnahmen usw.). Es ist nur so, dass die Übertragung nicht stattfindet und wenn doch, dann nur teilweise. Der allgemeine Kontext ist nicht anregend. Die Lehrkräfte wiederum sind nicht ausreichend qualifiziert. Außerdem stellen sie fest, dass es für ihre Bemühungen keine betrieblichen Absatzmärkte gibt. Dadurch verringert sich auch der minimale Aufwand für die Vermittlung dieser kulturellen Inhalte, die ebenfalls zur Verfügung stehen würden. Das Ergebnis ist eine allgemeine kulturelle Verarmung der Schule, die dem Bedürfnis des Kapitals entspricht, eine Masse von Ausgeschlossenen mit weniger verfügbaren kulturellen Inhalten aufzubauen. 3) Demokratische Mentalität. Dies ist eine „neue“ Funktion des Bildungssystems. Ein Mensch, der flexibel, anpassungsfähig und mobil ist, kann nicht autoritär erzogen werden. Er muss von klein auf lernen, sich zu beteiligen. Daher die weite Verbreitung von Vollversammlungsprozessen und das Verschwinden der alten autoritären und begriffsstutzigen Auffassung. 4) Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems. Sie besteht in dem Versuch, die zukünftigen Arbeitskräfte präventiv auf die Sektoren zu lenken, in denen das Risiko der Arbeitslosigkeit am geringsten ist. Dabei geht es nicht so sehr darum, auf „geschlossene Zahlen“ in Fakultäten oder Gymnasien zurückzugreifen, sondern einfach darum, eine andere Ideologie und eine veränderte Werteskala in Bezug auf die traditionellen Unterteilungen der menschlichen Tätigkeit zu entwickeln. 5) Sozialer Schutz. Schulen reduzieren Spannungen und soziale Konflikte, indem sie den potenziellen zukünftigen Druck auf das Beschäftigungsniveau innerhalb einer Institution, die damit zu einer Art Parkplatz wird, aufhalten. 6) Einen Konsens herstellen. Die Schule wendet verschiedene Verfahren an, um dies zu erreichen. Einige sind „objektiver“ Natur, d.h. sie werden einfach durchgeführt, weil die Schulpflicht bis zu einem bestimmten Alter eingeführt wurde (was, wie wir gesehen haben, erhebliche Vorteile für das Kapital mit sich bringt). Andere sind absichtlich und geplant. Letztere sind: (a) positive Bewertung des kapitalistischen Kulturmodells durch die Überarbeitung der Konzepte von Sparen, Arbeit, Eigentum, Familie, Gott, Staat usw; b) die Akzeptanz des ökonomischen Gesellschaftsmodells, wonach die beste Lösung immer diejenige ist, die mit dem geringsten Aufwand das maximale Ergebnis erzielt; c) Hindernis für „abweichendes“ Verhalten, aber mit Rückgriff auf Diskussion und Kritik und unter weitestgehender Vermeidung brutaler Unterdrückung; d) Akzeptanz (Kritik) des hierarchischen Modells, da die Hierarchie existiert, weil sie die beste Lösung für das Problem des sozialen Funktionierens ist. Sie wird also nicht aufgezwungen, sondern nur kritisch akzeptiert (was viel effektiver ist); e) Bau einer Brücke zwischen dem ökonomischen System und dem Schulsystem, die sicherstellt, dass die Aktivitäten der Schule besser auf die Anforderungen der Produktionssituation im Allgemeinen abgestimmt sind; f) Vermittlung der brennendsten sozialen Probleme („Terrorismus“, Mafia, Drogen usw.) innerhalb der Schule, damit sie hier eine geeignete „Behandlung“ erfahren, um zu Elementen ideologischer Einheitlichkeit und damit eines gesellschaftlichen Konsenses zu werden; g) Bereitstellung einer allgemeinen Anpassungsfähigkeit, die es den zukünftigen Arbeitskräften ermöglicht, auch unter Bedingungen tiefgreifender Veränderungen in der Arbeitswelt zu überleben. Verlust der Sprache Zu den Projekten der Macht gehört die Reduzierung der Sprache als vielfältiges und kreatives Mittel der Kommunikation. Als Sprache müssen wir hier die Gesamtheit aller Ausdrucksmittel betrachten und insbesondere diejenigen, die die Manifestation komplexer Konzepte sowohl in Bezug auf Objekte als auch auf Gefühle ermöglichen. Diese Reduzierung ist für die Macht notwendig, denn bei dem Projekt, Kontrolle langsam durch bloße Repression zu ersetzen, spielt der Konsens eine grundlegende Rolle, und es kann keinen unmittelbaren und einheitlichen Konsens geben, wenn es eine weit verbreitete Kreativität gibt. Das alte revolutionäre Problem der Propaganda hat sich in den letzten Jahren stark verändert und die Grenzen eines Realismus aufgezeigt, der auf dem Anspruch beruhte, den Ausgebeuteten die Verzerrungen der Welt deutlich vor Augen zu führen und sie so zu einem Bewusstsein zu befähigen. Bleiben wir in der historischen Sphäre des Anarchismus, so haben wir den wirklich außergewöhnlichen Fall von Malatestas literarischer Fähigkeit, die auf einer für seine Zeit fast beispiellosen Essenz der Schriftsprache beruht. Malatesta setzte nicht auf rhetorische Effekte oder die Konstruktion von Schlagwörtern, sondern auf die elementare Logik von Schlussfolgerungen, die von einfachen Anhaltspunkten ausgingen, auf dem gesunden Menschenverstand beruhten und zu komplexen Schlussfolgerungen führten, die so für den Leser verständlicher waren. Auf einer ganz anderen sprachlichen Seite agierte stattdessen Galleani, der viel mehr auf rhetorische Konstruktionen und die Suche nach einer musikalischen Satzstruktur setzte sowie auf die Verwendung von Wörtern, die zu seiner Zeit bereits beiseite gelegt worden waren und die er wieder in Gebrauch nahm, alles mit dem Ziel, eine sprachliche Atmosphäre zu schaffen, die seiner Meinung nach die Geister zur Aktion bewegen konnte. Beide sind heute nicht mehr als Beispiele für revolutionäre Sprache geeignet. Malatesta, weil es immer weniger zu „beweisen“ gibt, Galleani, weil es immer weniger zu „bewegen“ gibt. Vielleicht lassen sich die Vorbilder der revolutionären Literatur am besten in Frankreich erkennen, sowohl wegen der großen spezifischen Tradition, die mit der italienischen, spanischen oder englischen nicht zu vergleichen ist, als auch wegen des besonderen Geistes der Sprache und Kultur dieses Volkes. Bleibt man in derselben Epoche wie die zitierten italienischen Beispiele, so sind Faure, Grave und Armand wegen ihrer Klarheit und anschaulichen Darstellung hervorzuheben, während Libertad und Zo d’Axa wegen ihrer expositorischen und in gewisser Hinsicht auch rhetorischen Forschung hervorstechen. Vergessen wir nicht, dass es in Frankreich bereits das Beispiel von Proudhon gab, dessen Stil in der Akademie selbst Zustimmung und sogar Begeisterung hervorgerufen hatte, und später das von Faure, der als eine Art Fortsetzer dieser großen Schule angesehen werden sollte, zusammen mit dem methodischen und asphyktischen21 Grave, einem Autodidakten und begeisterten Schüler von Kropotkin, dessen Französisch nicht schlecht war, sondern gerade deshalb, weil es, wie das von Bakunin, das Französisch eines Russen war. Über die sprachlichen, literarischen und journalistischen Experimente von Libertad, Zo d’Axa und anderen, die idealerweise an den Vorläufer Cœurderoy anknüpfen, könnte man lange sprechen, aber obwohl sie eines der besten Beispiele für revolutionären Journalismus darstellen, sind selbst sie heute in der Art und Weise, wie sie realisiert wurden, undenkbar. Tatsache ist, dass sich die Realität verändert hat, während die Revolutionäre ihre Sprache weiterhin auf die gleiche Weise produzieren, sogar noch schlimmer. Um den Verfall zu berechnen, muss man nur ein Flugblatt von Zo d’Axa „En dehors“, mit Daumiers großer Zeichnung auf der einen und Zo d’Axas Schrift auf der anderen Seite, mit einigen versteinerten Flugblättern von heute vergleichen, was ein solcher Vergleich auch wert sein mag. Aber hier ist es nicht einmal mehr ein Versteinerungsproblem. Nicht nur unsere privilegierten Gesprächspartner verlieren die Sprache, sondern auch wir verlieren sie, und da wir uns zwangsläufig an einem gemeinsamen Treffpunkt begegnen müssen, wenn wir kommunizieren wollen, ist der Verlust nicht rekuperierbar22. Der Prozess der allgemeinen Abflachung betrifft alle Sprachen, da er die Heterogenität des Ausdrucks auf die Einheitlichkeit des Mediums zurückführt, um sie zu ermöglichen. Der Mechanismus ist mehr oder weniger der folgende und kann mit dem Fernsehen veranschaulicht werden. Das quantitative Wachstum von Daten (Nachrichten) führt dazu, dass immer weniger Zeit für die Übermittlung von Bildern und Worten zur Verfügung steht. Dies führt zu einer fortschreitenden und spontanen Auswahl von Bildern und Wörtern, so dass einerseits diese an sich heterogenen Elemente essentialisiert werden und andererseits die Datenmenge wächst. Die ersehnte Klarheit, über die Generationen von Revolutionären, die den Menschen die Realität erklären wollten, nachgeweint haben, wurde schließlich auf die einzig mögliche Art und Weise erreicht, nämlich nicht dadurch, dass man die Realität klar macht (was unmöglich ist), sondern dadurch, dass man die Klarheit real macht, d.h. dass man eine von der Technologie konstruierte Realität als wirklich existierend betrachtet. Dies geschieht mit allen sprachlichen Ausdrücken und beinhaltet auch die verzweifelten Versuche, die menschliche Kreativität durch das privilegierte Tor der Kunst zu retten, die es schafft, immer weniger Möglichkeiten durchzulassen, die zudem auf dieser Ebene an zwei Fronten kämpfen müssen: gegen den Sog der Abflachung, der Gleichförmigkeit als kreativ erscheinen lässt, und gegen den entgegengesetzten Sog, der aber denselben Ursprung hat, des Marktes und der Zitate. Meine alten Thesen zur arte povera und Kunst als Zerstörung liegen mir immer mehr am Herzen. Nehmen wir ein klärendes Beispiel. Jede Sprache hat als Werkzeug immer mehrere Möglichkeiten der Verwendung. Wir können auch sagen, dass sie dazu dienen kann, einen Code zu übermitteln, der einen Konsens bestätigt oder perfektioniert, oder eine Übertretung zu schaffen. Die Musik bildet da keine Ausnahme, denn sie hat ihre eigenen Probleme und findet den Weg der Transgression schwieriger. (Je leichter die Übertretung scheint, desto weiter ist man davon entfernt, sie zu verwirklichen). Nun, Rock ist eine Musik der Rekuperation und hat dazu beigetragen, einen großen Teil der revolutionären Energien der 1970er Jahre auszulöschen. Das Gleiche geschah seinerzeit mit der musikalischen Innovation der Wagnerzeit, so Nietzsches bemerkenswerte Erkenntnis. Man bedenke jedoch, welch großer thematischer und kultureller und damit auch technischer und sozialer Unterschied zwischen diesen beiden musikalischen Produktionen besteht, die beide auf denselben rekuperativen Zweck ausgerichtet sind. Wagner musste einen gewaltigen kulturellen Rahmen und eine tiefgreifende Verzerrung des sprachlichen Instruments konstruieren, um die revolutionäre Jugend seiner Zeit zu fesseln. Heute hat der Rock dieselbe Aufgabe übernommen, und zwar in einem viel größeren Maßstab und mit einem kulturellen Aufwand, der im Vergleich dazu sogar lächerlich ist. Die Massifizierung der Musik hat die Arbeit der Rekuperation und des Katalogisierens begünstigt. Man kann also sagen, dass die reduktive Aktion in zweierlei Hinsicht wirkt: erstens im Sinne des Instruments, das einem Prozess der Vereinfachung und Entschlackung unterworfen wird, und zweitens im Sinne seiner Verwendung, die standardisiert wird und Effekte hervorbringt, die immer auf einen von allen oder fast allen akzeptierten Durchschnitt zurückzuführen sind. Dies geschieht in der sogenannten Literatur (Poesie, Belletristik, Theater) und auch in dem engen Mikrokosmos, der die revolutionäre Tätigkeit der Untersuchung sozialer Probleme darstellt. Egal, ob sie in Form von Artikeln in den Zeitungen der Bewegung oder in Form von Flugblättern, Pamphleten, Aufsätzen mit einem gewissen Tiefgang oder Büchern veröffentlicht werden, die damit verbundenen Risiken sind ziemlich ähnlich. Der Revolutionär ist auch ein Kind seiner Zeit und benutzt die Werkzeuge seiner Zeit. Die Möglichkeit, die aktuellen Bedingungen der Gesellschaft und der produktiven Formation im Wasserzeichen zu lesen, hat abgenommen, sowohl weil es viel weniger an die Oberfläche zu bringen gibt als auch weil es weniger Interpretationswerkzeuge gibt. In einer Gesellschaft, die extrem in verschiedene Klassen polarisiert war, bestand die Aufgabe der Gegeninformation darin, die Realität der Ausbeutung ans Licht zu bringen, an deren Verschleierung die Macht ein Interesse hatte, also auch die Mechanismen der Ausbeutung des produktiven Mehrwerts, die repressiven Machenschaften, die autoritären Verzerrungen des Staates und so weiter. In einer Gesellschaft, die immer mehr zur demokratischen Verwaltung und zur computerisierten Produktion tendiert, wird das Kapital gerade deshalb lesbarer, weil es weniger wichtig ist, es zu lesen, weniger wichtig, seine Ausbeutungsmethoden zu entdecken, oder zumindest weniger wichtig, diese massive Umwälzung von Meinungen und Aktionen zu fördern. Die heutige Gesellschaft muss mit kulturellen Instrumenten gelesen werden, die nicht nur Interpretationen unbekannter Tatsachen liefern, die so an die Oberfläche geholt werden, sondern auch unbewusste Konflikte, die weit entfernt sind vom alten und sehr sichtbaren Klassenwiderspruch. Damit soll verhindert werden, dass wir durch die Umkehrung von Lebensweisen in eine vereinfachende Ablehnung hineingezogen werden, die nicht in der Lage ist, die Mechanismen der Rekuperation, Konsensbildung und Integration zu beurteilen. Mehr noch als die Dokumentationen brauchen wir jetzt eine aktive Beteiligung, auch durch das Schreiben, an dem, was ein Gesamtprojekt sein muss. Wir können nicht einfach nur anprangern, sondern müssen analysieren, indem wir die Analysen in ein präzises Projekt einordnen, das im Zuge der Analyse selbst verstanden werden kann. Dokumentation oder Denunziation sind nicht mehr akzeptabel, mehr ist nötig, solange wir die /Zunge23 haben um zu sprechen und solange sie uns nicht abgeschnitten wird. Diese neue Interaktion zwischen Ausdrucksform und Projekt macht die Stärke der Verwendung des sprachlichen Instruments aus, stößt aber auch an ihre Grenzen, wenn die Sprache sich selbst verarmen lässt, indem sie die reduktionistischen Absichten, die von der Macht erforscht und angewandt werden, aufnimmt und sich zu eigen macht. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass in Schriften, die revolutionäre Probleme klären sollen, eine losgelöste Objektivierung stattfindet. Der sprachliche Ausdruck hat als Instrument immer eine soziale Dimension, die im Stil zusammengefasst wird, der nicht nur „der Mensch“ ist, wie Buffon es ausdrückte, sondern „der Mensch in einer bestimmten Gesellschaft“, wie es genauer zu sagen ist. Und es ist der Stil, der das zugegebenermaßen schwierige Problem löst, zusammen mit jenem Minimum an unverzichtbarem Inhalt, den sogenannten Sachdaten, die Einbeziehung in ein Projekt zu gewährleisten. Wenn dieses Projekt lebendig und den Bedingungen des Konflikts angemessen ist, kann der Stil belebt werden, aber wenn der Stil nicht geeignet ist oder sich in einem illusorischen Traum von Objektivität verliert, läuft selbst das angemessenste Projekt Gefahr, verloren zu gehen. Unsere Sprache muss daher Formen haben, die in der Lage sind, unseren revolutionären Inhalt zu tragen, die eine provokative Eigendynamik haben, die in der Lage sind, die gewohnten Kommunikationswege zu verletzen und umzustoßen, die es verstehen, die Realität, die uns am Herzen liegt, darzustellen, ohne sich in Schleier zu hüllen, die von versteckten und schwer zu erfassenden Logiken auferlegt werden. Projekt und Sprache, die zur Veranschaulichung verwendet werden, müssen sich im Stil treffen, und hier müssen sie sich gegenseitig anerkennen. Heute sind wir uns dessen bewusst, dass das Instrument einen erheblichen Teil des Inhalts ausmacht, auch wenn wir nicht bis zum Äußersten gehen wie in dieser These. Wir müssen uns um diese Prozesse kümmern und dürfen uns nicht von einer neuen praktisch orientierten Ideologie überwältigen lassen, die uns suggeriert, dass das Wegwerfbare wichtig ist und kein Zusammenhang zwischen Projekt und Stil besteht. Die anhaltende, allgemeine sprachliche Verarmung spiegelt sich also auch in dem kommunikativen Werkzeug wider, das wir als Revolutionäre nutzen können. Erstens, weil wir als Männer und Frauen unserer Zeit an den reduktiven kulturellen Prozessen teilnehmen, die sie kennzeichnen. Wir verlieren Werkzeuge, wie wir sie alle verlieren, wir verkümmern andere, und lassen wiederum andere verarmen. Das ist normal, auch wenn wir uns um bessere Ergebnisse bemühen sollten und mehr Widerstand gegen reduktive Projekte leisten können. Diese Verringerung der stilistischen Möglichkeiten ist eine Folge der inhaltlichen Verarmung, aber sie kann auch zu einer weiteren Verarmung führen, da sie den wesentlichen Teil des Projekts nicht zum Ausdruck bringt, der an die Ausdrucksform gebunden bleibt, da er nicht anders objektiviert werden kann. Es ist also nicht das „Genre“, das den Inhalt rettet, sondern in erster Linie die Art und Weise, wie dieser Inhalt Gestalt annimmt. Jemand denkt sich im Rahmen seiner eigenen Fähigkeiten von vornherein ein Ausdrucksschema aus und wird dieses Schema nie los, sondern tut so, als ob er alle Inhalte, die er bekommen kann, in dieses Schema hineinfiltert, und denkt, dass dieses Schema „seine Art ist, sich auszudrücken“, als ob er ein lahmes Bein oder dunkle Augen hätte. Aber so ist es nicht. Früher oder später muss er sich aus diesem Gefängnis befreien, wie jeder andere auch, wenn er dem, was er mitteilt, Leben einhauchen will. Manche wählen, um ein Beispiel zu nennen, den ironischen Schnitt24, um die innere Dringlichkeit zu vermitteln. Gut, aber Ironie hat von Natur aus, d.h. um ironisch zu sein und deshalb zu gefallen, die Leichtigkeit, den Tanz, den Witz, die anspielende Metapher. Sie kann nicht als System gewählt werden, denn dann verfällt sie in Wiederholung und wird pathetisch wie die satirischen Beilagen in Zeitungen, wie die Strips, von denen man erst wissen muss, wie die Geschichte ausgeht, sonst kann man sie gar nicht verstehen, wie Kasernenwitze. Ähnlich verhält es sich mit der Anziehungskraft der Realität, dem Bemühen, sie durch Kommunikation sichtbar und greifbar zu machen. Ausgehend von der Annahme, dass es keinen unmittelbaren Genuss von etwas geben kann, das der Realität nicht ähnelt, wird sie schließlich süßlich, unrealisierbar, verliert sich in einem ständigen Bedürfnis nach materiellen Beweisen und verliert jene Begrifflichkeit, die der wahren Kommunikation zugrunde liegt. Ein Klischee aus dem Museum des alltäglichen Unsinns besagt, dass man nicht weiß, was man sagen soll, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Das ist nicht wahr. Der Kommunikationsfluss ist nicht unidirektional, sondern multidirektional, d.h. wir kommunizieren nicht nur, sondern empfangen auch Kommunikation. Und das gleiche Problem, das wir bei der Kommunikation mit anderen haben, haben wir auch beim Empfangen von anderen. Auch beim Empfangen gibt es ein Stilproblem, gleiche Schwierigkeiten, gleiche Illusionen. Wenn wir uns auf die geschriebene Sprache beschränken, z. B. wenn wir einen Artikel in einer unserer Zeitungen lesen, können wir auch die Art und Weise rekonstruieren, in der der Autor dieses Artikels die Mitteilungen, die von außen an ihn herangetragen werden, empfängt; der Stil muss zwangsläufig derselbe sein, wir können dieselben Lesarten, dieselben Fehler und dieselben Kurzschlüsse erkennen. Denn diese Begebenheiten und Einschränkungen sind nicht nur Elemente des Stils, sondern auch wesentliche Bestandteile seiner Gestaltung, der angewandten Methode und seines Lebens selbst. Wir können gut erkennen, dass die Fähigkeit, die Artikulationen eines revolutionären Projekts zu erfassen, das notwendigerweise sowohl die eingehenden Kommunikationen als auch die Tatsachen transzendieren muss, umso bescheidener ist, je ärmer und repetitiver die eingehenden Kommunikationen sind, wie sehr sie auch direkt aus der Realität der Tatsachen stammen mögen. Was in Worten und leider auch in Fakten herauskommt, ist eine Annäherung, eine Ungewissheit, eine Elementarität von Ideen, die sowohl der Komplexität der Intuitionen und Erkenntnisse des Gegners als auch unserer eigenen revolutionären Intentionalität Unrecht tun. Wäre es anders, wäre der sozialistische Realismus die einzig mögliche Lösung gewesen, mit einer guten Arbeiterklasse, die immer bereit ist, sich zu mobilisieren, wie die guten rumänischen Bergarbeiter, um Iliescus25 neue Ordnung wiederherzustellen. Verlust der Kultur Über den Kulturbegriff gäbe es viel zu diskutieren, von der allgemein humanistischen Sichtweise, die früher vertreten wurde, bis hin zu einem moderneren Konzept, das auf der zentralen Bedeutung der Wissenschaften beruht. Für uns ist Kultur etwas anderes, obwohl wir nicht sagen können, dass sie etwas ganz anderes ist. Sie ist ein Produkt der Realität, in der wir leben, der Summe des Wissens, der Verfügbarkeit von Werkzeugen, aber sie ist auch ein wesentlicher Teil von jedem von uns, bis zu dem Punkt, dass sie ein Element des Lebens und der Möglichkeit ist, etwas zu begreifen, das im Leben Gefahr läuft, in Monotonie und Wiederholung zu versinken. Es gibt also eine passive und eine aktive Art, seine Beziehung zu dem heterogenen kulturellen System zu leben, das wir durchlaufen und von dem wir ständig durchdrungen werden. Wir können seine Auswirkungen genießen, uns wie Ton formen lassen und als dressierte Papageien dastehen, die auf den Schrott starren, den die universellen Wissenszentren (die nicht einmal mehr in Technik und Humanismus unterteilt sind) anbieten. Aber aus einer anderen Perspektive können wir uns aktiv der Eroberung dieses Wissens widmen, ohne es in all seinen verrückten Variationen zu verfolgen, aber auch ohne es zu zerlegen, um es zu einem Brei für Säuglinge zu verarbeiten. Dieses geheimnisvolle kulturelle Universum, das wir in einer von der Geschichte der Macht geprägten Wirklichkeit vor uns haben, ist zweifellos das Ergebnis der Aktivitäten der Macht selbst, Instrument und Produkt zugleich, Ursache und Wirkung, niemals trennbare Elemente einer kontinuierlichen menschlichen Schöpfung. Aber der Mensch ist auch dieses Ding hier, dieses historische Produkt der Macht, das zurückgeschält, befreit werden muss, und das kann nicht geschehen, indem man ein schönes, aber totes Simulakrum der libertären Ideologie an die Oberfläche holt, einen Menschen, der abstrakt frei, unbefleckt und rein ist und daher keine Kultur als Lebensmöglichkeit braucht. Der revolutionäre Instinkt der Sauberkeit, vor allem der Zerstörung, ist sicherlich eine der wesentlichen Komponenten der transformierenden Aktion der Realität, aber er kann nicht an sich als Hüter und Träger der nackten Wahrheit betrachtet werden, das wäre eine triviale, aber auch widerwärtige Vereinfachung. Die Realität ist immer komplexer, als man sie sich vorstellen kann, und das gilt nicht nur für die gegenwärtigen, unter Ausbeutung liegenden Bedingungen, sondern auch für die zukünftigen, endgültig befreiten. Die entblößte Natürlichkeit ist auch eine kulturelle Inszenierung, die leider tragisch ideologisiert ist und die folkloristischsten und ungerechtfertigtesten Extremismen, die auf der Illusion eines persönlichen und endgültigen Kontakts mit der Natur basieren, zum Opfer fällt. Die Realität ihrerseits ist immer von Schleiern umhüllt, die wir entdecken, interpretieren und zerreißen müssen, die wir aber nicht ignorieren können. Die Kultur verwaltet diese Schleier, natürlich auf ihre eigene Art und Weise und für ihre eigenen Interessen, indem sie sich mit der Verwaltung der verantwortlichen Macht verkörpert, aber sie verschließt sich nicht nur in dieser Verwaltung, sie ist selbst, als Kultur, ein Moment des Lebens, ein Aspekt des Werdens, der werdenden Aktion. Die Wiederaneignung von Kultur ist also ein vielschichtiger Prozess mit unterschiedlichen Anreizen und Hindernissen. Sie mit einer simplen Reduktion auf das Offensichtliche gleichzusetzen, erscheint mir gefährlich, denn das Offensichtliche, das extrem Einfache, ist gerade die Komponente mit dem höchsten ideologischen Gehalt, man denke nur an die Werbung, die Sprache der Sportzeitungen, die Konventionen und ihre massenhaft produzierten Phrasen. Die Anarchisten und Anarchistinnen, die innerhalb ihrer Bewegung schon immer verschiedene Komponenten hatten, die bewusst darauf ausgerichtet waren, diese Unruhen zu provozieren, haben in den letzten Jahrzehnten, von Ausnahmen abgesehen, ebenfalls einen starken Rückgang der Kreativität erlitten. Es gab einmal eine Zeit, in der mit Ausnahme der anarchosyndikalistischen Komponente, die zwangsläufig an die Module der Wiederholbarkeit gebunden war, andere Komponenten eine erstklassige Kultur hervorbrachten, die vielleicht sofort von den fortgeschritteneren Komponenten der Macht aufgegriffen wurde; heute, zumindest nach dem „Achtundsechziger“-Phänomen und seiner relativen Rekuperation, kann man sagen, dass eher ein Festhalten an kulturellen Modellen vorherrscht, die von der Akademie bereitgestellt und entsprechend ausgelöscht und angepasst wurden. Durch Überladung wurde und wird dieser Anpassungsprozess auf die billige Art und Weise durchgeführt, d.h. indem diese akademischen Inhalte im Namen eines unangebrachten revolutionären Essentialismus vom technischen Teil befreit werden, begleitet von einer Verachtung für die Schwierigkeiten dieser Inhalte, die unsere allgemeine Unwissenheit verdeckt. Wie viel Unsinn wurde zum Beispiel schon über Musik gesagt. Dass Musik ein Teil der Kultur ist, steht außer Frage, dass uns dieser Teil systematisch genommen wird, auch, aber dass sie nur „Freizeitbeschäftigung“ und nicht „kreativ“ ist oder dass sie „nie den Anspruch hatte, eine ernsthafte Sache zu sein“, halte ich für Ungeheuerlichkeiten. Musik ist Kultur und hat daher das Recht, mit all ihren Beschränkungen, die ihr durch die Verwaltung der Macht auferlegt werden, Teil der menschlichen Möglichkeiten zur Befreiung zu sein. Man muss sehen, wie man es angeht, aber das ist ein anderes Thema. Ich muss leider zugeben, dass dies sicherlich nicht der Weg für einen kritischen Ansatz ist, der zu revolutionären Durchbrüchen führen kann. Indem wir richtige Aussagen inmitten von anderen widersprüchlichen und oberflächlichen Aussagen machen, geben wir denen die Hand, die uns diese kulturellen Werkzeuge wegnehmen wollen. Und aus dieser Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Musik und Mathematik (zum Beispiel). Wir werden von einer Pseudokultur belagert, das stimmt, Ballast, mit dem wir gefüttert werden, damit wir wahnwitzige Überlebensbedingungen akzeptieren, aber das bedeutet nicht, dass alles zu dieser unverdaulichen Scheiße geworden ist. Und diese Invasion wird zu einer Lawine, wenn sie die Form von Informationen, von Fakten annimmt. Berge von Informationen türmen sich vor uns auf, wir werden von Eruptionen und Flutwellen von Papier, Bildern und Werbung überwältigt. Geräusche, Rhythmen, Moden und Aufzeichnungen häufen sich auf lästige Weise. Wir werden dazu gedrängt, zu akzeptieren, zu empfangen, zu beobachten und uns mit einer Zwangsneurose zu bewegen, die uns beeinflusst und in uns stagniert. Es geht nicht einmal mehr darum, von einer kritischen Herrschaft über dieses beängstigende kulturelle Universum zu träumen, das durch das Aufkommen der Telematik in Sachen Herrschaft perfektioniert wird. Aber wir können auch nicht alles über Bord werfen und von einer Unschuld träumen, die nie von dieser Welt war, von einer Rückkehr zur Natur, in der, wenn es einen Lärm gibt, es nicht der des Regimes ist, sondern nur der des Waldorchesters. Das ist Unsinn. Die Erstickung, die wir spüren, kann uns nicht dazu bringen, Unsinn zu sagen (und zu tun). Der Mensch ist heute mehr denn je in eine komplexe kulturelle Situation eingetaucht, die verstanden werden muss, wenn sie verändert werden soll. Der Gedanke, dass wir auf sie verzichten können, indem wir sie einfach austreiben oder abstrakte Verurteilungen aussprechen, ist kein geeignetes Mittel für die revolutionäre Aktion. Die gute Technik Die grundlegende Logik, oder besser gesagt der gesunde Menschenverstand, sagt, dass man die richtigen Mittel braucht, um etwas zu tun. Deshalb lese ich zufällig, dass Gefährtinnen und Gefährten, die wie ich nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Dringlichkeit des Angriffs und der Zerstörung telematischer Netzwerke teilen, der Meinung sind, dass wir als ersten Schritt, um alles andere anzugreifen, „das Computerwissen in die Hand nehmen“ müssen. Ich stimme dieser kognitiven Prämisse in dem Sinne zu, dass Wissen immer, oder fast immer, eine gute Sache ist, solange wir uns darüber im Klaren sind, was wir lernen und wie wir es nutzen können, und es vermeiden, in die jetzt aufgestellten Fallen zu tappen, die uns nur lernen lassen, was unsere Feinde wollen und nicht, was wir wollen. Das Problem ist schwierig, aber es lässt sich auf einfache Weise schematisieren, indem man von der sogenannten Grenze der „guten“ Technologie ausgeht. Fast alle ökologischen Thesen beruhen auf einer angeblichen Lösung dieses Problems und auf einer ebenso angeblichen Identifizierung dieser Grenze. Solange man diese Perspektive beibehält, ist der Einsatz von weniger schädlichen Technologien sicherlich möglich und niemand würde auf die Idee kommen, eine Rückkehr in die Steinzeit vorzuschlagen. Aber Technologie ist nicht gleich Technologie, und es gibt einen großen Unterschied zwischen den Technologien, die auf die Entwicklung der Kernenergie abzielen, und denen, die auf die Implementierung des Telematiknetzes abzielen, das sich jetzt sehr schnell entwickelt. Der Sektor der Nuklearproduktion ist ein Hochrisikosektor und stellt eine Gefahr für die Sicherheit aller dar. Daher berührt er Interessen, die in gewissen Grenzen sozial gegensätzliche Schichten, Ausgegrenzte und Eingeschlossene, sensibilisieren können. Die Angst vor einem totalen Krieg hat letztlich zu einer anderen Weltordnung geführt, die sich auf Teilkriege und eine schrittweise Reduzierung des Atomwaffenarsenals stützt. Wir haben es hier mit einem Interesse zu tun, das auf beiden Seiten der Klassenbarrikade verstanden wird, auch wenn es gegensätzlich ist. Der Sektor der telematischen Produktion ist sicherlich auch ein Risikosektor, und zwar deshalb, weil er die Ordnung der Welt, wie wir sie kennen, stört, aber es ist ein Risiko, das die Eingeschlossenen nach und nach beseitigen, indem sie die Ausgeschlossenen von sich ablösen und so eine andere Interpretation der Interessen vorschlagen, die angesichts der Verbreitung telematischer Mittel geschützt werden müssen. Mit anderen Worten: die Folgen, von denen wir gleich sprechen werden, werden nicht für alle gleich sein – wie im Fall des Atomtods -, sondern von den Eingeschlossenen wahrgenommen und kontrolliert werden, während sie für die Ausgeschlossenen unbekannt, daher unkontrollierbar und daher tödlich sein werden. Was die Atomkraft im Grunde in einer sozialen Mischform vereinte, trennt die Telematik, indem sie eine Mauer hochzieht, die eine viel starrere Einteilung in Klassen ermöglicht als die, die wir historisch kennen. Aber was könnten diese Konsequenzen sein? Viele fragen sich, was mit Informationstechnologie und Computern los ist, warum dieser Neo-Luddismus? Ist das nicht etwas Veraltetes? Riskieren ihre Befürworter in ihrer heiligen Wut nicht, sogar die gute Technologie zu untergraben, die wir nach der Revolution nutzen können, ja die wir heute nutzen müssen, um gegen den Klassenfeind zu kämpfen? Das sind Fragen, die beantwortet werden müssen. Die Telematik hat eine neue Welt eröffnet, aber es ist eine Welt, die, um verwaltet und genutzt werden zu können, technologisch gesehen, eine erhebliche Einschränkung der derzeitigen menschlichen Möglichkeiten in Bezug auf Intelligenz, analytische Fähigkeiten, Selbstbewusstsein, individuelle Autonomie, Reflexion und Planung erfordert. Keine Technologie ist an sich gut, man muss sehen, wie man sie einsetzt; aber diese Technologie ist an sich schlecht, nicht aus dem Grund, dass die Atomtechnologie schlecht war und ist (schlecht für alle), sondern weil die telematische Technologie nur für die Ausgeschlossenen schlecht ist. Denn während jede Technologie, auch die aus der Kernkraft, eine multiplikative Prothese menschlicher Fähigkeiten darstellt, ist die Telematik im Gegenteil eine reduktive Prothese derselben Fähigkeit. Wenn sich die Telematik bis zur Welteroberung ausbreiten soll, muss sie die Menschen in ihrem Gebrauch schulen. Da sie den Einzelnen nicht auf seiner Ebene erreichen kann, auch nicht auf der des gesunden Menschenverstandes, muss sie ihn auf seine eigene Ebene herablassen, die der Maschine. Der neue Mensch, den die Telematik massenhaft und für den massiven Bedarf einer Ersatztechnologie herstellen will, ist ein Mensch mit wenig Intelligenz, wenig Kommunikationsfähigkeit, reduzierten phantasievollen und kreativen Möglichkeiten, aber sehr hohen Fähigkeiten in Bezug auf Mobilität, Reflexe und Entscheidungsfindung zwischen verschiedenen Elementen, die jedoch in einem präzisen, vorher festgelegten Rahmen angegeben werden. Um dies zu erreichen, strebt das Projekt der Telematik eine tiefgreifende Veränderung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit an. Wenn wir nun ein wenig über die grundlegende Bedeutung nachdenken, die diese Fähigkeiten für uns haben, wird uns klar, welch dramatische Situation in einem sozialen Kontext entstehen würde, in dem dieses Projekt unbemerkt und völlig unangewendet bleiben würde. Was sie verändern, ohne es zu merken, ist die Beziehung, die schon immer zwischen unserem Körper und der Technologie bestand, eine Beziehung der Prothese, also der Steigerung der Fähigkeiten des Körpers. Es ist sicher, dass eine kurzsichtige Person mit einer Brille besser sieht und durch die richtige Korrektur der Gläser sogar genauso gut sehen kann wie ein Mensch mit guter Sehkraft. Im Gegensatz dazu hat das digitale Bild, das die Telematik liefert, nichts mit der Realität zu tun. Wenn wir ein Haus mit unseren Augen sehen, setzen wir durch die mentalen Prozesse der Wahrnehmung und der Erinnerung ein komplexes System der analogen Rekonstruktion in Gang, das es uns ermöglicht zu behaupten, dass wir vor einem Haus stehen. Wenn wir aber ein Haus auf einem Computerbildschirm sehen, sind es die tausenden von Lichtimpulsen der Maschine, die ein Bild suggerieren, das überhaupt nicht wie ein Haus aussieht; um ein Haus zu sehen, müssen wir dazu erzogen werden, das heißt, wir müssen uns auf die Ebene der Maschine reduzieren. Natürlich sind wir im ersten Moment geneigt, zu rebellieren und das Bild des Hauses „seltsam“ zu finden, aber es geht darum, die Zeit verstreichen zu lassen, ohne zu reagieren. Nach und nach entsteht eine neue Verhaltenskarte in unserem Bewusstsein. Wir reagieren anders auf dieses Bild und es fällt uns schwerer, uns gegen den Gedanken aufzulehnen, dass es wirklich das Bild eines Hauses ist. An diesem Punkt dringt der Computer in uns ein, die Technologie ist nicht länger etwas Äußerliches, die mechanische Hand von immenser Stärke ist eine umgekehrte Prothese, die in unser Gehirn eindringt und uns konditioniert. So sind wir in der Lage, selbst eine lange Bildfolge und sogar eine ganze Fernsehsendung zu akzeptieren und sie fälschlicherweise für eine Wiedergabe der Realität zu halten. Unsere Fernsehkonditionierung wird uns in der Tat keine Rebellion mehr erlauben, im Gegenteil, mit kaum höherer Auflösung wird der integrierte Schaltkreis jeden heute noch wahrnehmbaren Unterschied auslöschen. Die Telematik befasst sich aber nicht nur mit dem Problem des Empfangs (Wahrnehmung), sondern auch mit dem der Übertragung (Sprache). Auch in diesem Sinne muss man sich auf eine Reduzierung einstellen. Durch die Telematiktechnologie findet eine kontinuierliche Auslese des sprachlichen Erbes statt, wobei eine große Anzahl von Wörtern völlig unbrauchbar wird und in Vergessenheit gerät, um durch andere, oft englischsprachige Wörter ersetzt zu werden, die stärker essentialisiert sind. Ein zentrales Problem in der Geschichte des Kampfes gegen den Klassenfeind stellt sich also in diesen Jahren: entscheiden oder nicht entscheiden für einen sofortigen und umfassenden Angriff gegen die Errungenschaften der Telematik? Diese Entscheidung muss getroffen werden, bevor die Entwicklung dieser Technologie uns die Möglichkeit raubt, uns für einen Kampf dagegen zu entscheiden. Es kann sein, dass wir nicht in der Lage sind, innerhalb kurzer Zeit die allgemeinen Auswirkungen der Telematik zu verstehen, und diese Unkenntnis kann sogar parallel zu unserem Wissen über das telematische Medium selbst wachsen, eben weil kein wirkliches Wissen über diese Technologie möglich ist, das nicht selbst stellvertretend ist, d.h. der Akzeptanz von Bedingungen allgemeiner intellektueller Unterwerfung unterliegt. In Bezug auf das Wissen über Computer, das angeblich notwendig ist, um sie zu bekämpfen und zu ihrer Zerstörung beizutragen, gibt es einen unklaren Aspekt, den ich hervorheben möchte. Ich frage mich, was gemeint ist, wenn man sagt, dass man sich „Computerwissen aneignen“ muss. In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Tatsache erinnern, die ich, wenn auch indirekt, selbst erlebt habe. Anfang der 1960er Jahre wurden zwei meiner mathematischen Freunde, beide Assistenten für Statistik an der Universität Catania, durch ein interessantes, von Olivetti subventioniertes und vom Institut für Mathematik der Universität Pisa koordiniertes Angebot angelockt und erklärten sich bereit, an die letztgenannte Fakultät zu wechseln, um am Bau des ersten rein italienischen Computers mitzuwirken. Nach einiger Zeit, ich glaube, ein paar Jahren, traf ich einen der beiden, der mir von seinen traurigen Schicksalsschlägen in Pisa erzählte. Hier war das Gesamtprojekt an einem bestimmten Punkt aufgrund von Schwierigkeiten bei der Lösung einiger komplexerer Algorithmen ins Stocken geraten. Der Leiter des Projekts hatte die geniale Idee, die direkte Lösung der Algorithmen, die viel Zeit und eine Menge mathematische Kreativität erforderte, zu umgehen, indem er eine Anzeige in der „Settimana enigmistica“ schaltete und um die Mitarbeit von Enthusiasten in der Branche bat, die sich gegen ein bescheidenes Entgelt meldeten und die Probleme, wie man sagt, auf indirekte Weise lösten, d.h. mit Hilfe von Tabellen oder Matrizen, die alle Möglichkeiten der binären Logik entwickeln, eine unglaublich lange, aber auch unglaublich dumme Arbeit. Als der Olivetti-Computer der sogenannten ersten Generation fertig war, löste er die oben genannten Algorithmen mühelos selbst. Die traurige Realität in der Elektronik ist, dass abgesehen von den rein technischen Aspekten der Bauteile kaum eine Spur von echten kognitiven Problemen vorhanden ist. Viele Gefährtinnen und Gefährten, vielleicht angelockt durch die lautstarken elektronischen Diebstähle oder die Sabotage durch „Viren“-Programme, stellen sich vor, dass auch sie diese Kunststücke vollbringen können und leiten daraus die Notwendigkeit ab, zu lernen, wie man Programme herstellt und so weiter. Das führt dann zu mehr oder weniger sinnvollen Fantasien über die Gültigkeit von „Lehrgängen“ , die besucht werden müssen, oder Handbüchern, die „studiert“ werden müssen. Meiner Meinung nach unterscheidet sich das Problem nicht von dem, das dazu führt, dass man zu dem Schluss kommt,, obwohl man ihn in der eigenen Küche herstellen kann, dass es besser ist, Sprengstoff zu vermeiden: es ist schneller und weniger gefährlich, ihn zu kaufen und ganz einfach zu lernen, wie man ihn benutzt. Die Sprache der Technik Wir müssen Technologie doppelt kritisch betrachten: erstens, weil sie die Macht im Allgemeinen stützt, indem sie unvorhersehbare künftige Nutzungen ermöglicht, und zweitens, weil sie ein zweites Diskursgebiet eröffnet, das in sich selbst gefaltet werden kann, um sich an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Man kann sagen, dass es keine apologetische Aussage gibt, die nicht eine versteckte kritische Implikation enthält, die ebenso plausibel ist. Ebenso gibt es keine positive kritische Analyse, die die heutigen Fehler aufzeigt, um sie zu korrigieren, ohne eine apologetische Implikation, die umso stärker ist, je mehr sie sich als fähig erweist, die kritischen Überlegungen selbst zu überwinden. Die Vielfalt der Handlungsfelder, in denen Technologie eingesetzt und reproduziert wird und in denen die Denksysteme ausgearbeitet werden, die die zeitgenössischen und ambivalenten Voraussetzungen für ihren Konsum und ihre Produktion schaffen, schafft oft absolut unvorhersehbare Probleme der Interaktion. Der unüberlegte Umgang mit der Nutzung bestimmter Technologien lässt keine Vorhersagen zu, weder positive noch negative. Streng genommen würde sie nicht einmal die negative, also destruktive Forderung rechtfertigen, die wir an sie stellen. Aber die Unwissenheit der anderen, also das einfache Stecken des Kopfes in den Sand, hat uns nicht dazu gebracht, zu glauben, dass passives Warten und Intuition gerechtfertigt sind. Es kann gut sein, dass wir uns irren und dazu beitragen, die geniale Geburt einer glücklichen Zukunft für die Menschheit im Keim zu ersticken oder zu erschweren, aber es sieht nicht so aus, als gäbe es im aktuellen wissenschaftlichen Panorama solche Hinweise, die uns nach einem Wunder schreien lassen. Annäherung und Oberflächlichkeit herrschen vor und werden nur in den kurzlebigen Projekten gemildert, die zunehmend den Platz der alten langfristigen Illusionen einnehmen. Sicherlich haben wissenschaftliche Hypothesen und ihre technologischen Anwendungen die Materie immer verändert und sie den Bedürfnissen des Menschen unterworfen, seinem grundlegenden Wunsch, die Realität seinen eigenen Vorstellungen anzupassen. Dieser „historische“ Verlauf menschlicher Ereignisse entspricht nicht genau dem, was wir als Realität zu bezeichnen gewohnt sind, denn viele technologische und wissenschaftliche Anpassungen der Materie können nicht als positive Ereignisse für den Menschen bezeichnet werden, vom Schießpulver bis zur Atombombe, aber wir können mit Sicherheit von einer gewundenen und oft widersprüchlichen Bewegung sprechen, die darauf abzielt, die Spontaneität der Natur und der Lebensprozesse im Allgemeinen auf die Kontrollierbarkeit und Reproduzierbarkeit der Technologie zu reduzieren. Schließlich ist der Mensch unter den Tieren derjenige, der am wenigsten in der Natur leben kann, einer der wehrlosesten, mit den schwächsten Jungen, aber mit der Fähigkeit, Umweltbedingungen von ungünstig zu günstig zu verändern. Aus diesen Gründen ist der Mensch, wie wir ihn heute kennen, das Produkt einer kurzen geschichtlichen Entwicklung von ein paar tausend Jahren, auch ein Produkt der Technologie. Bis zu diesem Punkt wäre es nicht verkehrt, wenn diese Technik heute auch das einfache Programm hätte, die Realität zu verändern und Prothesen zu schaffen, die dem Menschen zwar nicht unbedingt nützlich sind, aber zumindest von ihm kontrolliert werden können. Natürlich verwandelt jede Prothese den Menschen durch die Vergrößerung seiner begrenzten Möglichkeiten in einen Giganten, der zu Zerstörungen fähig ist, von denen die Titanen nicht einmal zu träumen wagten. Das ist auch insofern richtig, als die Idee der Vervielfältigung der Kraft selbst den Keim der Gefahr in sich birgt, aber da die Prothese immer eine nützliche Sache ist, müssen auch gewisse Risiken in Kauf genommen werden. Und so wird es schon seit Jahrtausenden gemacht. Beängstigende Prothesen, von Bronze zu Eisen, von Stahl zu Raketen, haben sich oft überlagert, ohne Zeit zum Nachdenken zu lassen. Enthusiasmus und Schwachsinn, steriler Widerstand und hoffnungsvolle Verzauberung. Bleibt man bei den Veränderungen der Materie, dann gab es bei der Konstruktion von Prothesen, egal wie groß die Gefahren waren, immer die Möglichkeit, wenn auch nur theoretisch, für Kontrollen zu sorgen, die den menschlichen Leichtsinn eindämmen konnten. All das hat sich mit der Technologie der letzten zwei Jahrzehnte grundlegend verändert. Die Gefährlichkeit hat aus zwei Gründen, die oft missverstanden werden, unerträgliche Grenzen erreicht, so dass jede Kritik an der Technologie entweder in einem generischen Maximalismus endet, der nur versucht, eine unbekannte Gefahr zu bannen, oder in dem Wunsch, etwas zu unterscheiden, das gerade wegen der Unwissenheit, mit der man sich ihm nähert, nicht unterschieden oder gar erkannt werden kann. Der erste dieser Gründe ist die Tatsache, dass die Technik heute nicht nur die Materie verändert, d.h. sie bearbeitet und anders nutzt, sondern in die Materie eindringt und so ihre Zusammensetzung verzerrt. Der zweite Grund ist, dass die verfügbaren Mittel, die durch die Technologie realisiert werden, durch diesen Eintritt in die Materie auf unvorhersehbare Weise verändert werden können, wodurch wissenschaftliche Aspekte, Hypothesen oder einfache technische Erkenntnisse, die zuvor unter Kontrolle gehalten wurden, gefährlich werden. Die Erschaffung neuer Materialien, neuer Lebewesen, einer neuen virtuellen Realität, die als weiterer Schritt der wissenschaftlichen Forschung und ihrer technischen Anwendung betrachtet wird, kann nicht besorgniserregender sein, als es die Erfindungen von chemischen Waffen, Atomreaktoren oder der Wasserstoffbombe waren und sind. Sobald man aber ein bisschen mehr nachhakt, auch ohne auf bestimmte Themen einzugehen, kommt man nicht umhin, überrascht zu sein, dass man vor einer Schwelle steht, die noch nie zuvor überschritten wurde. Veränderungen auf genetischer oder molekularer Ebene, wie z.B. die Verwirklichung einer fantastischen Realität, in der man das volle Gefühl des Seins und Agierens haben kann, ermöglichen die groß angelegte Produktion absolut unbekannter Lebewesen und Materialien sowie die Suggestion von undenkbaren Verhaltensweisen und beschleunigen den Prozess der Loslösung von der Realität, der für das Konsensmanagement so nützlich ist. Viele dieser neuen Produkte – wenn man als Produkt auch die virtuelle Möglichkeit betrachtet, eine nicht existierende Realität zu erleben -, die sich in die Gesamtheit aller anderen Materialien und damit aller anderen Lebewesen und in die Erfahrung der Realität, die wir täglich kennen, einfügen, werden unvorhersehbare Folgen für diejenigen haben, die heute in der Enge der Labore lediglich diese Umwandlungen durchführen, ohne sich über die möglichen Konsequenzen Gedanken zu machen. Die einfache Herstellung einer gigantischen Kuh, eines winzigen Laborpferdes oder einer Maus, die so groß wie ein Pferd ist, kann niemanden außer Science-Fiction-Fans beeindrucken. Dasselbe gilt für die Herstellung von supraleitenden Materialien, die Strom fast verlustfrei übertragen können. Das Gleiche gilt für die Erfahrungen, die sich aus der virtuellen Realität ergeben, die nur die Schwelle zu einer massiven und fesselnden Nutzung des gesamten weltweiten Telematiknetzes darstellt, die zunächst fasziniert, dann schockiert und schließlich den Normen des neuen gesunden Menschenverstands entspricht, der in dem Moment eingeengt und konditioniert wird, in dem er sich im Gewand der größten Freiheit präsentiert, nämlich der, seine Träume konkret zu leben. Niemand kann sagen, wie die Umwelt auf bestimmte Materialien und Lebewesen reagieren wird, niemand kann vorhersagen, wie sich unsere Welt durch unser verändertes Verhalten verändern wird, sobald wir in der Lage sind, mit den uns zur Verfügung stehenden neuen Materialien zu interagieren. Wenn die Technologie der Vergangenheit als komplexes System, das auf den wissenschaftlichen Hypothesen der Forschung und Analyse beruhte, Gefahren darstellte, die innerhalb bestimmter Grenzen begrenzt oder zumindest im Rahmen widersprüchlicher Interessen wechselseitig kontrolliert werden konnten, und wenn sie schließlich als befreiender Traum die verlockende revolutionäre Möglichkeit darstellte, eines Tages ein Instrument der Freiheit für alle zu sein, das die Teilung in Klassen und das Gespenst des Staates abschafft, wenn all dies in vielerlei Hinsicht begründet und plausibel war, dann lag das daran, dass jedes neue Stück des technologischen und wissenschaftlichen Gesamtrahmens innerhalb bestimmter Grenzen vorhersehbar war. Heute, da diese Möglichkeit der Vorhersage fehlt, sowohl für die einzelnen Prothesen, die nun nicht mehr als solche definiert werden können, als auch für die Wechselwirkung, die jede neue technologische Produktion innerhalb des Gesamtensembles der sozialen Formation hat, haben wir endlich erkannt, dass auch die alte Verwaltungsillusion der Kontrolle und Begrenzung lediglich das Produkt einer historischen Epoche war, die nun vorbei ist. Und da wir solche Folgen nicht vorhersehen können, können selbst die harmlosesten Experimente zur unwiederbringlichen Ausbreitung einer beängstigenden Katastrophe beitragen. Das „Ende“ der Krise Zu den verschiedenen Veränderungen, die in den kursierenden Analysen zu erkennen sind, gehört die unterschiedliche Rolle, die der „ökonomischen Krise“, verstanden im weitesten Sinne des Begriffs, zugewiesen wird. In der Vergangenheit, auch in der jüngeren Vergangenheit, war in marxistischen Kreisen viel von einem „objektiven Werden der Krise“ die Rede, auf dem verschiedene strategische und organisatorische Überlegungen beruhten. So wurde nicht nur die Möglichkeit, eine revolutionäre Konfrontation mit dem Klassenfeind zu erlangen, sondern auch die strategische Funktion der revolutionären Partei und die „siegreiche“ Wahl des verallgemeinerten Instruments unter dem Begriff „bewaffneter Kampf“ mit dem angeblich objektiven Verlauf der „Krise“ verknüpft. Das ist nicht mehr der Fall, das wissen wir auch, aber die Gründe, die zu dem jetzigen Zögern geführt haben, sind alles andere als seriöser Natur und verdienen keine weitere Untersuchung, denn sie lassen sich in der Umkehrung der Perspektive zusammenfassen, die aufgrund trivialer Fragen der Geschäftsführung erfolgte. Die Dinge liefen schief (aber hätten sie, ausgehend von dieser Prämisse, besser laufen können?) und so kam man zu dem Schluss, dass die „Funktion“ des objektiven Mechanismus nicht so funktionierte, wie sie sollte. Andere Schlussfolgerungen gehen in Richtung der Leugnung des Mechanismus in einem mit der Umstellung auf kollaborationistische Praktiken, die nur die Tatsache offenbaren, dass die geistige Trägheit von heute mit der von gestern identisch ist, nur dass die von gestern unter dem gnädigen Mantel vorgefertigter Wörter und Konzepte verborgen war. Dass die Marxisten diesen Begriff auch in einem tröstlichen Sinne verwendet haben, ist eine bekannte Tatsache. In konfliktarmen Zeiten, wenn die Herzen lauwarm werden, setzt der deterministische Zug seinen Marsch fort. Die Krise arbeitet an der Stelle der Revolutionäre, sie gräbt sich in das Herz der sozialen und ökonomischen Formation und bereitet den Boden für die Widersprüche der Zukunft (A.d.Ü., vor). Auf diese Weise sieht der Militante, der alles den revolutionären Hoffnungen geopfert hat, nicht, dass ihm der Boden unter den Füßen fehlt, und kämpft weiter, weil er glaubt, einen mächtigen Verbündeten zu haben, der in der Natur der Dinge verborgen ist. In widersprüchlicheren Zeiten, wenn das Niveau des Klassenkampfes steigt, hört der Determinismus auf, d.h. er wird unbrauchbar und wird durch einen opportunistischen Voluntarismus ersetzt, der in der Lage ist (oder hofft), auf den Initiativen der Bewegung, plötzlichen destruktiven Entscheidungen, spontanen organisatorischen Schöpfungen usw. zu reiten. Aber jenseits der betrieblichen Probleme, die die Träumer der überholten Macht vorbringen, geht es um den eigentlichen Kern des Problems. Tatsächlich ist der Verlauf des ökonomischen und sozialen Prozesses als Ganzes, sowohl im Detail der spezifischen Situation als auch in den großen internationalen Polarisierungen als Ganzes, nicht homogen. Es gibt Perioden der Beruhigung, der konstanten Produktivitätsindizes, des größeren internationalen (politischen und ökonomischen) Gleichgewichts; es gibt aber auch Perioden, in denen sich die Widersprüche verschärfen und das ganze System einen kritischen Punkt zu erreichen scheint. Die Ökonomen selbst haben von „Zyklen“ gesprochen, waren sich aber nie einig über deren Identifizierung oder Spezifizierung. Man kann sagen, dass das Kapitel über Zyklen dasjenige ist, das die witzigsten Dinge in dieser ganzen lächerlichen Wissenschaft enthält. Ist es für Kapitalisten möglich, die ökonomische Formation und ihre einzelnen Strukturen in Ordnung zu bringen? Die Antwort ist negativ. Aber diese negative Antwort ist keineswegs diejenige, die zum Eingeständnis der Unvermeidbarkeit von Krisen führt und damit zu der möglichen, friedlichen Erwartung, dass die Dinge – aus sich heraus – zum revolutionären Durchbruch führen werden. Im Gegenteil. Eine solche „revolutionäre“ Theorie hat sich mit der kapitalistischen Planungstheorie (d.h. Long Range Planning, d.h. strategische Langzeitplanung) gepaart. In beiden Fällen wurde derselbe Fehler gemacht. Man betrachtete die ökonomische (und soziale) Formation als ein Ganzes, das wohlgeordneten Gesetzen unterliegt, die von einer präzisen Wissenschaft (der Ökonomie) und ihrer Kammerzofe (der Soziologie) untersucht und hervorgehoben wurden, so dass Revolutionäre (auf der einen Seite) und Kapitalisten (auf der anderen Seite) bestimmte Anhaltspunkte zur Festlegung ihrer langfristigen Strategien ableiten konnten. Heute ist man sich darüber im Klaren, dass es keine Krisen gibt, und zwar nicht, weil die Welt perfekt geordnet ist, sondern im Gegenteil, weil sie absolut ungeordnet ist, weil sie ständig Turbulenzen ausgesetzt ist, die sich verstärken oder abschwächen können, die aber nicht als „Krisen“ bezeichnet werden können, da sie nicht „anomalen“ Situationen entsprechen, sondern, genauer gesagt, der Realität der ökonomischen und sozialen Formation selbst. Für Kapitalisten wurde die langfristige Planung in den frühen 1970er Jahren obsolet. Für Revolutionäre ist der parallele Begriff der „Krise“ noch nicht überholt. Die Verzögerung ist nicht unbedeutend. Es scheint mir sinnvoll, die veränderten Bedingungen der Ökonomie – zumindest auf der mikroökonomischen Ebene – genauer zu betrachten, um die Veränderungen zu verstehen, die in den revolutionären Analysen stattfinden, die auf der „Krise“ basieren, verstanden als ein begrenzendes Konzept, das einen angemesseneren Einsatz der Instrumente des Bruchs ermöglicht. In der Tat besteht kein Zweifel daran, dass ein Großteil der anarchistischen Analyse selbst auf verzögertem Verständnis, unzulässigen Übertragungen und unfreiwilligen Akzeptanzen beruht. Lange Zeit dachten wir, wir könnten die ökonomischen Analysen der marxistischen Kirche nutzen, indem wir sie einfach von bestimmten Prämissen und Schlussfolgerungen befreien. Das hat schon genug Fehler verursacht. Es ist gut, wenn man versucht, das Problem zu lösen. Ich glaube, dass marxistische Überlegungen in keiner Weise verwendet werden können. Außer sie von ihren dialektisch-deterministischen Prämissen zu befreien, was sie in unverdauliche Banalitäten verwandelt. Die Notwendigkeit, die Produktion an Vorhersagen anzupassen, die auf der Grundlage einer nicht existierenden Prämisse (ökonomische Ordnung und ökonomische Gesetze) gemacht wurden, machte die Situation der kapitalistischen Unternehmen, die das wesentliche Element dessen darstellen, was wir „Kapital“ nennen, sehr riskant. Alle Abweichungen von der Vorhersage wurden daher als falsche Elemente betrachtet, die auf die ökonomische Situation zurückgeführt werden sollten. Der dauerhafte und konstante Charakter dieser vermeintlich außergewöhnlichen Ereignisse wurde dabei übersehen. Veränderungen der Nachfrage, oligopolistischer Wettbewerb, Marktverteidigung der Unternehmen, das Niveau der Preise, der Wechselkurse, der Kosten, der Beschäftigungsvorschriften, der Umweltbedingungen – all das konnte nicht länger als „eine Reihe störender Elemente“ betrachtet werden, die den „Gewissheiten“ der Theorie widersprachen, die als einzige zur Interpretation der Realität befugt war. Auf diese Weise sorgte das Kapital auf der strategischen Ebene für Überraschungen. Mit anderen Worten, es war mit ständigen Änderungen der Prognosen konfrontiert, wodurch es immer schwieriger wurde, sich an Veränderungen der ökonomischen Realität anzupassen. So begann sich der Verdacht der möglichen Irrationalität des ökonomischen Verhaltens zu verbreiten – negativ. Das korrigierende Eingreifen des Staates, vor allem Ende der 1970er Jahre, war zweifellos ein Aspekt einer möglichen Erholung, konnte aber allein nicht ausreichen. Nicht zuletzt, weil die staatlichen Anreize wohlüberlegt auf eine Verringerung der negativen Aspekte des „kapitalistischen Wettbewerbs“ abzielten, aber zu sehr auf die institutionellen Bedürfnisse der sozialen Kontrolle ausgerichtet waren. Schließlich ist der Staat ein eigentümliches ökonomisches Unternehmen, das dazu neigt, die gesamte ökonomische (und soziale) Formation auf ein einziges Unternehmen zu reduzieren, das ein einziges Gut produziert: den sozialen Frieden. Das Kapital weiß sehr gut, weil es sich im deformierenden Spiegel der Erfahrungen mit dem Realsozialismus widergespiegelt sieht, dass der Weg zur kapitalistischen Regeneration, der über das Staatskapital führt, für es vielleicht ein noch schlimmeres Übel ist, weil es zwar das Fortbestehen der Herrschaft garantiert, aber die klassischen Aspekte des kapitalistischen Modells zu sehr verzerrt und in den engen Grenzen der institutionellen Kontrollbedürfnisse bändigt. Denn wenn wir genau hinsehen, diente die ganze Phase der Einführung der korrigierenden Variable „Staat“ – eine Phase, die, rein ökonomisch gesehen, in den frühen 1980er Jahren endete – auch dazu, dass der Staat – zumindest in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – das Projekt finanzierte, mit dem die tiefgreifendste technologische Innovation der Geschichte, die elektronische, eingeleitet wurde. Das war in der Tat ein unverzichtbares Element für das Leben mit dem Monster. Die Lösung lag darin, so schnell wie möglich eine maximale Produktionsflexibilität zu erreichen. Die Ökonomen haben hart gearbeitet. Angesichts der Gefahr, nicht aus der „Krise“ herauszukommen, wurden sie aktiv. Zuerst kritisierten sie die neoklassische Theorie des Unternehmens, dann die Managementtheorie. Anfangs versuchte diese Kritik, die Theorie zu einer tieferen Suche nach „Uniformitäten“ zu drängen, um den Unsicherheiten, die durch die extreme Vielfalt der Phänomene entstehen, ein Ende zu setzen. Dann kam die Kritik an der „Krisenkultur“, die als passive Akzeptanz einer anormalen Situation verstanden wurde, von der man annahm, sie sei überwindbar. Die gesamte Zeit der 1970er Jahre war geprägt von ökonomischer Forschung, die darauf abzielte, die mangelnde Gültigkeit von Prognosen, die auf früheren (neoklassischen oder betriebswirtschaftlichen) ökonomischen Theorien beruhten, in einem negativen Sinne zu untersuchen. Mit Beginn der 1980er Jahre wurden schließlich die „Instabilität“ und die relative Komplexität der Phänomene als Strukturen der ökonomischen Formation anerkannt, und die Vorstellung eines Nebeneinanders widerstreitender Kräfte und Interessen, innerhalb derer eine Ordnung geschaffen werden könnte, wurde endgültig ad acta gelegt. Ökonomen sprechen heute eindeutig von „Nicht-Regulierbarkeit“. Eine gegebene Situation – kurzfristig, wenn nicht sogar sehr kurzfristig – wird für das Unternehmen nur verständlich, wenn man die ökonomische Realität als ein Ganzes ohne Zentren und Ordnungsfähigkeit betrachtet, als eine Vielzahl von Kräften, die auf Entscheidungen einwirken, die sich nicht immer auf die abstrakten Kanons der „Rationalität“ zurückführen lassen. Die ökonomische Theorie hat auf dieses Problem eine klare Antwort gegeben. Das kapitalistische Unternehmen kann mit dieser Situation nur umgehen, wenn es seine Flexibilität maximiert. Das ist keine „neue“ Situation, sondern eine „neue“ Art, die Realität zu sehen. Das Unternehmen muss flexibel sein in seinen Entscheidungen, in seiner Produktionsorganisation und in seiner Anpassung an den allgemeinen ökonomischen Wandel. So werden Unternehmen dezentralisiert, Produktionsprozesse sind nicht mehr festgelegt, „Anomalien“ werden zur Regel, das Chaos wird in den beruhigenden Kanon des „ökonomischen Gesetzes“ zurückgebracht. In Wirklichkeit ist das Chaos das gleiche geblieben, nur die Art und Weise, wie es betrachtet wird, hat sich geändert. Der Kapitalist lernt, das Monster zu reiten. Seit jeher ist er ein Mann mit wenigen Skrupeln und dem Mut eines Piraten. Heute wird er es noch mehr. Vorbei sind die Priester der Ökonomie, die ihm tröstende Wiegenlieder sangen. Wenn er überleben will, muss er das Messer zwischen seine Zähne nehmen. Raub und Gewalt sind zunehmend die Waffen der kurz- und mittelfristigen Zukunft. Große Planungsperspektiven – oft gefolgt von sozialem Gezänk – werden beiseite geschoben. Die ökonomische Theorie der Vergangenheit kommt zu einem schlechten Ende. Das neoklassische Modell, das von einem rationalen ökonomischen Kalkül der Akteure ausging, die dann auf dem Markt aufeinandertrafen und dort ihr Gleichgewicht erreichten, wird auf den Prüfstand gestellt. Dasselbe gilt für die Managementtheorie, die sich ausschließlich auf die organisatorische Stabilität des Unternehmens und seine Planbarkeit stützte. Diese Überbleibsel der Vergangenheit werden durch das Konzept „Versuch und Irrtum“ ersetzt, ein Konzept, das aus der Kybernetik übernommen wurde. Diese Versuche sind natürlich nur möglich, wenn das Unternehmen sehr flexibel geworden ist und wenn es diese Versuche selbst ausreichend kontrollieren kann, und zwar nicht a priori (was sich auch als hypothetisch erwiesen hat), sondern a posteriori, um die verschiedenen Versuche wirksam zu machen. Diese Thesen legten auch die Annahmen der „begrenzten Rationalität“ beiseite, die die Managementtheorie in den 1970er Jahren prägten. Die neue Situation wirft eindeutig das Problem auf, wie sich das Unternehmen angesichts der Unmöglichkeit, externe Variablen und einige der gleichen internen Variablen zu kontrollieren, selbst regulieren muss. Gerade die „politischen“ Komponenten des Unternehmens, die Technostruktur im Sinne der amerikanischen „linken“ Ökonomen der 1960er Jahre, werden zu Elementen der Unsicherheit. Auf der Seite der Makroanalyse – insbesondere des Staates und seines Einflusses auf die Ökonomie – verlieren die Annahmen von vor ein paar Jahrzehnten ihre Bestimmtheit. Auf der Seite der Mikro-Analyse verlieren die einzelnen Unternehmen ihre strategische Planungskapazität. Die neue Realität ist also gekennzeichnet durch den Einzug externer Instabilität in das Unternehmen, das Ende der Stabilität der Beziehungen zwischen verschiedenen Unternehmen, die Veränderung der Regulierungsfunktion des Staates (stärkere Betonung des Aspekts der einfachen Konsensbildung), das Ende der Stabilität der Organisationsverfahren innerhalb des Unternehmens und die Überwindung des Konzepts der kapitalistischen Akkumulation und des quantitativen Wachstums der Produktion. Die neuen Methoden beruhen alle im Wesentlichen auf der Schnelligkeit der Entscheidungsfindung, der Flexibilität des produktiven Wandels und der erheblichen Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren. Auf diese Weise verändert sich die unternehmerische Prägung des Unternehmens grundlegend. Die Wissenschaft der ökonomischen Entscheidungen verschwindet, an ihre Stelle tritt eine Praxis (oder, wenn man es vorzieht, eine Kunst) der empirischen, eklektischen, agilen und schamlosen Entscheidungsfindung, die auf dem unmittelbaren Profit und der sehr kurzen Frist basiert. Die Ökonomen entwickeln die „Kontingenztheorie“, eine Theorie der Kontingenz, die das Unternehmen von innen heraus an unwiederholbare externe Situationen bindet. Man kann Prognosen, die auf Gesetzen beruhen, nicht einer ökonomischen Berechnung unterziehen, sondern nur kurzfristige Orientierungen bewerten, die auf empirischen Überlegungen beruhen und das Ergebnis der jüngsten Erfahrungen sind, die nichts mit langfristigen Gesetzen zu tun haben. Die Träume des Neokapitalismus fallen für immer. Mit ihnen fällt – oder beginnt dessen Niedergang und endgültiger Untergang – das große Geschäft. Wir sind uns bewusst, dass die analytischen Kategorien, die aus der Perspektive einer starren Organisation entwickelt wurden, uns daran hindern, die ökonomische Realität in ihrem realen Aspekt zu betrachten und somit eine angemessene produktive Aktion verhindern. Um diese Veränderungen zu verstehen, ist es notwendig, unsere Aufmerksamkeit auf einige wesentliche Elemente der bisherigen ökonomischen Analyse zu richten. Zum Beispiel der Produktlebenszyklus, die Kostenreduktionskurve als Funktion der Erfahrung mit einzelnen Produktionsprozessen, Konzentrationsindizes (für einzelne Unternehmen und für oligopolistische Branchengruppen), die Unternehmensgröße, die These, dass kleine Unternehmen den rückständigen Teil der Ökonomie darstellen, die Antriebsfunktion staatlicher Investitionen, das Vorhandensein technologisch fortgeschrittener Investitionskerne, die in der Lage sind, die gesamte Ökonomie eines Gebiets mitzureißen: Das sind eine Reihe klassischer Punkte des traditionellen Ansatzes. Diese fallen nach und nach alle weg. Die Schlussfolgerung ist, dass keine allgemeine Theorie möglich ist, sondern nur Annäherungen, die die Kontraste zwischen der äußeren Realität und dem Unternehmen abmildern. Aus diesem Schmelztiegel geht das „neue Unternehmen“ hervor. Es ist nicht mehr zentralisiert und hat nicht die Absicht, als Bezugspunkt zu dienen, um – in seiner eigenen Struktur – die Funktionen und Interessen zu polarisieren, die außerhalb liegen. Einst waren Forschung, periphere Produktion, kommerzieller Vertrieb, die staatliche Nachfrage (die im Laufe der Zeit stetig wachsen musste), die Suche nach Rohstoffen, die Ausbreitung des Eigentums über das Territorium, das Wachstum der politischen Macht usw. Planungselemente, die mit der „zentralen“ Position des Unternehmens verbunden waren. Jetzt wächst das Unternehmen nicht mehr zu immer größerer Größe heran und sieht sich nicht mehr als kompakte Einheit. Es wächst weiter, aber auf eine andere Art und Weise. Es ist wichtig, dieses Konzept zu verstehen. Das „neue Wachstum“ basiert ausschließlich auf den Beziehungen, die das Unternehmen mit der Außenwelt hat. So entstehen Vereinbarungen, Projekte, eine gemeinsame Sprache und Code-Harmonien. Nicht nur mit anderen Unternehmen (ohne Grenzen), sondern auch mit der Umwelt als Ganzes, mit dem Staat (ja, mit Staaten) sowie mit Zentren für Spitzentechnologie und wissenschaftliche Forschung. Dieses neue System (Japan war bis vor kurzem Vorreiter, weit vor den USA) verwandelt sich von einem geschlossenen System in eine System-Situation oder, wie es genannt wurde, in ein „System-Land“. Die System-Situation bietet die Technologie, die Professionalität der Arbeit, die Dienstleistungen, die Möglichkeiten zur Überwindung und Verbesserung der rechtlichen Infrastruktur, die Themen, das soziale und ideologische Verhalten. Mit einem Wort, es bietet die passende Umgebung. Nicht das objektive Umfeld, das existiert und auf das sich das traditionelle Unternehmen bezog, indem es versuchte, es auf seine eigenen Ordnungsbedürfnisse zu reduzieren, sondern ein überarbeitetes Umfeld, das für das neue Konzept der Unternehmensentwicklung geeignet ist. Dieses Konzept muss beachtet werden, wenn man von der Fragmentierung des Unternehmens spricht. Man atomisiert nicht eine physische Situation, sondern eine Gesamtsituation. Ermöglicht wurde dies natürlich vor allem durch die Verfügbarkeit neuer elektronischer Technologien, die die Grenzen des Raums und die damit verbundene Grenze der Zeit aufgehoben haben. Ein modernes Unternehmen, das in Echtzeit arbeitet, braucht keine Lager und keine starren Lieferprognosen mehr, es braucht keine Produktionsanlagen, die über einen langen Zeitraum hinweg unveränderlich sind, und es braucht auch keine großen finanziellen Investitionen, um die notwendigen Änderungen an den Produktionslinien vorzunehmen. Seine Flexibilität ist so groß, dass sie exponentiell wächst, vor allem nachdem das Hauptproblem der Arbeit gelöst wurde und die Geister der sozialen Kämpfe, die dieser Knoten mit sich brachte, beiseite geschoben wurden. Der multinationale Konzern, wie wir ihn in den vergangenen Jahren kennengelernt haben, hat sich ebenfalls verändert. Man hat nicht mehr den großen autarken Koloss. Es gibt kein Zentrum mehr, das seine eigene strategische Entwicklung auch den Staaten aufzwingen kann. Das neue multinationale Unternehmen ist an die Umwelt gebunden, mit der es interagiert, indem es versucht, die äußeren Bedingungen zu seinen Gunsten zu verändern. Es beherrscht nicht mehr die technologischen Kreisläufe und kontrolliert nicht mehr die Märkte. Kein einzelnes Unternehmen, egal wie groß es ist, kann heute die Entwicklung von Technologien kontrollieren und selbst entscheiden, ob es sie einsetzt oder nicht. Das multinationale Unternehmen wird tendenziell zu einem supranationalen kollektiven Unternehmen, das sich in eine Reihe von komplementären Unternehmen verwandelt, die intern durch die Produktionsbedingungen der Technologie und die individuell begrenzten Ausbeutungskapazitäten gebunden sind. Was wir – wenn auch in groben Zügen – beschrieben haben, kann nicht uninteressant für revolutionäre anarchistische Gefährten und Gefährtinnen sein. Wenn das „Ende“ der Krise es dem Kapitalismus ermöglicht, zu überleben, indem er sich an die ökonomische Realität anpasst, die als Chaos verstanden wird, ist es nicht mehr möglich, mit friedlichem Herzen zu warten. Aus demselben Grund, aus dem wir nicht mehr von Planung, Vorhersehbarkeit und ökonomischen Gesetzen sprechen können, können wir auch nicht von „Krise“ als einer Situation sprechen, die wir zu unseren Gunsten wenden können. Wir können uns den Klassenkampf auch nicht als einen Kampf mit wechselnden Phasen vorstellen. Zugegeben, dieser Konflikt ist im Laufe der Zeit nicht konstant, da Momente größerer und geringerer Intensität nur allzu deutlich zu erkennen sind, aber es handelt sich um qualitative und quantitative Veränderungen, die nicht deterministisch auf einfachen ökonomischen Stress zurückgeführt werden können. Dem Klassenkampf liegt ein riesiges Geflecht von sozialen und ökonomischen Beziehungen zugrunde. Keine Analyse kann uns einen sicheren Weg geben, um Erwartungen und Legitimationen von Verhalten zu messen. Die Zeit ist immer reif für einen Angriff, auch wenn die Folgen natürlich sehr unterschiedlich sein können. In diesem Sinne sollten wir über eine mögliche revolutionäre Organisation nachdenken, die in der Lage ist, besser auf die Realität des Klassenkampfes zu reagieren. Die Organisationsstruktur der Vergangenheit – von der Partei bis zur föderierten Gruppe, von der Gewerkschaft/Syndikat bis zu den Räten – entsprach mehr oder weniger genau einer Vorstellung von der ökonomischen Realität, die das kapitalistische Unternehmen im Zentrum sah, eine Konzentration von Macht und Ausbeutungskapazität. Im Gegensatz dazu wurde eine ebenso (oder etwas weniger) monolithische Struktur (Gewerkschaft/Syndikat, Partei, Föderation von Gruppen usw.) für notwendig erachtet. Heute hat sich nicht nur die produktive Realität verändert (was in mancher Hinsicht gar nicht mehr in Frage kommt, vor allem nach der fortgeschrittenen technologischen Veredelung), sondern auch die Art und Weise, wie diese Realität betrachtet wird. Selbst in der Vergangenheit, als die Menschen auf die Ewigkeit der ökonomischen Gesetze schworen, war die produktive Realität chaotisch und bestrafte systematisch diejenigen, die sich ihr deterministisch näherten. Vielleicht lassen sich die Begriffe „Konjunktur“ und „Krise“ auf diese kollektiven Bestrafungen zurückführen. Eine andere Organisationsstruktur, die weitgehend studiert und umgesetzt, aber sicher nicht von Grund auf neu entdeckt werden muss. Diese Aufgabe scheint uns vorrangig zu sein. Alle Versuche, die Leichen vergangener Organisationsprozesse (in erster Linie natürlich die Leiche der „revolutionären“ bewaffneten Partei) wieder zum Leben zu erwecken, sollten erklären, wie man mit einer ökonomischen (und sozialen) Realität umgeht, die heute immer mehr im Sinne von Unbestimmtheit und schon gar nicht im Sinne von starren ökonomischen Gesetzen lesbar wird. Jedes Mal, wenn diese Erklärung versucht wird, jedes Mal, wenn wir von einem revolutionären Organisationsvorschlag ausgehen, der mit Bildern aus der Vergangenheit verknüpft ist (Parteien, Föderationen von Gruppen, Gewerkschaften/Syndikate usw.), sehen wir, wie die grundlegende Vorstellung der ökonomischen Realität mit der Annahme der Existenz von mehr oder weniger starren Gesetzen verbunden ist. Wenn diese Gesetze als selbstverständlich hingenommen oder zwischen den Zeilen versteckt werden, bleibt der Glaube an das zyklische Konzept der „Krise“ in vollem Umfang erhalten – ein Glaube, der, wie wir wissen, in schwierigen Zeiten sehr nützlich ist, genau wie der andere Glaube, der, der vom Himmelreich spricht. Affinität Bei den anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten gibt es ein ambivalentes Verhältnis zum Problem der Organisation. Die beiden Extreme sind die Akzeptanz einer dauerhaften Struktur, die mit einem genau definierten Programm ausgestattet ist, über (wenn auch wenige) Mittel verfügt und in Kommissionen unterteilt ist, und auf der anderen Seite die Ablehnung jeglicher stabiler und strukturierter Beziehungen, selbst auf kurze Sicht. Die klassischen anarchistischen Föderationen (alte und neue) und die Individualisten bilden die beiden Extreme von etwas, das dennoch versucht, der Realität der Konfrontation zu entkommen. Der Gefährte oder die Gefährtin, der oder die an organisierten Strukturen festhält, hofft, dass aus dem quantitativen Wachstum eine revolutionäre Veränderung der Realität hervorgeht, und gibt sich deshalb der billigen Illusion hin, jede autoritäre Ausweitung der Struktur und jedes Zugeständnis an die Parteilogik zu kontrollieren. Der individualistische Gefährte ist eifersüchtig auf sein eigenes Ich und fürchtet jede Form der Ansteckung, jedes Zugeständnis an andere, jede aktive Zusammenarbeit und betrachtet diese Dinge als Verzicht und Kompromisse. Selbst Gefährten und Gefährtinnen, die sich kritisch mit dem Problem der anarchistischen Organisation auseinandersetzen und eine individualistische Isolation ablehnen, befassen sich oft nur mit dem Problem der klassischen Organisation und tun sich schwer, an alternative Formen stabiler Beziehungen zu denken. Die Basisgruppe wird als unverzichtbares Element der spezifischen Organisation angesehen und der Zusammenschluss zwischen Gruppen auf der Grundlage ideologischer Klärung wird zu ihrer natürlichen Folge. Die Organisation entsteht also vor den Kämpfen und passt sich schließlich an die Perspektive einer bestimmten Art von Kampf an, die – so wird zumindest angenommen – die Organisation selbst wachsen lässt. Auf diese Weise erweist sich die Struktur als stellvertretende Form gegenüber den repressiven Entscheidungen der Macht, die aus verschiedenen Gründen den Schauplatz der Klassenkonfrontation beherrscht. Der Widerstand und die Selbstorganisation der Ausgebeuteten werden als molekulare Elemente gesehen, die hier und da erfasst werden können, die aber erst dann bedeutsam werden, wenn sie Teil der spezifischen Struktur werden oder sich unter der (mehr oder weniger erklärten) Führung der spezifischen Struktur zu Massenorganismen konditionieren lassen. Auf diese Weise bleibt man immer in einer Warteposition. Wir sind alle wie auf Bewährung (A.d.Ü., auf „halber“ Freiheit). Wir hinterfragen das Verhalten der Macht und sind bereit, auf die Unterdrückung, die uns widerfährt, zu reagieren (immer innerhalb der Grenzen des Möglichen). Nur selten ergreifen wir die Initiative, werden selbst aktiv und kehren die Logik der Verlierer um. Diejenigen, die sich in strukturierten Organisationen wiedererkennen, warten auf ein unwahrscheinliches quantitatives Wachstum. Diejenigen, die innerhalb von Massenstrukturen arbeiten (z.B. in der anarchosyndikalistischen Sichtweise), erwarten, dass sie von den kleinen defensiven Ergebnissen von heute in das große revolutionäre Ergebnis von morgen übergehen werden. Diejenigen, die dies leugnen, erwarten das Gleiche, ohne zu wissen, was, oft in einem Groll gegen alles und jeden gefangen, sicher in ihren eigenen Ideen, ohne zu erkennen, dass diese nichts anderes sind als die leere negative Implikation der organisatorischen und programmatischen Aussagen anderer. Stattdessen scheint es uns, dass andere Dinge getan werden können. Wir gehen von der Überlegung aus, dass man Kontakte zwischen Gefährten und Gefährtinnen herstellen muss, um zur Aktion überzugehen. Allein ist man nicht in der Lage zu agieren, außer sich auf einen platonischen Protest zu reduzieren, so blutig und schrecklich wie man will, aber immer noch platonisch. Wenn man einschneidend auf die Realität agieren will, muss man viele sein. Auf welcher Grundlage soll man andere Gefährten und Gefährtinnen finden? Was bleibt übrig, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass die Programme und Plattformen von vornherein und ein für alle Mal festgelegt wurden? Die Affinität bleibt. Unter anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten gibt es Affinitäten und Differenzen. Ich spreche hier nicht von charakterlichen oder persönlichen Affinitäten, also von jenen Gefühlsaspekten, die Gefährten oft miteinander verbinden (vor allem Liebe, Freundschaft, Sympathie usw.). Ich spreche von einer Vertiefung des gegenseitigen Wissens. Je mehr diese Vertiefung wächst, desto größer kann die Affinität werden, andernfalls können die Unterschiede so offensichtlich werden, dass ein gemeinsames Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unmöglich ist. Die Lösung bleibt einem tiefen gemeinsamen Wissen anvertraut, das durch detaillierte Planung der verschiedenen Probleme, die die Realität der Klassenkämpfe aufwirft, entwickelt werden muss. Es gibt eine ganze Reihe von Problemen, die in der Regel nicht in ihrer Gesamtheit erklärt werden. Wir beschränken uns oft auf die nächstgelegenen Probleme, weil sie uns am meisten betreffen (Unterdrückung, Gefängnisse usw.). Aber gerade in der Fähigkeit, tiefer in das Problem einzudringen, das wir angehen wollen, liegt das geeignetste Mittel, um die Bedingungen für eine gemeinsame Affinität festzulegen, die sicherlich nicht absolut oder total sein muss (außer in sehr seltenen Fällen), aber ausreichen kann, um handlungsfähige (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) Beziehungen herzustellen. Wenn wir unsere Interventionen auf die offensichtlichsten und oberflächlichsten Aspekte dessen beschränken, was wir als unmittelbare und wesentliche Probleme betrachten, werden wir nie in der Lage sein, die Affinitäten zu entdecken, die uns interessieren, und wir werden immer der Gnade plötzlicher und unerwarteter Widersprüche ausgeliefert sein, die jedes Projekt der Intervention in die Realität zunichte machen können. Ich bestehe darauf, dass wir Affinität und Gefühl nicht verwechseln dürfen. Es mag Gefährten und Gefährtinnen geben, mit denen wir uns verbunden fühlen, die uns aber nicht sehr sympathisch sind, und umgekehrt gibt es Gefährten und Gefährtinnen, mit denen wir keine Affinität teilen, die aber aus verschiedenen anderen Gründen unsere Sympathie haben. Man darf sich in seinem Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unter anderem nicht von falschen Problemen, wie dem der vermeintlichen Unterscheidung zwischen Gefühlen und politischen Beweggründen, behindern lassen. Aus dem vorher Gesagten könnte man schließen, dass Gefühle etwas sind, das von politischen Analysen getrennt werden muss, so dass wir zum Beispiel eine Person lieben können, die unsere Ideen überhaupt nicht teilt, und umgekehrt. Das ist im Prinzip möglich, auch wenn es noch so verletzend ist. In das Konzept der Vertiefung der Probleme, das weiter oben zum Ausdruck kam, muss jedoch auch der persönliche Aspekt (oder, wenn man es vorzieht, die Gefühle) einbezogen werden, denn wenn wir uns instinktiv unseren Impulsen unterwerfen, mangelt es uns oft an Reflexion und Analyse, da wir nicht zugeben können, dass wir einfach vom Gott des Exzesses und der Zerstörung besessen sind. Aus dem Gesagten ergibt sich, wenn auch nebulös, eine erste Annäherung an unsere Vorstellung von einer anarchistischen Gruppe: eine Ansammlung von Gefährtinnen und Gefährten, die durch gemeinsame Affinität verbunden sind. Je tiefer das Projekt ist, das diese Gefährten und Gefährtinnen gemeinsam aufbauen, desto größer ist ihre Affinität. Daraus folgt, dass echte Organisation, die effektive (und nicht fiktive) Fähigkeit, gemeinsam zu agieren, d.h. zueinander zu finden, analytisch zu studieren und zur Aktion überzugehen, mit der erreichten Affinität zusammenhängt und nichts mit Akronymen, Programmen, Plattformen, Fahnen und getarnten Parteien zu tun hat. Die Affinitätsgruppe ist also eine spezifische Organisation, die sich um gemeinsame Affinitäten versammelt. Diese sind vielleicht nicht für jeden identisch, aber die verschiedenen Gefährten und Gefährtinnen werden unendliche Schattierungen von Affinität haben, die umso vielfältiger sind, je größer die Anstrengung der analytischen Vertiefung ist, die erreicht wurde. Daraus folgt, dass die Menge dieser Gefährten und Gefährtinnen auch eine Tendenz zum quantitativen Wachstum haben wird, aber begrenzt und nicht der einzige Zweck der Aktivität. Die zahlenmäßige Entwicklung ist für das Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unerlässlich und ist auch ein Beweis für die Breite der durchgeführten Analyse und ihre Fähigkeit, nach und nach Affinitäten mit einer größeren Anzahl von Gefährten und Gefährtinnen zu entdecken. Daraus folgt, dass sich der so geschaffene Organismus irgendwann selbst gemeinsame Interventionsmittel gibt. Erstens ist es ein Diskussionsinstrument, das für eine gründliche Analyse notwendig ist und möglichst viele Hinweise auf eine breite Palette von Problemen geben kann, und gleichzeitig ein Bezugspunkt für die Überprüfung – auf persönlicher oder kollektiver Ebene – der Affinitäten oder Divergenzen, die nach und nach entstehen werden. Abschließend muss gesagt werden, dass das Element, das eine solche Gruppe zusammenhält, zweifelsohne die Affinität ist, aber ihre treibende Kraft ist die Aktion. Wenn man sich auf das erste Element beschränkt und den zweiten Aspekt unterbewertet, trocknet jede Beziehung in byzantinischem Perfektionismus aus. Informelle Organisation Unterscheiden wir zunächst zwischen der spezifischen informellen anarchistischen Organisation und der spezifischen synthetischen anarchistischen Organisation. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich hingegen bemerkenswerte Klarstellungen. Was ist eine offensichtlich anarchistische spezifische Syntheseorganisation? Es handelt sich um eine Organisationsstruktur, die auf Gruppen oder Einzelpersonen basiert, die in mehr oder weniger ständiger Beziehung zueinander stehen, und die ihren Höhepunkt in regelmäßigen Kongressen hat. In diesen öffentlichen Vollversammlungen werden grundlegende theoretische Analysen besprochen, ein Programm analysiert und Aufgaben verteilt, die die ganze Bandbreite der Interventionen im sozialen Bereich abdecken. Diese Organisation ist daher ein Bezugspunkt, ein Pol, der in der Lage ist, die Kämpfe, die in der Realität der Klassenkonfrontation stattfinden, zu bündeln. Die verschiedenen Kommissionen dieses Organisationsmodells greifen in die Kämpfe ein (als einzelne Gefährtinnen und Gefährten, die sie bilden, oder als Gruppen) und leisten durch ihr Eingreifen ihren Beitrag, ohne jedoch die theoretische und praktische Ausrichtung aus den Augen zu verlieren, die die Organisation als Ganzes auf dem vorherigen Kongress beschlossen hat. Wenn sich diese Art von Organisation in ihrer vollen Stärke entwickelt (wie es 1936 in Spanien geschah), beginnt sie auf gefährliche Weise einer Partei zu ähneln. Die Synthese wird zur Kontrolle. In Momenten der Müdigkeit fällt diese Rückbildung natürlich kaum auf und mag sogar wie Blasphemie erscheinen, aber zu anderen Zeiten ist sie deutlicher sichtbar. Im Wesentlichen wird bei der Organisation der Synthese (die immer spezifisch und anarchistisch ist) ein Kern von Spezialisten vorausgesetzt, die Vorschläge auf theoretischer und ideologischer Ebene formulieren und sie so weit wie möglich an das auf dem Kongress beschlossene allgemeine Programm anpassen. Abweichungen von diesem Programm können auch bemerkenswert sein (schließlich würden Anarchisten und Anarchistinnen eine zu sklavische (A.d.Ü., wortgetreu, wortwörtlich) Anpassung nicht zulassen), aber wenn sie auftreten, wird darauf geachtet, sie kurz gesagt, wieder in die Normalität der zuvor beschlossenen Linie zurückzuführen. Das Interventionsprojekt dieser Organisation besteht daher darin, in den verschiedenen Realitäten präsent zu sein: Antimilitarismus, Atomkraft, Gewerkschaften/Syndikate, Gefängnisse, Ökologie, Interventionen in der Nachbarschaft, Arbeitslosigkeit, Schulen, etc. Diese Präsenz äußert sich in direkten, d.h. direkt organisierten Interventionen oder in der Teilnahme an Interventionen, die von anderen Gefährtinnen und Gefährten oder anderen Organisationen (anarchistisch oder nicht) durchgeführt werden. Daraus lässt sich ableiten, dass der Zweck der Beteiligung darin besteht, den Kampf in das Projekt der Synthese einzubringen. Er kann nicht autonom sein, er kann sich nicht wirklich an die Bedingungen des Kampfes anpassen, er kann nicht wirklich auf einer klaren Ebene mit den anderen revolutionären Kräften zusammenarbeiten, wenn nicht durch den ideologischen Filter der Synthese, wenn nicht durch die Bedingungen, die durch das auf dem Kongress verabschiedete Projekt auferlegt werden. Diese Situation, die ohnehin nicht immer so starr ist, wie es hier den Anschein hat, bringt die unauslöschliche Tendenz der Syntheseorganisationen mit sich, das Niveau der Kämpfe zu senken, indem sie Vorsichtsmaßnahmen und Mittel vorschlagen, die darauf abzielen, jede Flucht nach vorn, jede Wahl von zu ungedeckten Zielen, jeden Einsatz von zu gefährlichen Mitteln zu reduzieren. Lasst uns ein Beispiel nehmen. Wenn eine Gruppe, die zu dieser Art von Organisation gehört (die zwar eine Synthese darstellt, aber dennoch spezifisch und anarchistisch ist), sich einer Kampfstruktur anschließt, z.B. gegen die Repression, ist sie gezwungen, die von dieser Struktur vorgeschlagenen Aktionen im Lichte der Analysen zu bewerten, die zuvor erstellt und mehr oder weniger auf dem Kongress angenommen wurden. Daraus folgt, dass sich die Struktur des Kampfes an diese Analysen anpassen muss, sonst wird die Gruppe, die Teil der Syntheseorganisation ist, ihre Zusammenarbeit unterbrechen (wenn sie eine Minderheit darstellt) oder den Ausschluss derjenigen erzwingen (faktisch, wenn auch nicht mit einem präzisen Antrag), die andere Methoden des Kampfes vorgeschlagen hatten. So sehr diese politische Realität auch einigen missfallen mag, so ist sie nun einmal. Es stellt sich die Frage, warum der Vorschlag der Gruppe, die Teil der Syntheseorganisation ist, per definitionem immer rückständiger, d.h. rückwärtsgewandter oder vorsichtiger sein muss als andere Vorschläge, was mögliche Aktionen des Angriffs gegen die Strukturen der Unterdrückung und des sozialen Konsenses angeht. Und warum? Die Antwort ist einfach. Die spezifische und anarchistische Syntheseorganisation, die, wie wir gesehen haben, ihr Hauptmoment im periodischen Kongress findet, hat als grundlegendes Ziel das quantitative Wachstum. Als Struktur der Synthese braucht sie eine operative Kraft, die wachsen muss. Nicht ganz unendlich, aber fast. Andernfalls wäre sie nicht in der Lage, in die verschiedenen Realitäten einzugreifen und könnte nicht einmal ihre Hauptaufgabe wahrnehmen, die darin besteht, sie zu einem einzigen Bezugspunkt zusammenzufassen. Jetzt müssen diejenigen, deren primäres Ziel quantitatives Wachstum ist, Interventionsinstrumente einsetzen, die Proselytismus und Pluralismus garantieren können. Bei jedem Problem kann sie keine eindeutige Position einnehmen, die sich oft als ungenießbar für die meisten erweist, sondern muss einen Mittelweg finden, einen politischen Weg, der den wenigsten missfällt und für die meisten akzeptabel ist. Auch hier gilt, dass bei einigen Themen, wie z.B. Repression und Gefängnisse, die richtigste Position oft sehr gefährlich ist, und keine Gruppe kann eine Organisation, der sie angehört, gefährden, ohne sich vorher mit den anderen Gruppen zu einigen. Aber das kann nur auf einem Kongress oder zumindest auf einer Sonderkonferenz geschehen, und jeder weiß, dass sich gerade in diesen Gremien immer die gemäßigtste und sicher nicht die fortschrittlichste Meinung durchsetzt. Die Präsenz der Syntheseorganisation in den realen Kämpfen, den Kämpfen mitten im Klassenkampf, stellt also eine (oft unfreiwillige, aber dennoch kontrollierende) Bremse und Kontrolle dar. Bei der informellen Organisation gibt es diese Probleme nicht. Die Affinitätsgruppen und die Gefähren und Gefährtinnen, die sich in einem Bereich der Projektualität mit informellem Charakter wiedererkennen, sind de facto zusammen und sicher nicht wegen der Einhaltung eines Programms, das auf einem Kongress festgelegt wurde. Das Projekt, in dem sie sich wiedererkennen, wird durch sie selbst, ihre Analysen und ihren Aktionen realisiert. Es mag gelegentlich einen Bezugspunkt in einer Zeitung oder in einer Reihe von Treffen finden, aber das ist nur zur Erleichterung, während es nichts mit Kongressen oder ähnlichen Angelegenheiten zu tun hat. Die Gefährtinnen und Gefährten, die sich mit einer informellen Organisation identifizieren, gehören ihr automatisch an. Sie bleiben mit anderen Gefährtinnen und Gefährten in Kontakt, sei es über die Zeitung oder auf andere Weise, aber noch wichtiger ist, dass sie an den verschiedenen Aktionen, Demonstrationen, Treffen usw. teilnehmen, die von Zeit zu Zeit stattfinden. Der zentrale Punkt der Verifizierung und Vertiefung wird dadurch gegeben, dass wir uns in Momenten des Kampfes sehen, die am Anfang auch einfach Momente der theoretischen Verifizierung sein können und dann zu etwas anderem werden. In einer informellen Organisation gibt es kein Problem der Synthese, es gibt keinen Wunsch, in den verschiedenen Situationen präsent zu sein, geschweige denn, ein Projekt zu formulieren, das die Kämpfe wieder in den Rahmen eines zuvor genehmigten Programms bringt. Der einzige Bezugspunkt ist die insurrektionalistische Methodologie: das heißt, die Selbstorganisation der Kämpfe, die permanente Konfliktualität und der Angriff. Das revolutionäre Projekt Es ist nicht einfach, die verschiedenen Aspekte der revolutionären Intervention zu erfassen. Noch schwieriger ist es, sie alle zusammen in einem Gesamtvorschlag zu erfassen, der seine eigene Logik und eine gültige operative Formulierung hat. Das ist es, was ich unter einem revolutionären Projekt verstehe. Bei der Bestimmung des Feindes verstehen wir uns (fast immer) ausreichend. In die Vagheit der Definition packen wir die Elemente, die uns aus unseren Erfahrungen (Leiden und Freuden), aus unserer sozialen Situation und aus unserer Kultur zufallen. Jeder glaubt, dass er über geeignete Elemente verfügt, um eine Karte des gegnerischen Gebiets zu zeichnen und Ziele und Verantwortlichkeiten festzulegen. Dass die Dinge nicht so sind, ist auch normal. Aber das ist uns egal. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, nehmen wir die entsprechenden Anpassungen vor und gehen weiter. Unklar in der Art und Weise, wie wir vorgehen, unklar in den Dingen, die uns umgeben, beleuchten wir uns nur und ausschließlich mit der armseligen Kerze der Ideologie und gehen so sicher wie unter der Leitung eines Leuchtturms weiter. Die tragische Tatsache ist, dass sich die Dinge um uns herum verändern, oft sehr schnell. Die Bedingungen des Klassenverhältnisses, die sich in der widersprüchlichen Situation ständig erweitern und verengen, werden heute enthüllt, um morgen wieder versteckt zu werden. So tauchen die Gewissheiten von gestern in die Dunkelheit von heute ein. Wer einen konstanten, wenn auch nicht unbeweglichen Richtungspol beibehält, wird nicht für das gehalten, was er eigentlich ist, nämlich ein ehrlicher Navigator im Meer der Klassenverwirrungen, sondern für einen sturen Wiederholer veralteter Schemata und abstrakter ideologischer Metaphern. Diejenigen, die darauf beharren, den Feind hinter der Uniform, hinter der Fabrik, hinter dem Ministerium, hinter der Schule, hinter der Kirche usw. zu sehen, werden verachtet. Die Dinge in ihrer harten Realität werden durch das Abstrakte, die Art des Seins, die Relativität der Positionen ersetzt. Der Staat wird so zu einer Art, die Dinge zu sehen, und nicht zu einer materiellen Tatsache, die aus Menschen und Dingen besteht. Das Ergebnis ist, dass die Ideen des Staates nicht bekämpft werden können, ohne die Menschen und Dinge des Staates anzugreifen. Sie isoliert bekämpfen zu wollen, in der Hoffnung, dass sich die ihnen zugrunde liegende materielle Realität durch ihren Sturz in den kritischen Abgrund der logischen Widersprüche ändert, ist eine tragische idealistische Illusion. Und das ist es, was in Zeiten wie diesen passiert, in denen Kämpfe und operative Vorschläge zurückschlagen. Kein Anarchist und keine Anarchistin würde die positive Funktion des Staates zugeben, um nicht respektlos zu sein. Daraus ergibt sich die logische Schlussfolgerung, dass diese Funktion, wenn sie nicht positiv ist, negativ sein muss, d.h. sie muss jemandem schaden, um jemand anderem zu nützen. Aber der Staat ist nicht (nur) die Idee des Staates, er ist auch das „Ding Staat“, und dieses „Ding“ besteht aus dem Polizisten und dem Polizeigebäude, dem Minister und dem Ministerium (auch dem Gebäude, in dem das Ministerium seinen Sitz hat), dem Priester und der Kirche (auch dem Ort, an dem der Kult des Betrugs und der Lüge stattfindet), dem Banker und der Bank, dem Spekulanten und seinem Büro, bis hin zum einzelnen Spion und seiner mehr oder weniger komfortablen Vorstadtwohnung. Der Staat ist dieses artikulierte Ding, oder er ist nichts: eine eitle Abstraktion, ein theoretisches Modell, das man nicht angreifen und besiegen kann. Natürlich ist der Staat auch in uns und in anderen. Es ist also auch eine Idee. Aber da er eine Idee ist, ist er den physischen Orten und Körpern, die ihn verwirklichen, untergeordnet. Ein Angriff auf die Idee des Staates (auch auf die, die wir in uns tragen, oft ohne uns dessen bewusst zu sein) ist nur möglich, wenn wir gleichzeitig seine historische Materialisierung physisch und zerstörerisch angreifen, d.h. seine Präsenz vor uns in Fleisch und Blut und in Ziegeln und Beton. Aber wie soll man angreifen? Die Zeiten sind hart. Die Menschen verteidigen sich und treffen Vorsichtsmaßnahmen. Auch die Wahl der Angriffsmittel ist einem ähnlichen Missverständnis zum Opfer gefallen. Wir können (und müssen) mit Ideen angreifen, indem wir Kritik gegen Kritik, Logik gegen Logik, Analyse gegen Analyse ausspielen. Aber das wäre eine nutzlose Übung, wenn sie isoliert durchgeführt würde, losgelöst von der direkten Intervention in die Dinge und Menschen des Staates (und natürlich des Kapitals). Wie schon gesagt, greift man nicht nur mit Ideen an, sondern auch mit Waffen. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Sich auf ein ideologisches Gewissen zu beschränken, trägt dazu bei, den Feind mit Elementen zu versorgen. Deshalb muss die theoretische Vertiefung parallel und gleichzeitig mit dem praktischen Angriff erfolgen. Mehr. Gerade beim Angriff wird die Theorie zur Praxis und die Praxis nimmt ihre theoretischen Grundlagen auf. Wenn man sich auf die Theorie beschränkt, bleibt man im Bereich des Idealismus, einer typischen bourgeoisen Philosophie, die seit Hunderten von Jahren die Kassen der herrschenden Klasse und auch die Lager der Vernichter von rechts oder links gefüttert hat. Egal, ob sich dieser Idealismus manchmal als (historischer) Materialismus tarnte, es war immer noch der alte menschenverschlingende Idealismus. Ein libertärer Materialismus muss notwendigerweise die Trennung zwischen Idee und Tatsache überwinden. Wenn der Feind identifiziert ist, muss er getroffen werden, und zwar richtig. Nicht so sehr den optimalen Bewertungen seiner Zerstörung, den Bewertungen des Angreifers, sondern der allgemeinen Situation, die einen nicht zu vernachlässigenden Teil der gegnerischen Verteidigung und Möglichkeiten zur Überwindung und Erhöhung der Gefahr darstellt. Wenn man sie angreift, muss man das tun, indem man einen Teil ihrer Struktur zerstört und damit das Funktionieren des Ganzen erschwert. All dies läuft für sich betrachtet Gefahr, unbedeutend zu bleiben. Das heißt, es gelingt nicht, sie in etwas Reales umzuwandeln. Damit dieser Wandel stattfinden kann, muss der Angriff mit einer kritischen Vertiefung der Ideen des Feindes einhergehen, also jener Ideen, die Teil seines repressiven und unterdrückerischen Handelns (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) sind. Aber diese gegenseitige Umwandlung von praktischer Aktion in theoretische Aktion und von Theorie in Praxis kann nicht als etwas künstlich Aufgesetztes stattfinden. Zum Beispiel im Sinne von jemandem, der, nachdem er eine Aktion durchgeführt hat, seine gute Tat mit einem Bekennerschreiben darauf druckt. Die Ideen des Feindes werden auf diese Weise nicht kritisiert und auch nicht vertieft. Sie kristallisieren sich im ideologischen Prozess heraus und werden als massiver Gegensatz zu den Ideen des Angreifers gesehen, die ebenfalls in etwas massiv Ideologisches verwandelt werden. Ich glaube, nur wenige Dinge sind mir so verhasst wie diese Art der Vorgehensweise. Gibt es sonst noch etwas zu tun? Der Ort, an dem die Theorie in die Praxis umgesetzt wird, und umgekehrt, ist der Ort des Projekts. Es ist das Projekt in seiner Gesamtheit, das praktische Aktionen und Kritik an den Ideen des Feindes anders sinnvoll macht. Daraus folgt, dass die Arbeit des Revolutionärs im Wesentlichen die Ausarbeitung und Verwirklichung eines Projekts ist. Aber bevor wir wissen, was ein revolutionäres Projekt sein kann, müssen wir uns darüber einig sein, was der Revolutionär und die Revolutionärin besitzen müssen, um an der Ausarbeitung ihres Projekts zu arbeiten. Zuerst der Mut. Nicht der triviale der physischen Konfrontation oder des Angriffs auf den feindlichen Schützengraben, sondern der schwierigere der eigenen Ideen. Wenn man auf eine bestimmte Art und Weise denkt, wenn man eine bestimmte Einschätzung der Dinge und Menschen, der Welt und ihrer Angelegenheiten hat, muss man den Mut haben, den ganzen Weg zu gehen, ohne Kompromisse, ohne halbe Sachen, ohne Pietismus, ohne Illusionen. Auf halbem Weg stehen zu bleiben ist kriminell oder, wenn man so will, völlig normal. Aber der Revolutionär und die Revolutionärin sind keine „normalen“ Menschen. Sie müssen darüber hinausgehen, über das Normale, aber auch über das Außergewöhnliche, das die aristokratische Art ist, Vielfalt zu betrachten. Mehr als gut, aber auch mehr als böse, würden manche sagen. Sie können nicht darauf warten, dass andere tun, was getan werden muss. Sie können nicht an andere delegieren, was ihr Gewissen ihnen vorschreibt zu tun. Sie können nicht friedlich akzeptieren, dass an anderen Orten andere Menschen wie sie selbst, die zitternd und begierig darauf sind, diejenigen zu zerstören, die uns unterdrücken, die Dinge tun, die sie selbst tun könnten, wenn sie nur wollten, wenn sie aus der Erstarrung und dem Betrug, dem Geschwätz und dem Missverständnis herauskämen. Also müssen sie arbeiten, und zwar hart arbeiten. Arbeit, um sich mit den nötigen Mitteln auszustatten, mit denen sie ihre Überzeugungen angemessen begründen können. Und hier kommt der zweite Punkt: die Beständigkeit. Die Kraft, weiterzumachen, auszuharren, durchzuhalten, auch wenn andere entmutigt werden und alles schwierig erscheint. Es gibt keine Möglichkeit, die Mittel zu beschaffen, die man braucht, wenn man nicht beständig an seiner Arbeit arbeitet. Der Revolutionär und die Revolutionärin brauchen kulturelle Mittel, d.h. Analysen, Basiswissen und institutionelle Vertiefung. Selbst Studien, die weit von der revolutionären Praxis entfernt scheinen, sind für das Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unverzichtbar. Die Sprachen, die Ökonomie, die Philosophie, die Mathematik, die Naturwissenschaften, die Chemie, die Sozialwissenschaften, und so weiter. All dieses Wissen sollte jedoch nicht als Spezialgebiet betrachtet werden, aber auch nicht als dilettantische Übungen eines tänzelnden Geistes, der rechts und links kneift, wissbegierig, aber ständig unwissend ist, weil er keine Methode besitzt, die es ihm ermöglicht zu lernen. Und dann die Techniken: richtig zu schreiben (und zwar so, dass es für den Zweck, den man erreichen will, geeignet ist); vor anderen zu sprechen (mit allen Techniken des Sprechens, die nicht einfach und von großer Bedeutung sind); zu lernen (was auch eine Technik ist und auch als solche gelernt werden sollte, um das Lernen zu erleichtern und nicht als Spezialisierung an sich); das Erinnern (das verbessert werden kann und nicht immer der mehr oder weniger natürlichen Veranlagung überlassen werden muss, die wir von Kindheit an mitbringen); das Manipulieren von Gegenständen, d.h. der Gebrauch der Hände (den viele für ein mysteriöses Geschenk der Natur halten, der aber stattdessen eine Technik ist, die erlernt und perfektioniert werden kann); und andere. Die Suche nach Mitteln ist eine Arbeit, die nie endet. Ihre Verfeinerung, wie auch ihre Ausweitung auf verschiedene Bereiche, ist das ständige Bestreben der Revolutionäre. Eine dritte Sache bleibt: Kreativität. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Mittel, die aufgebaut werden, nicht produktiv wären und in der Spezialisierung als Selbstzweck untergehen würden, wenn sie nicht sofort oder nach einer gewissen Zeit neue Erfahrungen hervorbringen würden, die das Individuum tiefgreifend verändern, und aus denen sich ohne Unterbrechung Veränderungen in den Mitteln selbst und in den Möglichkeiten ihrer Nutzung ergeben. Hier lässt sich die Kraft der Kreativität, d.h. die Frucht früherer Bemühungen, begreifen. Logische Prozesse bleiben zurück, werden zu einer Hintergrundtatsache, zu einem vernachlässigbaren Element, während ein neues, völlig anderes Element auftaucht: die Intuition. Das Problem wird jetzt anders gesehen. Nicht mehr wie früher. Unzählige Verbindungen und Vergleiche, Schlussfolgerungen und Ableitungen finden statt, ohne dass wir es merken. Die Gesamtheit der Mittel, die wir in Besitz genommen haben, schwingt und wird lebendig. Erinnerungen und neue Erkenntnisse, alte unverstandene Dinge, die jetzt klar werden, Ideen und Spannungen. Eine unglaubliche Mischung, die selbst eine schöpferische Tatsache ist und die sofort der Disziplin der Methode, der Beherrschung von Techniken unterworfen werden muss, damit sie etwas hervorbringen kann, das zwar begrenzt ist, aber sofort wahrnehmbar und nutzbar ist. Leider besteht das Schicksal der Kreativität darin, dass ihr immenses anfängliches explosives Potenzial (das in Ermangelung der oben erwähnten grundlegenden Mittel zu einer armseligen Sache wird) später in die Grenzen der Technik im engeren Sinne zurückgeführt werden muss, zu Wort, zu Seite, zu Figur, zu Klang, zu Form, zu Objekt werden muss. Andernfalls bleibt es außerhalb des Rahmens dieses kleinen kommunikativen Gefängnisses verlassen und verstreut im Meer der Unermesslichkeit. Und schließlich noch eine letzte Sache: die Materialität. Die Fähigkeit, die materielle, reale Grundlage dessen, was uns umgibt, zu erfassen. Zum Beispiel die Fähigkeit zu begreifen, dass man geeignete Mittel für die Aktion braucht, um zu agieren, was keine einfache Sache ist. Die Frage der Mittel scheint sehr klar zu sein, aber sie führt zu Missverständnissen. Nehmen wir den Fall des Geldes. Es besteht kein Zweifel, dass wir ohne Geld nicht die Dinge tun können, die wir tun wollen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Revolutionäre den Staat nicht um Geld bitten können, um Projekte zu bauen, die darauf abzielen, den Staat selbst zu zerstören. Sie können nicht aus einem ethischen Grund und dann aus einem logischen Grund (der Staat würde sie ihm nicht geben) darum bitten. Sie können auch nicht ernsthaft glauben, dass sie mit kleinen (und in der Regel bescheidenen) persönlichen Abonnements all die Dinge tun können, die sie tun wollen (und für notwendig erachten). Sie können auch nicht endlos über den Geldmangel jammern oder sich damit abfinden, dass aufgrund des Geldmangels einige Dinge, die getan werden sollten, nicht getan werden können. Sie können auch nicht lange die Position von jemandem einnehmen, der kein Geld hat, sich aber damit abfinden, dass sie keins haben und sich nicht an den gemeinsamen Anstrengungen beteiligen, indem sie darauf warten, dass andere an ihrer Stelle tun, was getan werden muss. Natürlich ist es klar, dass Gefährtinnen und Gefährten, die kein Geld haben, nicht verpflichtet sind, etwas zu bezahlen, was sie sich nicht leisten können, aber ist es wirklich wahr, dass sie alles getan haben, was sie tun konnten, um das Geld zu bekommen? Oder gibt es nur einen Weg, um an das Geld zu kommen: darum betteln gehen, indem man von den Bossen ausgebeutet wird? Ich glaube nicht. Innerhalb der Variationsbreite einer möglichen Lebensweise polarisieren persönliche Neigungen und kulturelle Aneignungen zwei grenzwertige Verhaltensweisen, die sowohl einschränkend als auch bestrafend sind. Auf der einen Seite derjenige, der das theoretische Moment bevorzugt, auf der anderen Seite derjenige, der sich dem praktischen Moment verschreibt. Fast nie sind diese beiden Polarisationen in ihrem „reinen Zustand“, aber sie sind oft genug charakterisiert, um zu Hindernissen zu werden. Die großartigen Möglichkeiten, die die theoretische Vertiefung den Revolutionären zur Verfügung stellt, bleiben toter Buchstabe, ja, sie werden zu einem Element des Widerspruchs und des Hindernisses, wenn sie bis ins Unendliche ausgereizt werden. Es gibt Menschen, die können nicht mehr tun, als theoretisch über das Leben nachzudenken. Man muss kein Literat oder Gelehrter sein (für diese Leute wäre das schon fast normal), aber man kann auch ein beliebiger Proletarier sein, ein Ausgestoßener, der auf der Straße aufgewachsen ist, indem er sich geprügelt hat. Diese Suche nach der auflösenden Hypothese durch die Subtilität des Denkens verwandelt sich in eine desorganisierte Angst, in einen stürmischen Wunsch zu verstehen, der unweigerlich in pure Verwirrung umschlägt und die Vorrangstellung des Gehirns, die man um jeden Preis aufrechterhalten möchte, herabsetzt. Diese Gereiztheit reduziert die kritische Möglichkeit, die eigenen Ideen zu ordnen, sie erweitert die kreativen Möglichkeiten des Einzelnen, aber nur in einem reinen Zustand, man könnte sagen in der Wildnis, und liefert Bilder und Urteile, die absolut frei von einer Organisationsmethode sind, die sie nutzbar machen könnte. Das Subjekt lebt in einer Art Trance, isst schlecht, hat ein schlechtes Verhältnis zu seinem eigenen Körper und lebt schlecht mit anderen zusammen. Es wird leicht misstrauisch, wenn es nur darauf bedacht ist, verstanden zu werden, und häuft deshalb immer mehr einen Wust von widersprüchlichen Argumenten an, ohne einen roten Faden zu finden. Die Lösung, um aus dem Labyrinth herauszukommen, wäre eine Aktion. Aber um eine Aktion zu sein, muss sie nach dem von uns untersuchten Polarisierungsmodell zunächst dem Bereich des Gehirns, der Logik und des Denkens unterworfen werden. Auf diese Weise wird die Aktion getötet oder aufgeschoben oder schlecht erlebt, weil sie nicht verstanden wird, weil sie nicht zum Primat des Denkens zurückgebracht wird. Auf der anderen Seite die Beständigkeit des Tuns, die Entfaltung des eigenen Lebens in den zu erledigenden Dingen. Heute, morgen. Tag für Tag. Vielleicht wartet man auf einen bestimmten Tag, der dem endlosen Aufschieben ein Ende setzt. Aber in der Zwischenzeit keine oder fast keine Suche nach einem Moment des Nachdenkens, der nicht ausschließlich mit den zu erledigenden Dingen zu tun hat. Das Primat des Handelns (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) tötet genauso wie das Primat des Denkens. In der Aktion an sich gibt es keine Überwindung des widersprüchlichen Moments des Individuums. Für die Revolutionäre ist die Lage noch schlimmer. Die klassischen Höflichkeiten, die der Einzelne entwickelt, um sich von der Nützlichkeit und Vollständigkeit der Aktion, die sie tun wollen, zu überzeugen, reichen für die Revolutionäre nicht aus. Das einzige Mittel, auf das sie zurückgreifen können, ist der Aufschub auf eine bessere Zeit, in der es nicht mehr notwendig ist, sich ausschließlich dem Tun zu widmen, sondern auch dem Denken. Aber wie soll man denken können, wenn man nicht die Mittel dazu hat? Ist das Denken eine automatische Aktivität des Menschen, wenn er aufhört zu agieren? Sicherlich nicht. Genauso wenig ist das Tun eine automatische Aktivität des Menschen, wenn er aufhört zu denken. Wenn die Revolutionäre also bestimmte Dinge besitzen, wie Mut, Beständigkeit, Kreativität und Materialität, können sie die Mittel nutzen, die sie besitzen, und mit diesen ihr Projekt aufbauen. Dabei geht es sowohl um die analytischen als auch um die praktischen Aspekte. Wieder einmal taucht eine Spaltung auf, die, um beseitigt zu werden, bis zum Kern, d.h. in ihrer wahren Dimension als Gemeinplatz der herrschenden Logik, vertieft werden muss. Ein Projekt ist eine Analyse (politisch, sozial, wirtschaftlich, philosophisch usw.), aber es ist auch ein organisatorischer Vorschlag. Kein Projekt kann nur den einen oder den anderen dieser Aspekte haben. Jede Analyse erhält einen anderen Blickwinkel und eine andere Entwicklung, wenn sie in einen organisatorischen Vorschlag eingebettet ist und nicht in einen anderen. Umgekehrt wird ein Organisationsvorschlag nur dann fundiert, wenn er durch eine geeignete Analyse unterstützt wird. Die Revolutionäre, die nicht in der Lage sind, die Analyse und das organisatorische Element ihres Projekts zu meistern, werden immer den Ereignissen ausgeliefert sein und immer erst nach den Dingen ankommen, nie vorher. Das Ziel des Projekts ist es, zu sehen, um vorauszusehen. Das Projekt ist eine Prothese, wie jede andere intellektuelle Ausarbeitung des Menschen, um die Aktion zu erlauben, um sie zu ermöglichen, nicht um sie im sinnlosen Gerangel der Improvisation zunichte zu machen, sie ist aber nicht die „Ursache“ der Aktion. Das Projekt ist, wenn es richtig verstanden wird, die Aktion selbst, während die Aktion selbst das Projekt ist, insofern sie es verbessert, bereichert und verändert. Das Nichtverstehen dieser grundlegenden Prämissen revolutionärer Arbeit führt oft zu Verwirrung und Frustration. Viele Gefährtinnen und Gefährten, die an Interventionen festhalten, die wir als reflexiv bezeichnen können, erleiden oft Rückschläge, die der Demotivation und Entmutigung ähneln. Eine äußere Tatsache (fast immer Repression) gibt den Anstoß für eine Intervention. Wenn das nicht mehr der Fall ist, hat die Intervention keine Daseinsberechtigung mehr. Daher die (frustrierende) Erkenntnis, dass man gezwungen ist, dorthin zurückzukehren, wo man vorher war. Man hat den Eindruck, dass man versucht, einen Berg mit einem Löffel abzutragen. Die Menschen erinnern sich nicht, sie vergessen schnell. Die Aggregation findet nicht statt. Es sind fast immer ein paar. Fast immer die üblichen. Bis zum Aufkommen des nächsten äußeren Reizes überleben die Wechselfälle des Gefährten, der nur noch reflexartig zu agieren weiß, die oft von radikaler Ablehnung bis zur Verschlossenheit in sich selbst, von empörter Stummheit bis zu Fantasien der Zerstörung der Welt (einschließlich der Menschen) reichen. Stattdessen bleiben viele andere Gefährtinnen und Gefährten an das gebunden, was wir als Routine-Interventionen bezeichnen können, d.h. an literarische (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher) oder vollversammlungsbezogene (Kongresse, Tagungen, Debatten, Vollversammlungen) Anlässe. Auch hier lässt die menschliche Tragödie nicht lange auf sich warten. Meistens geht es nicht so sehr um persönliche Frustration (die es auch gibt und die wir sehen können), sondern um die Verwandlung des Gefährten in einen Kongressbürokraten oder in einen Redakteur mehr oder weniger lesenswerter Zeitungen, der versucht, seine eigene propositionale Inkonsistenz zu verbergen, indem er den Ereignissen nachgeht, um sie im kritischen Licht seines eigenen Standpunkts zu erklären. Wie wir sehen können, ist die Tragödie immer die gleiche. Das Projekt ist daher notwendigerweise propositional. Es ist das Element, das die Affinität abschließt und zusammenschweißt. Das beginnt mit der Bekanntschaft zwischen den verschiedenen Gefährtinnen und Gefährten, die Teil der Affinitätsgruppe sind, und blüht im Projektboden, wo es wächst und Früchte trägt. Da das Projekt proaktiv ist, kann es nicht anders, als die Initiative zu ergreifen. Erstens, die Initiative der operativen Art: Dinge, die auf eine bestimmte Art und Weise getan werden müssen. Dann die Initiative in organisatorischer Hinsicht: Wie kann man diese Dinge tun? Vielen ist nicht klar, dass die Dinge, die zu tun sind (Klassengegensätze), nicht ein für alle Mal kodifiziert sind, sondern dass sie im Laufe der Zeit und im Zuge der sozialen Beziehungen unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Das bringt es mit sich, dass theoretische Bewertungen der Dinge, die getan werden müssen, notwendig sind. Die Tatsache, dass einige dieser Dinge länger bestehen, als ob sie unbeweglich wären, bedeutet nicht, dass sie unbeweglich sind. Dass es zum Beispiel notwendig ist, sich zu organisieren, um den Klassenfeind zu schlagen, impliziert als Notwendigkeit eine Beständigkeit in der Zeit. Organisatorische Mittel und Wege kristallisieren sich heraus. Und in gewisser Hinsicht ist es gut, dass das so ist. Es ist nicht nötig, jedes Mal alles neu zu erfinden, wenn man sich neu organisiert, vielleicht nachdem man unter den Schlägen der Repression gelitten hat. Das bedeutet aber nicht, dass diese „Wiederaufnahme“ zwangsläufig die Merkmale der absoluten Wiederholbarkeit aufweisen muss. Frühere Modelle können kritisiert werden, auch wenn sie letztlich gültig bleiben und daher einen nicht zu vernachlässigenden Ausgangspunkt darstellen können. In dieser Angelegenheit fühlt man sich oft im Fadenkreuz der Kritik, auch der uninformierten und vorgefassten Kritik, und man möchte um jeden Preis den Vorwurf der Unbeugsamkeit26 vermeiden, der wie eine positive Bewertung klingt, aber auch ein bemerkenswertes Element der Anprangerung der Unfähigkeit enthält, die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes zu verstehen. Daher besteht die Möglichkeit, alte Organisationsmodelle zu nutzen, sofern sie einer radikalen Kritik unterzogen werden. Aber was könnte diese Kritik sein? Vor allem eines: die Anprangerung der Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit zentralisierter und organisierter Strukturen, die Anprangerung der Delegationsmentalität, die Anprangerung des Mythos des Quantitativen, die Anprangerung des Mythos des Symbolischen und Grandiosen, die Anprangerung des Mythos der Nutzung großer Medien usw. Wie wir sehen können, sind dies Kritiken, die die andere Seite des revolutionären Himmels zeigen, den anarchistischen und libertären Aspekt. Die Ablehnung von zentralisierten Strukturen, Leitungsorganigrammen, Delegation, Quantität, Symbolik, Informationseffekten usw. bedeutet, dass man sich voll und ganz auf die anarchistische Methodik einlässt. Und ein anarchistischer Vorschlag erfordert einige Vorüberlegungen. Am Anfang, vor allem für diejenigen, die nicht zutiefst von der Notwendigkeit und Gültigkeit dieser Methode überzeugt sind, mag sie weniger effektiv erscheinen (und ist es in mancher Hinsicht auch). Die Ergebnisse sind bescheidener, weniger offensichtlich, sie haben den Anschein von Zerstreuung und lassen sich nicht auf ein einheitliches Projekt zurückführen. Sie sind pulverisierte und diffuse Ergebnisse, d.h. sie leiten sich von minimalen Zielen ab, die nicht unmittelbar auf einen zentralen Feind zurückzuführen sind, zumindest nicht so, wie es in den beschreibenden Ikonographien, die von der Macht selbst erstellt werden, erscheint. Oft hat die Macht ein Interesse daran, die peripheren Verästelungen ihrer selbst und der Strukturen, die sie regieren, unter positiven Aspekten darzustellen, als ob diese Verästelungen lebensnotwendige soziale Funktionen erfüllten. Stattdessen versteckt sie sich sehr gut und sehr leicht, da wir nicht in der Lage sind, die Verbindungen, die Beziehungen zwischen diesen peripheren Strukturen und der Repression oder der Konsensbildung anzuprangern. Daraus ergibt sich die große Aufgabe der Revolutionäre, die durch ihr Auftreten auch mit einer anfänglichen Unverständlichkeit ihrer Aktionen rechnen müssen, und damit auch mit dem Bedürfnis nach Aufklärung. Und hier liegt eine weitere Falle. Diese Klarstellungen in ideologische Begriffe zu übersetzen, bedeutet, die genauen Bedingungen der Konzentration, der Zentralität, in Diffusion und Peripherie wiederzugeben. Die anarchistische Methode kann niemals durch einen ideologischen Filter erklärt werden. Als dies geschah, wurde unsere Methode einfach mit Praktiken und Projekten konfrontiert, die sehr wenig libertäres hatten. Von der Denunziation/Anprangung der Delegation als schädliche und autoritäre Praxis (dieser zweite Aspekt mag für Gefährtinnen und Gefährten, die nicht schon immer Anarchistinnen und Anarchisten waren, weniger verständlich klingen) führt zur Vertiefung von Aggregationsprozessen. Das heißt, sie führt zu der Möglichkeit, eine indirekte Aggregation auf der Grundlage von Affinität und Informalität aufzubauen, also eine Form der organisatorischen Referenz, die nicht durch organigrammatische Grundlagen bedingt ist. Getrennte Gruppen, die durch Affinität und eine gemeinsame Methodologie miteinander verbunden sind, nicht durch hierarchische Beziehungen. Gemeinsame Ziele, gemeinsame, aber indirekte Entscheidungen, die alle durch die Objektivität gemeinsamer Entscheidungen, gemeinsamer Analysen und gemeinsamer Ziele angestrebt werden. Jeder macht sein eigenes Ding und hat nicht das Bedürfnis, direkte aggregative Beziehungen vorzuschlagen, die früher oder später in der Konstruktion von hierarchischen Organigrammen enden (auch wenn sie horizontal sind, da sie behaupten, innerhalb der anarchischen Methode zu bleiben) und deren schönes Ergebnis ist, dass sie von jedem aufkommenden repressiven Wind zerstört werden. Es ist der Mythos des Quantitativen, der fallen muss. Der Mythos der Zahl, die den Feind beeindruckt, der Mythos der „Kräfte“, die ins Feld gebracht werden sollen, der Mythos der „Befreiungsarmee“ und andere solche Dinge. So werden alte Dinge, fast ohne es zu wollen, in neue verwandelt. Die Modelle der Vergangenheit: Ziele und Praktiken, werden von innen heraus revolutioniert. Im Vordergrund steht zweifelsohne das endgültige Ende der politischen Methode, der Anspruch, ideologische Modelle neu zu präsentieren, der subversiven Praktiken aufgezwungen werden sollen. Im Übrigen ist es die Welt als Ganzes, die das politische Modell ablehnt, wenn man es richtig betrachtet. Das „Ende“ des Politischen ist eine alltägliche Angelegenheit. Die traditionellen politischen Strukturen mit ihren starken Konnotationen sind dabei, zu zerfallen. Die Parteien der Linken passen sich denen der Mitte an und die Parteien der Rechten drängen immer weiter in die Mitte, um nicht isoliert zu werden. Dieser Zusammenbruch des politischen Gerüsts geht mit einem tiefgreifenden Wandel der ökonomischen und sozialen Strukturen einher. Für diejenigen, die sich mit dem subversiven Potenzial der breiten Masse auseinandersetzen müssen, ergeben sich neue Anforderungen. Die Mythen der Vergangenheit, auch die des „kontrollierten Klassenkampfes“, sind vorbei. Die große Masse der Ausgebeuteten ist in Mechanismen hineingesogen worden, die mit den scharfen, aber oberflächlichen politischen Ideologien von gestern kollidieren. Aus diesem Grund haben sich die linken Parteien den Positionen der Mitte angenähert, was im Wesentlichen einer Nullung der diskriminierenden Politik und einer möglichen Verwaltung des Konsenses aus eigener Kraft entspricht, wenn auch nur aus administrativer Sicht. Es sind die Dinge, die getan werden müssen, die sehr kurzfristigen Programme, die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, die die Diskriminierungen in den Mittelpunkt stellen. Die idealen (und damit ideologische) politische Projekte sind untergegangen. Niemand (oder fast niemand) ist bereit, für eine kommunistische Gesellschaft zu kämpfen, sondern lässt sich wieder einmal in Strukturen reglementieren, die vorgeben, seine unmittelbaren Interessen zu schützen. Deshalb haben die politischen Kämpfe und Einsätze auf kommunaler Ebene gegenüber den breiteren politischen Strukturen, den nationalen und supranationalen Parlamenten, an Bedeutung gewonnen. Der Niedergang des Politikers ist auf diesen Ebenen kein Element, das auf eine „anarchistische“ Wende in der Gesellschaft hinweisen könnte, die sich ihrer eigenen Vorrangstellung bewusst geworden ist und sich den Versuchen einer indirekten politischen Steuerung widersetzt. Nichts von alledem. Es geht um tiefgreifende Veränderungen in der modernen Struktur des Kapitals, die auch international vereinheitlicht wird, gerade wegen der immer stärkeren Verflechtung, die jetzt zwischen verschiedenen peripheren Realitäten besteht. Diese Veränderungen führen wiederum dazu, dass eine einvernehmliche Kontrolle durch die politischen Mythen der Vergangenheit nicht mehr möglich ist und dass man zu zeitgemäßeren Methoden der Kontrolle übergeht. So seltsam es auch klingen mag, aber die Krise des Politischen als allgemeines Phänomen zieht zwangsläufig eine Krise der hierarchischen Beziehungen, der Delegation usw. nach sich, d.h. all jener Beziehungen, die dazu tendieren, die realen Bedingungen des Klassengegensatzes in die ideologische Dimension zu verdrängen. Das kann nicht lange ohne Folgen bleiben, auch für die Fähigkeit vieler Menschen zu verstehen, dass der Kampf nicht länger durch die Mythen des Politischen gehen kann, sondern in die konkrete Dimension der unmittelbaren Vernichtung des Feindes eintreten muss. Es gibt auch diejenigen, die nicht verstehen wollen, was die Aufgabe der Revolutionäre ist, und angesichts der oben dargestellten sozialen Veränderungen der sanften Gegenposition den Vorzug geben, die neue Herrschaft durch passiven Widerstand zu behindern. Das ist meiner Meinung nach ein Missverständnis, das auf der Tatsache beruht, dass moderne Macht, gerade weil sie freizügiger ist und mehr auf Konsens beruht, als weniger „stark“ angesehen wird als die Macht der Vergangenheit, die auf absoluter Hierarchie und Zentralisierung beruht. Das ist ein Fehler wie jeder andere, und er rührt daher, dass in jedem von uns die Reste einer Parallele verbleiben: die Kraft, die die modernen Herrschaftsstrukturen Stück für Stück abbauen. Eine schwache, aber effiziente Macht ist vielleicht eine effektivere Macht als eine starke, aber grobe Macht. Ersteres dringt in das psychologische Gewebe der Gesellschaft ein, bis ins Individuum, und bezieht es mit ein; letzteres bleibt äußerlich, beißend, baut aber letztendlich nur Gefängnismauern, die früher oder später überwunden werden können. Die Vielfalt der Aspekte des Projekts gibt der Arbeit der Revolutionäre eine Perspektive, die ebenfalls vielfältig ist. Kein möglicher Tätigkeitsbereich kann a priori ausgeschlossen werden. Aus demselben Grund kann es auch keine privilegierten Handlungsfelder geben, die dem Einzelnen „sympathisch“ sind. Ich kenne Gefährtinnen und Gefährten, die sich nicht zu bestimmten Interventionsfeldern hingezogen fühlen – zum Beispiel zum nationalen Befreiungskampf – oder zu bestimmten revolutionären Praktiken, wie zum Beispiel zu spezifischen Minderheitenaktivitäten. Die Einwände gegen die Ablehnung eines bestimmten Einsatzbereichs sind vielfältig, aber sie führen alle auf die (irrige) Vorstellung zurück, dass jeder das tun muss, was ihm die größtmögliche Befriedigung bringt. Diese Idee ist nicht deshalb falsch, weil es nicht richtig ist, dass eine der Quellen für die Aktion persönliche Freude und Befriedigung ist, sondern weil das Streben nach dieser individuellen Motivation ein anderes, umfassenderes und sinnvolleres Streben ausschließen kann, nämlich das, das auf der Gesamtheit der Intervention beruht. Vorurteile gegen bestimmte Praktiken oder Theorien zu haben, bedeutet, sich – allein aus „Angst“ – hinter der fast immer illusorischen Tatsache zu verschanzen, dass wir diese Praktiken und Theorien nicht mögen. Aber jede vorgefasste Ablehnung beruht immer auf einem Mangel an Wissen über das, was man ablehnt, auf wenig oder keiner Bereitschaft, sich der Sache zu nähern, die man ablehnt. Die Zufriedenheit und Freude von heute werden so zum ultimativen Ziel gemacht, in ihrer Unmittelbarkeit verschließen sie unsere Perspektiven für morgen. Unbewusst werden wir ängstlich und rechthaberisch, nachtragend gegenüber denen, die es schaffen, diese Hindernisse zu überwinden, misstrauisch gegenüber allen, die sich uns nähern, unzufrieden, unglücklich. Die einzige akzeptable Grenze ist die unserer (begrenzten) Möglichkeiten. Aber auch diese Grenze lässt sich immer an der konkreten Tatsache erkennen und nicht als a priori existierend vermuten. Ich bin immer von der (offensichtlich absurden, aber real existierenden) Hypothese ausgegangen, dass ich grenzenlos bin, dass ich immense Möglichkeiten und Fähigkeiten habe. Dann übernahm die Praxis, die tägliche Praxis, die Aufgabe, mir die objektiven Grenzen meiner selbst und der Dinge, die ich tun wollte, aufzuzeigen. Aber diese Grenzen haben mich nicht von vornherein aufgehalten, sondern haben sich erst im Nachhinein als unausweichliche Hindernisse erwiesen. Kein noch so unglaubliches oder gigantisches Unterfangen hat mich aufgehalten, bevor ich es begonnen habe. Erst später, im Laufe der damit verbundenen Praktiken, kam die Bescheidenheit meiner Mittel und Fähigkeiten zum Vorschein, aber selbst mit ihrer unüberwindlichen Präsenz konnte sie mich nicht davon abhalten, Teilergebnisse zu erzielen, die dann das einzig menschlich Erreichbare sind. Aber auch das ist ein Problem der Mentalität, d.h. der Art und Weise, wie wir die Dinge sehen. Wir halten uns oft zu sehr an das unmittelbar Wahrnehmbare, an den sozialistischen Realismus des Viertels, der Stadt, der Nation usw. Man ist ein Internationalist, wenn es ums Reden geht, aber wenn es um konkrete Fakten geht, bevorzugt man das, was am besten bekannt ist. Auf diese Weise verschließt man sich gegenüber der Außenwelt und dem Inneren. Man lehnt echte internationale Beziehungen ab, die von gegenseitigem Verständnis, der Überwindung von Barrieren (einschließlich Sprachbarrieren), von Zusammenarbeit und gegenseitigem Austausch geprägt sind. Aber man lehnt auch spezifische lokale Beziehungen ab, mit ihren eigenen Merkmalen, inneren Widersprüchen, Mythen und Schwierigkeiten. Das Komische daran ist, dass die Ersteren im Namen der Letzteren und die Letzteren im Namen der Ersteren abgelehnt werden. Das Gleiche gilt für die spezifischen, vorbereitenden Aktivitäten, die darauf abzielen, revolutionäre Mittel zu finden. Auch hier ist die Delegation an andere Gefährtinnen und Gefährten etwas, das oft von vornherein entschieden wird. Sie basiert auf Bedenken und Ängsten, die, wenn sie richtig untersucht werden, nicht viel zu sagen haben. Die Professionalität, die anderswo zur Schau gestellt wird, hat in der anarchistischen Methodologie keinen Platz, aber auch nicht die a priori Ablehnung oder die vorgefasste Schließung. Das Gleiche gilt für das Verlangen nach Erfahrungen um ihrer selbst willen, die Dringlichkeit des Tuns, die persönliche Befriedigung, den Nervenkitzel. Die beiden Extreme berühren und durchdringen sich gegenseitig. Das Projekt räumt diese Probleme aus dem Weg, weil es die Dinge in ihrer Gesamtheit sieht. Aus demselben Grund ist die Arbeit der Revolutionäre zwangsläufig mit dem Projekt verbunden, sie identifiziert sich mit ihnen, sie kann sich nicht auf Teilaspekte beschränken. Ein Teilprojekt seinerseits ist kein revolutionäres Projekt, es kann ein ausgezeichnetes Arbeitsprojekt sein, es kann Gefährtinnen und Gefährten und Ressourcen sogar für lange Zeiträume binden, aber früher oder später wird es bestraft, wenn es mit der Realität des Klassenkampfes konfrontiert wird. Redaktionelle Anmerkungen Ich berichte über die Zeitungen und Zeitschriften, in denen einige der hier veröffentlichten Artikel zuerst erschienen sind. Angesichts der Häufigkeit und Heterogenität der manchmal verwendeten Pseudonyme werden diese nicht angegeben. Aus demselben Grund werden Fälle von nicht unterzeichneten Artikeln nicht gemeldet. Die Tatsache, dass sie hier ohne weiteren Hinweis wiedergegeben werden, bedeutet, dass sie alle von mir geschrieben wurden. Alle veröffentlichten Artikel und Aufsätze wurden überarbeitet und aktualisiert. Esclusi e inclusi, ein Text mit dem Titel Per un’analisi di un periodo di superamento dalle illusioni post-industriali alle illusioni post-rivoluzionarie, beim Treffen „Anarchismo e progetto insurrezionale“, welches in Mailand am 13.10.1985 gehalten und präsentiert wurde, veröffentlicht in Atti del Convegno „Anarchismo e progetto insurrezionale“, Seconda Ed. Catania 1993, S. 41-51 und 58-62. Es existiert eine Übersetzung ins Englische unter den Titel: From Riot to Insurrection, London 1988, S. 13-37. Die Veränderung der Welt der Arbeit und der Schule, unter dem Titel: „Scuola e società post-industriale“, in „Anarchismo“ Nr. 56, März 1987, S. 6-19. veröffentlicht. „Perdita del linguaggio“, auf „Provocazione“ Nr. 25, August 1990, S. 8-9. veröffentlicht. „Perdita della cultura“, auf „Provocazione“ Nr. 26, Februar 1991, S. 9. veröffentlicht. „La tecnologia buona“, auf „Provocazione“ Nr. 24, Juni 1990, S. 11. veröffentlicht. „La ‘fine’ della crisi“, auf“Anarchismo” Nr. 57, Juni 1987, S. 1-6. veröffentlicht. Affinität, unter den Titel „Affinità e organizzazione informale“ in „Anarchismo“ Nr. 45, März 1985, S. 12-14. veröffentlicht. Informelle Organisation, unter den Titel „Organizzazione di sintesi e organizzazione informale“ in „Anarchismo“ Nr. 47. Juni 1985, S. 24-25. veröffentlicht. Das revolutionäre Pojekt, unter den Titel: „Il lavoro del rivoluzionario“ in „Anarchismo“ Nr. 59, Januar 1988, S. 45-52. veröffentlicht.

1A.d.Ü., Insurrektion, Insurrektionalismus und insurrektionalistisch sind Synonym zu Aufstand, Aufständischen Anarchismus, aufständisch.

2A.d.Ü., als Element der Trennung verstanden.

3No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia, erschien das erste Mal 2005, herausgegeben von Editorial Klinamen und Ediciones Conspiración, hier als PDF zum Lesen auf Spanisch und hier auf Englisch.

4A.d.Ü., die Titel der Texte wurden genauso aus dem Original übernommen, da die Titel auf Spanisch und Italienisch aufgezählt werden, es handelt sich daher nicht um einen Fehler.

5A.d.Ü., ein Ereignis was nicht bestimmt ist geschehen zu müssen.

6A.d.Ü., als Rekuperation, wieder einmal, ist die Wiedererlangung, Zurückgewinnung von etwas (eine Idee) oder jemandem zu verstehen. Normalerweise ist dies als ein Akt zu verstehen, wo das rekuperierte seiner ursprünglichen Idee entleert wird, es wird daher neutralisiert und seiner Ontologie beraubt.

7A.d.Ü., hier handelt es sich um die Handlung der Rekuperation.

8A.d.Ü., Nuclei bedeutet auf Italienisch Kern, wird aber sehr oft als Zelle übersetzt oder verstanden, was aber falsch ist.

9A.d.Ü., wie ein Monolith, für die Ewigkeit.

10A.d.Ü., gemeint ist damit die sogenannte Strömung des Synthetischen Anarchismus der versucht alle anarchistischen Strömungen in einer anarchistischen Organisation zu vereinen. Vertreter dieser Idee war vor allem der russische Anarchist Volin, eigentlich Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum und Sebastian Fauré in den 1920er.

11Im Originialtext: camaraderie d´elité

12A.d.Ü., Cobas ist eine italienische Gewerkschaft/Syndikat

13A.d.Ü., unseres Wissens nach wurde dieses Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt, der Originaltitel lautet Les illusions du progrès. Paris 1908, auf engl. The illusions of progress. University of California Press, Berkeley 1969.

14A.d.Ü., als Saint-Simonismus wird eine „frühe sozialistische“ Strömung in Frankreich aus dem 19. Jahrhundert bezeicht.

15A.d.Ü., als „Kathedralen in der Wüste“ werden in Italien gescheiterte öffentliche Bauprojekte der 1960er Jahre bezeichnet. Der Ausdruck macht auf eine persistente Praxis der öffentlichen Verwaltung große Bauprojekte ohne Sinn zu bauen aufmerksam, wie eine Kathedrale in der Wüste, zu der nie ihre Anhänger gehen werden.

16A.d.Ü., hier wird Bezug auf Sklerose genommen, dass es stückchenweise beschädigt und zerstört wird.

17A.d.Ü., im Sinne des, zu Aktionen zu übergehen.

18A.d.Ü., als ein entgegengesetzter Prozess zur Entlohnung.

19A.d.Ü., im Sinne des Erwerbs an Waren um den Profit zu steigern.

20A.d.Ü., hier ist die Rede von einer sozialistischen Strömung in Frankreich.

21A.d.Ü., leblosen.

22A.d.Ü., man kann es nicht rekuperieren.

23A.d.Ü., hier handelt es sich um eine Zweideutigkeit – lingua auf Italienisch heißt sowohl Zunge als auch Sprache.

24A.d.Ü., der Schnitt bezieht sich auf die Form des Ausdrucks.

25A.d.Ü., Ion Iliescu war ein Politiker aus Rumänien, der zuerst Karriere in der Kommunistischen Partei machte und nach dem Zerfall des Sozialismus in Rumänien sich der Sozialdemokratie anschloss.

26A.d.Ü., als irriducibilismo wird jene Haltung der Unbeugsamen-Unbeugsamkeit gemeint, wo Mitglieder bewaffneter Gruppen in den Jahren von 1970 bis heutzutage sich nicht von ihrer Geschichte, ihren Taten und ihrer Haltung distanziert und verraten haben. Hier handelt es sich auch um Menschen, die nie ihre Kampfgefährten und -gefährtinnen verraten haben.

„Erhobenen Hauptes, Flammenden Herzens“ – Neue Broschüre in Solidarität mit Boris

In Solidarität mit dem Anarchisten Boris, der nach einem Brand in seiner Zelle, in der er wegen des Vorwurfs der Brandstiftung an zwei Mobilfunkmasten in Untersuchungshaft saß, nun seit über einem Jahr im Krankenhaus liegt, erschien vor kurzem eine Broschüre, die einerseits eine Auswahl der Texte, die von seinen Gefährt*innen veröffentlicht wurden, versammelt, als auch eine ganze Reihe von Texten zusammenstellt, die sich mit 5G, Digitalisierung und den Angriff auf die digitale Infrastruktur auseinandersetzen. Auf dass Boris‘ Kampf weitergeführt werde, auf ein Ende des technologischen Netzes!

Für das pdf bitte auf das Bild klicken!

Aus dem Vorwort der Broschüre:

Vor über zwei Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. April 2020, unternahm ein Anarchist namens Boris aus der französischen Stadt Besançon einen kleinen Nachtspaziergang und hinterließ zwei brennende Funkmasten, was nicht nur das regionale Telekommunikationsnetz der verschiedenen französischen Mobilfunkanbieter zusammenbrechen ließ, sondern auch das Funknetz der Bullen. Zwei Pfeiler der technoindustriellen Zivilisation weniger, zumindest für einige Zeit.

Unglücklicherweise fanden die Bullen einen Deckel am Fuß eines der Funkmasten, und darauf eine DNA-Spur, die sie Boris zuordneten. Im September 2020 wurde er festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt. Im Bullenverhör bekannte er sich dazu, die beiden Funkmasten alleine angezündet zu haben. Am 19. Mai 2021 verurteilte das Gericht ihn schließlich in Abwesenheit seiner Anwältin zu vier Jahren Haft, davon zwei auf Bewährung. Boris legte daraufhin Berufung ein, doch ehe es zu diesem Prozess kommen konnte, brach Anfang August ein Brand in seiner Zelle aus, der ihm schwere Brandverletzungen zufügte. Monatelang lag er im Koma. Inzwischen ist er wieder bei Bewusstsein, doch noch immer hat er schwer zu kämpfen. An allen vier Gliedmaßen gelähmt, jedoch voller Lebenswillen, ist er mit der Arroganz und Allmacht des medizinischen Apparates gegenüber seinen Subjekten konfrontiert, der es nicht fassen kann, dass ein „Patient“ seinen eigenen Kopf hat. Vor kurzem meldeten sich die Gefährt:innen aus Besançon wieder zu Wort, um erneut zur Solidarität mit Boris aufzurufen.

In dieser Broschüre sind diese Aufrufe zu finden, sowie eine Auswahl der Texte und Aufrufe, die rund um Boris‘ Fall erschienen sind. Nicht nur, um einen Gefährten, der mit voller Wucht die Gewalt der Repression abbekommen hat, zu unterstützen, sondern auch, um seinen Kampf, der uns inspiriert, und der auch unser Kampf ist, und der sich in Frankreich in eine ganze Reihe von Angriffen und Kämpfen einfügt, fortzuführen, weiterzutragen, dazu anzustacheln, und die Debatte um Infrastruktursabotagen, Funkmastbrandstiftungen, Beschädigungen an Glasfaserkabeln, Angriffe auf Strom- und Energieinfrastruktur, wie sie in Frankreich geführt wird, in den deutschsprachigen Raum zu tragen.

Denn Boris‘ Angriff ist nicht der einzige seiner Art, er reiht sich in eine ganze Welle von Angriffen auf Mobilfunkmasten in Frankreich ein. Eine Welle, die bis heute immer mehr an Stärke zunimmt. Zählen offizielle Statistiken für das Jahr 2020 etwa hundert abgefackelte Funkmasten in Frankreich, so sind es 2021 bereits 150, und dieses Jahr liegt die Zahl im Mai 2022 bei einem abgefackelten Funkmast jeden zweiten Tag, womit der Trend für das Jahr 2022 bei knapp 200 Funkmasten liegen soll. Auch Beschädigungen an Glasfaserkabeln gab es die letzten sechs Monate in Frankreich im Schnitt dreißig pro Monat, ebenso wie zahlreiche andere Angriffe auf Telekommunikationsunternehmen sowie sonstige Infrastruktursabotagen. Angriffe, die den Mächtigen gar nicht gefallen, da sie die „sensibelsten und essentiellsten Aktivitäten des Landes“ bedrohen, eine potenzielle Gefahr für die Wirtschaft der Länder darstellen sowie das Projekt des umfassenden Ausbaus des technologischen Netzes und der Digitalisierung der Welt zumindest bremsen, ja vielleicht gar (zumindest lokal) – so unken auf jeden Fall gewisse Politiker, Geheimdienstler und Vertreter der Wirtschaft – sogar gefährden könnten.

Deshalb haben wir außer den Texten, die sich um Boris‘ Verhaftung drehen, noch Texte ergänzt, die sich mit dem Kampf gegen die technologische Infrastruktur, wie Boris ihn geführt hat und führt, beschäftigen. Darunter natürlich den, den Boris selbst über seine Motive zum Anzünden dieser Funkmasten verfasst hat, „Warum ich die zwei Funkmasten auf dem Mont Poupet abgefackelt habe“, sowie einen ursprünglich im Zündlumpen erschienenen Text, „Wann, wenn nicht jetzt?“, der in einer französischen Übersetzung in der Broschüre Brûler les foyers du virus technologique [Die Herde des technologischen Virus ausbrennen] erschien, für die die Bullen sich bei den Hausdurchsuchungen bei Boris und zwei weiteren Gefährt.innen aus Besançon, die damals ebenfalls stattfanden, besonders interessierten. Auch den zweiten Text aus derselben Broschüre, „Sabotagen gegen die digitale Normalität“, findet ihr in diesem Heft. Ansonsten findet ihr noch mehrere weitere Texte überwiegend aus Frankreich, die sich mit der momentanen Angriffswelle auf dem Gebiet auseinandersetzen.

In Reaktion auf die Repression gegen Boris haben außerdem insbesondere in Frankreich einige Angriffe stattgefunden, zu denen sich Menschen bekannten, die ihren Kampf in Solidarität mit Boris führen, doch auch die Zahl der anonymen Angriffe auf Funkmasten und technologische Infrastruktur steigt in Frankreich weiter an. Eine Auswahl von beidem findet ihr ebenfalls in diesem Heft.

Möge das Netz der technologischen Herrschaft an allen Enden und Ecken in Flammen aufgehen.

ERHOBENEN HAUPTES
FLAMMENDEN HERZENS
SOLIDARITÄT MIT BORIS

Italien. DER EINZIGE BEGEHBARE PFAD. Text in Solidarität mit Alfredo Cospito

Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns

Italien. DER EINZIGE BEGEHBARE PFAD. Text in Solidarität mit Alfredo Cospito

Am 22. Oktober 2022 veröffentlicht.

Seit dem 5. Mai ist unser Gefährte Alfredo Cospito im Rahmen des 41bis-Regimes inhaftiert. Diese Maßnahme wurde nach monatelanger Zensur des Schriftverkehrs und nach der repressiven Operation Sibilla vom November 2021 angeordnet, für die er einen Haftbefehl erhalten hat. Hinter dieser repressiven Verschärfung von Alfredos Haftbedingungen steht der klare Wille des Staates, einen Gefährten mundtot zu machen, der in diesen Jahren der Haft mit Artikeln und Reden viel zur anarchistischen Debatte beigetragen hat.

Das 41bis ist ein hartes Gefängnisregime, das darauf abzielt, den Gefangenen zu isolieren, zum Schweigen zu bringen und zu vernichten, um ihn dazu zu bringen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Es wurde Ende der 1980er Jahre eingeführt und kam zunächst in Ausnahmefällen bei Aufständen oder schwerwiegenden Notsituationen in Gefängnissen zur Anwendung. Im Jahr 1992, nach dem Massaker von Capaci, wurde sie auf Mafiahäftlinge ausgedehnt. Seit 2002 wird sie auch auf Personen angewandt, die wegen Terrorismus und Subversion verurteilt wurden, und dient somit als Instrument der politischen Repression. Derzeit befinden sich auch einige Gefangene, die der kommunistischen Organisation BR-PCC angehören, unter dieser Haftbedingungen. Ursprünglich als vorübergehende Inhaftierung gedacht, ist diese Ausnahmeregelung von Notfall zu Notfall zur Norm geworden. Dieser Mechanismus ist seit der Ausrufung der so genannten Pandemie für den größten Teil der Bevölkerung bereits zum täglichen Brot geworden. Es ist inzwischen selbstverständlich: Wenn eine Notfallmaßnahme einmal eingeführt ist, gibt es kein Zurück mehr.

Die Überstellung von Alfredo nach 41bis sowie die jüngsten Verurteilungen von Juan, 28 Jahre alt, wegen eines Sprengstoffanschlags auf eine Parteizentrale der Lega Nord, und Anna, die zusammen mit Alfredo wegen politischen Massakers verurteilt wurde, sind eine echte und richtige Warnung des Staates: Wer anarchistische und revolutionäre Praktiken und Ideen verbreitet, wird lebendig begraben. Die anti-anarchistischen Aktionen der letzten Jahre sind auch ein Beispiel für die repressive Verschärfung, die wir gerade erleben. Angesichts dieser Situation können wir uns nicht darauf beschränken, die Schläge des Staates so gut wie möglich zu ertragen und auf bessere Zeiten zu warten.

Es ist dringend notwendig, die Grundlagen für eine konkrete internationale revolutionäre Solidarität zu schaffen.

Die einzigen Antikörper gegen die Katastrophe, in die uns der Staat und die Bosse Tag für Tag führen, sind Propaganda und Aktionen, die es verstehen, an die Wurzel zu gehen und den innersten Sinn unseres Kampfes zum Ausdruck zu bringen: die Zerstörung des Bestehenden ohne jegliche Vermittlung.

ALFREDO RAUS AUS DEM 41BIS. FREIHEIHT FÜR ALLE!

TOD DEM STAAT, ES LEBE DIE ANARCHIE!

Anarchist*innen

Die Dringlichkeit erfordert Entschlossenheit: Holen wir Alfredo Cospito aus der Isolationshaft raus. Worte des Gefährten Francisco Solar

Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns

Die Dringlichkeit erfordert Entschlossenheit: Holen wir Alfredo Cospito aus der Isolationshaft raus. Worte des Gefährten Francisco Solar

Am 23. Oktober 2022 veröffentlicht.

Der Hungerstreik als Mittel des Kampfes ist das letzte Mittel, das dem Gefangenen zur Verfügung steht, um gegen das erstickende Leben im Gefängnis zu kämpfen. Es handelt sich um eine extreme Maßnahme, bei der der Körper als letzter Schützengraben des Kampfes eingesetzt wird. Die Dringlichkeit bestimmt die Entscheidung, einen solchen Kampf zu führen. Diese Dringlichkeit ist heute zweifellos in der Situation des Gefährten Alfredo Cóspito gegeben, den die Macht in einer wahnsinnigen Isolationshaft zum Schweigen zu bringen versucht.

Sie empfanden seine Aktionen als harte Schläge, die, wenn sie wiederholt und vervielfacht würden, die auferlegte Ordnung in Schwierigkeiten bringen würden.

Sie sahen in seinen Schriften und Vorschlägen wichtige Beiträge zu aufständischen Ideen und Praktiken, die eine Gefahr für jeden Ausdruck von Autorität darstellen.

Und sie haben nicht Unrecht.

Aus diesen Gründen haben sie beschlossen, 41bis (A.d.Ü., der Paragraf für Isolationshaft in Italien) auf Alfredo anzuwenden. Angesichts dieser Angriffe haben wir keine andere Wahl, als mit Stärke und Entschlossenheit zu reagieren, wobei wir uns darüber im Klaren sind, dass dies ein Kampf für Alfredo und für alle von uns ist, die sich gegen die Macht stellen. Wir verstehen die Bedeutung dieses Kampfes und sehen ihn als eine Gelegenheit, die Beziehungen und die Komplizenschaft in einem Internationalismus der Aktion zu stärken.

Dies ist nicht der Zeitpunkt für Reflexion oder Debatten. Es ist eine Zeit des Krieges, des gewaltsamen Aufbruchs, der Belebung und Stärkung der revolutionären Solidarität, die zu unserem praktischen Arsenal gehört, das wir zu nutzen wissen.

Nutzen wir unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit, um das Beste aus dem zu machen, was wir haben, und knacken wir diese staatsbürgerliche Normalität mit durchschlagenden Schlägen, die die Gefahr einer anarchischen Solidarität aufzeigen.

Lassen wir die Opferdiskurse beiseite und greifen wir die Macht an, wo immer sie ist, denn das ist die einzige Möglichkeit, Alfredo aus der Isolationshaft zu befreien und 41bis ein Ende zu setzen. Und je energischer diese Angriffe sind, desto größer wird ihre Wirkung sein, und daher wird ihre Fähigkeit, aufzutreten und aufzubrechen, zunehmen, was sicherlich die Ausdrucksformen der anarchischen Solidarität stärken wird.

Holen wir Alfredo Cospito aus der Isolationshaft!
Beenden wir den 41 bis!
Es lebe die Anarchie!

Fracisco Solar
Gefängnis La Gonzalina – Rancagua
Oktober 2022

Rote Zora: Anschlag gegen das Max-Planck-Institut in Köln (1985)

Den Hunger beseitigen – das behaupten sie alle, die Politiker, die Wissenschaftler, die Chemiefirmen – doch es wird immer perfekter organisiert. Der Hunger – die beste Waffe der Metropolen gegen die „3. Welt“. Eine neue Dimension, die Macht über die Nahrungsmittel und ihre Produktion zu erlangen, bietet die Gentechnologie. Das Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln-Vogelsang… Continue reading Rote Zora: Anschlag gegen das Max-Planck-Institut in Köln (1985)

Anonym: Glasbruch an einem Laborgebäude des Max-Planck-Instituts für Biochemie (2022)

Anfang Juli haben wir dem Max-Planck-Institut (MPI) für Biochemie in Martinsried bei München einen nächtlichen Besuch abgestattet. Wir haben die Scheiben eines Laborgebäudes auf dem Campus eingeworfen und sind unbemerkt wieder in die Dunkelheit entschwunden. Mit unserer Aktion wollten wir den HERREN im weißen Kittel einige schmutzige Fremdkörper in ihre sterile Welt der biotechnologischen Kontrolle… Continue reading Anonym: Glasbruch an einem Laborgebäude des Max-Planck-Instituts für Biochemie (2022)

Ein Buch, um damit die weiße Vorherrschaft zu erschlagen

Eine Rezension von »Schwarze Saat – Gesammelte Schriften zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus«

Wer sich wie ich aufgrund des Titels ein Buch über etwas wie beispielsweise die Maroon-Gemeinschaften oder auch anarchistischere Spielarten einer Art Rainbow Coalition erwartet hat, die*der wird zunächst ein wenig enttäuscht sein, wenn sie einen Blick in das Inhaltsverzeichnis von Schwarze Saat wagt. Nein, bei dem Buch handelt es sich tatsächlich um eine Textsammlung mit Texten zu verschiedensten Themen, geschrieben von Anarchist*innen, die entlang der Identitäten “Schwarz” und “Indigen” verortet werden (können). Von der vielzitierten Lucy Parsons über die spätere anarchistische Fraktion der Gefangenen der Black Panther-Bewegung, den nigerianischen (syndikalistischen) Anarchist Sam Mbah nicht vergessend, bis hin zu einigen der indigenen und schwarzen Anarchist*innen und anarchistischen/autonomen Organisationen der heutigen Bewegung in Nordamerika, sind alle bekannten und ein paar weniger bekannte schwarze und indigene Anarchist*innen mit Texten vertreten. Dass sich dabei viele Stimmen offen widersprechen, scheint vorprogrammiert. [1] Herausgeberin, Übersetzerin und Autorin Elany begründet die Zusammenstellung im Vorwort des Buches so auch damit, der Erzählung des Anarchismus als weiße, eurozentrische Bewegung, die Stimmen schwarzer und indigener Anarchist*innen gegenüberstellen zu wollen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, allerdings scheint mir das Problem, mit dem man in diesem Unterfangen konfrontiert ist, dass es im heutigen Spektrum deutschsprachiger Anarchisten ganz verschiedene Erzählungen von der anarchistischen Bewegung gibt. Während sich die organisationsfixierten Anarchist*innen auf die mehr als gewagte Hypothese festgelegt zu haben scheinen, der Anarchismus sei das Erbe des antiautoritären Flügels der Ersten Internationale und entsprechend gemäß ihrem autoritären Gegenflügel neben (ihrem eigentlichen Kontrahenten) Marx vorrangig die Schriften von Proudhon, Kropotkin und gelegentlich einmal Bakunin studieren (jaja, ich polemisiere und ja, es gibt auch noch Malatesta, Rocker, Goldman, Landauer, ja sogar die bereits erwähnte schwarze Anarchistin Lucy Parsons usw., deren Namen man in diesen Kreisen wenigstens kennt …), ist es in Abwesenheit eines zwar nach Verwesung stinkenden, aber immerhin doch die Zeiten überdauernden Kadavers einer anarchistischen Einheitsorganisation, schwierig, eine klare Kontinuität anarchistischer Geschichte zu entwickeln – und nicht alle wollen das überhaupt – und so beziehen sich die formloseren oder auch informell organisierten Anarchisten zumeist eher auf nur lose miteinander in Verbindung stehende Ereignisse, Publikationen und soziale Milieus und gar nicht so selten sind es auch die etwas weniger theoretisierten, volkstümlicheren Bewegungen, auf die sich seitens der organisationsfeindlicheren Anarchist*innen bezogen wird. Maroon-Gemeinschaften mögen vielleicht nicht zu einem Anarchismus der Internationalen passen, aber ich beispielsweise fand Russell Maroon Shoatz‘ “The Dragon and the Hydra: A Historical Study of Organizational Methods” (eine deutsche Übersetzung kann etwa über die anarchistischebibliothek.org heruntergeladen werden), ebenso wie auch die Beschäftigung mit diversen millenaristischen Sekten oder den Ludditen immer schon interessanter, als mir die parlamentarischen Rededuelle zwischen Marx und Bakunin zu Gemüte zu führen oder mir die sterbenslangweiligen und fortschrittsgläubigen Revolutions-Verwaltungspläne eines Kropotkin reinzuziehen (aber ob selbst diese “weißen Anarchist*innen” “nur philosophiert haben”, das würde ich einmal so dahingestellt lassen [2]). Schwarze Saat legt sich hier nicht fest, versucht vielleicht gewissermaßen verschiedensten Erzählungen schwarze und indigene Stimmen hinzuzufügen, ohne dass diese Erzählungen jedoch voneinander unterschieden werden, und verpasst dabei einerseits vielleicht die Gelegenheit, zur einen oder anderen Erzählung wirklich eine neue, schwarze oder indigene Perspektive beizutragen oder etwa gänzlich neue Erzählungen dem anarchistischen Fundus (wobei ich schon sehr gut verstehe, dass gerade viele Indigene, aber auch Schwarze sich immer geweigert hatten, die Geschichten ihrer Ahnen einer Anarchistischen Geschichtsschreibung, wie sie von manch einer Organisation oder auch einzelnen Individuen betrieben wird, hinzufügen zu lassen, aber zumindest wenn ich von einem Fundus anarchistischer Erzählungen spreche, dann meine ich etwas anderes) hinzuzufügen, während es mir andererseits, ob intendiert oder nicht, eine Steilvorlage zu liefern scheint, eine allgemeine Identität des*der schwarzen/indigenen Anarchist*in zu begründen und/oder zu verteidigen. Aber was würde ein “wir, schwarze/indigene [3] Anarchist*innen” bringen, außer dem Potential separatistischer Organisierung?

Der anhaltende Reiz des Schwarzen Nationalismus

Ein in mehreren Texten in Schwarze Saat wiederkehrendes, zwar oft kritisch, aber meinem Geschmack nach viel zu wenig feindselig diskutiertes Konzept, mit dem ich wirklich ein Problem habe, ist das des Schwarzen Nationalismus. Lorenzo Kom’boa Ervin, die Black Autonomy Federation, Ashanti Alston, Saint Andrew und weitere Autor*innen beziehen sich letztlich positiv auf einige Aspekte des Nationalismus, die ich anhand der Texte “Nationale Befreiung & Anarchismus” von Saint Andrew und “Jenseits des Nationalismus, aber nicht ohne ihn” von Ashanti Alston kritisch diskutieren will. Auch auf die Gefahr hin, dass es manch “schwarzer Anarchist […] satt [haben wird], dass vor allem weiße Anarchist*innen den Nationalismus einfach abweisen” (Ashanti Alston, S. 195). Ein Totschlagargument, wenn man mich fragt und gewiss könnte ich in einem Anflug von Tokenizing nun im Gegenzug mindestens ein Dutzend schwarzer Kritiken am Nationalismus droppen, aber dieses Spiel ist mir beileibe zu blöde. Ashanti Alston beschreibt zunächst seine Erfahrungen mit Schwarzen Nationalismen als Teenager, die ihm “das Leben gerettet” haben. Dass man “in erster Linie auf [sich] selbst schauen muss, um [sich] zu befreien”, dass es nicht “notwendig war, bei dem weißen Mann – vom Herrscher bis zum Revolutionär – ‘einzuchecken’, um zu sehen, ob es in Ordnung war” (S. 196), das klingt erst einmal nach einer mit (meinem) anarchistischem Denken nur allzu resonierenden Kritik an Führungspersönlichkeiten und kollektiven Zwangsverhältnissen, dass dieses Gefühl, das Ashanti Alston als eine Erkenntnis, die ihm vom Schwarzen Nationalismus von Malcolm X, der Black Power Bewegung und den Black Panthers vermittelt wurde, jedoch unter anderem in dem Slogan “WIR MÜSSEN UNSERE EIGENEN GEMEINSCHAFTEN KONTROLLIEREN” gipfelt, das resoniert dann schon erheblich weniger mit meinen Ideen. Es stimmt, vieles von dem, was die Black Panther an ihrer Basis taten, ist mit (meinen) anarchistischen Vorstellungen von Selbstorganisation vereinbar und ganz gewiss kann man nicht alle Anhänger*innen dieser Partei oder gar Bewegung über einen Kamm scheren, wie die zahlreichen kritischen Stimmen später anarchistischer Mitglieder, darunter auch Ashanti Alston, durchaus beweisen, aber ist das ein Argument dafür, dass der Nationalismus (nicht nur der der Black Panther) deshalb mit anarchistischen Ideen vereinbar wäre? Nur weil an der Basis zahllose Initiativen gegenseitiger Hilfe entstanden sind, wird das doch nichts an der Tatsache ändern, dass genau jener Nationalismus, dem Ashanti Alston diese Entwicklung zuschreibt, eben auch polizeiartige Strukturen zur “Kontrolle eigener Gemeinschaften” hervorbrachte, mit den autoritären Ideologien und Praxen der Parteiführung harmonierte und Solidarität mit angeblich revolutionären, nationalstaatlichen Bewegungen hervorrief. Dass es “selbst beim Nationalismus eines Louis Farrakhan [4] um die Rettung meines Volkes” geht, wie Ashanti Alston schreibt, will ich ja gar nicht bezweifeln, ebensowenig wie ich bezweifle, dass Anarchist*innen, ja sogar “die spezifischen anarchistischen Bewegungen innerhalb eines bestimmten Landes rassistisch sind”, aber ist das wirklich ein Argument für den Schwarzen Nationalismus?

“Es ist einfach, sich zurückzulehnen und über unseren Nationalismus aus dem modernistischen eurozentrischen Rahmen rationaler, wissenschaftlicher, materialistischer Modelle zu intellektualisieren. Während man das tut, ist es unser Nationalismus, der unser Volk ständig dazu bringt, zusammenzukommen, sich an unsere Geschichte zu erinnern, uns selbst zu lieben, weiterzuträumen und zurückzuschlagen. Schwarze Anarchist*innen und antiautoritäre Revolutionär*innen verstehen die Grenzen des Nationalismus in Bezug auf seinen historischen Sexismus, die Hierarchie oder seine modernistischen Züge im Allgemeinen. Aber wir erkennen auch die modernistischen Fallen des Anarchismus in Form des amerikanischen Rassismus/Klassenprivilegs, wenn es um People of Color geht.”

schreibt Ashanti Alston in seinem Text (S. 197 f.). Fredy Perlman, der versucht zu verstehen, wie eine Familienangehörige, nachdem sie vor dem nationalsozialistischen Genozid an den Juden, in dem ein anderer Teil seiner Familie vernichtet wurde, geflohen war, den Quechuas, an deren Seite er aufwuchs mit derart rassistischer Feindseligkeit gegenüberstehen konnte, beschreibt eine eher gegenteilige Erfahrung:

“Die Verachtung meiner Verwandten war meine erste Erfahrung mit Rassismus, der dieser Verwandten eine Ähnlichkeit mit den Pogromist*innen, vor denen sie geflohen war, verlieh; dass sie ihnen nur knapp entkommen war, machte sie nicht zu einer Kritikerin von Pogromist*innen; die Erfahrung trug möglicherweise gar nichts zu ihrer Persönlichkeit bei, nicht einmal hinischtlich ihrer Identifikation mit den Konquisitadoren, da diese mit Europäer*innen geteilt wurde, die nicht die Erfahrung meiner Verwandten teilten, nur knapp dem Konzentrationslager entgangen zu sein. Unterdrückte europäische Bauern hatten sich mit den Konquisitadoren identifiziert, die bereits lange vor der Erfahrung meiner Verwandten eine noch grausamere Unterdrückung gegen Nicht-Europäer*innen durchführten.

Meine Verwandte bediente sich ihrer Erfahrung Jahre später, als sie entschied, eine Fürsprecherin für den Staat Israel zu werden; zu dieser Zeit hatte sie ihre Verachtung der Quechuas nicht aufgegeben, im Gegenteil, sie richtete ihre Verachtung vielmehr gegen Menschen in anderen Teilen der Welt, gegen Menschen, die sie niemals getroffen hatte oder unter ihnen gelebt hatte. Aber damals interessierte ich mich nicht für ihre Entscheidung diesbezüglich; vielmehr interessierte ich mich für die Schokolade, die sie mir mitbrachte.”

– Fredy Perlman. Anti-Semitism and the Beirut Pogrom.

Kurze Zeit später formuliert er seine Gedanken diesbezüglich, ebenso wie hinsichtlich revolutionärer Bewegungen, die sich nationalistische Mobilisierungsstrategien zu eigen machen, in Der anhaltende Reiz des Nationalismus prägnanter:

“Industrialisierte Nationen haben ihr ursprüngliches Kapital durch Enteignung, Deportation, Verfolgung und Segregation, wenn nicht gar immer durch Vernichtung von Menschen, die als legitime Beute bestimmt werden, beschafft. Sippschaften wurden gebrochen, Umgebungen wurden zerstört, kulturelle Orientierungen und Gepflogenheiten wurden ausgerottet.

Nachkommen der Überlebenden solcher Angriffe haben Glück, wenn sie auch nur das kleinste Relikt bewahren können, den fliehendsten Schatten der Kulturen ihrer Vorfahren. Viele der Nachfahren behalten nicht einmal Schatten; sie sind vollkommen entleert; sie gehen arbeiten; sie vergrößern weiterhin den Apparat, der die Kultur ihrer Vorfahren zerstört hat. Und in der Welt der Arbeit sind sie an den Rand verbannt, zu den unangenehmsten und am schlechtesten bezahlten Jobs. Das macht sie wahnsinnig. Ein Supermarktpacker beispielsweise kann mehr über das Lager und die Bestellungen wissen als der Manager, kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass nicht er der Manager ist und der Manager kein Packer. Ein Security kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass er kein Polizeichef ist. Es ist unter Menschen, die all ihre Wurzeln verloren haben, die davon träumen Supermarktmanager und Polizeichef zu werden, wo die nationale Befreiung ihre Wurzeln schlägt; das ist der Ort, an dem Anführer und Generalstab geformt werden.

Der Nationalismus übt weiterhin seinen Reiz auf die Entleerten aus, weil andere Aussichten trostloser erscheinen. Die Kultur der Vorfahren wurde zerstört, daraus lässt sich schließen, anhand pragmatischer Standards gemessen, dass sie versagt hat; die einzigen Vorfahren, die überlebt haben, waren jene, die sich an das System der Invasoren angepasst haben, und sie überlebten an den Rändern von Mülldeponien. Die unterschiedlichen Utopien der Dichter und Träumer und die zahlreichen ‘Mythologien des Proletariats’ haben auch versagt, sie haben sich in der Praxis nicht bewährt, sie sind nichts gewesen als heiße Luft, Tagträume, Luftschlösser; das aktuelle Proletariat ist genauso rassistisch gewesen, wie die Bosse und die Polizei.

Der Packer und der Security haben den Kontakt zur alten Kultur verloren; Tagträume und Utopien interessieren sie nicht, sind tatsächlich abgewehrt durch die Geringschätzung des Geschäftsmannes gegenüber Dichtern, Herumtreibern und Träumern. Der Nationalismus bietet ihnen etwas Konkretes, etwas, das seit langem erprobt ist und von dem bekannt ist, dass es funktioniert. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund für die Nachfahren der Verfolgten verfolgt zu bleiben, wenn der Nationalismus ihnen die Aussicht bietet, Verfolger zu werden. Nahe und entfernte Verwandte von Opfern können ein rassistischer Nationalstaat werden; sie können selbst Menschen in Konzentrationslager pferchen, andere Menschen nach Lust und Laune herumschubsen, genozidalen Krieg gegen sie führen, ursprüngliches Kapital beschaffen, indem sie diese enteignen. Und wenn rassistische Verwandte von Hitlers Opfern das tun können, so können das auch nahe und entfernte Verwandte der Opfer von Washington, Jackson, Reagan oder Begin.

Jede unterdrückte Bevölkerung kann eine Nation werden, ein fotografisches Negativ der Unterdrückernation, ein Platz, wo der ehemalige Packer der Supermarktmanager ist, wo der ehemalige Security Polizeichef ist. Indem man die korrekte Strategie anwendet, kann jeder Security dem Beispiel der prätorianischen Wachen des antiken Rom folgen. Die Sicherheitspolizei eines ausländischen Minenkartells kann sich als Republik ausrufen, das Volk befreien, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als zu beten, dass die Befreiung irgendwann enden möge. Sogar vor der Machtergreifung kann eine Gang sich eine Front nennen und heftig besteuerten und konstant kontrollierten armen Menschen etwas anbieten, das ihnen noch fehlt: eine tributeintreibende Organisation und ein Mordkommando, genauer zusätzliche Steuerpächter und eine Polizei, eine, die diesen Menschen gehört. Auf diese Weise können Menschen von den Zügen ihrer viktimisierten Vorfahren befreit werden; all die Relikte, die immer noch aus präindustriellen Zeiten und nicht-kapitalistischen Kulturen überlebten, können endlich permanent ausgerottet werden.

Die Vorstellung, dass ein Verständnis des Genozids, eine Erinnerung an die Holocauste, Menschen nur dazu bringen kann, das System niederzureißen, ist irrtümlich. Der anhaltende Reiz des Nationalismus legt nahe, dass das Gegenteil wahrer ist, nämlich dass ein Verständnis der Genozide Menschen dazu gebracht hat, genozidale Armeen zu mobilisieren, dass die Erinnerung an Holocauste Menschen dazu gebracht hat, Holocauste zu begehen. Die sensiblen Dichter, die sich der Verluste erinnerten, die Forscher, die diese dokumentiert haben, sind wie die reinen Wissenschaftler gewesen, die die Struktur des Atoms entdeckt haben. Angewandte Wissenschaftler verwendeten die Entdeckung wie man den Atomkern spaltet, dazu Waffen zu produzieren, die jeden Atomkern spalten konnten; Nationalisten verwendeten die Poesie, um menschliche Bevölkerungen zu spalten und zu fusionieren, genozidale Armeen zu mobilisieren, neue Holocauste zu begehen.”

Flower Bomb drückt einen im Grunde ähnlichen Gedanken in dem Text “Really though, not all “black” people give a fuck about “white” dreads”, von dem auch eine deutschsprachige Übersetzung als hübsche Broschüre kursiert, etwas anders aus:

“Die geteilte Erfahrung im Kapitalismus “schwarz” zu sein, ist nur auf die Identität beschränkt. Nur weil Menschen die gleiche(n) institutionalisierte(n) Form(en) der Unterdrückung teilen, bedeutet das nicht automatisch, dass sie die gleichen Visionen und Absichten teilen, wie sie zu zerstören sind. Dies sind wichtige Unterschiede, die nicht abgeflacht werden sollten. Während diese Gruppen ihre betäubenden Versuche fortsetzen, ein neues System des Rassenessentialismus in der Schale des alten zu erschaffen, haben einige von uns Spaß daran, alle Systeme zu zerstören. Meine Anarchie ist eine existenzielle Erweiterung der Individualität jenseits der Grenzen rassenbasierter (und geschlechtsspezifischer) sozialer Konstrukte. Wenn sie von “schwarzer und brauner” Einheit gegen Rassismus und Faschismus sprechen, dann sagen einige von uns: Alle gegen Rassismus und Faschismus und auch gegen die festen Identitäten, die letztere funktionsfähig machen. Wo das Chaos mit der Emanzipation und dem grenzenlosen Potenzial, das sich daraus ergibt, blüht, wird Individualität zu einer Kriegswaffe gegen Kontrolle und kategorischer Enge. […]”

Eine meiner Meinung nach differenziertere Auseinandersetzung mit Nationalismus, die nicht einfach die sehr realen Erfahrungen, dass die Black Panthers autoritäre Nationalstaaten unter schwarzer Führung unterstützten, die im Endeffekt die koloniale Ausbeutung ihrer Bevölkerung beinahe unvermindert fortsetzte, mit dem meiner Meinung nach schwachen Argument beiseitewischt, dass die nationalistische Propaganda vielen Schwarzen dabei half, sich nicht als minderwertige Existenzen zu begreifen, liefert das Essay “Nationale Befreiung & Anarchismus – Reaktionär oder Revolutionär” von Saint Andrew (S. 173).

Saint Andrew definiert eine Nation als “eine imaginäre Gemeinschaft von Menschen, die sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache, Geschichte, Abstammung, Gesellschaft oder Kultur bildet und sich ihrer Autonomie bewusst ist.” Daher ist der “nationale Befreiungskampf” für ihn ein Kampf gegen das einer solchen Nation auferlegte Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung. Also ein Kampf einer Nation gegen ihre Unterdrückung durch eine andere und das kann unterschiedlichste Formen annehmen, wobei eine bestimmte Form, nämlich die des Nationalismus von ihm als diejenige Form definiert wird, bei der in der Regel durch die Angehörigen der Nation bzw. eben diejenigen, welche sich anmaßen in ihrem Namen zu sprechen, ein unabhängiger Staat geformt werden soll. Eigentlich ist damit klar, dass Anarchist*innen mit Nationalismus nichts zu tun haben können. Saint Andrew scheut sich jedoch vor dieser Absolutheit und bringt den Revolutionären Schwarzen Nationalismus ins Spiel, dem er seinen Platz im Kampf gegen Patriarchat, den Kapitalismus und den Staat attestiert. Zudem führt er den kurdischen nationalen Befreiungskampf der PKK als ein Beispiel für nationale Befreiung an, bei der man sich zugleich gegen einen Staat gestellt hätte.

Ich denke, dass, obwohl Saint Andrew versucht, auseinanderzuklauben, was an nationalen Befreiungskämpfen mit anarchistischem Denken vereinbar ist und was nicht, er vor allem an dem Ballast dessen, was er zuvor als Nation definiert hat, scheitert, scheitern muss, eine anarchistische Perspektive zu entwickeln. Wenn man eine Nation als eine “imaginäre Gemeinschaft” definiert, dann zeigt dies meiner Meinung nach zugleich auch das Problem an diesem Konstrukt auf: Es handelt sich hier eben um eine “imaginäre Gemeinschaft”, also eine Konstruktion, die geschaffen wurde, um über dem Individuum zu stehen und die folglich immer auch ein Instrument sein wird, Autorität zu rechtfertigen. Vielleicht wird das besonders anhand seines Beispiels des kurdischen nationalen Befreiungskampfes sichtbar. Man kann sich sicherlich trefflich darüber streiten, ab wann etwas ein Staat ist. Ob nur weil es keine formelle Bindung diverser parlamentarischer, polizeilicher und juristischer Institutionen – die es in Rojava allesamt gibt – an eine Verfassung oder etwas ähnliches gibt (dafür aber durchaus eine gewisse “Parteitreue”), und nur weil es teilweise konkurrierende Polizeien, Parlamente, Justizen gibt, eine Konstellation wie die in Rojava kein Staat ist, würde ich persönlich ja in Frage stellen. Nichtsdestotrotz ist diese Frage für mich irrelevant, denn nur weil es keinen (formellen) Staat gibt, ist etwas noch lange nicht anarchistisch, d.h. ohne Herrschaft. Das Problem dabei kann man durchaus an der konstruierten kurdischen Nation festmachen. Denn es ist eben bloß eine imaginäre Gemeinschaft. In Wahrheit jedoch sind es hunderte, ja sogar tausende reale kurdische Gemeinschaften, die hier unter der Flagge einer Nation vereint werden (und das gleiche gilt auch für die afroamerikanischen Gemeinschaften, die im Schwarzen Nationalismus als eine Nation betrachtet werden). Und wenn eine bestimmte Gemeinschaft (die PKK, bzw. ihre entsprechenden bewaffneten und unbewaffneten Arme) nun mehr oder minder beansprucht, für diese imaginäre kurdische Gemeinschaft zu sprechen, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, usw., dann werden am Ende wiederum Gemeinschaften und Individuen unterdrückt.

Bei all dem stimme ich natürlich sowohl Saint Andrew als auch Ashanti Alston zu, wenn diese den Kampf der schwarzen Bevölkerung gegen ihre Unterdrückung als einen Kampf von Bedeutung ansehen. Das tue ich auch. Aber muss man deshalb die Probleme nationalen/nationalistischen Denkens und ihre Widersprüchlichkeit mit dem Anarchismus unter den Teppich kehren?

Ist die Anarchie demokratisch?

Der meiner Meinung nach von manchen Anarchist*innen (inklusive der Black Autonomy Federation) nur halbherzig vollzogene Bruch mit dem (schwarzen) Nationalismus, er ist möglicherweise auch im Text “Die kommunale Kontrolle der schwarzen Gemeinschaft” (S. 52 ff.) der Black Autonomy Federation prägend dafür, dass meiner Meinung nach äußerst unappetitliche Vorschläge eines polizeiartigen Parastaates Teil dieser Perspektive sind, in deren Zentrum die Bildung autonomer, aber föderierter, schwarzer Kommunen steht, die dank einer verwirrenden Wortverdrehung, die finanzielle staatliche Einflussnahmen, die schon seit den 1960er Jahren schwarze Befreiungsbewegungen befriedet, zersetzt und unschädlich gemacht haben, zu einer Art Bankraub verklärt (anstatt einfach den Bankraub als Mittel der Finanzierung vorzuschlagen! Eine Praxis, die der schwarzen Befreiungsbewegung alles andere als fremd ist), sogar eine staatliche Finanzierung erhalten sollen. Nicht nur demokratisch gewählte Räte sieht diese Kommune vor, sondern nicht zuletzt auch einen schulischen Indoktrinationsapparat, während eine Föderation dieser Kommunen “mit einer Stimme in allen Angelegenheiten” sprechen solle. Während die Frage einer schwarzen Polizei innerhalb dieser Kommunen zwar schlicht unbehandelt bleibt, macht dieser Text vielmehr offensichtlich, dass es selbstverständlich auch die üblichen repressiven Institutionen eines Staates in dieser Kommune geben würde, wenn die Rede davon ist, “in Schulen, Gemeindezentren, Gefängnissen und in schwarzen Gemeinden in ganz Nordamerika Veranstaltungen zur Bewusstseinsbildung für Schwarze ab[zu]halten – die Kindern und Erwachsenen Schwarze Geschichte und Kultur, neue befreiende soziale Ideen und Werte sowie Beratungs- und Therapietechniken zur Lösung von Familien- und Eheproblemen beibringen würden […]”. Wer die Institution der Familie und Ehe mittels Therapie und Co. erhalten will, der wird schon wissen, warum man lieber einfach nichts zu Knästen und Polizei sagt.

Auch wenn ich persönlich finde, dass Texte wie dieser in einer anarchistischen Textsammlung nichts zu suchen haben, bilden solche demokratischen Ausfälligkeiten eher eine Ausnahme und bleiben auch nicht unwidersprochen. “Unterstützen Anarchist*innen die Demokratie?” (S. 167), fragt etwa ziq und kommt dabei zu dem Schluss:

“Die Demokratie ist seit jeher ein Synonym für klassenbasierte Gesellschaften. Sie hat ganze Länder in zwei kaum unterscheidbare politische Parteien (konservativ und “progressiv”) gespalten, die sich dennoch ständig an die Gurgel gehen. Selbst in ihren libertärfreundlichsten Formen hat es immer wieder versagt, Hierarchie, Zwang und die autoritären Machenschaften von Mehrheitsgruppen zu verhindern. Du kannst nicht versuchen, ein künstliches System, das so brutal hierarchisch ist wie die Demokratie, durch eine vermeintlich egalitärere Version desselben Systems zu ersetzen und es Anarchie nennen. Du musst das ganze verrottete System über Bord werfen” (S. 172).

Wenn womöglich der von der Black Rose Anarchist Federation herausgegebene Reader “Black Anarchism” eine der ursprünglichen Inspirationen für die Textsammlung Schwarze Saat gewesen sein mag, so lässt sich generalisierend, aber dennoch eine gewisse Wahrheit beanspruchend, behaupten, dass es gerade jene Beiträge sind, die im englischen Vorbild nicht enthalten sind und die zudem mit der auf anarchistische Organisationen fixierten Perspektive brechen, die dieses Vorbild aus naheliegenden Gründen hochhält, die meiner Meinung nach die spannendsten Perspektiven in Schwarze Saat ausmachen.

Die Revolte beginnt bei uns selbst

Dass die Umwälzung aller Verhältnisse bei einer*m selbst beginnt, ist nun wirklich zu einer Binsenweisheit geworden, die viel zu oft wie ein Mantra wiederholt und ihres eigentliches Inhalts beraubt von einigen ewiggleichen Nörgler*innen (häufig in Form eines Privilegiendiskurses) gegen jene gewendet wird, die ohne dies beständig vor sich hinzubeten den Angriff auf etwas anderes als ihre ewig “mangelnde Reflektiertheit” vorschlagen oder praktizieren. Umso erfreulicher ist es, wenn der Ruf nach mehr Auseinandersetzung mit der eigenen Domestizierung (und Vergeschlechtlichung – Geschlecht ist meiner Meinung nach, da schließe ich mich “Gegen den vergeschlechtlichten Albtraum” aus baedan Vol. 2 an, eine der – und zwar eine der grundsätzlicheren – Kategorien in die wir “hineindomestiziert” werden) eine klare Analyse vorzulegen vermag und den liberalen Reflex ablegt, als Gegenteil einer Revolte gegen die äußeren Zwangsverhältnisse daherzukommen.

In “Kindheit und die psychologische Dimension der Revolution” (S. 405) beschreibt Ashanti Alston den Domestizierungsprozess, in dem jedes Kind in dieser Gesellschaft gebrochen wird und die gesellschaftlichen Regeln indoktriniert bekommt. Ausgehend davon, dass das Kind durch die Familie und die innerhalb dieser stattfindende Erziehung gebrochen wird und lernt, zu GEHORCHEN, beschreibt Ashanti Alston, wie sich jedes Kind dabei eine Maske erschafft, durch die reaktiven Versuche mit den traumatischen Erfahrungen der 6.000 bis 10.000 Jahre alten Kultur, in die es hineingezwängt wird, umzugehen. Diese Maske “dient dazu, die gerechten Ströme der Lebensenergie zu binden und zu verzerren, um sie in sozial akzeptables, pathologisches Denken, Fühlen und handeln umzuwandeln … was eine Gesellschaft charakterisiert, die auf Rassismus, Klassismus, Sexismus, Imperialismus, Profithunger, Krieg und andere antihumanistische Tendenzen ausgerichtet ist.” Diese Maske abzustreifen, meint Ashanti Alston, “ist vorbereitend und unausweichlich, wenn wir unsere hohen verbal ausgedrückten Ziele erfolgreich verwirklichen wollen.” Aber wie lässt sich das erreichen?

“Zunächst durch die Erkenntnis, dass in der heutigen Phase des wissenschaftlichen Kapitalismus die repressive (psychische) Beherrschung und (soziale) Verwaltung der Gesellschaft zu einem fortgeschrittenen “1984” wird – wissenschaftlich, produktiv und total. Als Malcolm X von ihren Kräften sprach, uns zu manipulieren und uns denken zu lassen, dass unsere wahren Freund*innen unsere Feind*innen sind und umgekehrt, wusste er selbst, dass die Manipulation tief in unsere Seelen reicht. Sie ging tief genug, um uns glauben zu machen, dass wir unser eigenes Denken und Handeln tun. Und Malcolm hatte nur DIE SPITZE des Eisbergs durchdrungen.

Niemand ist immun gegen die psychische Beherrschung, die dieses unterdrückerische Monster, oder ‘Gott’, über uns hat. Die unsichtbare Maske hält diese Herrschaft aufrecht, diese blinde Sucht nach Autoritarismus. Sie unterdrückt die instinktiven Freiheitswünsche eines Menschen. Das gilt selbst dann, wenn man ALLEIN ist und KEINE SICHTBARE politische oder polizeiliche Kraft in der Nähe ist. Wie Sklav*innen, die nicht vom Meister wegrennen, wenn sie losgekettet werden und kein physisches Hindernis in Sicht ist. […]”

Also töte den Bullen in deinem Kopf? Nun, so einfach will eine*n Ashanti Alston wohl nicht davon kommen lassen.

“Jede*r dessen Einstellung ist, dass er*sie bereits revolutionär (oder menschlich) genug ist und keine weiteren Veränderungen mehr durchmachen muss, ist offensichtlich eine selbstversklavte Person, die damit zufrieden ist, in der gleichen alten Form stecken zu bleiben. Diese Art von Mensch kann sich nicht selbst helfen und wird sich wahrscheinlich auch nicht von anderen helfen lassen, wenn sich diese negative Anti-Freiheits-Haltung nicht in eine Haltung ändert, die ein Zeichen dafür ist, dass man sich der Welt der positiven “Reize”, des Guten in den Menschen, der bereichernden, befreienden Erfahrungen und dergleichen öffnet.

Ich würde ja dazu neigen zu sagen: Jede*r, der von sich denkt, sich in einem Idealzustand (sei es ein revolutionärer oder menschlicher oder irgendein anderer) zu befinden, der*die ist halt ein*e Dogmatiker*in und als solche*r gewissermaßen natürlich selbst versklavt. Ja, töte den Bullen in deinem Kopf, und töte auch gleich die Politikerin, den Virologen, den Rassist*in und den Patriarchen, ebenso wie die Sklavin, den Arbeiter, den*die Schönheitsprinz*essin, den Patienten und den Gläubigen, die sich dort ebenfalls befinden. Und ja, ein*e jede*r, die*der das jemals ernsthaft in Angriff genommen hat, weiß, dass das ein schmerzhafter und beständiger Prozess ist. Ich denke jedoch, dass es diesem Prozess niemals zuträglich ist, und das meine ich auch hier bei Ashanti Alston zu erkennen, wenn wir uns dabei gegenseitig be- und verurteilen, wenn wir einen Wettkampf daraus machen, wer die “aufrichtigsten” (und das heißt eigentlich selbstmitleidigsten) Reden über die eigenen Schwächen und Beschädigungen schwingt, wenn wir übersehen, dass in jedem aufrichtigen Handeln, das von der in unserem Herzen noch immer lodernden Flamme der Freiheit ausgeht, immer auch eben jener Versuch steckt, das “innere Ghetto” zu zerstören. Denn dann gefallen wir uns letztlich darin, mit unseren sogenannten Schwächen und Beschädigungen zu leben, anstatt sie in einem Akt der Stärke erst zu akzeptieren und dann als solche zu überwinden.

Überlegungen zum Rassismus

Was ich mich vielfach bei der Lektüre jener Texte gefragt habe, die ihre Analysen rund um eine Auseinandersetzung mit Rassismus entwickeln, ist, inwiefern dieser nordamerikanische Kontext tatsächlich 1:1 hierher, auf den deutschsprachigen Raum, ja auf den mitteleuropäischen Raum im Allgemeinen übertragen werden kann. Ich will nicht sagen, hier gäbe es keinen Rassismus, um Himmels Willen … Sicherlich nicht. Auch hier werden Schwarze und People of Color von Bullen ermordet, von Neonazi-Gruppen ermordet, sie üben oft die schlechtbezahltesten und gesundheitsschädlichsten Jobs aus, werden bei der Wohnungssuche diskriminiert, werden viel häufiger Opfer polizeilicher Kontrollen als Weiße, werden wenn sie keine Arbeit haben und keinen deutschen Pass besitzen, des Landes verwiesen, werden in Lagern eingepfercht und auf abertausende Arten und Weisen daran erinnert, dass sie nicht zur weißen Herrenrasse gehören und folglich all diese Schikanen zu erdulden hätten. Aber: Formal gilt der offen geäußerte und individuell ausgelebte Rassismus in weiten Teilen der Gesellschaft als unschicklich. Jedes Kind weiß heute, dass man nicht Neger sagt, Unternehmen stellen ihr fortschrittliches Denken unter Beweis, indem sie eine*n Quotenschwarze*n in ihren Aufsichtsrat aufnehmen, die NGO-getriebene und als Flüchtlingshilfe euphemisierte Verwaltung von Flüchtlingen boomt geradezu vor Ehrenamtlichen, reiche Bonzen gefallen sich darin, schwarze Bedienstete/Knechte einzustellen und ihnen trotzdem den vollen Hungerlohn zu bezahlen, den sie ihren weißen Vorgängern gezahlt haben, und es gehört im linken Bürgertum geradezu zum guten Ton, bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit seinen schwarzen Freund*innen anzugeben, während eine angeblich antirassistisch motivierte fairtrade-Bewegung unkritisch mit Kolonialwaren handelt und von “Kindern in Afrika” gefertigte, koloniale Kunst verkauft, um die Erlöse an jene NGOs zu spenden, die damit im globalen Süden ihre Bevölkerungspolitik finanzieren. Ändert das etwas an den rassistischen Verhältnissen? Gewiss nicht, vielmehr kaschiert es sie. Aber angenommen es würde, wie liberale antirassistische Aktivist*innen das vielleicht anstreben, gelingen, dass ein*e Schwarze*r hierzulande tatsächlich gleich behandelt wird, wie ein*e Weiße*r, wäre der Rassismus dann besiegt? Auch wenn ich persönlich bezweifle, dass sich so tief sitzende Ideologien wie der Rassismus in einer Gesellschaft einfach wegreformieren lassen, so denke ich, dass der derzeitige Fokus, der bei der Analyse von Rassismus auf Diskriminierungen und Privilegien innerhalb dieser (westlichen) Gesellschaft gelegt wird, von den sehr viel brutaleren, tödlicheren und stetig voranschreitenden rassistischen Prozessen ablenkt, die außerhalb der Mauern der Festung Europa vor sich gehen.

Das macht nicht ungültig, was Lorenzo Kom’boa Ervin, die Black Autonomy Federation und weitere in den in Schwarze Saat abgedruckten Texten im Großen und Ganzen als die Triebkraft des Rassismus analysieren, dass nämlich die Unterdrückung der Schwarzen und anderer PoC wie sie heute in Nordamerika verbreitet ist, noch immer die Reform der historischen Sklaverei darstellt und Schwarze nach wie vor jene tödlichen, gesundheitszerstörenden Jobs zu geringfügiger Entlohnung – oder, im Falle von Knastarbeit, so gut wie gar keiner – zu verrichten gezwungen sind, von denen einige weiße Bonzen auch weiterhin profitieren. Wenn man dies auf den hiesigen Kontext überträgt, so ist das auch nicht weniger wahr. Die antirassistische Bewegung hierzulande, ebenso wie in weiten Teilen Nordamerikas jedoch, blendet häufig den globalen Kontext dieser rassistischen Unterdrückung aus: Dass nämlich der Kolonialismus niemals aufgehört hat, dass die politische Administration von den weißen Kolonialherren vielfach an lokale, schwarze Despoten abgetreten wurde, die die ebenfalls schwarze Bevölkerung im Namen der weißen Kolonialherren weiter knechten, dass die Kredite der Weltbank und die vermeintlichen “Hilfsprogramme” verschiedener, sogenannter Philantropen diese nationalen Administrationen in eine Abhängigkeit gezungen haben, dass Bevölkerungspolitik, sei es mit Sterilisationsversuchen oder durch industrielle Landwirtschaft und patentiertes Saatgut induzierte Hungersnöte, dazu dient, die Bevölkerungen der einstigen Kolonien in die Rohstoffminen und auf die Plantagen zu treiben und dort festzuhalten, wo sie ein Dasein als Sklav*innen fristen, während um sie herum ein Krieg zwischen ihren nationalen Ausbeuter*innen darum entbrennt, wer von ihnen der Sklaventreiber sein darf; geführt mit Waffen aus dem Westen. Und wer vor dieser unsäglichen Vernichtung ganzer Lebensräume flieht, landet in den diversen Flüchtlingslagern, die dazu dienen, die Menschenströme weit vor der Festung Europa abzufangen und fernab der Augen der westlichen Bevölkerung verrecken zu lassen, während diejenigen, denen es gelingt, diesen Lagern zu entkommen entweder im Mittelmeer ersaufen, an den Grenzen Europas eingesperrt werden oder bei erstbester Gelegenheit dorthin zurück deportiert werden, von wo sie ihre Flucht begonnen haben.

Das gesamte kapitalistische System basiert auf dieser kolonialen, rassistischen Unterdrückung ganzer Bevölkerungen und der ökozidalen Vernichtung ihrer Lebensräume. Während die antirassistische Bewegung hier – und das gilt teilweise auch für die in Nordamerika – von kultureller Vielfalt spricht und daran arbeitet den Rassismus gegen Menschen, die bereits im Westen leben, hinter Sprachreformen und Quoten-Posten in Politik, Wirtschaft und Kultur zu verbergen, vernichtet dieses System weltweit die eigentliche Vielfalt von Lebensweisen zunehmend.

Es ist nicht so, dass nicht auch einige Beiträge in Schwarze Saat diese Kritik an kolonialer rassistischer Unterdrückung äußern würden, insbesondere die Texte von ziq, aber auch Elanys Text “Werkzeuge des Anarchismus Teil 2: Über Entkolonialisierung (und die technologische Komponente des Kolonialismus)” (S. 359) sind hier schonungslos. Angesichts der immer weiter voranschreitenden ökologischen Zerstörung im globalen Süden und der Involviertheit der kapitalistischen Akteur*innen hierzulande, steht die Entwicklung konkreter anarchistischer Perspektiven ebenso wie Strategien im Kampf gegen diese Form des kolonialen Rassismus weiter aus, aber wie Elany in ihrem Text nahelegt, könnten die Fäden dieser Kämpfe vielleicht dort wo antizivilisatorische Analysen die industrielle Todesmaschinerie enttarnt haben und antitechnologische Kämpfe damit begonnen haben, die Technologie zu zerstören, wiederaufgenommen werden.

Wer das Brot erobert, erobert und verteidigt die Industrie

Einer der bärtigen Propheten einer bestimmten Spielart des Anarchismus hatte damals eine Vision. Die Eroberung des Brotes sollte Wohlstand für Alle bringen. Kurz gesagt: Kostenloses Brot für alle. Und wer hätte da schon etwas dagegen? Nun, wozu das Brot erobern, wenn man auch Kuchen essen kann, mag einer dazu einfallen, aber ich fürchte der von ziq formulierte Einwand “Verbrennt das Brotbuch” (S. 515) wird auch die Kuchen-statt-Brot-Ernährungslehre entmystifizieren. Der Einwand ist geradezu banalen Charakters, aber doch unmittelbar einleuchtend: Um Brot zu backen bedarf es einerseits ausreichend Getreide und andererseits einer Menge Holz, um die Backöfen zu heizen. Heißt: Es ist erforderlich, Wälder zu roden, um die Öfen zu befeuern und das Getreide anzubauen, mit allen bekannten Folgen, dass nämlich die Böden vergiftet und weggespült werden und die einst auf dem Land lebenden Tiere größtenteils aussterben. Sprich: Man braucht gar nicht allzu viele Jahre Brot backen und wird schließlich merken, dass die Felder immer weniger Ertrag abwerfen. Man muss also noch mehr Wald roden, den auf dem Land seiner Nachbar*innen, denen man damit wiederum ihre Lebensgrundlage raubt, usw. Man zerstört also Stück für Stück die Natur, die einst in der Lage gewesen ist, alle Menschen zu ernähren und man wird nichteinmal mehr die eigentliche Ursache für diese Zerstörung erkennen.

Ob die Brotproduktion nun kapitalistisch ist, wie heute, oder kommunistisch, das ist für dieses Problem herzlich egal. Und weil es für die indigenen Nachbar*innen von jenen, die vielleicht Anarcho-Kommunist*innen mit den besten Absichten sein mögen, “egal [ist], dass die Bulldozer jetzt im kollektiven Besitz sind oder dass das Land, auf dem sie seit Jahrtausenden leben, jetzt “dem Volk” (der zivilisierten Mehrheit) gehört und nicht mehr dem Staat oder dem Kapital”, werden sich gewisse Konflikte einstellen, in denen es, um weiter Brot produzieren zu können unmöglich ist, nicht zu drastischen Maßnahmen zu greifen:

Wenn Menschen nicht damit einverstanden sind, von ihrem angestammten Land vertrieben zu werden, um in den Industriebetrieben und Fabriken zu arbeiten, die die Zerstörung ihrer Heimat vorantreiben, werden sie als “Kulaken”, “Konterrevolutionäre” und “Reaktionäre” abgestempelt und systemtisch ermordet, meist durch die Zerstörung ihrer Nahrungsquellen.

So anekdotisch und scheinbar banal ziqs Argument auch sein mag, es ist doch unmittelbar einleuchtend. Und ein klein wenig peinlich berührt muss man doch an all die vielen eigenen Worte denken, mit denen man die Industrie und ihre Verteidiger*innen immer angegriffen hatte. Dabei wäre es doch so einfach gewesen …

Und nun?

Schwarze Saat endet mit einem von Übersetzer*in Elany und ihrem Vater Samuel geschriebenen “Manifest” in Anführungszeichen, einem “Wildpunk-’Manifest’”. Zugegeben: Ich hasse Manifeste, Programme, usw. und es erinnert mich immer wieder an Tiqqun und das Unsichtbare Komitee, wenn autoritäre Begriffe in Anführungszeichen gesetzt werden, um der*dem Leser*in zu versichern, dass man sich des autoritären Charakters bewusst ist, nur um im weiteren Verlauf genau diesen autoritären Charakter anzupreisen. Nein, ein “Manifest” ist ebenso ein Manifest, wie auch eine imaginäre Partei eine Partei bleibt. Aber auch wenn ich mich entschieden dagegen wende, an diesem neokommunistischen, okkulten Spiel um althergebrachte Institutionen in Anführungszeichen, des Unsichtbaren oder der Einbildung teilzunehmen, will ich nicht unfair werden. Immerhin lautet der erste Punkt dieses “Wildpunk-’Manifests’”:

“Wildpunk entwickelt kein Programm für die Zukunft und hält nichts von vorgefertigten Bauplänen. […] Während du liest, denke darüber nach, was für dich persönlich mitschwingt und was nicht. Erschaffe dein eigenes Manifest. Wildpunk ist so wild wie die Anarchie selbst.”

Also schön, ein Programm in Anführungszeichen, das nicht nur sagt, dass es gar kein Programm ist, sondern auch dazu auffordert, Programme, inklusive es selbst abzulehnen und stattdessen selbst zu denken. Also doch nur ein literarischer Kunstgriff ohne autoritäre Absichten. Da könnte sich die imaginäre Partei ja noch eine Scheibe abschneiden.

Aber was sagt uns dieses Nicht-Programm nun? Eigentlich ziemlich viel sympathisches. Ich würde ein grundlegendes Uneinverständnis über die Bedeutung, die dem Werk “Desert” in dem gesamten Text verliehen wird (als “wahrscheinlich wichtigstes anarchistisches Werk der jüngeren Zeit”), bekunden, zumal es bloß ein paar alte Thesen wieder aufwärmt, ohne einen konkreten Kampf vorzuschlagen, aber davon abgesehen bereitet es mir Freude zu sehen, dass auch andere die Zerstörung der Industrie und die Sabotage an den (technologischen) Infrastrukturen der Herrschaft in den Mittelpunkt ihrer Perspektive stellen.

“Der zentrale Angriffspunkt der kapitalistischen Zivilisation ist die Industrie, welche die Erde und unsere Körper vergiftet hat. Wildpunk kämpft nicht dafür, die Produktionsmittel zu übernehmen, sondern die Mittel der Zerstörung zu ergreifen und sie verdammt nochmal zu sabotieren und niederzubrennen.”

Und auch all den Klimabewegten, die bisher noch einer der zentralen Lügen des grünen Kapitalismus aufgesessen sind, und jede Hoffnung auf eine Abwendung der Klimakrise bei gleichzeitiger Bewahrung der westlichen, zivilisierten Lebensweise in sie gesetzt haben, haben Elany und Samuel etwas wichtiges zu sagen:

“Wildpunk erkennt, dass vermeintlich grüne Energien nicht grün sind. Egal was die Herrschenden uns auch auftischen wollen, jede dieser Energien wurzelt in einem beispiellosen Ökozid. Energieinfrastrukturen, auch die angeblich grünen, sind weitere wunde Angriffspunkte der Herrschaft.”

***

Insgesamt ist Schwarze Saat ganz gewiss ein Buch zum stöbern, ein Buch in dem sich die eine oder andere Entdeckung machen lässt, ein Buch in dem sich definitiv viele spannende Texte finden, die erstmals ins Deutsche übersetzt wurden. Und ganz gewiss ist Schwarze Saat ein unbequemes Buch für alle Angehörigen des hiesigen Ally-Industriekomplexes, oder, wie ich vorziehe, sie zu nennen, Feiglinge (“Another word for white ally is coward”), die auf der Suche nach den Stimmen derjenigen Quoten-Schwarzen, die ihre befremdlichen “anarchistischen” Utopien, die sich im Wesentlichen kaum von der heutigen Realität westlicher Lebensweisen unterscheiden, bestätigen sollen, unweigerlich mit jenen Positionen konfrontiert werden, die Anarchist*innen immer schon von Indigenen und zahlreichen schwarzen Communities gelernt haben oder immerhin lernen hätten können: Dass die gesamte Zivilisation ein einziger Vormarsch der Herrschaft ist.

Schwarze Saat kann als PDF aus den Tiefen des Internets, unter anderem von der Webseite feralfire.noblogs.org gesaugt werden. Ob derzeit noch gedruckte Ausgaben verfügbar sind, ist mir aufgrund der Tatsache, dass der herausgebende Schwarze Pfeil aufgrund von staatlicher Repression eingestellt wurde, unklar. Gewisse, auf den Ausverkauf anarchistischer Szeneidentitäten und fair gehandelte Kolonialwaren (wie Bekleidung und Kaffee) spezialisierte Versandhändler listen das Buch jedoch weiterhin zum Kaufpreis von 13,12 Euro in ihrem Sortiment auf.


[1] Ob das Ganze unbedingt unter dem Namen Schwarze Saat firmieren musste, was den Anschein erweckt, es würde sich bei mehr als nur ein paar Texten um Übersetzungen aus Black Seed handeln (und ich denke mein Unbehagen besteht hier darin, dass es gerade der syndikalistische und fortschrittsorientierte Kram aus guten Gründen wohl kaum jemals in eine Black Seed Ausgabe geschafft hätte), sei einmal so dahingestellt.

[2] Also ja, ich verstehe das Ressentiment, das aus solchen Aussagen spricht, sehr gut, gerade angesichts bestimmter “Anarchist*innen” innerhalb dessen, was sich als der deutschsprachige Anarchismus zu inszenieren versteht, die außer einer Akademisierung des Anarchismus nicht gerade viel beizutragen haben, die sich aber immer wieder dennoch in die Kämpfe (schwarzer, ebenso wie weißer) Anarchist*innen einmischen und meinen, mit dieser oder jener philosophischen Haarspalterei die sehr realen Angriffe auf die Herrschaft als nicht-anarchistisch delegitimieren zu müssen. Es mag auch die Tendenz geben, dass Persönlichkeiten wie Kropotkin, Bakunin, Proudhon, usw. von jenen rezitiert werden, die solch große Worte schwingen, aber sich am Ende des Tages ganz gut in einer vermeintlich anarchistischen Nische des Akademiebetriebs eingerichtet haben werden und von diesem Elfenbeinturm herab meinen, die Kämpfe anderer entweder dirigieren zu können oder kommentieren zu müssen, allerdings sollte man jene Zeitgenoss*innen nicht mit Bakunin oder Kropotkin oder beinahe all ihren Vorbildern aus längst vergangenen Zeiten selbst verwechseln. Während Kropotkin zwar vielleicht viel philosophiert hat und möglicherweise wenig Steine geschmissen haben mag, so hat er sich doch auch soweit an subversiven (publizistischen und organisatorischen) Tätigkeiten beteiligt, dass er in den Knast gewandert ist, hat Unterstützung für andere Anarchist*innen organisiert und wie viele andere Anarchist*innen sein Leben ganz der Revolution verschrieben. Ich mag mit Kropotkins Positionen sehr häufig uneinverstanden sein, aber ich denke nicht, dass man deshalb sagen kann, er hätte nicht versucht das zu leben, was er verzapfte – auch entgegen aller Widrigkeiten, die das mit sich brachte. Und was selbst für einen Kropotkin gilt, das gilt für einen Bakunin, der buchstäblich den revolutionären Ereignissen nur so hinterherjagte, umso mehr …

[3] Und besonders wo eine Identität rund um Indigene Anarchist*innen geschaffen werden soll, stellen sich gewiss manch einer*m die Haare zu Berge. So stieß etwa der im Buch veröffentlichte Text “Einen indigenen Anarchismus anpeilen” von Aragorn! (übrigens erschien bereits kurz vor Veröffentlichung von Schwarze Saat, im Juni 2021, ebenfalls eine Übersetzung dieses Textes unter dem Titel “Ortung eines indigenen Anarchismus” gemeinsam mit dem Text “Ein nicht-Europäischer Anarchismus” in einer Broschüre), nachdem er in Black Seed Issue 8 erneut abgedruckt worden war, durchaus auf eine gewisse Kritik, die etwa in der sehr empfehlenswerten Broschüre UNKNOWABLE. Against an Indigenous Anarchist Theory von Klee Benally elaboriert wird und die sich vielleicht grob mit folgenden Auszügen umreißen lässt: “Wenn von Anarchismus die Rede ist, dann verorten wir darin eine Affinität hinsichtlich unserer Feindschaft gegenüber denjenigen, die sich uns aufgezwungen haben. Aber wir weigern uns, zu politischen Artefakten reduziert zu werden, also weckt das auch unsere Feindschaft gegenüber anarchistischer Identität, wenn nicht gegenüber dem Anarchismus insgesamt. Wenn gefragt wird ‘Wie können wir einen indigenen Anarchismus verorten’ und ‘Wie können wir heilen und unsere Leben frei von kolonialer Einschränkung leben?’, dann besteht unsere erste Reaktion in einer Ausweitung unserer Feindschaft; Es gibt keine indigene anarchistische Theorie und vielleicht sollte es niemals eine geben.” Und: “Die tiefere Erkundung eines indigenen Anarchismus könnte unserer Meinung nach im Wesentlichen zwei Wege einschlagen: Der eine wäre der der aktivistischen Akademiker*innen (sowohl indigene, als auch siedlerische) aus einer anthropologischen und philosophischen Perspektive, der absolut keine Berührungspunkte mit jenen hat, die sich näher an den Feuern der Autonomie in unseren Landen befinden (und gewiss lehnen wir diesen Weg entschieden ab), der andere Weg wäre chaotisch, mutig, leidenschaftlich, experimentell, voller Widersprüche. Er würde im Rauch um die Feuer geteilt werden und von Träumen sprechen. Er wird zwischen dem Stilllegen von Pipelines, dem Einschmeißen der Scheiben von Unternehmen und Zeremonien verlaufen. Er wäre in Hooghans und Trailerparks zu finden. Er wäre etwas, das sich all seinem Wesen nach nicht festlegen lassen würde, das sich niemals in die Gefilde des Erfassbaren bringen lassen würde, wo es eine Erweiterung der kolonialen Ordnung von Ideen und Existenzen wäre. Er würde sich selbst unbegreifbar machen.”

[4] Das derzeitige Oberhaupt der Nation of Islam, ein Nationalist, der für eine vollständige Rassentrennung eintritt und der auch den Antisemitismus als eine herkömmliche Triebkraft des Nationalismus für seinen Schwarzen Nationalismus einzusetzen weiß, wenn er die Juden als Schuldige der Unterdrückung seiner eigentlich überlegenen, jedoch unterdrückten Rasse ausgibt.

Solange das Gemetzel andauert – Errico Malatesta (1915)

Gefunden auf mgouldhawke, die Übersetzung ist von uns. Der Begriff Volk wurde als Übersetzung für People genommen, gefällt uns auch nicht, muss aber dennoch im historischen Kontext gelesen werden, auch wenn es schon damals ein diffuser Begriff war, was er heutzutage noch genauso ist, manipulieren wir keinen Text. Mit dieser Übersetzung führen wir die Reihe historischer Texte der anarchistischen Bewegung die sich mit dem Krieg auseinandersetzen und eine Teilnahme seitens Anarchistinnen und Anarchisten scharf kritisieren.


Solange das Gemetzel andauert – Errico Malatesta (1915)

Ursprünglich veröffentlicht in L’Era Nuova, Paterson, New Jersey, 2. Mai 1915; nachgedruckt in Studi Sociali, Montevideo, Uruguay, März-Mai, 1938. Übersetzt aus dem Italienischen von Al Raven vom Ravenwood-Blog und hier in Zusammenarbeit veröffentlicht.

Da wir jetzt nichts Besseres tun können, lasst uns diskutieren.

Aber lasst uns ruhig und anständig diskutieren, ohne unbegründete Verdächtigungen über die Motive der Widersprechenden auszusprechen. Wenn wir uns nicht einigen können, können wir zumindest die Art und die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten klären. Und das wird nützlich sein, wenn die Zeit kommt – und sie wird sicherlich kommen -, in der es möglich sein wird, effektiv zu handeln und wir uns auf dem Terrain anderer eindeutiger Fakten mit vielen einig sind, mit denen wir heute in Bezug auf die Tatsache des europäischen Krieges in scharfem Gegensatz stehen.

Und lasst uns damit beginnen, polemische Mittel und rhetorische Höhenflüge zu vermeiden, die vielleicht dazu dienen, Menschen zu verwirren oder zu irritieren, aber nichts beweisen.

Diejenigen Revolutionäre, die glauben, dass es sinnvoll ist, sich zugunsten des französisch-anglo-russischen Bündnisses am Krieg zu beteiligen, bezeichnen uns, die wir treu zu den Ideen und Taktiken stehen, die wir vor dem Krieg verteidigt haben, nicht als neutral, sondern als Feinde der beiden kriegführenden Parteien, als Fossilien, Dogmatiker und Dominikaner [der katholische Predigerorden]. Wir könnten darauf reagieren, indem wir die anderen als Verräter behandeln und wir wären gleich. Gleich in der Fähigkeit, zu beleidigen, und gleich im Mangel an ernsthaften Argumenten; denn die Tatsache, dass man seine Meinung geändert hat oder nicht, reicht nicht aus, um zu beweisen, dass man Recht oder Unrecht hat. Was würden unsere Widerspruchsführer, die unnachgiebige Gegner des religiösen Obskurantismus bleiben, wohl sagen, wenn sie von denen, die, vom Krieg verwirrt, den atavistischen Mystizismus in sich aufkeimen spürten und mit Priestern zu flirten begannen, als Fossilien und Muslime bezeichnet würden?

Ebenso bezeichnen sich diejenigen, die, vom Kriegsfieber mitgerissen, die Ideen, zu denen sie sich zuvor bekannt haben, auf verschiedene Weise verändert haben, gerne als Rebellen, Ketzer, Ikonoklasten, Verächter der falsch verstandenen Mehrheiten und geben sich als fortschrittliche Menschen aus, die unter dem Anstoß der großen Zeitereignisse einen Schritt zu neuen geistigen Horizonten gemacht haben. Diese Haltung ist für Revolutionäre immer sympathisch, aber im vorliegenden Fall entspricht sie nicht der Wahrheit. Selbst wenn sie mit der Verleugnung ihrer alten Überzeugungen Recht hätten, würden sie sich dennoch zu Unrecht als Innovatoren bezeichnen. Sie haben sich in die Opposition zu den jeweiligen Parteien gestellt, die nur eine kleine Minderheit sind: aber um den Überzeugungen, Respekt und atavistischen Gefühlen zu huldigen, die leider immer noch die große Mehrheit des Volkes leiten. Sie rebellierten gegen sozialistische und anarchistische „Formeln“, aber um zu Ideen und Geisteshaltungen zurückzukehren, von denen sie glaubten, sie hätten sie überwunden. Im Wesentlichen erkennen sie an, dass sie sich geirrt haben – und diejenigen, die ihre Fehler erkennen und eingestehen, werden für ihre Fähigkeit, sich zu korrigieren, und für ihre Aufrichtigkeit hoch geachtet, würden aber kaum behaupten, Ketzer und Rebellen zu sein.

Eine Meinung ist an sich richtig oder falsch, unabhängig davon, ob sie neu oder alt ist und ob sie von einer großen oder kleinen Zahl von Menschen vertreten wird. Lasst uns daher die Argumente, die uns von den Interventionisten trennen, an sich diskutieren.

Was die vulgären Beleidigungen und die schmutzige Sprache angeht, in der sich einige der Polemiker des einen und des anderen Lagers ergehen, so sollten wir sie einfach ignorieren. Sie zeugen nur von schlechtem Geschmack und schlechten Manieren derjenigen, die sie benutzen, und würden es nicht einmal verdienen, bemerkt zu werden, wenn sie nicht eine Spur des Unmuts hinterlassen würden.

***

Unsere interventionistischen Freunde (ich spreche von den Freunden, d.h. denjenigen, die in der Intervention zugunsten Frankreichs und Englands eine Notwendigkeit zur Verteidigung gegen den deutschen Despotismus und ein Mittel zum Sturz des Militarismus und zur Schaffung eines Umfelds der Freiheit sehen, das den Kämpfen für die soziale Revolution förderlich ist, und nicht von Kriegstreibern, die darauf abzielen, einen Imperialismus durch einen anderen zu ersetzen, und die uns genauso verhasst sind wie die Despoten von Berlin und Wien), unsere interventionistischen Freunde scheinen daher die wahren Gründe für unsere gleiche Feindseligkeit gegenüber den beiden kämpfenden Parteien nicht zu verstehen. Und sie glauben, dass wir, blind und taub für alle Gründe, warum sich die Welt auf einem Weg bewegt, der keinem idealen Programm entspricht, die Realität den „Formeln“ opfern und, da wir nicht in der Lage sind, Anarchie direkt und sofort zu verwirklichen, es vorziehen, untätig zu bleiben. Das ist in der Tat ein seltsames Urteil, wenn es von denjenigen gefällt wird, die uns kennen und wissen, wie wir immer gegen jede fatalistische und betäubende Philosophie gekämpft haben, egal ob aus dem sozialistischen oder anarchistischen Lager.

Sie behaupten, wir seien den Regierungen Frankreichs und Englands genauso feindlich gesinnt wie denen Deutschlands und Österreichs, weil wir glauben, dass alle Regierungen gleich sind; und sie versuchen, uns zu beweisen, dass zwar alle Regierungen schlecht sind, aber nicht alle gleich schlecht.

Das ist eine alte Frage, die trotz der Ungenauigkeiten in der heutigen Sprache für diejenigen, die sich mit anarchistischen Ideen und Taktiken auskennen, inzwischen klar sein sollte.

Wir wissen ganz genau, dass es einen Unterschied gibt; und wir müssen uns nicht groß bemühen, um uns davon zu überzeugen, dass es besser ist, ins Gefängnis zu kommen als gehängt zu werden, und dass ein Jahr im Gefängnis besser ist als zehn. Der Grund für den Unterschied liegt mehr als in der Regierungsform in den allgemeinen ökonomischen und moralischen Bedingungen der Gesellschaft, im Zustand der öffentlichen Meinung und in dem Widerstand, den die Beherrschten der Aufdringlichkeit und Willkür der Autorität entgegenzusetzen wissen; aber natürlich haben auch die Formen, die die Folge der Kämpfe vergangener Generationen sind, ihre Bedeutung, insofern sie ein mehr oder weniger starkes Hindernis in den gegenwärtigen Kämpfen darstellen. Und es ist die Aufgabe des Historikers, die Tatsachen und ihre Ursachen objektiv zu untersuchen; es ist seine Aufgabe, uns zum Beispiel zu sagen, dass zu einer bestimmten Zeit in Frankreich die Menschen freier waren als in Deutschland, dass in einem bestimmten Land unter der Republik die Menschen weniger gezwungen waren als unter der Monarchie.

Aber unsere Aufgabe, die von uns, die wir für die ganzheitliche Freiheit kämpfen und die wissen, dass sich alle Regierungen durch ihr Lebensgesetz der Freiheit widersetzen müssen, ist es, zu versuchen, die Regierung zu stürzen und nicht zu verbessern – in der Überzeugung, dass dies auch unter dem Gesichtspunkt der Reform das beste Mittel ist, um die Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen, und das einzige, das uns erlaubt, von Zugeständnissen zu profitieren, ohne den Kampf zu lähmen und ohne die Zukunft zu gefährden.

In der Praxis ist für uns die schlimmste Regierung immer diejenige, unter der wir stehen, diejenige, gegen die wir am direktesten kämpfen.

Wenn die Kosaken in Italien Demonstranten ermorden, rufen wir zur Revolte gegen sie und gegen die Regierung auf, der sie dienen; und wir glauben nicht, dass sie in Russland unter ähnlichen Umständen eine größere Anzahl von Menschen getötet hätten.

Unter dieser einzigen Bedingung, immer nach vorne zu schauen, immer nach dem Besten zu streben, ist es möglich, revolutionär und fortschrittlich zu sein; sonst müsste man sich immer mit allem zufrieden geben, weil man immer einen Ort findet, an dem es einem schlechter geht als zu Hause, oder eine Zeit, in der es einem schlechter ging als jetzt. Das wäre der Zustand der alten Frau, die, nachdem sie sich ein Bein gebrochen hatte, Gott dafür dankte, dass sie sich nicht beide Beine gebrochen hatte. Und es ist auch der Gemütszustand aller aufrichtigen Konservativen, die aus Angst vor dem Schlimmsten auf das Beste verzichten und aus Angst, dass die Vergangenheit zurückkehrt, nicht auf die Zukunft zugehen wollen.

Es ist also nicht wahr, dass wir die Abstufungen und die Relativität der menschlichen Angelegenheiten ignorieren. Wir sind immer bereit, zu allem beizutragen, was unserer Meinung nach Fortschritt bedeutet, zu allem, was unserem Ideal von Gerechtigkeit, Freiheit und menschlicher Solidarität nahe kommt. Aber wir wollen nicht um der verlogenen Worte willen die Augen vor den Tatsachen verschließen und uns auf die Seite derer stellen, die die geborenen Feinde von Freiheit und Gerechtigkeit sind. Wir wollen, um zum konkreten Fall zu kommen, nicht im Glauben an offizielle Reden die Regierungen Frankreichs und Englands unterstützen, die nicht nur recht liberal sind, sondern uns unter dem Vorwand, die Tyrannen von Berlin und Wien zu stürzen, in den Dienst des russischen Despoten stellen wollen.

***

Ich verstehe die großzügige Ungeduld, das Bedürfnis nach Aktivität, die glühende Hoffnung, die den Verstand einiger unserer Gefährten verschleiert hat, und ich bewundere diejenigen, die freiwillig ihr Leben riskiert haben, denn es ist immer bewundernswert, wenn man sich für eine Sache opfert, die man für gut hält. Aber der Respekt und die Bewunderung, die ich für sie empfinde, halten mich nicht davon ab, die Unbegründetheit der Hoffnungen einiger und die Sinnlosigkeit und den Schaden des Opfers anderer zu bedauern.

Was kann der Sieg der einen oder anderen Seite im gegenwärtigen Krieg bewirken? Was könnte so wichtig sein, dass Revolutionäre sich mit den reaktionärsten Elementen in ihren jeweiligen Ländern zusammentun, Freidenker sich mit Priestern verbrüdern, Sozialisten und Gewerkschafter/Syndikalisten die Klassenantagonismen zurückstellen, Antimilitaristen von einer Regierung verlangen, dass sie die Staatsbürger zu den Waffen ruft und sie zwingt, in den Krieg zu ziehen, und Anarchisten mit dem Staat zusammenarbeiten?

***

Sie sagen, dass dieser Krieg die Frage der Nationalitäten lösen wird.

Wir sind Kosmopoliten. Für uns ist die Frage der sogenannten nationalen Unabhängigkeit nur als Frage der Freiheit von Bedeutung. Wir möchten, dass jede menschliche Gruppe unter den Bedingungen leben kann, die sie bevorzugt, und dass es ihr freisteht, sich mit anderen Gruppen zusammenzuschließen oder sich von ihnen zu trennen, wie es ihr gefällt. Deshalb halten wir die Frage der Nationalität auf ideeller Ebene für überholt, genauso wie sie auf faktischer Ebene aufgrund der Internationalisierung von ökonomischen Interessen, Kultur und persönlichen und Klassenbeziehungen überholt ist.

Wir verstehen jedoch, dass in Ländern, in denen die Regierung und die Hauptunterdrücker ausländischer Nationalität sind, die Frage der Freiheit und der ökonomischen Emanzipation unter dem Deckmantel des nationalistischen Kampfes auftritt, und wir sympathisieren daher mit nationalen Aufständen wie mit jedem Aufstand gegen die Unterdrücker. In diesem Fall, wie auch in allen anderen, sind wir auf der Seite des Volkes gegen die Regierung. Selbst wenn wir der Meinung sind, dass es sich nicht lohnt, einen Kampf zu führen, der zu einem einfachen Herrschaftswechsel führt, beugen wir uns dem Willen der Betroffenen. Wenn Trient und Triest also wirklich das Bedürfnis hätten, den Stock der Habsburger gegen die Fesseln des Hauses Savoia auszutauschen, wären wir froh, wenn sie Erfolg hätten, und sei es nur, um nichts mehr davon zu hören und zu sehen, wie so viele gute Energien für profitablere Kämpfe eingesetzt werden.

Obwohl wir also traurig wären, dass die verschiedenen nationalen Probleme durch Regierungsbeschlüsse und nicht durch das Volk gelöst werden, erkennen wir an, dass es eine gute Sache wäre, sozusagen die Probleme zu lösen, die den Weg zum Fortschritt versperren und so viele Menschen von den wirklichen Kämpfen für die menschliche Emanzipation ablenken.

Aber Tatsache ist, dass in diesem Krieg eine Frage der Nationalität der Funke gewesen sein mag, der das Brandmaterial entzündete, das lange und für andere Zwecke vorbereitet worden war; sie mag ein Vorwand und ein Mittel gewesen sein, um die Naiven zu begeistern und die öffentliche Aufmerksamkeit von den Gründen und Zielen des Krieges abzulenken; aber sicherlich ist die nationale Unabhängigkeit der Völker der letzte Gedanke derjenigen, die den Krieg führen und über den Frieden entscheiden.

Man schreit zu Recht gegen das schändliche Österreich auf, das unterworfene Völker dazu zwingt, zur Verteidigung ihrer Unterdrücker zu kämpfen. Aber warum wird geschwiegen, wenn Frankreich die Algerier und andere Völker, die es unter seinem Joch hält, zwingt, für Frankreich zu töten? Oder wenn England die Indianer zum Abschlachten führt?

Wer würde dann daran denken, die unabhängigen Völker zu befreien? Vielleicht England, das bereits die Gelegenheit nutzt, um sich Zypern, Ägypten und alles, was es kann, anzueignen? Vielleicht Serbien, das alles annektieren will, was mit der serbischen Nationalität zu tun hat, aber selbst auf die Gefahr hin, von hinten angegriffen zu werden, an Mazedonien festhält? Vielleicht Russland, das überall, wo es einen Fuß hinsetzt, in Galizien und der Bukowina, das bisschen Autonomie, das Österreich gewährt hat, unterdrückt, die Sprache des Landes verbietet, die Juden massakriert und die schismatischen Unierten [Mitglieder von Ostkirchen, die mit der römisch-katholischen Kirche in Union stehen] verfolgt? Vielleicht Frankreich, das in denselben Tagen, in denen es den Sieg an der Marne gegen die deutschen Invasoren feierte, die marokkanischen „Rebellen“ massakrierte und ihre Dörfer in Brand setzte?

Ich würde die Begeisterung von Sozialisten und Anarchisten für einen Kampf verstehen, der zwar nicht unser Kampf ist, aber einen gewissen Charakter von Großzügigkeit und Aufrichtigkeit hat. Ich hätte die Begeisterung verstanden, wenn Frankreich und England (ich spreche nicht einmal von Russland), die durch die deutsche Arroganz auf den Plan gerufen wurden, die ihnen unterworfenen Völker für unabhängig erklärt hätten und dann ihre Hilfe im Kampf gegen die deutsche Hegemonie und für die nationale Unabhängigkeit aller Völker in Anspruch genommen hätten. Aber geh und sprich über ein solches Projekt mit Regierungsleuten, mit Sir Eduardo Grey, mit Lord Kitchener, mit Poincaré, und du kannst von Glück reden, wenn sie dich nicht in ein Irrenhaus stecken.

***

Sie sagen, die Anglo-Franco-Russen kämpfen für die Zivilisation.

Aber während sie die von der deutschen Armee in Belgien und Frankreich begangenen Gräueltaten zu Recht anprangern, verschweigen oder entschuldigen sie die gleichen oder noch schlimmeren Gräueltaten, die von den Russen nicht nur in den überfallenen Ländern, sondern auch in Russisch-Polen begangen wurden, und loben sie manchmal sogar. Und mit ihrer Propaganda des blinden Hasses, nicht nur gegen die Anführer der deutschen und österreichisch-ungarischen Politik, was gerechtfertigt wäre, sondern gegen ein ganzes Volk, eine ganze Rasse, schaffen sie in den anglo-französischen Verträgen einen solchen Geisteszustand, dass man bei dem Gedanken zittert, was passieren würde, wenn es ihnen jemals gelänge, einen Fuß nach Deutschland zu setzen.

***

Sie sagen, dass dies ein Krieg für die Freiheit ist und dass Russland selbst liberal werden wird … nach dem Krieg. In der Zwischenzeit, ganz zu schweigen von Russland, wo die Verfolgung der fortschrittlichen Parteien und die Unterdrückung der unterworfenen Nationalitäten schlimmer denn je sind, sehen wir, dass Frankreich und England durch die Unterdrückung jeglicher Freiheit und des Rechts auf Kritik, durch die Entwicklung des militaristischen Geistes und durch die Zunahme der klerikalen Macht schnell russifiziert werden.

So gewöhnt sich die Öffentlichkeit an Gehorsam und Schweigen, und der Weg bleibt offen für alle reaktionären Comebacks.

***

Trotz der Tatsachen glauben viele wohlmeinende Menschen, darunter auch einige unserer Gefährten, immer noch, dass es sich um einen Freiheitskrieg handelt, einen Krieg, der zum Verschwinden oder zumindest zu einem starken Rückgang des Militarismus und zu einer Ordnung in Europa führen wird, die den Bestrebungen der verschiedenen Völker entspricht, so dass der Weltfrieden für immer oder für eine sehr lange Zeit gesichert ist und die fortschrittlichen Elemente der jeweiligen Länder sich der Eroberung von Freiheit und Gerechtigkeit für alle widmen können, ohne die durch Kriege verursachten Unterbrechungen und Rückschritte zu fürchten. Und sie schmieden Pläne, was der nächste Kongress zu beschließen hat, und sie stellen sich vor, dass ihre Wünsche und Stimmen die Überlegungen der Staatsoberhäupter und ihrer Generäle und Diplomaten beeinflussen werden.

Das ist eine großzügige, aber törichte (entschuldigt das Wort) Illusion.

Der bevorstehende Friedenskongress wird, wie alle Kongresse dieser Art, ein Marktplatz sein, auf dem die Mächtigen über die Völker verfügen werden, als wären sie Viehherden.

In internationalen Angelegenheiten, wie auch in den innenpolitischen Angelegenheiten der verschiedenen Staaten, ist die einzige Grenze für die Arroganz der Herrschenden der Widerstand des Volkes. Und das Volk hat sich bisher sanftmütig zur Schlachtbank führen lassen, ebenso wie der Teil des Volkes, der mit seinem Klassenbewusstsein und seinem Gerechtigkeitsideal die Pflicht hat, ein Beispiel zu geben und die Massen zu führen.

Der Krieg musste um jeden Preis verhindert werden.

Stattdessen verrieten die deutschen Sozialdemokraten, die die größte Pflicht hatten, weil sie die Stärksten waren und weil ihre Regierung die Initiative für den Angriff ergriff, feige die Internationale, sie stellten sich fast einstimmig in den Dienst des Kaisers.

Die französischen und belgischen Sozialisten wussten nichts Besseres, als es den Deutschen nachzumachen und sich mit den Regierungen und der Bourgeoisie ihrer Länder zu solidarisieren.

So kam es, dass ein Ziel erreicht wurde, das dem, was sich der Sozialismus und die Internationale vorgenommen hatten, diametral entgegengesetzt war. Statt die Proletarier aller Länder im Kampf gegen ihre Unterdrücker zu vereinen, kehrte man zum Rassen- und Nationalitätenhass zurück und gab den Kampf für die Emanzipation auf.

Jetzt wäre es notwendig, dass sich die bewaffneten Proletarier der verschiedenen kämpfenden Armeen untereinander verbrüdern und die Waffen, die sie in ihren Händen halten, gegen die Unterdrücker einsetzen.

Aber kann man darauf hoffen, wenn die Sozialisten und Gewerkschaftlter/Syndikalisten der kriegführenden Länder fast alle den Sozialismus, die Gewerkschaftsbewegung/Syndikalismus (Trade Unionism), den Klassenkampf und die internationale Brüderlichkeit vergessen haben, um sich als gute Untertanen, gute Soldaten und gute Patrioten zu zeigen?

***

Vielleicht bin ich zu pessimistisch. Es kann gut sein, dass das Gute aus dem Übermaß des Bösen entsteht. Es könnte sein, dass die Kriegsmüdigkeit, der Ekel vor dem Krieg und das große Elend, das der Krieg hervorbringt, zu einer Insurrektion führen, die den Zustand der Dinge völlig verändern würde.

Schon jetzt gibt es einige Anzeichen für einen Aufstand und die Revolutionäre sollten auf der Hut sein, um die sich bietenden Gelegenheiten zu ergreifen.

Aber in diesem Fall sollten die Kriegstreiber nicht kommen und uns erzählen, dass Krieg gut ist. Dann wäre zwar etwas Gutes dabei herausgekommen, aber nur, weil es diejenigen gibt, die Gegner des Krieges waren oder noch werden.

Und das gilt auch für Italien. Ohne den europäischen Krieg, der den Lauf der Dinge veränderte, hätte die Expedition nach Libyen mit ihren katastrophalen Folgen etwas Gutes bewirkt, denn sie war einer der Faktoren, die die [italienische] Monarchie an den Rand des Ruins gebracht hatten. Aber das lag daran, dass die Subversiven Italiens, obwohl sie es nicht verhindert hatten, ihr gegenüber unerbittlich feindselig geblieben waren. Denn wenn sie dem Rat der wenigen gefolgt wären, die sagten: „Da wir keine Revolution machen können, lasst uns Krieg führen“, hätten sie die Verantwortung für die Fehler der Monarchie übernommen und wären nicht befugt gewesen, zu den Menschen zu sprechen, als der Krieg vorbei war.

Errico Malatesta, London, 26. März 1915