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Sechs Texte aus Italien und aus Chile zum Kampf von Alfredo Cospito gegen die Isolationshaft Namens 41bis

Hier sechs Texte aus Italien und aus Chile zum Kampf von Alfredo Cospito gegen die Isolationshaft Namens 41bis. Es finden sich unter anderem Texte von Mónica Caballero und weiteren eingesperrten Gefährtinnen und Gefährten die gerade auch im Knast sitzen.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Anarchist*innen und Subversive fasten in Solidarität mit dem Gefährten Alfredo Cospito!

1. Februar 2023

104 Tage nach Beginn des Hungerstreiks.
ANARCHISTISCHE UND SUBVERSIVE GEFANGENE AUS CHILE BEGINNEN IN SOLIDARITÄT MIT ALFREDO COSPITO ZU FASTEN
Seit dem 31. Januar.

Für Alfredo Cospito:

Ein lauter Schrei des Krieges!

Ein Aufruf zur internationalistischen Solidarität!

Eine klare Aufforderung zur Aktion!

Im Rahmen der Mobilisierung für den Hungerstreik des italienischen anarchistischen Gefährten Alfredo Cospito, der seit 104 Tagen andauert, beginnen die anarchistischen und subversiven Gefangenen im Gonzalina-Rancagua-Gefängnis heute, am 31. Januar, ein solidarisches Fasten als minimale Geste der Komplizenschaft angesichts des transzendentalen und entschlossenen Kampfes, den der Gefährte führt, um die Isolation zu beenden, der der italienische Staat ihn unterworfen hat, und gegen die lebenslange Haftstrafe, zu der er kürzlich verurteilt wurde.

Die Situation ist von äußerster Dringlichkeit und es gibt keinen Platz für Momente des Abwartens und Nachdenkens, die nur Apathie und Untätigkeit verstärken.

Es geht auch nicht darum, passiv zuzusehen, wie der italienische Staat Alfredo sterben lässt, in einer der deutlichsten Demonstrationen autoritärer Brutalität.

Wollen wir auf den Tod unseres Gefährten warten, bevor wir beschließen zu handeln?

Dieses Fasten ist auch ein Aufruf an das antiautoritäre Bewusstsein auf der ganzen Welt und sein konsequentes Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen).

Während dieser umfassenden Mobilisierung haben wir gesehen, wie wichtig jede subversive Geste außerhalb der Grenzen derer ist, die ihn heute in diesem ruchlosen Regime festhalten, und haben die Wirksamkeit internationalistischer Solidarität mit kämpferischem Charakter unter Beweis gestellt.

Jetzt müssen wir unsere ganze Vorstellungskraft einsetzen, unsere auf Konfrontation ausgerichteten Affinitätsbeziehungen mit Leben füllen und auf unsere Erfahrungen zurückgreifen, denn nur so können wir die aufständische Komplizenschaft aktivieren, um zu versuchen, Alfredo aus dem verhängnisvollen 41bis herauszuholen.

Morgen könnte es zu spät sein, deshalb ist es wichtig, sofort zu handeln und den Kampf selbst in die Hand zu nehmen, indem wir uns in diesem Kampf, der nicht warten kann, voll engagieren.

In diesem Sinne ist der laufende Kampf nicht nur für Alfredo entscheidend, sondern auch für uns alle, die wir uns gegen den Knast und die Welt, die ihn braucht, zur Wehr setzen, denn das, was auf unseren Gefährten angewandt wird, wird sich schnell auf jeden ausweiten und exportieren lassen, der rebelliert und sich der etablierten Ordnung entgegenstellt.

Deshalb verzichten wir nicht auf klare und konkrete Demonstrationen, um alle unsere Gefährt*innen auf der ganzen Welt aus den Gefängnissen zu holen, die jahrzehntelang in nazifaschistischen Regimen der Gefangenschaft läutern mussten, die versuchen, die rebellische menschliche Dimension jedes Aufständischen, der sich angesichts dieser Realität der Unterdrückung und des Elends auflehnt, zu entwürdigen.

Der Schlüssel, um Alfredo aus der Isolation zu holen, liegt heute sicherlich nicht in unseren Händen, aber wir werden nicht aufgeben, unseren Teil dazu beizutragen, dass dies so bald wie möglich geschieht.

Was aber von uns abhängt, ist unsere Entscheidung, uns aktiv am Kampf zu beteiligen, indem wir denen, die ihn foltern, das Gefühl geben, dass sie nicht sicher sind, solange sie den Gefährten in diesem schändlichen Regime halten.

Für die Ausweitung der kämpferischen Solidarität im Puls der aufständischen Komplizenschaft mit dem Gefährten Alfredo Cóspito!
Holen wir Alfredo raus aus dem 41bis!
Solange es Elend gibt, wird es Rebellion geben!
Bis auch die letzte Bastion der Knastgesellschaft zerstört ist!
Lasst die Gefängnisse explodieren!
Lang lebe die Anarchie!
Revolutionäre antiautoritäre Gefangene aller Richtungen raus aus dem Knast jetzt!!!

Marcelo Villarroel Sepúlveda.
Juan Aliste Vega.
Joaquín García Chancks.
Francisco Solar Domínguez.

Knast-Unternehmen La Gonzalina-Rancagua
Vom chilenischen Staat besetztes Territorium.
31. Januar 2023
104 Tage nach Beginn des Hungerstreiks des Gefährten.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Italien. Die Revisionsverhandlung von 41bis gegen Alfredo wird vorgezogen: 24. FEBRUAR

3. Februar 2023

Ursprünglich war die Anhörung zur Überprüfung von 41bis gegen Alfredo für den 20. April 2023 angesetzt, aber auf Druck des Hungerstreiks wurde sie auf den 7. März 2023 vorverlegt.

Angesichts der wachsenden politischen Krise in Italien aufgrund des Hungerstreiks des Gefährten und der Vervielfachung der internationalen Solidaritätsaktionen wurde der Termin auf den 24. Februar 2023 verschoben.

Bei dieser Anhörung soll erneut diskutiert werden, ob es angemessen ist, Alfredo Cospito in dieser extremen Isolation zu halten. Der Gefährte aus dem Knast hat versichert, dass er den Hungerstreik nicht aufgeben wird, bis er aus diesem Betonfriedhof entlassen wird.

Solidarität mit dem Hungerstreik gegen 41bis!

Um die Ermordung von Alfredo zu verhindern!


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Über den jüngsten Rausch der Massenmedien in Italien über die angebliche Zusammenarbeit von Alfredo Cospito mit der Mafia

3. Februar 2023

Anmerkung von refractario: Der jüngste Schachzug des italienischen Staates angesichts des Hungerstreiks von Alfredo war, über die Verbindungen zwischen der Mafia und Anarchist*innen zu sprechen. In den Schlagzeilen und Berichten wurde versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die verschiedenen Mafias die Gefährt*innen und Alfredo selbst als „nützliche Idioten“ benutzen. Der Rausch ist massiv und systematisch und hat auch in der politischen Klasse Italiens zu Kontroversen geführt. Giovanni Donzelli, ein Abgeordneter der extremen Rechten (Regierungspartei in Italien), hat Abhörbänder zwischen Alfredo und Mafia-Gefangenen durchsickern lassen, in denen letztere ihn in seinem Kampf ermutigen. Die Situation wurde von Donzelli genutzt, um die Abgeordneten anzugreifen, die sich für eine Änderung des 41bis-Regimes oder für die Entlassung von Alfredo eingesetzt haben, und sie zu beschuldigen, Komplizen der Mafia zu sein. Die Opposition ihrerseits wirft Donzelli vor, Zugang zu vertraulichen Informationen zu haben und diese zu veröffentlichen. Weit entfernt vom Kannibalismus der politischen Klasse, verdeutlicht dieser Text einen wichtigen Punkt. Wir Anarchist*innen haben nichts mit Mafia, kriminellen Organisationen oder Gangs zu tun… wir wollen die Macht nicht verwalten, sondern sie zerstören.

Wenn ich sehe, dass sie im Fernsehen versuchen zu manipulieren, indem sie sagen, dass Alfredo Beziehungen zu den Mafiosi hat, denke ich, dass sie ihn nicht kennen, sonst hätten sie Angst, dass alle zu Anarchisten werden [lacht]“.

Flavio Rossi Albertini, Anwalt von A. Cospito.

Ihr seid nicht in der Lage, euch einen Menschen, eine Bewegung und Individuen außerhalb eurer Logik vorzustellen. Und selbst ohne es zu ahnen, lügt ihr absichtlich. Ihr baut Sandburgen, indem ihr versucht, Polizeikarten (A.d.Ü., im Sinne von Verbidnungen) zwischen Cospito und der Mafia zu erstellen. Stimmt, für euch ist es bequem, Cospito in die Mafia einzuordnen, denn im Gegensatz zur Anarchie (Cospitos einziger Ideologie) wisst ihr, wie man mit der Mafia umgeht, ihr wisst, wie man schweigt, sich verbeugt und abstoßend ist. Bei der Mafia wisst ihr, wie man die eiserne Faust einsetzt, nachdem ihr mit Küssen und staatsmafiösen Verhandlungen geschwiegen habt. Bei der Mafia wisst ihr, wie ihr das Wort Chaos mit dem Wort Sieg überdecken könnt, wenn es um die Verhaftung eines Capos geht, während die Mafia weiter macht.

Cospito ist, wie alle Anarchist*innen, einschließlich dieses Autors, kann nicht in euren Schemata der Macht eingeordnet werden, sei es die Mafia oder der Staat, denn was wir zerstören wollen, ist genau der Staat, der Kapitalismus, der Kolonialismus und die Mafia. Erinnert euch daran, dass der wirkliche Kampf gegen die Mafia besteht, wenn die hierarchischen und sozialen Herrschaftssysteme, die sie kennzeichnen, abgelehnt werden. Und der Staat kann aufgrund seiner Grundlagen nicht und hat vielleicht nicht einmal ein Interesse daran, ein Phänomen, die Mafia, zu zerstören, die ihre eigene Macht ausübt, genauso wie der Staat seine eigene ausübt.

Wenn man den Kampf gegen 41bis und den ergastolo ostativo als unveränderliches und festes Prinzip für alle voraussetzt, muss man auch bekräftigen, dass dies kein Geschenk an die Mafiosi ist, sondern ein Schlachtruf gegen alle diese Machtsysteme. Ihr solltet wissen, dass Totò Riina sagte: „Kriege gegen den Staat, um sich mit dem Staat zu versöhnen,

Wir Anarchist*innen sagen: Krieg gegen den Staat führen, um diesen zu zerstören.

Schaut der Realität ins Gesicht, liebe Regierung und lieber Donzelli, wisst, dass wir Anarchist*innen keine Mafiosi sind, und genau deshalb haben wir mehr Angst vor dem Staat.

Ihr seid nicht in der Lage, euch einen Menschen, eine Bewegung und Individuen außerhalb eurer Logik vorzustellen. Und auch ohne es zu ahnen, lügt ihr absichtlich. Ihr baut Sandburgen, indem ihr versucht, polizeiliche Verbindungen zwischen Cospito und der Mafia zu erstellen. Stimmt, für euch ist es bequem, Cospito in die Mafia einzuordnen, denn im Gegensatz zur Anarchie (Cospitos einzige Ideologie) wisst ihr, wie man mit der Mafia umgeht, mit der Mafia wisst ihr, wie man schweigt, sich verbeugt und abstoßend ist. Bei der Mafia wisst ihr, wie man die eiserne Faust einsetzt, nachdem ihr mit Küssen und staatsmafiösen Verhandlungen geschwiegen habt. Bei der Mafia wisst ihr, wie ihr das Wort Chaos mit dem Wort Sieg überdecken könnt, wenn es um die Verhaftung eines Capos geht, während die Mafia weiter macht.

Cospito ist, wie alle Anarchist*innen, einschließlich dieses Autors, außerhalb der Schemata der Macht, sei es Mafia oder Staat, denn was wir zerstören wollen, ist genau der Staat, der Kapitalismus, der Kolonialismus und die Mafia. Erinnert euch daran, dass der wirkliche Kampf gegen die Mafia besteht, wenn die hierarchischen und sozialen Herrschaftssysteme, die sie kennzeichnen, abgelehnt werden. Und der Staat kann aufgrund seiner Fundamente nicht und hat vielleicht nicht einmal ein Interesse daran, ein Phänomen, wie die Mafia, zu zerstören, die ihre eigene Macht ausübt, genauso wie der Staat seine eigene ausübt.

Wenn man den Kampf gegen 41bis und den ergastolo ostativo als unveränderliches und festes Prinzip für alle voraussetzt, muss man auch bekräftigen, dass dies kein Geschenk an die Mafiosi ist, sondern ein Schlachtruf gegen all diese Machtsysteme. Ihr solltet wissen, dass Totò Riina (bekannter italienischer Mafioso und Mitglied der sizilianischen Cosa Nostra) sagte: „Führe Krieg gegen den Staat, um dich mit dem Staat zu versöhnen.“

Wir Anarchist*innen sagen: Führe Krieg gegen den Staat, um den Staat zu zerstören.

Schaut der Realität ins Gesicht, liebe Regierung und lieber Donzelli, wisst, dass wir Anarchist*innen keine Mafiosi sind, und genau deshalb hat der Staat mehr Angst vor uns.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Dringende Worte im Angesicht einer verlöschenden Flamme. Geschrieben von Monica Caballero über den Hungerstreik von Alfredo Cospito

3. Februar 2023

Ich hatte das Vergnügen, die Worte von Gefährt*innen aus verschiedenen Gebieten zu lesen, die sich mit dem Hungerstreik von Alfredo Cospito solidarisiert haben, um aus dem Folterregime von 41bis herauszukommen. In diesen Ländern hat auch eine Gruppe subversiver, anarchistischer, antiautoritärer, antispeziesistischer und nihilistischer Gefangener unsere bedingungslose Solidarität mit dem Gefährten bekundet. Die Verbrüderung mit einem so wertvollen Gefährten wie Alfredo, und noch dazu in dem schwierigen Moment, den er gerade durchlebt, ist eine Notwendigkeit für diejenigen von uns, die sich als Verweigerer und Antagonist*innen des aktuellen, von der Autorität regierten Lebens positionieren. Solidaritätsbekundungen aus dem Gefängnis an gleichgesinnte Gefährt*innen sind nie zu viel.

Wenn ich während meiner Gefangenschaft Worte der Solidarität von einer Gefährtin oder einem Gefährten erhalten habe, habe ich sie immer als etwas sehr Wertvolles geschätzt und gehütet. Aber in diesem Moment braucht der Gefährte Alfredo Cospito das Worte in Taten umgewandelt werden, um alle anzugreifen, zu zwingen, zu unterwandern, zu manipulieren, zu drohen, etc. die die Macht haben, seine Gefängnissituation zu ändern und/oder die das 41bis-Regime unterstützen.

Alfredos Situation ist nicht mehr beunruhigend, sondern dringend. Die Sache ist ganz einfach: Wenn es uns nicht gelingt, Cospitos Forderung durchzusetzen, wird er sterben, und es bleiben nicht mehr allzu viele Tage, wenn er seinen Hungerstreik fortsetzt.

Die Entscheidung zu treffen und eine Mobilisierung wie einen Hungerstreik durchzuführen, ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Dein Kampf findet in verschiedenen Szenarien statt: Auf der einen Seite hast du ein ganzes repressives und juristisches System mit verschiedenen Instrumenten, die versuchen, dich davon abzuhalten, den Streik zu beenden, auf der anderen Seite ist da dein eigener Überlebensinstinkt, dein eigener Körper!

Der Körper im Hungerstreik wird sich manifestieren, damit du ihn füttern kannst.

Nach dem, was ich erlebt und bei anderen gesehen habe, sind die ersten körperlichen Anzeichen eines Hungerstreiks Kopfschmerzen, Schwindel, Müdigkeit, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und ein schrecklicher Appetit, der dich an nichts anderes denken lässt. In meinem Fall habe ich nach 15 bis 20 Tagen Fasten aufgehört, Hunger zu verspüren; ich habe von Gefährt*innen gehört, die ihren Hunger etwa am 90sten Tag verloren haben. Ab der zweiten oder dritten Fastenwoche wird der Streikende von lästigen Krämpfen begleitet, die sich im ganzen Körper ausbreiten und Schmerzen verursachen, dazu kommt die Müdigkeit, die jede tägliche Aktivität, wie zum Beispiel das Baden, zu einem Kraftakt macht. Und dann ist da noch die Kälte. Egal, wie sehr sich der Streikende warm einpackt, er oder sie fühlt sich immer mehr oder weniger kalt.

Auch wenn es bei einem Hungerstreik anekdotisch erscheinen mag, ist der Hunger nicht das lästigste und akuteste Gefühl. Nach meiner Erfahrung und nach dem, was ich erfahren habe, ist es der Schmerz der Krämpfe und der Kälte, der im Vordergrund steht.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass es relevante Faktoren gibt, um den Ablauf eines Hungerstreiks zu verstehen, wie z.B., dass jeder Körper auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert und die Art und Weise, wie der Hungerstreik durchgeführt wird, ebenfalls unterschiedlich ist, z.B. ob Zucker oder Trinksalze konsumiert werden und auch die Haftbedingungen, unter denen der Hungerstreik durchgeführt wird. In jedem Gefängnis (zumindest im Westen) gibt es Hungerstreikprotokolle, die oft nicht eingehalten werden.

Unabhängig davon, in welcher Form und unter welchen Bedingungen ein Hungerstreik durchgeführt oder erlebt wird, handelt es sich um eine Selbstaufopferung, die nicht ewig andauern kann, denn der Körper hat nur begrenzte Reserven und in Alfredos Fall sind diese bald erschöpft.

Die Flamme, die Alfredo ist, wird Tag für Tag ausgelöscht. Er wird nicht aufgeben, er wird es nicht bereuen. ……

Möge aus den Worten eine Tat werden!

Aktive Solidarität mit allen anarchistischen Gefangenen!!! ¡¡¡¡

Für das Ende des 41bis

Tod dem Staat und lang lebe die Anarchie!

Mónica Caballero Sepúlveda

Anarchistische Gefangene.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

INTERNATIONALER AUFRUF ZUR MOBILISIERUNG VOR DEN ITALIENISCHEN BOTSCHAFTEN IN SOLIDARITÄT MIT ALFREDO COSPITO UND DEM ENDE DES 41BIS-REGIMES

3. Februar 2023

Mehr als 100 Tage nach Beginn des Hungerstreiks von Alfredo Cospito rufen wir alle affinen Individuen, Gruppen, Organisationen und Kollektive auf, zu einer Mobilisierung vor den italienischen Botschaften in ihren Ländern aufzurufen, um Druck auf den italienischen Staat und Alfredos Henker auszuüben.

Der Gefährte stirbt, weil der Staat will, dass er stirbt. Dies ist nicht nur ein „humanitäres“ Problem, der Kampf des Gefährten ist ein Aufruf zu internationalen revolutionären Aktionen. Gleichgültigkeit und Passivität werden niemals unsere Verbündeten sein; Solidarität schon.

Wie es in einem Brief mit einer Kugel an die italienische Zeitung „Il Terreno“ gut ausgedrückt wurde: „Wenn Alfredo Cospito stirbt, sind alle Richter ein Ziel“. Lassen wir den italienischen Staat wissen, dass wir sein schlimmster Feind sein werden, wenn Alfredo stirbt.

Die Gefährt*innen aus Chile und Kolumbien werden diesen Freitag, den 3. Februar, vor ihren Botschaften präsent sein. Wir hoffen, dass sich diese Initiative weiter verbreiten wird.

AUFRUF, ORGANISIEREN UND HANDELN!
FÜR DIE ZERSTÖRUNG ALLER GEFÄNGNISSE!
FÜR DAS ENDE DES 4BIS REGIMES!
ES LEBE DIE SCHWARZE INTERNATIONALE!


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Italien. Aktuelles zur gesundheitlichen Situation von Alfredo aus dem Opera-Knast (01.02.23)

3. Februar 2023

Da der von der Verteidigung in Mailand benannte Arzt noch nicht die Erlaubnis hat, Opera zu betreten, haben wir nur die Eindrücke des Mailänder Anwalts, der Alfredo auf Bitten von Alfredos Anwalt, Flavio Rossi Albertini, im Opera-Knast besucht hat und die letzten Worte von Angelica Milia, der Ärztin, die ihn in Bancali besuchte, aus einem Telefoninterview mit Luigi Manconi, das in La Stampa veröffentlicht wurde (die Arbeit des DAP ist nach hinten losgegangen1: Vor Onda d’Urto war das einzige Radio, das Angelica jeden Donnerstag interviewte. Jetzt gibt es mehrere Medien, einschließlich des Mainstreams)

Worte von Angelica Milia „(…) Ich glaube, dass er nur noch wenige Tage zu leben hat, aber ich sage nicht, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht (…) Man kann auf den ersten Blick erkennen, wie sehr sein Gesundheitszustand beeinträchtigt ist; es ist das allgemeine körperliche Erscheinungsbild, das vor jedem chemischen oder Labortest betrachtet werden sollte: ein Mensch, der abgemagert, erschöpft, blass, mit unsicherer Haltung ist, der gezwungen ist, einen Rollstuhl zu benutzen (…).

Der Sturz in der Dusche „ist die unvermeidliche Folge eines allgemeinen Bildes von dramatischer Schwäche (…) Jeder Organismus reagiert anders, daher wäre jede Vorhersage hypothetisch. Was ich befürchte, ist ein Ungleichgewicht der Ionen im Plasma, im Verhältnis zu Kalium, Natrium, Chlor und anderen, das zu schweren Herzrhythmusstörungen führen kann, die lebensbedrohlich sein können. Eine weitere ernsthafte Gefahr sind Infektionen, äußerlich oder innerlich, aufgrund des verminderten Gamma-Globulins und der weißen Blutkörperchen. Auch weil seine Haut so dünn ist, dass sie weniger Schutz gegen mögliche Infektionen bietet: entweder durch Kontakt oder durch körperlichen Verfall, wie z.B. eine Atrophie der Magenschleimhaut oder eine orale Mykose, die ich bereits behandeln musste.

Der Besuch des Anwalts dauerte lange, was Flavio für ein gutes Zeichen hält. „Er hält sich unglaublich gut, sowohl körperlich als auch geistig, was Kraft und Überzeugung angeht.“

Gestern, am 31. Januar, hieß es in der Presse des Regimes, er führe Gespräche mit der Mafia: „a comminciato a fare intelligenza“… Welcher engstirnige und verdrehte Geist kann auch nur vermuten, dass eine Person wie Alfredo kriminelle Beziehungen zur Mafia haben könnte!

Vor seiner Verlegung beschwerte sich Alfredo bei den Ärzten des Bancali: „Warum verlegen sie nur mich, wenn es hier in 41bis Gefangene mit viel schlechterem Gesundheitszustand gibt, die in diesem Gefängnis nicht geheilt werden können? Ich möchte nicht privilegiert behandelt werden, nur weil ich das Schweigen der Medien, das diese Fälle immer umgibt, durchbrochen habe.“

In Bancali gibt es keine Fachärzte (auch keine Geriater, in einem Gefängnis, in dem die meisten Häftlinge älter sind und seit 20 bis 30 Jahren in 41bis sind), so dass angesischts jedes gesundheitlicher Problem eines Häftlings, dieser verlegt werden muss. Um in ein Krankenhaus verlegt zu werden, muss er/sie außerdem die Genehmigung des Strafvollzugsaufsichtsrichters einholen. Wenn du also schnell handeln willst, muss das Gefängnis als eine unmittelbare Lebensgefahr erklärt werden.

Flavio ist der Meinung, dass er mit dieser Verlegung, die er bereits einige Tage zuvor beantragt hatte und die abgelehnt wurde, weil er der Meinung war, dass er sich „in optimaler Verfassung“ befand, das schlechte Image vermeiden wollte, das ein möglicher Tod in Bancali nach der Verweigerung der Verlegung geben würde, insbesondere angesichts der Medienaufmerksamkeit, die er in der letzten Zeit erhielt.

Gespräch mit dem Anwalt aus ondarossa.info
von lucharcontrael41bis.noblogs.org

1A.d.Ü., die DAP Dipartimento dell’amministrazione penitenziaria ist die Behörde der Knastverwaltung in Italien.

Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Hier ein weiterer wichtiger anarchistischer Text den wir nicht ohne Grund ausgegraben haben. Im Text ist immer wieder die Rede über die ‚Angry Brigade‘, hier eine Broschüre dazu die wir vor längerem übersetzten.


Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Originaltitel:
Su alcune vecchie questioni d‘attualità fra gli anarchici, e non solo
Erschien 2003 in Italien
Der Text wurde im Sommer 2009 aus dem Italienischen ins
Deutsche übersetzt und nun für diese Brochüre überarbeitet.

Die Einleitung und die Anmerkungen wurden der niederländischen Ausgabe dieses Textes beigefügt und hier übersetzt und übernommen.


Einleitung

Es gibt Fragen, die schon seit Jahrhunderten die Geschichte der Revolte begleiten. Es sind Fragen, die stets zurückkommen werden, die in schwierigen Momenten an unserer Tür klopfen und sich gewaltsam Zutritt verschaffen… um plötzlich unsere Absichten völlig in Frage zu stellen. Es sind Fragen, die nur selten in geschriebenen Worten Niederschlag gefunden haben. Wir werden oft mit ihnen konfrontiert, sei es durch Diskussionen mit Kameraden, durch das Wühlen in unseren Köpfen oder durch das Kennenlernen von Erfahrungen aus anderen Gegenden und anderen Zeiten.

Eine dieser Fragen ist das alte Problem der revolutionären Avantgarden, der Selbstrepräsentation von diesen, als wären sie das radikalste Sprachrohr der Ausgebeuteten, und der Spezialisierung, die es unmöglich macht, mit allen Mitteln zu agieren, die uns zur Verfügung stehen. Ausgehend von diesem Problem werden wir auch mit konkreteren und praktischeren Überlegungen konfrontiert. Welche Rolle spielen Bekennerschreiben? Welche Beweggründe verstecken sich hinter bestimmten Methoden zu bestimmten Momenten?

Ausgehend vom Italienischen Kontext versucht dieser Text ein paar dieser Probleme anzugehen. Es geht hierbei nicht um die x-te Kritik an Organisationen und Gruppen, die uns sehr fern sind, sondern um eine Kritik dicht bei uns, um Anarchisten, die offenbar immer öfters die Entscheidung treffen, einige alte Kadaver wieder auszugraben. Diese Kritik richtet sich gewiss an die informelle anarchistische Föderation (FAI), in deren Namen sich verschiedene Gruppen in den vergangenen Jahren zu Anschlägen und Briefbomben bekannten, auch wenn dieser Text noch vor der Reihe von Brandbriefen an Europäische Institutionen geschrieben wurde, die gegen Ende des Jahres 2003 für Aufruhr sorgte. Die Situation der Bewegung in Italien liegt uns nah am Herzen, doch wir denken dennoch, dass es hier bedeutende Unterschiede zu anderen Ländern in Europa (und sonstwo) gibt. Dieser Text kommt daher aus einer spezifischen Situation und einer Kritik hervor, die darin gewachsen ist, wodurch er automatisch auch seine Grenzen kennt. Dennoch greift er Fragen auf, die alle etwas angehen. Und nicht nur diejenigen, die sich mit ein paar sonderbaren Versuchen konfrontiert sahen, die beabsichtigten, zu einer alternativen anarchistischen bewaffneten Organisation zu gelangen, während sie mit Begriffen und Konzepten von dem spielten, was Insurrektionismus genannt wird (ein Wort das wir lieber loswerden, anstatt uns zueignen wollen, denn wir sehen keinen Sinn darin, eine reichhaltige und breite Kampfperspektive auf irgendeine Ideologie und ihre Rethorik zu reduzieren).

Es gibt ein paar grundlegende Ideen, die für eine sinnvolle Diskussion über diese Fragen unentbehrlich sind. Ansonsten verwässert diese unvermeidlich zu einem quantitativen Gebot in scheinbarer Radikalität, die oft mehr aus Worten als aus wirklichem Engagement besteht. Ausserdem ist es schwierig, solche Diskussionen losgelöst von anderen Fragen zu führen, wie beispielsweise die Rolle der Propaganda, die Bedeutung von informeller Organisation, die Frage der Methoden. Auch hier verbergen sich die Grenzen dieses Textes und gleichzeitig die Öffnungen, um an Hand dieses Textes sinnvolle Diskussionen zu führen.

Der Aufstand ist für uns unbestreitbar ein soziales Ereignis. Sowohl der Aufstand wie die aufständische Methode sind ziemlich spezifische Konzepte, denen nicht einfach so irgendeine Auslegungen nach Geschmack und Moment gegeben werden kann. Eine solche linguistische Verwässerung trägt bloss zur Verwirrung bei, welche sehr praktische Folgen nach sich zieht. Der Aufstand ist der Prozess, wobei der Klassenantagonismus immer deutlicher an die Oberfläche tritt, bis zu dem Punkt, wo er seine ersten spezifischen Auslöser oder Ziele zurücklässt, alle sozialen Rollen auf den Kopf stellt und den Weg für etwas völlig anderes öffnet. Die aufständische Methode ist also unter anderem die Entscheidung, sich an Kämpfen mit beschränkten Zielen zu beteiligen, die sich durch ihre Wahl des Angriffs und der Selbstorganisation auszeichnen, wobei der Bruch mit der Normalität, das Anwachsen der Solidarität und der Kampferfahrungen, die die revoltierenden Ausgebeuteten und Unterdrückten anwenden – und nicht die vielleicht auch nicht erreichten quantitativen Resultate – der Einsatz und der „Gewinn“ sind. Es ist ein qualitativer Sprung nach vorne, die resolute Erkennung des Klassenfeindes und der Macht in ihren konkreten Strukturen.

Wie wir weiter oben bereits sagten, halten wir es für wichtig, die wahre Bedeutung der Wörter und Konzepte nicht zu verdrehen oder auszuhöhlen. Die aufständische Methode ist eine Methode neben vielen anderen, und vor allem gibt es die ganze subversive Dynamik, worin sich die verschiedenen Methoden gegenseitig nähren und stimulieren. Mit anderen Worten, indem wir das Wort „Aufstand“ in den Mund nehmen, haben wir nicht alles gesagt. An der Basis des sozialen Krieges, und somit von dessen aufständischen Äusserungen, steht die individuelle Revolte. Diese individuelle Revolte kann nach ihrer sozialen Bedeutung suchen und versuchen auf den Wogen der sozialen Konflikte schwimmen zu lernen. Andererseits kann sie auch selbst weiterwachsen und sich ausbreiten, ihre eigenen Ausdrücke suchen, ohne dass sie deswegen aufhört, Teil des sozialen Krieges auszumachen. Als revoltierendes Individuum neben anderen revoltierenden Individuen, die ihre Wege zur Subversion je nach Geschmack und Möglichkeiten wählen.

Darüber hinaus soll der soziale Aspekt des Aufstandes nicht als quantitative Angelegenheit interpretiert werden. Als Individuum oder als kleine Gruppe von Individuen zu handeln bedeutet nicht, isoliert zu handeln und ebenso wenig bedeutet eine handelnde Masse, dass ein aufständischer Prozess in Gang gesetzt wird. Es ist vielmehr die Dynamik des Konfliktes, die sozial ist und diese Welt der Autorität und Ausbeutung in Frage stellt und angreift.

Subversion ist nicht die quantitative Summe der Anzahl Schläge, die wir dem Feind zusetzen. Sie ist nicht eine Frage des Masses an „ät“ der Mittel, die verwendet wurden. Subversion liegt gerade in dem in Frage Stellen der gesamten Gesellschaft, dem auf den Kopf Stellen ihrer Ordnung und der konsequenten Verweigerung der Rollen, die uns auferlegt werden. Unter den Mitteln, die wir dafür verwenden braucht keine Hierarchie angebracht zu werden. Es geht schlicht darum, alles was uns zur Verfügung steht zu vermischen und im richtigen Moment anzuwenden. Bedeutet dies, dass Worte alleine ausreichen? Nein, ebenso wenig wie es bedeutet, dass Waffen alleine ausreichen. Bedeutet dies, dass wir gewisse Mittel nur gebrauchen können, wenn „die Masse“ sie als positiv anerkennt? Nein, ebensowenig wie es bedeutet, dass wir nicht darüber nachdenken können, welche Mittel in welchem Moment am geschicktesten sind. Um darüber nachzudenken, können wir ein paar Sachen im Hinterkopf behalten. Wie beispielsweise die soziale Verbreitbarkeit von bestimmten Methoden. Technische Spitzenleistungen nehmen nur allzu oft den Platz einer subversiven Intelligenz ein. Auch Kreativität ist sozial und sicher keine rein technische Angelegenheit. Die Wahl unserer Ziele ist ebenso wenig belanglos. Wenn wir die Macht als Winterpalast betrachten, den es einzunehmen gilt, wenn wir die Macht als eine Zentralität betrachten, dann folgt daraus logischerweise, dass wir nur im Parlament einen wirklichen Feind erkennen. Wenn wir die Macht hingegen als etwas sehen, dass überall verstreut in Strukturen und Personen Form annimmt, dann öffnet sich ein ganzes Spektrum von einfachen und breitgefächerten Angriffen. Dann spricht die Aktion von unserer Überzeugung, nämlich, dass die Macht ein soziales Verhältnis ist, das überall in Frage gestellt werden kann.

Diese Fragen sollen immer im Umlauf bleiben. Es ist wichtig, dass wir uns selbst nicht von ihnen abschirmen weil sie zu lästig sind. Diese Diskussionen können unsere Praktik und unsere Ideen nur schärfen, mit dem Schleifstein der Kritik und der Lehren, die wir aus Erfahrungen von anderen Kameraden ziehen.


Anmerkung des Übersetzers (Sommer 2009):

Die Verwendung des Wortes Kameraden als Übersetzung von compagni aus dem Italienischen ist eine (Wieder)Aneignung. Eine Erinnerung daran, dass dieses Wort auch im deutschsprachigen Raum einmal im (nicht-rechten) populären Sinne gebräuchlich war. Im Bezug auf die Freiheit wie sie im anarchistischen Diskurs gebraucht wird. Nicht im Sinne der Ideologien aus der Ecke der Buden, der autonomen Nazis, des braunen Miefs der Kameradschaften, die es erfolgreich schafften, diesen Begriff nach Rechts zu ziehen und zu vereinnahmen (bzw. aus der Ecke der Bundeswehr/Bundesheer und Soldaten sowie anderer staatlicher Institutionen).

Ich machte mir hier Gedanken über verschiedene Ausdrucksweisen die zur Zeit in Gebrauch sind, bisher aber keine zufriedenstellend; Genossen, Gefährten, Kumpanen, Kumpel. Auch diese sind holprig bzw. von der Kommunistischen/Linken Diskussion vereinnahmt oder geprägt. Warum also nicht aufs Ganze gehen und den ursprünglichen Begriff (wieder) in unsere Hände nehmen?!

Es wäre interessant darüber mit anderen Kameraden/ Genossen/ Gefährten/ Kumpanen/ Kumpel zu diskutieren.


Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Ich bin gewiss nicht gewaltlos. Trotzdem kann ich diejenigen verstehen, die Gewalt so sehr verabscheuen, dass sie sie aus ihrem Leben verbannen wollen; diejenigen, die niemals töten würden, niemals Gewalt anwenden würden, um sich Gehör zu verschaffen, diejenigen, die es aufgrund ihres Charakters und ihrer persönlichen Haltung vorziehen, keinen Gebrauch von ihr zu machen. Ich kann all dies jedoch nur verstehen, wenn es sich um eine individuelle und sukzessive Entscheidung handelt. Wenn die Gewaltlosigkeit als Kampfmethode präsentiert wird, wenn sie als zu befolgender Weg vorgeschlagen wird, wenn die individuelle Ethik zu einer Moral und einem kollektiven Projekt wird, dann erscheint mir dies wahrlich als Schwachsinn, der einzig zur Rechtfertigung von Untätigkeit nützt. Dann wird sie zum Hindernis für jene, die rebellieren und zu einem absoluten Wert, der den Schwachen auferlegt wird, um den Mächtigen zu ermöglichen, sich bequemer zurückzulehnen. Am Rande des Abgrunds, mit immer rutschigerem Boden unter den Füssen und unter Feindesbeschuss, kann die Einladung, ausschliesslich gute Manieren zu gebrauchen, nur derart aussehen. Mach doch was du willst, aber spar dir die Predigten.

Dies gesagt, bin ich auch kein Fanatiker der Gewalt. Ich mag diejenigen nicht, die mit ihrer Kühnheit in diesem Bereich prahlen. Ich rechtfertige ihre Verteidigung nicht als Ziel an sich. Ich verachte diejenigen, die sie als alleinige Lösung betrachten. Ich betrachte sie als Notwendigkeit im Kampf gegen die Herrschaft, und nichts weiter. Wie Malatesta glaube auch ich nicht an „stille Untergänge“. Ich glaube nicht, dass sich der Stahlbeton, mit dem die Macht unsere Existenz bedeckt hat, durch das Erblühen der Blumen der Freiheit auflösen wird, die durch Verbreitung unserer Ideen liebevoll gepflanzt wurden.

Eben weil ich nicht gewaltlos bin, kann ich die moralistische Verdammung von Gewaltakten nicht ausstehen. Deren Heuchelei verursacht Übelkeit in mir. Aber eben weil ich kein Fanatiker der Gewalt bin, kann ich die unkritische Verherrlichung solcher Akte ebensowenig ausstehen. Deren Dummheit geht mir wirklich auf die Nerven.

Kürzlich sind einige Angriffe, die von unbekannten Kameraden erst gegen das Polizeipräsidium von Genua und dann gegen das spanische Gefängnisregime begangen wurden <1> in den Vordergrund getreten. Die hysterische Reaktion der Medien war ebenso vorhersehbar wie die Reaktion der Polizei. Aber wie ist die Reaktion der Kameraden? Abgesehen von den üblichen Trotteln, die der Suche nach den verborgenen Beweggründen verfallen, ist Stille die häufigste Reaktion. Eine notwendige Stille, um eine Trennung zwischen Fürsprechern und Gegnern zu vermeiden, welche bloss den polizeilichen Ermittlungen zunutze kommen würde. Doch schon für zu lange Zeit begrenzt sich diese Stille nicht nur auf die Tage nach den Angriffen und erstreckt sich weit darüber hinaus. Es ist nicht mehr Stille im Angesicht des Feindes, der gerne wissen würde, es ist Stille unter Kameraden, die sich gerne verstehen würden. Von der Anwesenheit einer minimalen Form von Solidarität ist man zur Abwesenheit jeglicher kritischen Diskussion gelangt. Aber warum sollten Taten, welcherart auch immer sie sind, keiner kritischen Reflexion unterzogen werden? Warum sollte eine hypothetische Auseinandersetzung über solche Fragen als Hindernis betrachtet werden, als wäre es etwas, das darauf abzielt, ähnliche Aktionen zu verhindern? Warum könnte es stattdessen nicht eine Stütze sein, eine Methode um die Bedeutung dessen, was man tun will, zu klären, um die Taten zu stärken und zu verbessern?

Ich für meinen Teil habe mich entschieden, die kürzlichen Ereignisse als Ausgangspunkt nehmend, diesen Text zu schreiben und zu verbreiten. Seine anonyme Form gründet nicht in der Angst davor, Verantwortung für meine Worte zu übernehmen, sondern ist bloss ein Mittel, um mich in den Augen der Repression nicht von anderen Kameraden zu unterscheiden.

Bekennerschreiben ja, Bekennerschreiben nein

Soweit ich weiss (ich bin kein Experte auf dem Gebiet, daher könnte ich mich auch irren) müssen wir ins Russland des Jahres 1878 zurückgehen, um das erste Bekennerschreiben zum Angriff einer revolutionären Organisation aufzufinden. Es handelt sich um eine Broschüre namens Smert‘ za smert‘ (ein Tod für einen Tod), welche nach dem Mord am General Mezencov, dem Kopf der russischen Geheimpolizei, von der Gruppe Narodnaja Volja <2> (Volkswille) verbreitet wurde. 13 Tage nach dem Mord wurde die Bekennerbroschüre einer Tageszeitung von St. Petersburg zugestellt. An den darauffolgenden Tagen gelangen viele weitere Kopien an zahlreiche Regierungsfunktionäre in anderen Städten. Zu dieser Zeit erregte die Aktion grosses Aufsehen und es mangelte – natürlich – nicht an der Kritik von denjenigen, die dachten, dass die Anwendung solcher Mittel das wichtigere Werkzeug, die Propagierung der Idee einer Massenrevolte, weder ersetzen noch flankieren könne.

Seit damals hat sich diese Szene hunderte Male wiederholt. Selbstverständlich verändern sich die Details von Mal zu Mal, aber die Substanz bleibt dieselbe. Man könnte fast sagen, dass die Erfahrung dieser russischen Revolutionäre zu einer Art Archetyp wurde, zu einem Originalmodell, dessen nachfolgende Erscheinungsformen in Wahrheit nichts anderes als Herleitungen oder Imitationen sind. Die einzige Veränderung innerhalb dieses Schemas haben jene Anarchisten herbeigeführt, die es nie für nötig hielten, sich zu den eigenen Angriffsaktionen gegen die Macht politisch zu bekennen. Tatsächlich trat die russische Gruppe „Volkswille“, obwohl sie „Militante“ mit verschiedensten Ideen versammelte, als zentralisierte Avantgarde hervor. Wie sich eine Militante in ihren Memoiren erinnert, wurde im Innern dieser Organisation diskutiert, ob das zu befolgende Programm sein soll, «die Regierung zu zwingen, dem Volk zu erlauben seinen Willen frei und ohne Hindernisse auszudrücken und das politische und ökonomische Leben wieder aufzubauen… oder ob die Organisation zuerst versuchen sollte, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen, um dann von oben eine Verfassung zu erlassen, die zum Vorteil des Volkes wäre».

Unter solchen Voraussetzungen kann man ihr Bedürfnis sich zu bekennen und den Massen, die sie emporzuheben gedachten, und dem Feind, als dessen Gegenstück sie sich betrachteten die Gründe für ihre Aktion mitzuteilen gut verstehen. Schliesslich wollte sich diese Gruppe ans Volk wenden (wenn auch beinahe all ihre Mitglieder aus der wohlhabenderen Klasse kamen) und musste in dessen Namen mit der verfassungsgebenden Macht verhandeln, bis dahin, dass sie dem Thronfolger des Zaren einen Brief zuschickten, indem sie ihm Rat erteilten, welcher Politik er folgen sollte.

Aber wenn man weder irgendjemanden repräsentieren, noch sich als jemandes Gegenstück hinstellen will, wieso dann Communiqués verbeiten? Wenn man denkt, dass der Akt des Angriffs gegen die Macht in jedem Fall die soziale Revolution in Aussicht haben muss, und nicht deren Parodie in Form des bewaffneten Kampfes gegen den Staat sein kann, was kann dann das Ziel einer spezifischen bewaffneten Organisation sein?

Es scheint mir nicht, dass sich die Anarchisten in Vergangenheit durch den Gebrauch von Bekennerschreiben unterschieden haben. Diejenigen Anarchisten, die sich durch individuelle Taten aufopferten, wie Bresci <3> und Caserio <4> taten es aus offensichtlichen Gründen nicht. Jene Kameraden, die beabsichtigten eine kontinuierlichere Aktivität zu entwickeln, wie Ravachol <5> oder Henry <6>, taten es genausowenig, wie die Kameraden, die sich mit anderen zur bewaffneten Aktion zusammentaten: Weder Di Giovanni <7> tat es, noch Durruti <8> oder Ascaso <9>. Und die Gründe dafür mussten wohl ziemlich ersichtlich gewesen sein. Mit dem Verlangen nach einer Revolution, die von der Basis ausgeht und dieser weder aufgezwungen wird, noch von oben herab lanciert wird, haben es all diese Anarchisten als zweckmäßig erachtet, im Schatten zu handeln, indem sie versuchten, sich von allem fernzuhalten, was sie ins Rampenlicht bringen könnte. Sie zogen es vor, die Gründe für ihre Aktionen von der Basis auskommen zu lassen, sodass es die Bewegung selbst war, die sie ausdrückte, anstatt einen Vorteil aus dem ausgelösten Wirbel zu ziehen, um sie von oben herab zu verbreiten, als eine offizielle Nachricht derer, die revoltiert hatten, an jene, die es nicht taten. Wenn die Bedeutung einer Aktion durch den sozialen Kontext nicht ersichtlich war, lässt sie sich in Flugblättern, Zeitungen, Revues und innerhalb der theoretischen Debatte, die von der Bewegung als Gesmatheit entwickelt wurde finden, und nicht im Communiqué einer einzelnen Organisation. Ich mache ein Beispiel: Wenn die Bewegung fähig ist, ihre theoretische Kritik am Gefängnis auszudrücken und jemand zur praktischen Kritik übergeht, dann besteht keine Notwendigkeit ein Communiqué zu schreiben, worin die Gründe dafür erklärt werden. Die Gründe seiner Geste sind bereits klar und verständlich. Wenn jemand ein Bekennerschreiben veröffentlichen will, dann nur, weil er sich selbst zur Schau stellen und die eigene Identität durchsetzen will. Der Angriff auf das Polizeipräsidium von Genua zum Beispiel, war so aussagekräftig (was die Wahl des Ziels und des Momentes angeht), dass alle Worte überflüssig wurden. Warum wurde ein Communiqué in Umlauf gebracht, dass nichts als Banalitäten aussagte?

Es stimmt, dass der Fall der Angry Brigade <10> eine Art Ausnahme darstellt, die noch immer ein Thema für Anarchisten ist, die sich für ihre Aktionen bekennen. Nicht durch Zufall scheint eben diese Erfahrung für viele Kameraden, die heute die Macht angreifen, eine Art Vorbild darzustellen. Und dennoch scheint mir das Beispiel nicht wiederholbar zu sein, es sei denn, man wolle sich in ein Nachahmeverhalten stürzen. Einerseits ist es unmöglich, ausser Acht zu lassen, dass die Angry Brigade in einem historischen Kontext eingefügt war, in welchem sie heranreifte (Anfangs der 70er Jahre). Zu einer Zeit, als viele stalinistische Gruppen entsetzliche ideologische Schinken aussäten, um ihr eigenes politisches Projekt zu propagieren und sich anschickten die Dimension des bewaffneten Angriffs zu dominieren, scheint es mir nicht unsinnig, dass sich so mancher Anarchist absondern wollte, um das Risiko nicht einzugehen, ungewollt Wasser auf die Mühlen Anderer zu gießen. Von der Wahl des Namens und jener mancher Ziele, bis hin zum Stil ihrer Communiqués schien sich alles tendenziell vom politischen Zerfall zu unterscheiden, der sie umgab. Aber, die ganze stalinistische Ideologie einmal überholt, welche Bedeutung kommt der Entscheidung zu, sich als Anarchist zu kennzeichnen; welchen Sinn hat es, diese Selbstrepräsentation fortzuführen? In Ländern wie Spanien vielleicht, wo alle Aktionen, einschliesslich der anonymen, regelmässig der ETA <11> zugeschrieben werden, aber sicher nicht hier in Italien. Tatsächlich haben Angriffsaktionen seit Jahren keine Communiqués hervorgebracht, ausser hin und wieder mal etwas kurzes und einfaches, dass die Verwendung jeglicher identitären Kennzeichnung ablehnte. Es sollte überflüssig sein, die Gründe dafür darzulegen: eine Aktion kann nur allen gehören, wenn sie sich niemand selbst zuschreibt. Von dem Moment an, wo man sich mit einer Identität bekennt, entsteht eine Trennung zwischen jenen, die sie ausführten und allen anderen. Darüber hinaus sollte es auch nicht nötig sein, an die Gefahren zu erinnern, die jedem Bekennerschreiben beiwohnen. Es ist gefährlich es zu übergeben, es zu verschicken, und vor allem ist es gefährlich, es zu schreiben, denn je mehr man schreibt, desto mehr Hinweise gibt man der Polizei (eine alles andere als hypothetische Gefahr, angesichts dessen, dass es zumindest ein negativer Präzedenzfall <12> existiert, der anarchistische Kameraden getroffen hat). Ein anonymer Angriff erlaubt niemandem hervorzutreten und vereinfacht nicht die repressive Arbeit der Polizei.

Wenn die Gründe, die zur Anonymität raten, nun mehr als einmal ausformuliert wurden, wurden es jene, die davon abraten hingegen nicht. Seit einigen Jahren haben sich die Dinge verändert, ohne dass es zu einer Diskussion kam, die ermöglicht hätte, die Gründe einer solchen Veränderung zu verstehen (deshalb erscheinen sie verdunkelt und eher an emotionale Reaktionen gebunden, als an bestimmte Ziele). Jedenfalls ist es heute ziemlich schwierig eine Aktion zu finden, die nicht von einem schönen offiziellen Communiqué begleitet wird, mit seinen Slogans und Unterschriften im Anhang. Und weshalb? Stille… Findet man sich auf diese Weise nicht im Avantgardismus wieder? Das Risiko ist so offensichtlich, dass es unter eben diesen Autoren von Bekennerschreiben diejenigen gibt, die selbst proklamieren, gegen jeglichen Avantgardismus zu sein, in der Hoffnung, dass es ausreicht, dies zu sagen, damit es auch so ist. Aber «sich entschuldigen ist, sich anzuschuldigen». Es ist die verwendete Methode selbst, die avantgardistisch ist und manchmal sogar die deutlich verkündeten Inhalte (wie in dem quälenden Communiqué der ARA <13> nach dem Angriff auf dem Palazzo Marino). Es ist von geringer Bedeutung, ob die Slogans nun zum sozialen Krieg, anstatt zur Diktatur des Proletariats aufrufen. Egal, ob die Unterschriften immer wieder wechseln. Das zeigt nur, dass die anarchistischen „Avantgardisten“ im Vergleich zu den stalinistischen flexibler sind, doch nichts desto trotz verspüren sie das Bedürfnis, sich vom Rest der Bewegung zu unterscheiden.

Es reicht nicht den Ausgangspunkt der Angry Brigade anzunehmen, um das Problem zu lösen. Ich weiss sehr wohl, dass die Angry Brigade bekräftigte: «Wir sind nicht in der Position zu sagen, ob eine Person ein Mitglied der Brigade ist oder nicht. Alles was wir sagen ist: Die Brigade ist überall. Ohne irgendein Zentralkommitee und ohne Hierarchie zur Einteilung unsere Mitglieder können wir die Unbekannten nur durch deren Aktionen als Freunde erkennen». Ich weiss auch, dass sich ihre Teilnehmer nicht als Organisation oder als einzelne Gruppe betrachteten, sondern als «ein gegen den Staat und seine Institutionen gerichteter Ausdruck von Wut und Unzufriedenheit vieler Leuten im ganzen Land. In diesem Sinn ist die Angry Brigade stets gegenwärtig (der Mann und die Frau, die neben dir sitzen)». Aber all dies zeugt nur von den guten Absichten dieser Kameraden, von ihrer Sorge darüber, sich nicht als Avantgarde hinzustellen, aber es zeigt nicht, ob sie mit ihrem Vorhaben tatsächlich Erfolg hatten. Eine Signatur, die ein Symbol für die verbreitete Wut sein soll, hat keine Bedeutung. Damit sich jeder darin wiedererkennen kann, müssen die Aktionen und die Worte, die die Aktionen erklären, von jedem verstanden und geteilt werden. Man kann nicht eine allgemeine kollektive Identität anbieten und verlangen, dass jeder seine konkrete Individualität verleugnet. Dies kann man nur tun, wenn die verwirklichten Aktionen und die ausgesprochenen Worte auf einem solch minimalen Niveau bleiben, das es Abweichungen soweit wie möglich begrenzt: Sehr simple und exemplarische Aktionen begleitet von maximalistischen Slogans. All das – vorausgesetzt, dass es die Mühe wert wäre – kann nur über kurze Zeit funktionieren, infolge derer sich andere Faktoren einschalten, die Teil jedes Steigerungsprozesses sind und die Fortführung des Experimentes unmöglich machen: Es gibt jene, die zu mächtigeren Mitteln übergehen wollen, die ausgewähltere Ziele treffen wollen, die präzisiere Konzepte zum Ausdruck bringen wollen… Selbst die ALF, die doch aus einer Motivation heraus kämpft, die im Grunde ziemlich simpel und eindeutig ist (die Tierbefreiung), wies die ersten negativen Abweichungen auf, sobald sie eine gewisse Ausbreitung erlangte. Müde von der Verworrenheit des Projektes, vom Minimalismus der Ziele und der Deklarationen der Wortführer, bildeten sich andere Tierschützergruppen. Nicht der einzige, aber der schlimmste Aspekt ist, dass sich all diese Gruppen gezwungen sahen, sich selbst einen neuen Namen zu geben, um zu vermeiden, in den selben Topf geworfen zu werden. Denn das Mittel des Bekennerschreibens ist, mit aller Schädlichkeit, die dies mit sich bringt, ein streng politisches. Solange alle in der Anonymität verbleiben, kann man tun was man will, ohne sich mit anderen zu verwickeln oder auf deren Rücken zu reiten. Nicht aber, wenn jemand aus dem Wasser steigt; dann zwingt dieser auch die Anderen aufzutauchen, um nicht als schlichte Heereskolonnen wahrgenommen zu werden. Dieser Mechanismus der Identifikation/Assimilation kann nur durch Anonymität, Diversität der Mittel und Fantasie in der Wahl der Ziele vermieden werden, anderfalls (wie viele Vorsichtsmassnahmen man auch treffen mag) können die Medien niemals daran gehindert werden, diesen Mechanismus (noch viel stärker, als durch die Communiqués, die man eben diesen sendet) in Gang zu setzen.

Ich wiederhole, mit dem Gesagten denke ich nicht, dass man die guten Absichten dieser Kameraden bezweifeln kann. Dennoch sind sie meiner Meinung nach Opfer eines Irrtums: Zu denken, dass eine Methode anarchistisch wird, in den Händen desjenigen, der sie anwendet. Dem ist nicht so. Eine spezifische Organisation mit ihrem Kennzeichen und ihren Communiqués ist avantgardistisch – jenseits der einzelnen Personen, die Teil davon sind. Worin liegt der Sinn, den Bullen direkt ein Bekennerschreiben zukommen zu lassen? Worin liegt der Sinn, zu erklären, was nicht erklärt zu werden braucht? Abseits vom revolutionären Mythos hat das alles nur für einen Avantgardisten einen Sinn, der sich selbst im Bezug auf die Gesamtheit der Bewegung als etwas anderes und besseres sieht.

Welche Ziele?

Die avantgardistische Logik ist steif; wenn man sie sich einmal angeeignet hat, wendet man sie überall an. Es genügt an die Wahl der Ziele zu denken, an die deprimierende Entwicklung, die sie im Laufe der Jahre von anonym fallenden Hochspannungsmasten zu einer – mit beigelegtem Brief – ans Fernsehen gesendet Briefbombe gebracht hat. Im ersteren Fall wollen sie den Feind sabotieren und das Funktionieren seines Systems durch das Ausserkraftsetzen einer peripheren Struktur blockieren. Es handelt sich um eine praktische Angriffshandlung, die vielleicht etwas aufwendig zu realisieren ist, aber niemanden in Gefahr bringt. Im zweiten Fall will man bloss zum Gesprächsthema werden, Werbung für das eigene Unternehmen machen, und darum wenden sie sich direkt an die Türen des RAI [Italineischer Nationalfernsehsender]… Es ist eine rein symbolische Aktion, um vieles leichter zu realisieren, und wenn man einen unglücklichen Arbeiter der Post oder des Fernsehens in Gefahr bringt… wen kümmert das schon. Es scheint, dass nicht nur die Jesuiten denken, dass das Ziel die Mittel rechtfertigt, sondern auch gewisse Anarchisten. Und in Bezug auf Briefbomben…

Ich war ungerecht. Ich sagte, dass diejenigen, die sie verschickten nur von sich reden machen wollten. Ich vergass hinzuzufügen, dass sie, neben der Selbstbefriedigung, auch wollten, dass über etwas anderes gesprochen wird. Zum Beispiel über die Haftbedingungen einiger Anarchisten und Rebellen in Spanien. Auch die russischen revolutionären Sozialisten von 1878 teilten eine ähnliche Sorge. In einem ihrer berühmten Dokumente schrieben sie: «Wenn die Presse die Gefangenen nicht verteidigt, dann werden werden wir das tun».Heute sind es die Gruppen der 5C <14>. Anarchisten, nicht revolutionäre Sozialisten. Anarchisten wie May Piqueray, der 1921 eine Paketbombe an den amerikanischen Botschafter in Paris sandte, um gegen die Stille zu protestieren, die um die Inhaftierung von Sacco und Vanzetti vorherrschte. Die Aktion war von grossem Erfolg gekrönt, da die von der amerikanischen Regierung begangene Misshandlung endlich öffentlich bekannt wurde und einen Kampf lancierte, der Mühe hatte, ins Rollen zu kommen.

Aber nachdem man sich dieser Ähnlichkeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit Bewusst wurde, muss man Scheuklappen aufhaben, um nicht auch die riesigen Unterschiede zu erkennen. Die russischen Sozialisten töteten den Chef der Geheimpolizei infolge des Todes von einem ihrer Kameraden im Knast: Ein Tod für einen Tod eben. Der französische Anarchist tötete den höchsten Vertreter der amerikanischen Regierung in Frankreich, um die Niederträchtigkeit der amerikanischen Justiz öffentlich zu machen. Die Anarchisten der 5C übergeben ihre Geschenke heute an niemand geringeres, als an die Angestellten von RAI, oder an die Sekretäre der spanischen Reisebüros. Der Unterschied müsste ins Auge springen. Gewiss, diejenigen, die materiell für das Gefängnisregime Verantwortlich sind, welches den Häftlingen aufgezwungen wird, sind weit entfernt und wahrscheinlich zu gut geschützt, um erreichbar zu sein, während die Interessen des spanischen Staates hingegen überall sind und deshalb angegriffen werden können. Aber werden diese Interessen etwa von Angestellten verkörpert, die in Reisebüros arbeiten? Und warum beharrt man darauf, einen medialen Effekt zu suchen, als ob man die Tatsache ignorieren könnte, dass die grossen Kommunikationsmittel die Worte der Rebellen nur dann verstärken, wenn sie deren Bedeutung verzerren können? Und wieso nicht in Betracht ziehen, dass solche Aktionen diese Verzerrungsoperationen nur allzu einfach machen? Durch das Versenden von Briefbomben nach links und rechts bringt man sie zweifellos dazu, über die inhaftierten Kameraden in Spanien zu sprechen, jeder wird über sie sprechen, aber auf welche Weise? Natürlich in der Weise, die von den Medien auferlegt wird, die sich beeilen werden, jene Idee zu bestärken, die in vielen Köpfen verwurzelt ist: dass diese Gefangenen, wenn sie solch skrupellose Verfechter an ihrer Seite haben, letzten Endes das harte Regime auch verdienen.

Das Problem ist, dass jene, die denken, dass sie weiter vorne stehen und radikaler sind als die Anderen, dies aus einem bestimmten Grund tun. In diesen Fällen liegt der Grund im Gebrauch von gewissen Instrumenten: diejenigen, die reden, schwatzen bloß, diejenigen, die bewaffnet angreifen, agieren. All diese perfekten bewaffneten Kämpfer haben sich in ihre Instrumente verliebt. Sie lieben sie so sehr, dass die Waffen aufhören, solche zu sein. Sie werden zum Selbstzweck, sie werden zum Daseinsgrund. Sie wählen nicht die für den Zweck am besten geeigneten Mittel, sie verwandeln das Mittel zum Zweck an sich. Wenn ich eine Fliege an der Mauer totschlagen will, dann verwende ich eine zusammengerollte Zeitung, wenn ich eine Maus töten will, dann verwende ich einen Stock, wenn ich einen Menschen töten will, dann verwende ich einen Revolver, wenn ich ein Gebäude zerstören will, dann verwende ich Dynamit. Je nach dem was ich tun will, wähle ich von all den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen jenes, das ich für das passendste erachte. Der bewaffnete Kämpfer nicht. Er überlegt nicht so. Er möchte ausschliesslich sein bevorzugtes Instrument verwenden, jenes, das ihm am meisten Befriedigung verschafft, jenes, das ihn sich radikaler fühlen läßt, jenes, das es ihm erlaubt, sich in seinem Medienruhm zu aalen, und er verwendet es unabhängig vom Ziel, dass er sich vornahm: er schiesst auf Fliegen, rattert mit dem Maschinengewehr auf die Maus, dynamitisiert den Menschen und falls er es könnte, würde er eine Atombombe verwenden, um das Gebäude in die Luft zu jagen. Für den bewaffneten Kämpfer besteht die Radikalität eines Kampfes nicht aus seiner Verbreitung und Tiefe, aus seiner Kapazität den sozialen Frieden in Frage zu stellen. Für den bewaffneten Kämpfer ist Radikalität schlicht eine Frage der Feuerkraft: eine Kaliber 22 Pistole ist nicht so radikal wie eine 38er, welche weniger radikal ist wie eine Kalaschnikov, die wiederum weniger radikal ist wie der Plastiksprengstoff. Und aus diesem Grund, nach Ruhm dürstend und durch seine eigene technizistische Vergötterung stumpfsinnig gemacht, verschickt er Briefbomben an einfache Angestellte, um das FIES Gefängnisregime zu bekämpfen. Er macht das, weil es die einzige Sache ist, die er zu tun weiss; die Technik begleitet die Intelligenz nicht, sondern ersetzt sie, und somit hält er nicht inne, um sich für einen Augenblick zu fragen, ob die Mittel für das Ziel angebracht sind, das er erreichen will. Was die Skrupel betrifft, so hat er aus dem einfachen Grund keine, da in seinem Kopf alles in Schwarz und Weiss aufgeteilt ist, ohne Farbschattierungen. Auf der einen Seite ist der Staat, auf der anderen sind die Anarchisten. Es gibt niemanden in der Mitte. Wenn man nicht Anarchist ist, gehört man zum Staat und ist somit ein Feind. Die Ausgebeuteten sind ebenso verantwortlich für die Bedingungen, welche sie hinnehmen, wie die Ausbeuter, die ihnen diese aufzwingen: Sie sind alle Feinde, darum scheiss auf sie.

Eigenartigerweise gewinnt diese typisch militaristische Logik unter einigen anarchistischen Kameraden an Boden, bei welchen es nicht an jenen mangelt, die sogar die palästinensischen Kamikazeaktionen unterstützen. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass solche Stufen der Niederträchtigkeit selbst den russischen Revolutionären am Ende des 19ten Jahrhunderts fern lagen: avantgardistische Autoritäre ja, aber mit einer strikten Ethik, dazu bereit, einen Ausbeuter zu töten, aber ohne ein Haar eines einzigen Ausgebeuteten zu krümmen. Und wenn dem bei den Autoritären eine solche Aufmerksamkeit zukam, dann stell dir erst die Anarchisten vor! Es mangelt nicht an Beispielen was dies betrifft: sogar Schicchi, der für seine harte Sprache bekannt ist, war fähig, dorthin zurückzukehren, wo er eine Bombe hinterliess, um sie zu entschärfen, als er realisierte, dass irgendein unbeteiligter Passant verwundet werden könnte.

Aber das Bild des Anarchisten aus der Vergangenheit, der perfekte Gentleman, ist zu gutmenschlich und wenig befriedigend für gewisse Anarchisten von Heute. Anarchisten, die ihrem Leben nur dann einen Sinn geben können, wenn sie fühlen, dass sie von öffentlicher Missbilligung getroffen werden. Je mehr etwas verurteilt wird, desto mehr fühlen sie sich davon angezogen. Je mehr die Zeitungen und Richter die Anarchisten als skrupellose Leute bezeichnen, desto mehr strengen sie sich an, diese Rolle zu erfüllen. Jeglicher eigenen Perspektive beraubt, lassen sie sich von ihren Feinden sagen, was sie sind und was sie zu tun haben.

Eine weitere Konsequenz dieser Ereignisse ist die völlige Verdunkelung der Bedeutung des Begriffes „aufständisch“, der heute zunehmends als Synonym für „gewalttätig“ verwendet wird, oder für die blosse Tatsache, sich dem Dialog mit den Institutionen zu entziehen. Aufständische sind jene Anarchisten, die Bomben legen, Aufständische sind jene Anarchisten, die Scheiben einschlagen, Aufständische sind jene Anarchisten, die sich mit der Polizei konfrontieren, Aufständische sind jene Anarchisten, die Demonstrationen von politischen Parteien bekämpfen, und so weiter. Nicht ein Wort über die Ideen. In gewisser Weise wiederholt sich genau das, was am Anfang des Jahrhunderts mit dem Adjektiv „individualistisch“ geschah. Zu einem gegebenen Moment gelangte man zur Überzeugung, dass all jene Individualisten seien, die Akte individueller Gewalt unterstützen. Der Begriff wurde mehr oder weniger überall und oft und gerne Unsinnig verwendet. Wer hielt in der Hektik der Ereignisse schon inne, um die Verwirrung, die sich verbreitete klarzustellen? Die Anwendung von individueller Gewalt ist nicht im geringsten eine typische Eigenheit des Individualismus. Es gab auch pazifistische individualistische Anarchisten (sowie Tucker <15>) oder gewaltlose (sowie Mackkay <16>). Und vielleicht war auch Galleani <17> ein Individualist? Und doch unterstützte er individuellen Aktionen… wie es auch Malatesta unter bestimmten Umständen tat. Und auch an Kommunisten, die individuelle Taten befürworten mangelt es nicht. Leider verfestigte sich die Verwirrung so sehr, dass es sogar diejenigen gab, die sich selbst Individualisten nannten, obwohl sie es nicht im Geringsten waren (wie es Schicchi beim Pisa-Prozess tat). Missverständnisse, Unverständnisse… Es geht bestimmt nicht darum, zu einer solchen Verwirrung beizutragen. Dass die Medien das tun, ist ziemlich offensichtlich und nachvollziehbar. Aber warum sollten wir es auch tun?

Der Aufstand ist ein soziales Ereignis. Er ist nicht eine Herausforderung zur einen Schlacht gegen den Staat, von denjenigen in die Wege geleitet, die glauben, dass die Massen nur Schafe sind, die darauf warten, geschoren zu werden. Der Gebrauch von Gewalt ist in einem aufständischen Projekt unvermeidbar und notwendig, während des aufständischen Momentes genauso wie auch davor (denn der soziale Aspekt des Aufstandes kann niemals zur Rechtfertigung einer Wartehaltung dienen). Daher ist es auch jetzt so. Doch diese Gewalt kann sich nicht vom Rest des Projektes loslösen, sie kann nicht dessen Platz einnehmen. Es ist die Gewalt, die dem Projekte als Instrument zur Verfügung steht und nicht das Projekt, das der Gewalt als Vorwand zur Vergfügung steht. Wer denkt, dass ein Aufstand nicht möglich sei, wer das Vertrauen in die Möglichkeit verloren hat (oder niemals hatte), dass die Ausgebeuteten rebellieren werden, der sollte sich über die Distanz bewusst werden, die ihn von jeglicher aufständischen Perspektive trennt. Wenn er seinen privaten Krieg gegen die Macht führen will, denn zu dem ist es geworden, dann soll er dies nur tun, aber ohne es als sozialen Krieg auszugeben. Wenn er mit seinen Aktionen in die Geschichte eingehen will, um der reinen Selbstbeweihräucherung wegen, dann soll er es sich unter den Scheinwerfern der Medien nur bequem machen, aber ohne vorzugeben, den Rest der Bewegung hinter sich zu haben.

Es versteht sich von selbst, dass jeder frei ist, das zu tun, was er will. Für diejenigen, die denken, oberhalb jeglicher Kritik zu stehen und somit nur gelobt, verstanden und nachgeahmt werden zu können, ohne dass sie es jemals für nötig hielten, die Gründe für ihre Methoden darzulegen, gilt das viel weniger.

Der Text erschien am 15. Februer 2003
auf Italienisch auf der Webseite Anarcotico
Originaltitel: Su alcune vecchie questioni d‘attualità fra gli anarchici, e non solo
Autor: anonym


Anmerkungen

1 – Am 12. September 2002 explodieren zwei selbstgebaute Sprengsätze bei einem Polizeikommissariat in Genua. Die Fensterscheiben des Kommissariats zerbersten. Die Aktion wird in einem Communiqué mit Brigade 20. Juli [Der Tag an dem Carlo Guiliani in Genua ermordet wurde] unterzeichnet. Am 13. Dezember 2002 empfängt die Iberia-Geschäftsstelle [Spanische Flugzeuggesellschaft] in Rom eine (als Buch getarnte) Packetbombe. An den folgenden Tagen erhalten auch die Iberai-Geschäftsstellen in Milano und Fiumicino Paketbomben. Auch das RAI [Italienischer Nationalfernsehsender] empfängt ein solches Packet. Die 5C [Cellule contre il capitale, il carcere, i carcerieri e le loro celle] bekennt sich zu den Packetbomben. Am 16. Juni 2003 bekennt sich die 5C zu einem weiteren Bombenanschlag gegen das Spanische Cervantes-Institut in Rom.

2 – Naradnja Vola [Volkswille] – Diese russische Revolutionäre Organisation wurde 1879 gegründet und versammelte Militante mit unterschiedlichen Ideen, die sich den Kampf gegen die Autokratie zum zentralen Ziel machten. Die Organisation war zentralisiert und operierte im Schatten. In mehr als 50 Städten gab es Abteilungen der Naradnja Volja. Obwohl sie effektiv nie mehr als 500 Leute waren, haben sich viele tausend Leute an der Organisation beteiligt. Die Organisation teilte verschiedene Zeitungen aus, während sich die Entscheidung für Anschläge mit der Zeit zu verbreiten begann. Sie planten sieben Anschläge gegen den Zar Alexander II (der siebente glückte). Nach diesem Anschlag macht die Regierung  aus Angst vor einem Aufstand einige demokratische Zugeständnisse. Da dieser jedoch ausblieb, schlug die Repression zu und die Organisation fiel auseinander.

3 – Gaetano Bresci (1869 – 1901) – Schon mit jungen Jahren arbeitet Bresci in der Italienischen Textilindustrie.Von diesem Moment an suchte er Kontakte innerhalb des anarchistischem Milieues von Prato. Er landete zwei mal im Gefängnis. Das zweite mal wird ihm Amnestie gewährt und er beschliesst 1896 in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Er lässt sich in New York nieder. 1898 bricht in Milano aufgrund von Preiserhöhungen eine Revolte aus. Der General Bava Beccaris lässt die Soldaten mit Kanonen auf die Massen schiessen und entfesselt nach der Niederschlagung der Revolte eine blutige Repression. Anschliessend an diese Ereignissen wird der General Beccaris vom König Umberto I mit einem Orden ausgezeichnet. In diesem Moment beschliesst Bresci zur Rache überzugehen. Er kehrt nach Italien zurück und tötet den König Umberto I am 29. Juli 1900 mit drei Revolverschüssen. Er wird festgenommen und am 29. August in Milano zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Santo Stefano verurteilt. Am 22. Mai 1901 wird er in seiner Zelle aufgehängt vorgefunden, mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde er ermordet.

4 – Sante Geronimo Caserio (1873 – 1894) – Caserio wird in eine Bauernfamilie geboren. Als er zehn jahre alt war, stirbt sein Vater an der zu einseitigen Maisernährung. Er wollte seiner Mutter und seinen Brüdern und Schwestern nicht länger zur Last fallen und zog nach Milano, wo er Bäckerslehrling wird. Sehr schnell geriet er in Kontakt mit den anarchistischen Milieues. Er stellte selbst einen kleinen anarchistischen Kreis auf die Beine, „A Pè“ [frei übersetzt „auf nackten Füssen“, auf die Armut verweisend]. Ab einem gewissen Punkt gerät er in das Visier der Polizei und ist gezwungen zu flüchten, zuerst in die Schweiz und dann nach Frankreich. Während einer öffentlichen Zeremonie in Lyon am 24. Juni 1894 tötete er den Französischen Präsidenten Carnot. Er bohrte seinen Dolch mit rot-schwarzem Griff in das Herz des Präsidenten. Er versuchte nicht zu flüchten, sondern begann um den Zeremoniewagen zu laufen und «lang lebe die Anarchie» zu rufen. Am 2. und 3. August 1894 wird er verurteilt, am 16. August wird er auf der Guillotine umgebracht. Kurz vor seiner Exekution rief er: «Habt Mut Freunde! Es lebe die Anarchie!». Während seines Prozesses zeigte er keine Reue, bat nicht um Gnade und weigerte sich, die Namen seiner Komplizen preiszugeben.

5 – François Claudius Koëningstein alias Ravachol (1859 – 1892) – Ravachol erlebte eine schwere Kindheit. Schon mit acht Jahren irrt er durch die dunklen Gässchen der Gesellschaft. Er arbeitet, um Mutter, Schwester, Bruder und Neffen zu unterhalten, während er Sonntags in Saint-Etienne Akkordeon spielt. Sehr bald eignet sich Ravachol anarchistische Ideen an. Am 1. Mai 1891 findet in Fourmies eine Demonstration für den Achtstundentag statt. Es brechen Ausschreitungen aus und die Polizei schiesst auf die Demonstranten. Neun Demonstranten (Männer, Frauen und Kinder) werden getötet. Am selben Tag findet in Clichy eine Demonstration statt, woran sich auch die Anarchisten beteiligen. Es kommt zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nach einer kurzen Schiesserei, wobei einige Beamte getroffen wurden, werden drei Anarchisten ins Kommisariat von Clichy abgeführt. Dort wurden sie verhört und geschlagen. Es folgt ein Prozess: Decamps wird zu 5 Jahren und Dardare zu 3 Jahren verurteilt, Léveillé wird freigesprochen. Bulot, der öffentliche Ankläger forderte die Todesstrafe. Ravachol (flüchtig mit einer Anklage für Verleumdung) und einige andere Kameraden entscheiden sich ein paar Anschläge zu organisieren. Am 7. März 1892 misslingt ein Anschlag auf das Komissariat von Clichy. Am 11. März 1892 explodiert das Haus des Rechtsanwaltes Benoit (Vorsitzender des Assisenhofes, der sich um die Sache von Clichy kümmert). Am 27. März ist das Haus des öffentliche Anklägers Bulot an der Reihe. Am 30. März wird Ravachol nach einem Anschlag auf das Bourgeoisierestaurant Véry in Paris verhaftet. Erst wird er zu lebenslanger Haft verurteilt, doch in einem zweiten Prozess bekommt er die Todesstrafe. Am 11. Juli 1892 wird er mit der Guillotine getötet.

6 – Émile Henry (1872 – 1894) – Nach der Kommune von Paris 1871 muss die Familie von Henry nach Spanien flüchten, um der Todesstrafe zu entkommen. Dort werden Émile und sein Brude geborden. Nach dem Waffenstillstand von 1882 kehrten sie nach Frankreich zurück. Henry schloss mit Glanz sein Studium als Buchhalter ab. Erst vom Sozialismus angezogen, kehrt er sich um 1891 von dieser Strömung ab. « Ich hielt zu viel von der Freiheit, hatte zu viel Respekt für individuelle Initiativen, zu viel Abneigung für Konformismus, um mir ein Nümmerchen für die geordnete Armee des vierten Staates zu ziehen. » Henry kam in Kontakt mit den anarchistischen und individualistischen Milieues um die Jahrhundertwende. Am 8. November 1892 platzierte er eine Bombe beim Büro des Minenunternehmens Carmaux. Der Hausmeister des Gebäudes findet sie und bringt sie ins Polizeikommisariat in der Rue des Bons Enfants. Dort explodiert die Bombe. Fünf Polizisten sterben und ein sechster erleidet an einem Herzanfall. Am 12. Februar 1894 betritt er um 9 Uhr Morgens das bourgeoise Café Terminus in Paris. Er wirft einen metallenen Kessel voller Sprengstoff in die Luft und die Bombe explodiert. Zwanzig Menschen werden verwundet und einer stirbt anschliessend aufgrund seiner Verletzungen. Das Café selbst ist eine Ruine. Am 21. Mai 1894 wird Henry (zu dieser Zeit 21 Jahre alt) auf der Guillotine umgebracht.

7 – Severino Di Giovanni (1901 – 1931) – Di Giovanni wird in Italien geboren. Seine Rebellion begann mit sehr jungen Jahren. 1921 schloss er sich der anarchistischen Bewegung an. Als Mussolini 1922 an die Macht kam, entschied er sich nach Argentinien zu ziehen. Dort brachte er ab 1925 die italienischsprachige Zeitschrift Culmine heraus, womit er nicht nur agitierte, sondern auch Verbindungen zwischen verschiedenen anarchistischen Gruppen in der Region und der ganzen Welt schloss. Di Giovanni propagierte die Notwendigkeit vom Gebrauch revolutionärer Gewalt. Er verübt verschiedene Bombenanschläge und plante Überfälle, um das Herausbringen von Büchern und von Culmine zu finanzieren. Er beteiligte sich auch an der Solidaritätsbewegung gegen die Exekution von Sacco und Vanzetti. Bei einige Aktionen fielen Tote, worauf ihn ein Teil der anarchistischen Bewegung abschrieb. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei wird Di Giovanni verhaftet. 24 Stunden später, am 1. Februar 1931 wird er hingerichtet.
Siehe Severino Di Giovanni, Elephant Editions, London

8 – Buenaventura Durruti (1896 – 1936) – Durruti wird in Spanien in eine Arbeiterfamilie geboren. Ab 1913 arbeitet er an der Drehbank und schliesst sich der Metallarbeitergewerkschaft an. Ein Jahr später wird er als Eisenbahnarbeiter eingestellt. 1917 ruft die UGT (allgemeine Arbeitergewerkschaft) zu einem Generalstreik auf. Die spanische Regierung setzt die Armee ein, um den Streik zu brechen. 500 Arbeiter werden getötet oder verwundet, 2000 Streikende werden ins Gefängnis gesperrt. Durruti nahm an dem Streik als junger Saboteur und Brandstifter aktiv teil. Die Gewerkschaft brach jegliche Verbindung mit ihm und anderen Kameraden ab, worauf sie herausgeworfen werden. Er wird gesucht und flüchtet nach Frankreich bis er 1920 nach Barcelona zurückkehrt. Zusammen mit García Oliver, Francisco Ascaso und anderen Anarchisten gründen sie die Gruppe Los Solidarios, die unteranderem Vergeltungsmassnahmen gegen Bosse und Angriffe auf Banken organisierten. Erfolgslos versuchen Leute dieser Gruppe den spanischen König Alphonso XIII zu töten. 1923 wird der Kardinal von Saragossa Juan Soldevilla y Romero getötet, als Antwort auf den Mord an dem Kameraden Salvador Seguí.  Los Solidarios waren hierbei beteiligt. Durruti und Oliver tauchen in Argentinien unter, wo er zusammen mit anderen Kameraden unteranderem verschiedene Banken überfällt um die anarchistische Bewegung zu finanzieren. Durruti kehrt nach Barcelona zurück und schliesst sich der CNT (anarcho-syndikalistische Gewerkschaft) und der FAI (Iberische anarchistische Föderation) an. Während der spanischen Revolution spielte er eine wichtige Rolle, was die Koordination des Kampfes gegen General Franco betrifft. Im Novamber 1936 lässt sich Durruti dafür überzeugen, Madrid zu befreien. Durruti stirbt im Verlaufe dieses Gefechts an einer Kugel. Es ist noch immer nicht klar wie er getötet wurde, vielleicht von Stalinisten, durch einen technischen Defekt, durch eine verirrte Kugel…
Für Durrutis Beteiligung an der spanischen Revolution siehe Miguel Amorós, Durruti dans le labyrinthe, Encyclopédie des Nuisances, Paris, 2006.

9- Franciso Ascaso Budría (1901 – 1936) – Als Bäcker und Kelner schloss sich Ascaso der spanischen FAI (Iberische anarchistische Föderation) und einer ihrer bewaffneten Gruppen, Los Justicieros, an. 1922 ging er nach Barcelona und zusammen mit unteranderem Buenaventura Durruti und García Oliver formte er die Gruppe Los Solidarios (siehe Anmerkung 8). 1923 flüchtete er zusammen mit Durruti nach Südamerika, wo sie zusammen in der anarchistischen Bewegung aktiv waren und unter anderem Banküberfälle durchführten. Als er nach Frankreich zurückkehrt, wird er (zusammen mit den anderen) angeschuldigt, einen Mordversuch am  König Alphonso XIII geplant zu haben. Mangels Beweisen wird er freigesprochen und aus dem Land verwiesen. Ascaso bleibt weiterhin klandestin in Frankreich. 1931 kehrt er nach Spanien zurück und organisiert die Gruppe Nosotros (anarchistische Gruppe am Rande der FAI). Die ersten fünf Jahre der Zweiten Spanischen Republik werden von anarchistischen Aufständen gezeichnet, woran er sich aktiv beteiligt. 1932 wird er verhaftet und erst nach Bata, dann auf die kanarischen Inseln deportiert. Kurz darauf taucht er in Sevilla wieder auf, wo er erneut verhaftet wird. Während der ersten Tagen des Kampfes in Barcelona (bei der Atarazanakaserne) nach dem Misslungenen Coup von Franco wird er niedergeschossen.

10 – The Angry Brigade – Zwischen 1970 und 1972 wird eine ganze Reihe von bewaffneten Angriffen in Grossbritanien mit diesem Namen Unterzeichnet. Die Angriffe richteten sich vorallem gegen Banken, Botschaften und die Häuser von konservativen Parlamentsleuten. Nur einmal gerieten Personen durch einen Angriff der Angry Brigade ans Licht. Am 6. Dezember 1972 werden vier Kameraden zu 10 Jahren Haft für ihre Beteiligung an der Angry Brigade verurteilt.

11 – ETA Euskadi Ta Askatasuna [Baskenland und Freiheit] – Eine 1959 gegründete bewaffnete Gruppierung. Mit revolutionär marxistischen Ideen vermischt mit Baskischem Nationalismus gingen sie den Kampf gegen das Franco-Regime an. 1974 teilte sich die ETA entzwei: die militärische ETA und die politisch-militärische ETA. Die Spaltung hat underanderem, aber bestimmt nicht ausschliesslich, mit durch Anschläge getroffenen Zielen und Methoden, die angewendet wurden, um Geld zu beschaffen zu tun. 1982 löst sich die politisch-militärische ETA auf, während sich die militärische ETA immer mehr auf ausschliesslich nationalistisches Terrain begiebt.

12 – Am 25 April 1997 explodiert beim Palazzo Marino in Milano eine Bombe. Der Haupteingang wurde beschädigt und einige Fenster entglast. Die Presse und das Gericht sprechen von Versuchtem Todschlag. Die Azione Revoluzionaria Anarchica [revolutionäre anarchistische Aktion] bekennt sich zur Verantwortung. In den folgenden Tagen zirkuliert ein unscharfes Foto mit einem Bild von einer Überwachungskamera, die die Umgebung um das Lokal der kommunistischen Radiostation Radio Populare filmt. Auf dem Foto ist eine „Postfrau“ zu sehen, die ein Brief deponiert, worin sich zum Anschlag bekannt wird. Es wird eine Belohnung von 10 Millionen Liren für denjenigen ausgeschrieben, der die Frau erkennen kann. Am 29. Juni 1997 wird die Anarchistin Patrizia Cadeddu verhaftet und angeschuldigt diese „Postfrau“ zu sein. Ihr Prozess folgte ein Jahr später.

13 – ARA, siehe Anmerkung 12

14 – 5C – Unter dem Namen Cinque C, „Contro il Capitale, il Carcere, i Carcerieri e le loro Celle“ [Gegen das Kapital, das Gefängnis, die Wärter und ihre Zellen] werden im Dezember 2002 und Juni 2003 in Italien verschiedene Aktionen unteranderem bei Spanischen Zielen gegen das FIES-Isolationsregime durchgeführt (Briefbomben und Sprengstoffanschläge).

15 – Benjamin Tucker (1854 – 1939) – Tucker war durch seine Beiträge als Herausgeber und Schreiber einer der bekanntesten Amerikanischen Träger des individualistischen Anarchismus. Er brachte unter anderem die anarchistische Zeitschrift „Liberty“ heraus, worin verschiedene individualistische Denker zu Wort kamen, des weiteren übersetzte er die englischsprachige Ausgabe von „Was ist Eigentum“ von Proudhon und „Der Einzige und sein Eigentum“ von Max Stirner. Schliesslich kommt es zu einem Bruch zwischen dem von Stirner inspirierten Individualismus und der alten Garde von Jusnaturalisten unter Einfluss von Lysander Spooner. Beide Tendenzen waren sich darüber einig, Autorität, Gesetzgebung und die Vorstellung eines „Gesellschaftsvertrages“ zu verwerfen. Sie unterschieden sich in diesem Sinne, dass die Jusnaturalisten ein Leben ohne zwang als ein natürliches individuelles Recht betrachten, während beim individualistischen Anarchismus von Stirner die Entscheidung für den Individualismus eher pragmatisch ist, als die beste Art und Weise gegenüber sich selbst und der Gesellschaft zu stehen.

16 – John Henry Mackay (1864 – 1933) – als Anhänger von Stirner schrieb dieser individualistische Anarchist den Roman „Die Anarchisten“, welchem Ende des 19. Jahrhunderts ein grosser Einfluss zukam.

17 – Luigi Galleani (1861 – 1931) – Während seines Rechtsstudiums in Turin (das er nicht abschloss) kam Galleani in Kontakt mit anarchistischen Ideen. Er widmete sich der anarchistischen Propaganda und muss nach Frankreich flüchten. Auch dort wird er ausgewiesen. Er landete in der Schweiz wo er erneut für seine Angitation ausgewiesen wird. Zurück in Italien wird er für Verschwörung zu 5 Jahren Haft verurteilt. 1900 brach er aus dem Gefängnis Pantelleria aus und flüchtete nach Egypten, Londen und schliesslich in die Vereinigten Staaten. Etwas später wird er schon wieder für  Aufstand und Anstiftung zur Gewalt nach Kanada ausgewiesen (wo er erneut deportiert wird). Zurück in den Vereinigten Staaten wurde er bekannt als ein Verteidiger der „Propaganda der Tat“. Er gab die italienischsprachige Zeitschrift Cronaca Sovversiva (Subversive Chronik) heraus. 1918, nach 15 Jahren publikation, wird die Zeitschrift durch den Sedition Act verboten. Die Cronaca Sovversiva umfasst neben Darlegungen von anarchistischen Ideen auch oft eine Liste mit Adressen und detaillierten Beziehungen der Kapitalisten, Geschäftsleute, Streikbrecher,… Viele Anarchisten umgaben Galleani, darunter Nicola Sacco und Cartolomeo Vanzetti, die 1927 hingerichtet werden. Die Gruppe machte viel propaganda durch die Cronaca und besonders bekannt wurden sie durch die Herausgabe von La Salute è in voi! [Gesundheit sitzt in dir], eine Anleitung zum Herstellen von Bomben. Ab 1914 folgen die Anschläge in den Vereinigten Staaten in einem rasenden Tempo aufeinander. Duzende Bombenanschläge gegen die Polizei, Richter, Gerichte, Geschäftsleute, Gefängnisse,… 1917 zieht die Gruppe nach Mexiko um sich an der langerwarteten Revolution zu beteiligen. Desillusioniert kehren sie Ende 1917 in die USA zurück, um ihre Agitation fortzusetzen. Es folgen erneut verschiedene Bombenanschläge. Aufgrund des Mangels an konkreten Beweisen greift die amarikanische Regierung zum Anarchist Act, der die Deportation von Anarchisten und Subversiven ermöglicht. Ende April 1919 werden ungefähr 30 Briefbomben an verschiedene Politiker, Richter und Bankiers verschickt. Die Meisten Packete wurden im voraus entdeckt. Ein Dienstmädchen des Senator Hardwick (ein Unterstützer des Anarchist Act) verlor beide Hände als sie das Packet öffnete. Die Bombenanschläge gehen unvermindert weiter, die Antwort waren jene hunderte von Deportationen, die später als Palmer Raids bekannt wurden. 1919 wird auch Galleani nach Italien abgeschoben, wo er auf eine Insel vor der Küste verbannt wird. Als Mussolini an die Macht kam wird Galleani unter permanente Überwachung gestellt. Galleani stirbt 1931 mit 70 Jahren an einem Herzanfall.

In offener Feindschaft mit dem Bestehenden seinen Verteidigern und seinen falschen Kritikern

Vor langer Zeit veröffentlicht, ist nach wie vor „Ai ferri corti con l‘Esistente, i suoi difensori e i suoi falsi critici“, so der Titel im Original, ein wichtiger Beitrag für die Debatte unter anarchistischen Gruppen und Individuen. Wir graben den Text wieder aus, da der Anarchismus so viele Feinde innerhalb wie außerhalb seiner Reihen hat und wir diesen bald auch brauchen werden.


In offener Feindschaft mit dem Bestehenden seinen Verteidigern und seinen falschen Kritikern

I

« Jeder kann dem Umherirren in der Sklaverei dessen, was er nicht kennt, ein Ende setzen – und, das Angebot leerer Worte zurückweisend, in offener Feindschaft dem Leben entgegentreten. »
C. Michelstaedter

Das Leben ist nichts anderes, als eine beständige Suche nach etwas, woran man sich festhalten kann. Man steht morgens auf, um sich ein paar Stunden später wieder ins Bett zu legen, wie traurige Pendler zwischen Lustlosigkeit und Müdigkeit. Die Zeit vergeht und treibt uns mit Sporen an, die immer weniger lästig scheinen. Auch die Last der sozialen Pflichten scheint uns nicht mehr den Rücken zu brechen, so dass wir sie überall mit uns tragen. Wir gehorchen, ohne uns noch die Mühe zu machen, ‘Ja‘ zu sagen. Der Tod wird durch das Leben gesühnt, schrieb der Dichter aus einem anderen Schützengraben.

Wir können ohne Leidenschaft und ohne Träume leben – dies ist die grosse Freiheit, die uns diese Gesellschaft bietet. Wir können ungehemmt sprechen, vor allem über all die Dinge, von denen wir nichts verstehen. Wir können alle Meinungen der Welt vertreten, selbst die gewagtesten, und hinter dem Gewirr von Stimmen verschwinden. Wir können unseren Lieblingskandidaten wählen und im Gegenzug das Recht einfordern, uns beschweren zu dürfen. Wir können jederzeit den Kanal wechseln, falls er uns dogmatisch zu werden scheint. Wir können uns zu festgelegten Zeiten amüsieren und mit immer höherer Geschwindigkeit traurig identische Landschaften durchqueren. Wir können uns wie junge Hitzköpfe aufführen, bevor wir eimerweise eiskalten, gesunden Menschenverstand verabreicht bekommen. Wir können nach belieben heiraten; so heilig ist die Ehe. Wir können uns sinnvoll betätigen und, falls wir wirklich kein Schreibtalent haben, Journalisten werden. Wir können auf tausend Arten Politik machen und sogar von exotischen Guerillas sprechen. In der Karriere sowie im Gefühlsleben können wir uns, falls wir es nicht schaffen, selbst zu befehligen, noch immer durch Gehorsamkeit profilieren. Auch durch Gehorsamkeit können wir zum Märtyrer werden, denn allem Anschein zum trotz, benötigt diese Gesellschaft noch immer Helden.

Unsere Dummheit wird bestimmt nicht grösser als jene der Anderen erscheinen. Falls wir nicht fähig sind, uns zu entscheiden, kein Problem, dann lassen wir eben die Anderen wählen. Anschliessend werden wir Position beziehen, wie man im Jargon der Politik und des Spektakels sagt. An Rechtfertigungen mangelt es nie, besonders nicht in einer Welt, die sie alle schluckt.

Auf diesem grossen Jahrmarkt der Rollen haben wir alle einen loyalen Verbündeten: das Geld. Demokratisch par excellence, schaut es niemandem ins Gesicht. In seiner Begleitschaft kann uns keine Ware und keine Dienstleistung dieser Welt verwehrt werden. Wer auch immer sein Besitzer ist, er fordert mit der Kraft einer ganzen Gesellschaft. Natürlich, dieser Verbündete gibt nie genug von sich selbst und vor allem gibt er sich auch nicht allen. Doch seine besondere Hierarchie vereinigt in ihren Werten das, was sich in den Lebensbedingungen entgegensteht. Wenn man es besitzt, hat man allen Grund dazu, wenn es mangelt, hat man nicht weniger Milderungsgründe.

Mit etwas Übung könnten wir ganze Tage ohne die geringste Idee verbringen. Die tägliche Routine übernimmt das Denken für uns. Von der Arbeit bis zur “Freizeit” dreht sich alles um den Erhalt des Überlebens. Es gibt immer irgendetwas, woran wir uns festhalten können. Im Grunde liegt die erstaunlichste Eigenschaft der heutigen Gesellschaft darin, die “kleinen Alltagskomforte” und die zum greifen nahe Katastrophe nebeneinander existieren zu lassen. Parallel zur technologischen Verwaltung des Bestehenden, schreitet auch die Ökonomie mit der verantwortungslosesten Unkontrollierbarkeit voran; man wechselt von Unterhaltung zu Massenmassakern mit der disziplinierten Leichtfertigkeit von vorberechneten Gesten. Der Kauf und Verkauf des Todes erstreckt sich über den gesamten Raum und die gesamte Zeit. Risiko und gewagter Aufwand existieren nicht mehr; es bleibt nur noch die Sicherheit oder das Desaster, die Routine oder die Katastrophe. Überlebende oder Untergehende. Lebende, niemals.

Mit etwas Übung könnten wir mit geschlossenen Augen von Zuhause zur Schule, vom Büro zum Supermarkt oder von der Bank zur Diskothek gehen. Langsam begreifen wir die ganze Weisheit jener Worte eines alten Griechens: « Auch die Schlafenden halten die Ordnung der Welt aufrecht. »

Es ist Zeit mit diesem Wir zu brechen, mit dieser Wiederspiegelung der einzigen Gemeinschaft, die gegenwärtig existiert, jener der Autorität und der Waren.

Ein Teil dieser Gesellschaft hat alles Interesse daran, dass die Herrschaft dieser Ordnung fortbesteht, der andere daran, dass alles so bald wie möglich kollabiert. Sich für eine Seite zu entscheiden, ist der erste Schritt. Doch überall herrschen die Resignierten – die wirkliche Basis zur Übereinkunft beider Seiten –, die Verbesserer des Bestehenden und dessen falsche Kritiker. Überall, auch in unserem Leben – dem echten Ort des sozialen Krieges –, unseren Träumen und unserer Entschlossenheit, sowie in unseren kleinen, alltäglichen Unterwerfungen.

All dem muss in offener Feindschaft entgegengetreten werden, um endlich das Leben selbst herauszufordern.

II

« Die Dinge, die notwendigerweise gelernt sein müssen, um sie zu tun, erlernen wir, indem wir sie tun. »
Aristoteles

Das Geheimnis liegt darin, wirklich zu beginnen.

Die gegenwärtige soziale Organisation schiebt nicht nur jegliches Ausleben der Freiheit hinaus, sondern verhindert und verdirbt es auch. Um zu erfahren, was Freiheit ist, gibt es keinen anderen Weg, als mit ihr zu experimentieren. Und um mit ihr zu experimentieren, braucht man den nötigen Raum und die nötige Zeit.

Die wichtigste Grundlage einer freien Handlung ist der Dialog. Nun, ein wirklich gemeinsamer Diskurs muss in sich zwei Voraussetzungen vereinen: Ein reelles Interesse der Individuen an den Fragen, die in der Diskussion aufgeworfen werden (das Problem des Inhalts) und eine freie Suche nach möglichen Antworten (das Problem der Methode). Diese beiden Bedingungen müssen gleichzeitig erfüllt sein, da der Inhalt die Methode bestimmt und umgekehrt. Von Freiheit kann nur in Freiheit geredet werden. Was nützen die Fragen, wenn wir nicht frei darauf antworten können? Was nützt es zu Antworten, wenn die Fragen falsch sind? Der Dialog existiert nur, wenn die Individuen ohne Mediation miteinander sprechen können, das heisst, wenn ihre Beziehung auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn der Diskurs einseitig geführt wird, ist eine Kommunikation unmöglich. Wenn jemand die Macht besitzt, die Fragen zu bestimmen, wird deren Inhalt genau seinen Zwecken entsprechen (und die Antworten werden in ihrer Methode die Zeichen der Unterwerfung tragen). Einem Untertan können ausschliesslich Fragen gestellt werden, deren Antworten seine Rolle als Untertan bestätigen, und aus eben dieser Rolle entnimmt der Herrscher die zukünftigen Fragen. Die Versklavung besteht also darin, weiterhin zu antworten, denn die Fragen der Herrschenden enthalten in sich selbst bereits die Antwort.

In diesem Sinne sind Marktforschungen identisch mit Wahlen. Die Souveränität des Wählers entspricht der Souveränität des Konsumenten und umgekehrt. Wenn die Passivität des Fernsehens eine Rechtfertigung braucht, spricht man von Audienz; wenn der Staat eine Legitimierung für seine eigene Macht braucht, spricht man vom souveränen Volk. In beiden Fällen sind die Individuen bloss Geiseln eines Mechanismus, der ihnen das Recht zu Reden zugesteht, nachdem er ihnen die Möglichkeit, es zu tun entzogen hat. Wo bleibt der Dialog, wenn man bloss zwischen dem einen oder anderen Kandidaten wählen kann? Wo bleibt die Kommunikation, wenn man bloss zwischen unterschiedlich identischen Waren und Fernsehprogrammen wählen kann? Der Inhalt der Fragen wird bedeutungslos, denn die Methode ist falsch.

« Nichts gleicht einem Repräsentanten der Bourgeoisie mehr, als ein Repräsentant des Proletariats », schrieb Sorel 1907. Das, was sie einander gleich machte, war die schlichte Tatsache, ein Repräsentant zu sein. Heute dasselbe über rechte oder linke Wahlkandidaten zu sagen, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Banalität. Die Politiker brauchen nicht originell zu sein (darum kümmern sich die Werbefachleute), es reicht, wenn sie diese Banalitäten zu verwalten wissen. Die schreckliche Ironie ist, dass die Massenmedien als Kommunikations-Mittel definiert werden und der Abstimmungszirkus als Wahl (was im ursprünglichen Sinn des Wortes für eine freie und bewusste Entscheidung steht).

Der Punkt ist, dass die Macht keine andere Handhabung zulässt. Selbst wenn man es wollte (womit wir uns bereits inmitten der “Utopie” befänden, um mit den Worten der Realisten zu sprechen), könnte nichts Bedeutendes von den Wählern verlangt werden, denn die einzige, freie Handlung – die einzige, wirkliche Wahl – die sie vollbringen könnten, wäre mit dem Wählen aufzuhören. Jemand, der sich an Wahlen beteiligt, kann sich gar nichts anderes als belanglose Fragen stellen, denn authentische Fragen lassen Passivität und Delegation nicht zu. Lasst uns das genauer erklären.

Nehmen wir an, der Kapitalismus soll durch ein Referendum abgeschafft werden (ungeachtet der Tatsache, dass eine solche Forderung innerhalb der heutigen, sozialen Verhältnisse unmöglich ist). Bestimmt würden die meisten Wähler für den Kapitalismus stimmen, und zwar aus dem schlichten Grund, dass man sich, während man gerade gemütlich das Haus, das Büro oder den Supermarkt verlässt, gar keine Welt ohne Waren und ohne Geld vorstellen kann. Doch selbst wenn dagegen gestimmt würde, würde sich nichts ändern, denn eine solche Forderung muss die Wähler ausschliessen, um authentisch zu sein. Eine ganze Gesellschaft kann nicht per Anordnung umgewälzt werden.

Dieselbe Überlegung kann auch auf weniger radikale Fragen angewandt werden. Nehmen wir das Beispiel eines Wohnviertel: Was wäre (wir befinden uns wieder inmitten der “Utopie” ), wenn sich die Bewohner über die Organisation ihrer Lebensräume (Häuser, Strassen, Plätze, usw.) aussprechen könnten? Lasst uns gleich klarstellen: Die Wahl der Bewohner wäre von Anfang an und unvermeidlich eine begrenzte; die Viertel sind das Ergebnis einer Verlagerung und Konzentrierung der Bevölkerung zugunsten der ökonomischen Anforderungen und der sozialen Kontrolle. Versuchen wir uns trotzdem eine andere Organisation dieser Ghettos vorzustellen. Ohne Furcht widerlegt zu werden, könnte man behaupten, dass die Mehrheit der Bevölkerung diesbezüglich dieselben Ideen wie die Polizei haben würde. Und falls dem nicht so wäre (wenn eine Praxis des Dialogs, wenn auch eine begrenzte, das Verlangen nach einer neuen Umgebung entstehen liesse), dann würde man die Ghettos explodieren sehen. Wie versöhnt man in der heutigen sozialen Ordnung das Interesse des Autoherstellers mit dem Willen der Bevölkerung zu atmen; das freie Umherziehen der Individuen und die Angst der Besitzer von Luxusgeschäften; die Kinderspielplätze und den Beton von Parkplätzen, Banken und Einkaufszentren? Und all die leeren und verlassenen Häuser in den Händen von Spekulanten? Und die Wohnblöcke, die den Kasernen so schrecklich ähneln, die den Schulen so schrecklich ähneln, die den Krankenhäusern so schrecklich ähneln, die den psychiatrischen Kliniken so schrecklich ähneln? Das Verschieben einer kleinen Mauer in diesem Schreckenslabyrinth, bedeutet das ganze Projekt in Frage zu stellen. Je weiter wir uns von einer polizeilichen Betrachtung der Umwelt entfernen, desto näher rückt eine Konfrontation mit der Polizei.

« Wie kann man im Schatten einer Kapelle frei denken? », schrieb während des Pariser Mai eine anonyme Hand auf die heilige Stätte der Sorbonne. Diese einwandfreie Frage ist von umfassender Bedeutung. Jede wirtschaftlich und religiös gedachte Umgebung kann nichts anderes als wirtschaftliche und religiöse Wünsche auferlegen. Eine geschlossene Kirche wird weiterhin das Haus Gottes bleiben. In einem verlassenen Einkaufszentrum werden die Waren weiter quasseln. Der Hof einer unbenutzten Kaserne enthält noch immer den Marschschritt der Soldaten. In diesem Sinne hatten diejenigen Recht, die sagten, dass die Zerstörung der Bastille ein sozialpsychologischer Akt war. Keine Bastille kann auf eine andere Art genutzt werden, denn die Mauern würden weiterhin die Geschichte von gefangenen Körpern und Sehnsüchten erzählen.

Die Zeit der Leistungen, der Verpflichtungen und der Langeweile vermählt sich mit den Räumen der Konsumption in einer ununterbrochenen Trauerhochzeit. Die Arbeit reproduziert das soziale Umfeld, welches die Resignation bei der Arbeit reproduziert. Man liebt die Abende vor dem Fernseher, weil man den ganzen Tag im Geschäft und in der U-Bahn verbracht hat. Das Schweigen in der Fabrik lässt das Geschrei im Stadion wie versprochenes Glück erscheinen. Die Schuldgefühle in der Schule sind ein Bekenntnis für die idiotische Verantwortungslosigkeit des Samstagabends in der Disco. Die Werbung des Club Med lässt nur die Augen von Mc Donald’s Besuchern träumen. Et cetera.

Man muss mit der Freiheit zu experimentieren wissen, um frei zu sein. Man muss sich befreien, um mit der Freiheit experimentieren zu können. Innerhalb der gegenwärtigen sozialen Ordnung verhindern Zeit und Raum das Experimentieren mit der Freiheit, weil sie die Freiheit zu experimentieren unterdrücken.

III

« Die Tiger der Wut sind weiser als die Pferde der Belehrung. »
W. Blake

Nur durch den Umsturz der Imperative von Zeit und sozialem Raum können neue Beziehungen und neue Umgebungen gedacht werden. Ein alter Philosoph sagte einmal, dass man nur ausgehend von dem, was man kennt, begehren kann. Die Begierden können sich nur ändern, wenn sich das Leben ändert, das sie entstehen lässt. Um es deutlich auszudrücken, der Aufstand gegen die Zeiten und Orte der Macht ist eine materielle und gleichzeitig eine psychologische Notwendigkeit.

Bakunin sagte, Revolutionen werden aus drei Vierteln Fantasie und einem Viertel Realität gemacht. Das Wichtige ist, zu verstehen, woher diese Fantasie entspringt, die die generalisierte Revolte losbrechen lässt. Die Entfesselung aller bösen Leidenschaften, wie ein russischer Revolutionär sagte, ist die unwiderstehliche Kraft der Transformation. Auch wenn all dies die Resignierten oder die kalten Analytiker der historischen Bewegungen des Kapitals zum lächeln bringen mag, könnten wir behaupten – wenn uns ein solcher Jargon nicht anwidern würde –, dass eine solche Vorstellung der Revolution äusserst modern ist. Die Leidenschaften sind böse*, da sie gefangen sind, erstickt von der Normalität, diesem kältesten aller eisigen Monster. Doch sie sind auch böse, weil sich der Wille zu Leben, anstatt unter der Last der Pflichten und Masken unterzugehen, in das genaue Gegenteil verwandelt. Unter dem Zwang der alltäglichen Leistungen verleugnet sich das Leben und erscheint in der Rolle des Dieners wieder; verzweifelt nach Raum suchend, wird es zu traumartiger Anwesenheit, physischer Angespanntheit, nervösen Ticks und idiotischer Gruppengewalt. Wird der unerträgliche Charakter der aktuellen Lebensbedingungen angesichts der massiven Verbreitung von Psychopharmakas (dieser neuen Intervention des Sozialstaates) nicht offensichtlich? Die Herrschaft verwaltet überall die Gefangenschaft und rechtfertigt dies durch das, was wiederum ihr eigenes Produkt ist: die Boshaftigkeit. Der Aufstand stellt sich beidem entgegen.

Wenn man sich selbst und den Anderen nicht etwas vormachen will, kann kein Individuum, das für die Zerstörung der gegenwärtigen sozialen Struktur kämpft verbergen, dass die Subversion ein wildes und barbarisches Kräftespiel ist. Der Eine nannte sie Kosaken, ein anderer die Kanaille, in Wirklichkeit sind es all die Individuen, denen der soziale Frieden nicht die Wut genommen hat.

Doch wie erschafft man aus Wut eine neue Gemeinschaft? Lasst uns ein für alle mal mit den Illusionen der Dialektik Schluss machen. Die Ausgebeuteten sind nicht Träger irgendeines positiven Projektes, im Sinne einer klassenlosen Gesellschaft (all dies sieht dem produktiven Muster allzu ähnlich). Ihre einzige Gemeinschaft ist das Kapital, dem sie sich nur entziehen können, indem sie alles zerstören, was sie zu Ausgebeuteten macht: den Lohn, die Waren, die Rollen und die Hierarchien. Der Kapitalismus präparierte nicht die Grundlage seiner eigenen Überwindung durch den Kommunismus – die berühmte Bourgeoisie, die “die Waffen ihres eigenen Untergangs schmiedet” – sondern jene, einer Welt des Schreckens.

Die Ausgebeuteten haben nichts selbstzuverwalten, ausser die eigene Negation als Ausgebeutete. Nur so werden ihre Bosse, ihre Führer und ihre Verfechter zusammen mit ihnen verschwinden. In dieser “immensen Arbeit dringender Zerstörung” müssen wir so schnell wie möglich Freude finden.

Bei den Griechen bezeichnete das Wort “Barbar” nicht nur den Fremden, sondern auch den “Stotterer”, wie man diejenigen mit Verachtung bezeichnete, die die Sprache der Polis nicht korrekt beherrschten. Sprache und Territorium sind zwei untrennbare Realitäten. Das Gesetz legt die Grenzen fest, denen die Ordnung der Benennung Achtung verschafft. Jede Machtstruktur hat seine Barbaren und jeder demokratische Diskurs hat seine Stotterer. Die Warengesellschaft will deren hartnäckige Präsenz – durch Ausschluss und Verschweigen – verbannen, als ob Nichts wäre. In eben diesem Nichts begründet sich die Rebellion. Keine Ideologie des Dialogs und der Partizipation wird jemals einem jeden die Ausgrenzung und die internen Kolonien verhüllen können. Wenn die alltägliche Gewalt des Staates und der Wirtschaft die böse Seite zum explodieren bringt, braucht man sich nicht wundern, wenn manche die Füsse auf den Tisch legen und sich weigern zu diskutieren. Nur durch Leidenschaften kann eine Welt des Todes verjagt werden. Die Barbaren lauern um die Ecke.

IV

« Wir müssen alle Modelle verlassen und
unsere Möglichkeiten studieren »

E. A. Poe

Notwendigkeit des Aufstands. Notwendigkeit, natürlich nicht im Sinne von etwas unabwendbarem (ein Ereignis, das früher oder später eintreten muss), sondern im Sinne der konkreten Voraussetzung einer Möglichkeit. Notwendigkeit des Möglichen. Das Geld ist notwendig in dieser Gesellschaft. Ein Leben ohne Geld ist möglich. Um mit diesem Möglichen zu experimentieren, ist es notwendig, diese Gesellschaft zu zerstören. Heute können wir nur mit dem experimentieren, was in sozialer Hinsicht notwendig ist.

Seltsamerweise sprechen die Leute, die den Aufstand als tragischen Fehler (oder je nach Geschmack, als unrealisierbaren, romantischen Traum) betrachten oft von sozialer Aktion und von dem Experimentieren mit Räumen der Freiheit. Dennoch reicht es aus, etwas an der Oberfläche solcher Argumente zu kratzen, um ihnen den ganzen Saft rauszulassen. Um frei zu handeln, ist es, wie bereits gesagt, notwendig, ohne Mediation miteinander sprechen zu können. Und nun sage uns jemand: Wie, wann und wo kann man heutzutage Dialoge führen?

Um frei zu diskutieren, muss man den sozialen Zwängen Zeit und Raum entreissen. In einem Wort, der Dialog ist nicht vom Kampf zu trennen. Er kann nicht separiert werden, sowohl materiell (um miteinander zu sprechen, muss man sich der auferlegten Zeit entziehen und die möglichen Räume ergreifen) als auch psychologisch (die Individuen sprechen gerne über das, was sie tun, denn nur so verändern die Worte die Realität.)

Was man vergisst, ist, dass wir alle in einem Ghetto leben, selbst wenn wir keine Miete bezahlen oder der Kalender viele Sonntage zählt. Wenn es uns nicht gelingt, dieses Ghetto zu zerstören, reduziert sich die Freiheit des Experimentierens auf eine ziemlich magere Sache.

Zahlreiche Libertäre denken, dass die soziale Veränderung stufenweise, ohne unerwarteten Bruch geschehen kann und muss. So sprechen sie von “nicht-staatlichen Sphären der Öffentlichkeit”, worin neue Ideen und Praktiken ausgearbeitet werden sollen. Lassen wir die wahrhaft komischen Aspekte der Frage beiseite (Wo ist der Staat abwesend? Wie soll man ihn ausklammern?). Man kann feststellen, dass die ideale Referenz dieser Diskurse die selbstverwaltende und föderalistische Methode ist, mit der Subversive zu gewissen historischen Momenten experimentierten (die Kommune von Paris, das revolutionäre Spanien, die Kommune von Budapest, usw.). Eine Banalität, die ausser Acht gelassen wird, ist, dass sich die Rebellen die Möglichkeit miteinander zu sprechen und die Realität zu verändern mit Waffen genommen haben. Man vergisst schlicht ein kleines Detail: den Aufstand. Man kann eine Methode (Quartiersversammlungen, direkte Entscheidungen, horizontale Verbindungen, usw.) nicht vom Kontext, der sie ermöglicht loslösen, und noch viel weniger, für die eine und gegen die andere Position ergreifen (mit Begründungen wie: « Es führt zu nichts, den Staat anzugreifen, wir müssen uns selbstorganisieren und die Utopie konkretisieren »). Noch bevor man in Betracht zieht, was beispielsweise die Arbeiterräte bedeuteten – und was sie heute bedeuten könnten –, ist es notwendig, sich die Bedingungen ins Bewusstsein zu rufen, unter denen sie geboren wurden (1905 in Russland, 1918-21 in Deutschland und Italien, usw.). Es handelte sich um aufständische Momente. Möge uns jemand erklären, wie es den Ausgebeuteten heute möglich sein soll, in ihrem eigenen Namen über Fragen von einer gewissen Wichtigkeit zu entscheiden, ohne gewaltsam die soziale Normalität zu durchbrechen; danach könnten wir von Selbstverwaltung und Föderalismus sprechen. Noch bevor man darüber diskutiert, was es hiesse, “nach der Revolution” die gegenwärtigen Produktionsstrukturen selbstzuverwalten, muss eine Basisbanalität hervorgehoben werden: die Bosse und die Polizei wären damit nicht einverstanden. Man kann nicht über eine Möglichkeit diskutieren, während die Bedingungen, die sie ermöglichen, ausser Acht gelassen werden. Jegliche Befreiungshypothese ist an einen Bruch mit der aktuellen Gesellschaft gebunden.

Nehmen wir uns einem letzten Beispiel an. Auch in libertären Kreisen wird von direkter Demokratie gesprochen. Man kann sofort erwidern, dass die anarchistische Utopie der Methode des Mehrheitsentscheides entgegengestellt ist. Sehr richtig. Doch Tatsache ist, dass niemend konkret von direkter Demokratie spricht. Lassen wir diejenigen beiseite, die als direkte Demokratie ihr exaktes Gegenteil durchgehen lassen, das heisst, die Erstellung von Bürgerlisten und die Beteiligung an Gemeindewahlen, und nehmen wir diejenigen, die sich wirkliche Bürgerversammlungen vorstellen, in denen man ohne Mediation miteinander sprechen kann. Worüber sollten sich die wohlgenannten Bürger aussprechen? Wie könnten sie anders antworten, ohne gleichzeitig auch die Fragen zu ändern? Wie soll die Trennung zwischen einer angeblichen, politischen Freiheit und den aktuellen ökonomischen, sozialen und technologischen Verhältnissen aufrechterhalten werden? Kurzum, wie man es auch dreht, das Problem der Zerstörung bleibt bestehen. Es sei denn, man ist der Meinung, dass nur eine technologisch zentralisierte Gesellschaft gleichzeitig föderalistisch sein kann; oder, dass die generalisierte Selbstverwaltung in diesen wahrhaften Gefängnissen, die die heutigen Städte darstellen existieren kann. Zu sagen, dass sich all dies stufenweise ändern wird, läuft bloss darauf hinaus, die Angelegenheit zu verschleiern. Ohne verbreitete Revolte kann überhaupt keine Veränderung begonnen werden. Der Aufstand ist die Gesamtheit der sozialen Beziehungen, die sich, wenn die Maske der Spezialisierungen des Kapitals einmal gefallen ist, dem Abenteuer der Freiheit öffnet. Es stimmt, der Aufstand alleine bringt keine Antworten mit sich, er beginnt bloss, Fragen zu stellen. Die Frage ist also nicht, schrittweise oder abenteuerlich zu Handeln. Die Frage ist, zu handeln oder davon zu träumen, es zu tun.

Die Kritik der direkten Demokratie (um bei diesem Beispiel zu bleiben) muss diese letztere in ihrer konkreten Dimension in Betracht ziehen. Nur so kann sie weiter gehen, indem man darüber nachdenkt, was die sozialen Grundlagen der individuellen Autonomie sind. Nur so kann sich dieses Darüberhinausgehen unmittelbar in eine Methodes des Kampfes verwandeln. Die Subversiven befinden sich heute wieder in der Situation, die Hypothesen anderer kritisieren zu müssen, indem sie diese auf eine korrektere Weise definieren, als es ihre eigenen Verteidiger tun.

Um die eigenen Messer nachzuschleifen.

V

« Es ist eine axiomatische Wahrheit, eine Lapalie, dass die Revolution nur gemacht werden kann, wenn es ausreichend Kräfte gibt, um sie zu machen. Doch es ist eine historische Wahrheit, dass sich die Kräfte, die den Wandel und die sozialen Revolutionen bestimmen, nicht durch Volkszählungen messen lassen. »
E. Malatesta

Die Idee eines sozialen Wandels ist heute ausser Mode. Die “Massen”, so sagt man, sind völlig eingeschläfert und in die sozialen Normen integriert. Aus einer solchen Feststellung kann man mindestens zwei Schlussfolgerungen ziehen: Die Revolte ist nicht möglich; die Revolte ist nur mit wenigen möglich. Die erste Schlussfolgerung kann ihrerseits entweder in einen offen institutionellen Diskurs (Notwendigkeit zu Wählen, legale Eroberungen) oder in den sozialen Reformismus (syndikalistische Selbstorganisation, Kämpfe für kollektive Rechte, usw.) auseinanderfallen. Gleichermassen kann die zweite Schlussfolgerung entweder einen klassisch avantgardistischen Diskurs begründen, oder einen anti-autoritären Diskurs der permanenten Agitation.

Als Einleitung kann angemerkt werden, dass die scheinbar entgegengesetzten Hypothesen im Verlaufe der Geschichte eine gemeinsame Ausgangslage hatten.

Wenn man beispielsweise den Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Bolschewismus betrachtet, wird ersichtlich, dass sie beide von der Voraussetzung ausgehen, dass die Massen kein revolutionäres Bewusstsein besitzen und folglich geführt werden müssen. Sozialdemokraten und Bolschewisten unterscheiden sich nur in der Methode – reformistische Partei oder revolutionäre Partei, parlamentarische Strategie oder gewaltsame Machtergreifung –, womit sie dasselbe Programm durchsetzen: Von Ausserhalb den Ausgebeuteten ein Bewusstsein zu verleihen.

Nehmen wir die Hypothese einer “minoritären”, subversiven Praxis, die das leninistische Modell ablehnt. In einer libertären Perspektive verlässt man entweder jeglichen aufständischen Diskurs (zugunsten einer offen abgesonderten Revolte), oder man muss sich früher oder später dem Problem der sozialen Wirkungskraft der eigenen Ideen und Praktiken stellen. Wenn wir die Frage nicht im Rahmen linguistischer Wendungen einschliessen wollen (indem man beispielsweise sagt, dass die Thesen, die wir unterstützen, bereits in den Köpfen der Ausgebeuteten sind, oder, dass die eigene Rebellion bereits zu einer verbreiteten Bedingung gehört), drängt sich eine Tatsache auf: Wir sind isoliert – Um nicht zu sagen: Wir sind wenige.

Sich mit wenigen zu bewegen stellt nicht nur keine Grenze dar, es bedeutet auch, die soziale Veränderung auf eine andere Weise zu denken. Die Libertären sind die Einzigen, die sich eine Dimension des kollektiven Lebens vorstellen, das nicht der Existenz von Machtzentren untergeordnet ist. Die wirkliche, föderalistische Hypothese ist eben die Idee, die Abmachungen unter den freien Vereinigungen von Individuen ermöglicht. Die Affinitätsbeziehungen sind eine Art und Weise, die Vereinigung nicht mehr auf Basis von Ideologien und quantitativem Anhang zu verstehen, sondern im Gegenteil, ausgehen von der gegenseitigen Kenntnis, dem Vertrauen und dem Teilen von Leidenschaften in einem Projekt. Die Affinität innerhalb der Projekte und die Autonomie der individuellen Handlung bleiben jedoch tote Buchstaben, wenn es nicht gelingt, sie auszuweiten, ohne dass sie für angeblich übergeordnete Notwendigkeiten aufgeopfert werden. Die horizontale Verbindung ist das, was jegliche libertäre Praxis konkret werden lässt: eine informelle, tatsächliche Verbindung, die im Stande ist, mit jeglicher Repräsentation zu brechen. Eine zentralisierte Gesellschaft kommt ohne polizeiliche Kontrolle und ohne einen tödlichen technologischen Apparat nicht aus. Deshalb haben jene, die sich keine Gemeinschaft ohne staatliche Autorität vorstellen können, keine Mittel, um die Ökonomie, die den Planeten am zerstören ist, zu kritisieren; und jene, die sich keine Gemeinschaft von Einzigen denken können, haben keine Waffen gegen die politische Mediation. Die Idee des freien Experimentierens und der Vereinigung unter Gleichgesinnten [affini] als Grundlage für neue Beziehungen, macht hingegen eine komplette soziale Umwälzung möglich. Nur durch das Verlassen jeglicher Idee eines Zentrums (die Eroberung des Winterpalastes, oder, um mit der Epoche schrittzuhalten, des Staatsfernsehens), können wir ein Leben ohne Zwang und ohne Geld aufbauen. Somit ist die Methode des diffusen Angriffs eine Kampfform, die bereits eine andere Welt in sich trägt. Handeln, während alle das Warten predigen, während man nicht auf viel Unterstützung zählen kann, während man im Voraus nicht weiss, ob man Resultate erzielen wird – handeln bedeutet so, bereits das zu bekräftigen, wofür man kämpft: Eine Gesellschaft ohne Mass. Und hier enthält das Handeln in kleinen Gruppen von Gleichgesinnten seine wichtigste Qualität – jene, nicht ein schlichter, taktischer Ausweg zu sein, sondern gleichzeitig das eigene Ziel zu realisieren. Die Lüge der Übergangsperiode zu liquidieren (die Diktatur vor dem Kommunismus, die Macht vor der Freiheit, der Lohn vor der Plünderung, die Gewissheit von Resultaten vor der Handlung, die Finanzierungsanfragen vor der Enteignung, die “ethischen Banken” vor der Anarchie, usw.), bedeutet, aus der Revolte selbst ein anderes Mittel zu machen, die Beziehungen wahrzunehmen. Unmittelbar die technologische Hydra anzugreifen, bedeutet, sich ein Leben ohne Bullen in weissen Hemden zu denken (was heisst: ohne die ökonomische und wissenschaftliche Organisation, die sie notwendig macht); unmittelbar die Instrumente der medialen Domestizierung anzugreifen, bedeutet, von Bildern befreite Beziehungen aufzubauen (was heisst: von der alltäglichen Passivität befreit, die sie fabriziert). Jene, die schreien, dass es nicht mehr – oder noch nicht – Zeit ist, um zu rebellieren, enthüllen uns im Voraus, welcherart die Gesellschaft ist, für die sie kämpfen.

Das Verteidigen der Notwendigkeit eines sozialen Aufstands – einer unbezwingbaren Umwälzung, die mit der historischen Zeit bricht, um das Mögliche an die Oberfläche treten zu lassen – bedeutet hingegen eine einfache Sache zu sagen: wir wollen keine Führer. Heute ist der einzige konkrete Föderalismus die generalisierte Rebellion.

Um jegliche Form von Zentralisierung zurückzuweisen, ist es notwendig, die quantitative Idee des Kampfes zurückzulassen, das heisst, die Idee, die Ausgebeuteten aufzurufen, sich für einen frontalen Konflikt mit der Macht zu versammeln. Es ist notwendig, ein anderes Konzept von Stärke zu denken – um die Volkszählungszettel zu verbrennen und die Realität zu verändern.

« Regel Nummer Eins: Nicht in Massen bewegen. Aktionen zu dritt oder höchstens zu viert ausführen. Die Zahl der kleinen Gruppen muss so gross wie möglich sein und jede von ihnen muss lernen, schnell anzugreifen und zu verschwinden. Die Polizei kann eine Masse von tausend Personen mit einer einzigen Gruppe von hundert Kosaken niederschlagen. Es ist einfacher hundert Menschen zu besiegen als einen einzelnen, vor allem wenn er überaschend zuschlägt und mysteriös verschwindet. Die Polizei und die Armee sind machtlos, wenn Moskau von diesen kleinen, unangreifbaren Splittergruppen übersäht ist. […] Besetzt keine Festungen. Die Truppen werden sie stets erobern, oder schlicht mit ihrer Artillerie zerstören können. Unsere Stärken sollen Innenplätze sein, und alle Orte, von wo man leicht zuschlagen und einfach abhauen kann. Würden sie diese Orte einnehmen wollen, dann werden sie dort niemanden finden und hätten zahlreiche Männer verloren. Für sie ist es unmöglich, sie alle einzunehmen, denn, um dies zu tun, müssten sie jedes Haus mit Kosaken füllen. »

Anweisungen an die Aufständischen, Moskau
11.Dezember 1905

VI

« Die Poesie besteht darin, die Dinge ungesetzlich
zu vermählen und zu scheiden »

F. Bacon

Ein anderes Konzept von Stärke denken. Vielleicht liegt gerade darin die neue Poesie. Was ist im Grunde die soziale Revolte, wenn nicht ein generalisiertes Spiel von ungesetzlichen Vermählungen und Scheidungen zwischen den Dingen?

Die revolutionäre Stärke ist keine Stärke, die jener der Macht gleicht und ihr gegenübersteht. Wenn dies so wäre, wären wir schon im Voraus geschlagen, da jede Veränderung eine ewige Rückkehr des Zwangs bedeuten würde. Alles würde sich auf eine militärische Konfrontation reduzieren, auf einen makaberen Tanz von Bannern. Doch die wirklichen Bewegungen entziehen sich stets dem quantitativen Blick.

Staat und Kapital verfügen über die ausgefeiltesten Kontroll- und Repressionssysteme. Wie sich diesem Moloch engegensetzen? Das Geheimnis liegt in der Kunst des Zerlegens und wieder Zusammenfügens. Die Bewegung der Intelligenz ist ein fortwährendes Spiel von Brüchen und Korrespondenzen. Dasselbe gilt für die subversive Praxis. Die Technologie zu kritisieren, zum Beispiel, bedeutet, ihr allgemeines Ausmass zu begreifen, sie nicht als schlichte Gesamtheit von Maschinen zu betrachten, sondern als soziale Beziehung, als System; dies bedeutet, zu verstehen, dass ein technologisches Instrument die Gesellschaft widerspiegelt, die es produziert hat, und, dass seine Einführung die Beziehungen zwischen den Individuen verändert. Technologie zu kritisieren, heisst, die Unterordnung aller menschlichen Tätigkeiten unter die Zeit des Profits zu verweigern. Andernfalls würden wir uns selbst etwas vormachen, was ihre Auswirkung, ihre angebliche Neutralität und die Umkehrbarkeit ihrer Tragweite betrifft. Doch gleich darauf sollte man die Technologie in ihre tausend Verästelungen zerlegen; in ihre konkreten Realisierungen, die uns mit jedem Tag etwas mehr verstümmeln. Man muss verstehen, dass die Verbreitung der von ihr ermöglichten Produktions- und Kontrollstrukturen, die Sabotage einfacher machen. Ansonsten wäre es unmöglich, die Technologie anzugreifen. Dasselbe gilt für die Schule, die Kasernen und die Büros. Es handelt sich um Realitäten, die von den allgemeinen hierarchischen Verhältnissen und Warenbeziehungen nicht zu trennen sind, sich jedoch in präzisen Orten und Menschen konkretisieren.

Wie können wir – so wenig, wie wir sind – für Studenten, Arbeiter und Arbeitslose sichtbar werden? Wenn wir von Konsens und Bildern sprechen (eben, sich sichtbar machen), liegt die Antwort auf der Hand: Die Gewerkschaften und gewitzten Politiker sind stärker als wir. Woran es wiederum mangelt, ist die Fähigkeit, zusammenzufügen und voneinander zu scheiden. Der Reformismus nimmt sich der Details an und dies auf quantitative Weise: Er mobilisiert grosse Zahlen, um bestimmte Teilbereiche der Macht zu verändern. Eine globale Kritik der Gesellschaft hingegen kann eine qualitative Betrachtung der Aktion hervortreten lassen. Eben weil es keine revolutionären Zentren oder Subjekte gibt, denen man seine eigenen Projekte unterordnen könnte, verweist jeder Aspekt der sozialen Wirklichkeit auf die Gesamtheit, von der sie Teil ausmacht. Ob es sich um Umweltverschmutzung, das Gefängnis oder den Urbanismus handelt, ein wirklich subversiver Diskurs endet damit, alles in Frage zu stellen. Heute mehr denn je kann sich ein quantitatives Projekt (In permanenten Organisationen mit einem spezifischen Programm Studenten, Arbeiter oder Arbeitslose zu versammeln) bloss um ein Detail drehen, während es die Aktion ihrer wichtigsten Stärke beraubt – der Stärke, Fragen zu stellen, die nicht in kategorische Unterteilungen einzugrenzen sind (Studenten, Arbeiter, Migrant, Homosexueller, usw.). Dies gilt umso mehr, da der Reformismus immer unfähiger ist, auch nur irgendetwas zu reformieren (Man denke an die Arbeitslosigkeit, fälschlicherweise als – lösbarer – Fehler der ökonomischen Rationalität präsentiert). Irgendjemand sagte einmal, dass sogar das Bedürfnis nach unvergiftetem Essen bereits ein revolutionäres Projekt geworden ist, da es für dessen Befriedigung notwendig ist, alle sozialen Beziehungen zu verändern. Jegliche, an einen präzisen Verhandlungspartner gerichtete Forderung trägt ihr eigenes Scheitern bereits in sich, und sei es bloss, weil keine einzige Autorität – auch wenn sie es wollte – ein Problem von allgemeiner Bedeutung zu lösen vermag. An wen soll man sich wenden, um gegen die Luftverschmutzung anzukämpfen?

Die Arbeiter, die während eines Generalstreiks ein Transparent mit der Aufschrift Wir fordern nichts trugen, hatten verstanden, dass das Scheitern in der Forderung selbst liegt (“Gegen den Feind ist die Forderung unendlich” heisst es in einem der Zwölftafelgesetze). Es bleibt der Revolte überlassen, sich allem zu entledigen. Wie Stirner sagte: « Egal wieviel ihr ihnen abgebt, sie würden stets nach mehr fragen, denn was sie wollen, ist nichts geringeres als das Ende von jeglichem Zugeständnis ».

Und nun? Nun können wir daran denken, mit wenigen zu handeln ohne isoliert zu handeln, im Bewusstsein, dass ein paar gute Kontakte in explosiven Situationen zu mehr dienen, als grosse Zahlen. Die traurig fordernden, sozialen Kämpfe entwickeln sehr oft Methoden, die interessanter sind als ihre Ziele (eine Gruppe Arbeitsloser, zum Beispiel, die Arbeit fordert und schlussendlich ein Stellenvermittlungsbüro niederbrennt). Gewiss, wir können uns Abseits halten und sagen, dass Arbeit nicht gefordert sondern zerstört werden muss. Oder wir könnten versuchen, eine Verbindung zwischen der Kritik an der Ökonomie und dem leidenschaftlich abgebrannten Büro, oder der Kritik an Gewerkschaften und einem Diskurs über Sabotage zu machen. Jegliches spezifische Kampfziel enthält in sich, zum explodieren bereit, die Gewalt aller sozialen Beziehungen. Wie wir wissen, ist die Banalität ihres unmittelbaren Anlasses, die Visitenkarte der Revolten im Verlaufe der Geschichte.

Was könnte eine Gruppe von entschlossenen Gefährten in solchen Situationen tun? Nicht viel, wenn sie (beispielsweise) noch nicht darüber nachdachten, wie sie ein Flugblatt verteilen, oder an welchen Orte der Stadt sie eine Blockade ausbreiten könnten; und etwas mehr, wenn eine freudige und aufrührerische Intelligenz sie die grossen Zahlen und die grossen organisatorischen Strukturen vergessen lässt.

Ohne die Absicht, die Mythologie des Generalstreiks als den Aufstand entfesselnde Bedingung wiederzubeleben, ist es ziemlich klar, dass die Unterbrechung der sozialen Aktivität ein entscheidender Punkt bleibt. Was auch immer der Grund des aufständischen Konfliktes ist, die subversive Aktion muss auf eben diese Lähmung der Normalität abziehlen. Solange die Studenten weiterhin studieren, die Arbeiter – jene, die übrigbleiben – und die Angestellten weiterhin arbeiten und die Arbeitslosen weiterhin mit dem Suchen nach einer Arbeitsstelle beschäftigt sind, ist keine Veränderung möglich. Die revolutionäre Praxis bliebe den Leuten stets aufgesetzt. Eine von den sozialen Kämpfen getrennte Organisation nützt weder dazu, die Revolte zu entfesseln, noch ihre Wirkungskraft zu verbreitern und zu verteidigen. Wenn es stimmt, dass sich die Ausgebeuteten um diejenigen sammeln, die im Verlaufe des Kampfes die grössten, ökonomischen Vorteile garantieren können – wenn es also stimmt, dass jeder fordernde Kampf notwendigerweise einen reformistischen Charakter hat –, dann sind es die Libertären, die durch ihre Methoden (individuelle Autonomie, direkte Aktion, permanente Konfliktualität) danach drängen können, den Rahmen der Forderung zu übersteigen und alle sozialen Identitäten (Professor, Angestelter, Arbeiter, usw.) zu negieren. Eine spezifische, permanente Organisation von Libertären, die Forderungen stellt, würde abseits der Kämpfe bleiben (nur einige Ausgebeutete könnten sich entscheiden, an ihr teilzunehmen), oder die eigenen, libertären Charakterzüge verlieren (im Rahmen der syndikalistischen Kämpfe, sind die Syndikalisten die professionellsten). Eine von Revolutionären und Ausgebeuteten gebildete, organisatorische Struktur kann nur konfliktuell bleiben, wenn sie auf die Zeitlichkeit eines Kampfes, auf ein spezifisches Ziel und auf die Perspektive des Angriffs abgestimmt ist; schliesslich nur, wenn sie eine handelnde Kritik an Syndikaten und der Kollaboration mit den Bossen ist.

Im Moment kann man nicht sagen, dass die Kapazität der Subversiven, soziale Kämpfe (anti-militaristisch, gegen Umweltverschmutzung, usw.) zu lancieren bemerkenswert ist. Es bleibt noch immer die andere Hypothese (für all jene, wohlverstanden, die sich nicht ständig widerholen, dass “die Menschen mitschuldig und resigniert sind”, und gute Nacht den Träumern), jene einer autonomen Intervention in die Kämpfe – oder in die mehr oder weniger breiten Revolten –, die spontan entstehen. Falls man klare Diskurse über die Gesellschaft, für die die Ausgebeuteten kämpfen sucht (wie es ein raffinierter Theoretiker angesichts einer kürzlichen Streikwelle beabsichtigte), dann kann man in Ruhe Zuhause bleiben. Und falls man sich darauf beschränkt, “kritisch zuzustimmen” – was im Grunde nicht viel anders ist –, dann stellt man seine roten und schwarzen Flaggen schlicht neben jene der Parteien und Syndikate. Noch einmal, die Kritik des Details nimmt sich dem quantitativen Modell an. Wenn man denkt, man müsse während die Arbeitslosen vom Recht auf Arbeit sprechen, dies ebenso tun (mit der unerlässlichen Unterscheidung zwischen Lohnarbeit und “sozial nützlicher Aktivität”), dann wird der mit Demonstranten gefüllte Platz der einzige Handlungsort sein. Wie der alte Aristoteles wusste, gibt es keine mögliche Repräsentation ohne Einheit von Zeit und Ort.

Doch wer hat gesagt, dass wir  – indem wir es praktizieren – zu den Arbeitslosen nicht von Sabotage, von der Abschaffung des Rechts oder der Weigerung den Anwalt zu bezahlen sprechen können? Wer hat gesagt, dass die Ökonomie im Verlauf eines Streiks auf der Strasse nicht woanders kritisiert werden darf? Das zu sagen, worauf der Feind nicht gefasst ist und da zu sein, wo er uns nicht erwartet.

Dies ist die neue Poesie.

VI

« Wir sind zu jung, wir können nicht länger warten. »
Wandgraffiti in Paris
Die Stärke eines Aufstands ist sozial, nicht militärisch. Das Mass, um die Auswirkung einer generalisierten Revolte abzuschätzen, ist nicht die bewaffnete Konfrontation, sondern vielmehr, in welchem Umfang die Ökonomie lahmgelegt und Produktions- und Distributionsstätten eingenommen wurden, das freie Geben jegliche Berechnung versengte und von den Pflichten und sozialen Rollen desertiert wurde; in einem Wort: die Umwälzung des Lebens.

Keine Guerilla, wie effektiv sie auch sein mag, kann diese überwältigende Bewegung der Zerstörung und Umformung ersetzen. Der Aufstand ist das anmutige Zutagetreten einer Banalität: Keine Macht kann herrschen, ohne die freiwillige Knechtschaft jener, die sie ertragen. Nichts bringt besser als die Revolte ans Licht, dass es die Ausgebeuteten selbst sind, die die mordende Ausbeutungsmaschine am Laufen halten. Die verbreitete und wilde Unterbrechung der sozialen Aktivität zieht plötzlich den Vorhang der Ideologie weg und lässt die wirklichen Kräfteverhältnisse hervortreten; so zeigt sich der Staat als das, was er ist – die politische Organisation der Passivität. Die Ideologie auf der einen und die schöpferische Fantasie auf der anderen Seite enthüllen nun ihr gesamtes materielles Gewicht. Die Ausgebeuteten entdecken schlicht eine Kraft, die sie schon immer besassen, und brechen mit der Illusion, dass sich die Gesellschaft von selbst reproduziert – oder irgendein Maulwurf ihr den Weg bereitet.

Sie erheben sich gegen ihre eigene, unterwürfige Vergangenheit – das, was eben der Staat** ist –, gegen die Gewohnheit, die zur Verteidigung der alten Welt errichtete wurde. Die Verschwörung von Aufständischen ist die einzige Gelegenheit, bei welcher die “Kollektivität” weder die Nacht ist, die den Flug der Glühwürmchen an die Polizei verrät, noch die Lüge, die aus der Summe der individuellen Unbehagen ein Allgemeingut macht, sondern das Schwarz, dass der Differenz die Stärke der Komplizenschaft verleiht. Das Kapital ist in erster Linie eine Gemeinschaft von Denunzianten, eine Vereinigung, die die Individuen schwächt, ein Zusammensein, das uns getrennt hält. Das soziale Bewusstsein ist eine Stimme in unserem Innern, die wiederholt: “die anderen akzeptieren es”. Die wirkliche Kraft der Ausgebeuteten richtet sich somit gegen sie selbst. Der Aufstand ist der Prozess, der diese Kraft befreit und sie auf die Seite der Lebensfreude und Autonomie trägt; es ist der Moment, in dem man gegenseitig denkt, dass die beste Sache, die man für die Anderen tun kann, ist, sich selbst zu befreien. In diesem Sinne ist er “eine kollektive Bewegung individueller Realisierung”.

Die Normalität der Arbeit und der “Freizeit”, der Familie und des Konsums tötet jede böse Leidenschaft für die Freiheit. (Selbst in diesem Moment, während wir diese Zeilen schreiben, sind wir von unseren Mitmenschen getrennt, und diese Trennung erleichtert den Staat um die Last, uns das Schreiben zu verbieten). Ohne einen gewaltsamen Bruch mit der Gewohnheit, ist keine Veränderung möglich. Doch Revolte ist stets das Werk von Minoritäten. Um sie herum gibt es die Masse, bereit sich zum Instrument der Herrschaft zu machen (für den rebellierenden Sklaven besteht die Macht zugleich aus der Gewalt des Meisters und aus der Unterwerfung der anderen Sklaven), oder durch Untätigkeit, die im Gange befindliche Veränderung hinzunehmen. An dem grössten, wilden Streik der Geschichte – jenem des Mai 68 – beteiligte sich bloss ein Fünftel der Bevölkerung eines einzigen Staates. Die einzige aus all dem zu ziehende Schlussfolgerung ist weder, die Macht an sich zu reissen, um die Massen zu führen, noch, dass es notwendig ist, sich als das Bewusstsein des Proletariats zu präsentieren; sondern schlichtwegs, dass es keinen Sprung von der heutigen Gesellschaft in die Freiheit geben kann. Die unterwürfige, passive Haltung ist keine Angelegenheit, die sich in einigen Tagen oder Monaten auflösen wird. Doch ihr Gegenteil muss sich Raum verschaffen und sich eigene Zeit nehmen. Die soziale Umwälzung ist bloss die Voraussetzung zum Aufbruch.

Die Verachtung der “Masse” ist nicht qualitativ, vielmehr ideologisch, also den herrschenden Vorstellungen unterworfen. Das Volk des Kapitals existiert, gewiss, aber es hat keine präzisen Konturen. Denn das Unbekannte und der Wille zu leben treten meuternd aus der anonymen Masse hervor. Zu sagen, wir seien die einzigen Rebellen in einem Meer aus Unterwerfung, ist im Grunde genommen beruhigend, denn es beendet das Spiel schon im Voraus. Wir sagen bloss, dass wir nicht wissen, wer unsere Komplizen sind, und dass es eines sozialen Sturmes bedarf, um diese aufzuspühren. Heute entscheidet jeder von uns darüber, inwiefern die Anderen nicht entscheiden können (indem man sein eigenes Entscheidungsvermögen aufgibt, lässt man eine Welt von Automaten funktionieren). Im Verlaufe des Aufstands vergrössert sich durch die Waffen die Möglichkeit zu Wählen und mit den Waffen gilt es, sie zu verteidigen; denn auf dem Kadaver des Aufstands, keimt die Reaktion. Auch wenn das aufständische Phänomen in seinen aktiven Kräften minoritär ist (doch in Bezug auf welche Masseinheit?), kann es äusserst weitreichende Dimensionen annehmen, und in dieser Hinsicht enthüllt es seine soziale Natur. Je umfangreicher und enthusiastischer die Rebellion ist, desto weniger wird die militärische Konfrontation zu seinem Mass. Mit der Ausbreitung der bewaffneten Selbstorganisation der Ausgebeuteten zeigt sich die ganze Gebrechlichkeit der sozialen Ordnung und verfestigt sich das Bewusstsein, dass die Revolte – ebenso wie die Hierarchien und Warenbeziehungen – überall ist. Wer hingegen an die Revolution als Staatsstreich denkt, hat eine militärische Auffassung der Konfrontation. Jegliche Organisation, die sich als Avantgarde der Ausgebeuteten hinstellt, neigt dazu, die Tatsache zu verbergen, dass die Herrschaft eine soziale Beziehung und nicht ein schlichtes zu eroberndes Hauptquartier ist; denn wie könnte sie sonst ihre Rolle rechtfertigen?

Das Nützlichste, was mit den Waffen getan werden kann, ist, sie so unnütz wie möglich zu machen. Aber das Problem der Waffen bleibt abstrakt, solange es nicht mit der Beziehung zwischen Revolutionären und Ausgebeuteten, zwischen Organisation und reeller Bewegung in Verbindung gebracht wird.

Allzuoft haben die Revolutionäre behauptet, das Bewusstsein der Ausgebeuteten zu sein und den Grad ihrer subversiven Reife zu repräsentieren. So ist die “soziale Bewegung” zur Rechtfertigung der Partei geworden (die in der leninistischen Version zu einer Elite von Berufsrevolutionären wird). Je mehr man von den Ausgebeuteten getrennt ist, desto mehr muss man eine Beziehung repräsentieren, die mangelt; hierin besteht der Teufelskreis. Die Subversion wird somit auf die eigenen Praktiken reduziert, und die Repräsentation wird zur Organisation einer ideologischen Erpressung – die bürokratische Version der kapitalistischen Aneignung. Die revolutionäre Bewegung identifiziert sich also mit ihrem “fortgeschrittensten” Ausdruck, demjenigen, der ihr Konzept realisiert. Die hegelianische Dialektik bietet ein perfektes Gerüst für diese Konstruktion.

Doch es gibt auch eine Kritik der Trennung und der Repräsentation, die das Warten rechtfertigt und der Rolle der Kritiker Wert beimisst. Unter dem Vorwand, sich nicht von der “sozialen Bewegung” zu trennen, endet man damit, jegliche Praxis des Angriffs, als “Flucht nach vorne” oder “bewaffnete Propaganda” anzuprangern. Ein weiteres Mal ist der Revolutionär dazu berufen, die wirklichen Bedingungen der Ausgebeuteten zu “entschleiern”, wenn auch durch seine eigene Untätigkeit. Demnach ist ausserhalb einer sichtbaren, sozialen Bewegung überhaupt keine Revolte möglich. Jene, die zur Tat übergehen, müssen sich also zwangsläufig an die Stelle der Proletarier setzen wollen. Die “radikale Kritik”, die “revolutionäre Erleuchtung” wird so zum einzigen zu verteidigenden Erbe. Das Leben ist ein Elend, man kann also nur das Elend theoretisieren. Die Wahrheit über alles. Auf diese Weise wird die Trennung zwischen den Subversiven und den Ausgebeuteten nicht im Geringsten beseitigt, sie wird bloss verschoben. Wir sind nicht Ausgebeutete an der Seite anderer Ausgebeuteter; unsere Träume, unser Wut und unsere Schwächen sind nicht Teil des Klassenkonfliktes. Wir können nicht handeln, wenn es uns danach ist: Wir haben eine Mission zu erfüllen – auch wenn sie sich selbst nicht so nennt. Es gibt also jene, die sich durch das Handeln für das Proletariat aufopfern und jene, die es durch die Passivität tun.

Diese Welt vergiftet uns, sie zwingt uns zu unnützen und schädlichen Handlungen, sie drängt uns die Notwendigkeit von Geld auf und beraubt uns der leidenschaftlichen Beziehungen. Wir werden alt, inmitten von Männern und Frauen ohne Träume, Fremde in einer Gegenwart, die unserem freizügigsten Elan keinen Platz übriglässt. Wir sind nicht Partisanen irgendeiner Selbstverleugnung. Das Beste was diese Gesellschaft anzubieten hat (eine Karriere, ein Ansehen, ein plötzlicher, grosser Gewinn, die “Liebe”) interessiert uns ganz einfach nicht. Das Erteilen von Befehlen ist uns genauso zuwider wie die Gehorsamkeit. Wir sind Ausgebeutete wie die Anderen und wir wollen unverzüglich mit der Ausbeutung Schluss machen. Die Revolte hat für uns keine weitere Rechtfertigung nötig.

Unser Leben entgleitet uns und jeglicher Klassendiskurs, der dies nicht zum Ausgangspunkt nimmt, ist nichts als eine Lüge. Wir wollen soziale Bewegungen weder dirigieren noch tragen, sondern an den bestehenden in dem Masse teilnehmen, wie wir in ihnen gemeinsame Ansprüche erkennen. In einer masslosen Perspektive der Befreiung gibt es keine übergeordneten Kampfformen. Die Revolte braucht alles, Zeitschriften und Bücher, Waffen und Sprengsätze, Überlegung und Blasphemie, Gifte, Dolche und Brandstiftungen. Die einzige interessante Frage ist, wie sie kombinieren?


VIII

« Es ist leicht ein Vogel zu treffen, der in gerader Linie fliegt. »
B. Gracián
Wir können das Verlangen, das eigene Leben umgehend zu verändern nicht nur verstehen, es stellt auch das einzige Kriterium dar, nach dem wir unsere Komplizen suchen. Dasselbe gilt für das, was man ein Bedürfniss nach Kohärenz nennen könnte. Der Wille seine Ideen auszuleben und die Theorie ausgehend von seinem eigenen Leben zu erschaffen, ist gewiss keine Suche nach Exemplarität (mit ihrer paternalistischen und hierarchischen Kehrseite), sondern im Gegenteil, die Verweigerung jeglicher Ideologie, einschliesslich jener der Freude. Noch bevor wir nachdenken, trennt uns die Art und Weise selbst, die Existenz zu betasten, von denjenigen, die sich mit den Lebensräumen, die sie in dieser Gesellschaft finden – und erhalten – zufriedenstellen können. Doch ebenso fern fühlen wir uns von jenen, die von der alltäglichen Normalität desertieren wollen, um sich der Mythologie der Klandestinität und der bewaffneten Organisation hinzugeben, was heisst, um sich in anderen Käfigen einzuschliessen. Überhaupt keine Rolle, wie gesetzlich Riskant sie auch sei, kann die reelle Veränderung der Beziehungen ersetzen. Es liegt keine Abkürzung zur Hand, es gibt keinen unmittelbaren Sprung ins Anderswo. Die Revolution ist kein Krieg.

Die unheilvolle Ideologie der Waffen hat schon in der Vergangenheit das Bedürfnis nach Kohärenz von einigen in eine Herdenmentalität von vielen verwandelt. Mögen sich die Waffen ein für alle mal gegen die Ideologie wenden.

Wer die Leidenschaft für soziale Umwälzung und eine “persönliche” Vision des Klassenkampfes besitzt, will sofort etwas tun. Wenn er den Wandel des Kapitals und des Staates analysiert, dann um sich für den Angriff zu entscheiden, und gewiss nicht, um mit klareren Ideen schlafen zu gehen. Wenn er die Verbote und Trennungen des herrschenden Gesetzes und der herrschenden Moral nicht verinnerlicht hat, dann mit der Absicht, alle Mittel zur Bestimmung der eigenen Spielregeln zu verwenden. Schreibfeder und Pistole sind für ihn in gleichem Masse Waffen, im Unterschied zum Schriftsteller und zum Soldaten, für welche die Dinge Berufsangelegenheiten und daher eine Warenindentität sind. Der Subversive bleibt subversiv, auch ohne die Feder oder die Pistole, solange er jene Waffe besitzt, die alle anderen enthält: seine Entschlossenheit.

Der “bewaffnete Kampf” ist eine Strategie, die in den Dienst eines beliebigen Projektes gestellt werden kann. Heute wird die Guerilla auch von Organisationen eingesetzt, deren Programm im Wesentlichen sozialdemokratisch ist; sie verteidigen ihre Forderungen schlicht mit einer militanteren Praxis. Politik lässt sich auch mit Waffen machen. In jeglicher Unterhandlung mit der Macht – das heisst, in jeder Beziehung, die sie als Gesprächspartner beibehält, wenn auch als Gegner – müssen sich die Verhandelnden als repräsentative Kraft darstellen. Eine soziale Realität zu repräsentieren, bedeutet aus dieser Sicht, sie auf die eigene Organisation zu reduzieren. Der beabsichtigte bewaffnete Konflikt ist folglich nicht diffus und spontan, sondern an diverse Unterhandlungsphasen gebunden. Die Organisation wird die Ergebnisse verwalten. Die Beziehungen zwischen den Organisationsmitgliedern, und zwischen diesen und dem Rest der Welt spiegeln als Folge das wieder, was ein autoritäres Programm ist; sie tragen die Hierarchie und die Unterwerfung in ihrem Herzen.

Das Problem ist bei denjenigen, die sich die gewalttätige Übernahme der politischen Macht zum Ziel machen nicht viel anders. Es geht ihnen darum, Propaganda für ihre Kraft als Avantgarde zu machen, die fähig ist, die revolutionäre Bewegung zu leiten. Der “bewaffnete Kampf” wird als die höchste Form der sozialen Kämpfe dargestellt. Diejenigen, die militärisch am repräsentativsten sind – dank der spektakulären Wirkung der Aktionen –, bilden folglich die authentische bewaffnete Partei. Die Prozesse und die Volksgerichte sind die konsequente in Szene Setzung von denjenigen, die sich an der Stelle des Staates sehen wollen.

Der Staat seinerseits hat alles Interesse daran, die revolutionäre Bedrohung auf eine Hand voll kämpfender Organisationen zu reduzieren, um so die Subversion in einen Konflikt zwischen zwei Armeen zu verwandeln: die Institutionen auf der einen Seite, die bewaffnete Partei auf der anderen. Wovor sich die Herrschaft wirklich fürchtet, ist die generalisierte und anonyme Revolte. Das mediale Bild des “Terroristen” arbeitet Hand in Hand mit der Polizei zur Verteidigung des sozialen Friedens. Der Bürger applaudiert oder empört sich, bleibt jedoch so oder so ein Bürger, das heisst, ein Zuschauer.

Schliesslich nährt die reformistische Verschönerung des Bestehenden die bewaffnete Mythologie indem sie die falsche Wahl zwischen legaler Politik und klandestiner Politik produziert. Es genügt festzustellen, wie viele aufrechte, linke Demokraten sich von den Guerillas in Mexiko oder Lateinamerika gerührt fühlen. Die Passivität benötigt stets Ratgeber und Spezialisten. Wenn sie von den einen – den traditionellen – enttäuscht wird, schart sie sich um die neuen.

Eine bewaffnete Organisation – mit einem Programm und einem Kennzeichen –, die ausschliesslich aus Revolutionären besteht, kann sicherlich libertäre Charakteristiken enthalten, ebenso wie die soziale Revolution, die zahlreiche Anarchisten wollen, zweifellos auch ein “bewaffneter Kampf” ist. Doch genügt das?

Wenn wir die Notwendigkeit erkennen, die bewaffnete Tat im Laufe der aufständischen Konfrontation zu organisieren; wenn wir von nun an die Möglichkeit verteidigen, die Menschen und Strukturen der Herrschaft anzugreifen; wenn wir schliesslich die horizontale Verbindung zwischen Affinitätsgruppen in den Praktiken der Revolte als entscheidend erachten, dann kritisieren wir im Gegenzug die Perspektive von jenen, die die bewaffneten Aktionen als eine wirkliche Überwindung der Grenzen der sozialen Kämpfe darstellen und somit einer Kampfform eine den anderen übergeordnete Rolle zuschreiben. Darüberhinaus sehen wir in dem Gebrauch von Kennzeichen und Programmen die Schaffung einer Identität, die die Revolutionäre von anderen Ausgebeuteten separiert, während sie sich gleichzeitig für die Augen der Macht sichtbar, das heisst, repräsentierbar macht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist der bewaffnete Angriff nicht mehr eines der zahlreichen Mittel zur eigenen Befreiung, sondern ein Ausdruck, der mit einem symbolischen Wert aufgeladen ist und zur Aneignung der anonymen Rebellion tendiert. Die informelle Organisation als Handlung an den zeitlichen Aspekt der Kämpfe gebunden, wird zur permanenten und formalisierten Entscheidungsstruktur. Was eine Gelegenheit war, sich in seinen Projekten zu treffen, verwandelt sich in ein Projekt an sich. Die Organisation beginnt, genauso wie die reformistischen, quantitativen Strukturen, ihre eigene Reproduktion anzustreben. Daraus folgt unabwendbar die triste Reihe von Bekennerschreiben und programmatischen Dokumenten, in welchen man den Ton anhebt, um sich folglich in der Suche nach einer Identität wiederzufinden, die nur existiert, weil sie deklariert wurde. Angriffsaktionen, die mit anderen, schlicht anonymen Aktionen vergleichbar sind, scheinen somit wer weiss was für einen qualitativen Sprung in der revolutionären Praxis darzustellen. Das Muster der Politik taucht wieder auf und man beginnt in gerader Linie zu fliegen.

Natürlich ist die Notwendigkeit sich zu organisieren etwas, das die Praxis der Subversiven, über die Erfordernisse eines Kampfes hinaus, immer begleiten kann. Doch um sich zu organisieren braucht es lebendige und konkrete Vereinbarungen, nicht ein Bild auf der Suche nach Scheinwerfern.

Das Geheimnis des subversiven Spiels ist die Fähigkeit, die deformierenden Spiegel zu zerschlagen und sich von Angesicht zu Angesicht mit den eigenen Nacktheiten wiederzufinden. Die Organisation ist die reelle Gesamtheit von Projekten, die sie zum Leben erweckt. Alles andere ist eine politische Prothese und nichts anderes.

Der Aufstand ist viel mehr als ein “bewaffneter Kampf”, denn die generalisierte Konfrontation macht aus ihm Eins mit der Umwälzung der sozialen Ordnung. Die alte Welt wird umgestürzt, insofern die aufständischen Ausgebeuteten alle bewaffnet sind. Nur dann sind die Waffen nicht mehr der abgetrennte Ausdruck einer Avantgarde, das Monopol zukünftiger Bosse und Bürokraten, sondern die konkrete Bedingung der revolutionären Fete: die kollektive Möglichkeit, die Umwandlung der sozialen Beziehungen auszuweiten und zu verteidigen. In Abwesenheit des aufständischen Bruchs ist die subversive Praxis noch weniger ein “bewaffneter Kampf”, es sei denn, man will das masslose Feld seiner Leidenschaften einzig auf bestimmte Werkzeuge beschränken. Die Frage ist, ob man sich selbst mit den bereits festgelegten Rollen zufriedengeben will, oder ob man die Kohärenz ausgehend vom entlegendsten Punkt sucht: dem Leben.

So werden wir in der diffusen Revolte, im Gegenlicht eine prächtige Verschwörung von Egos ausmachen können, um eine Gesellschaft ohne Chefs und ohne Schlafende zu erschaffen. Eine Gesellschaft freier und einzigartiger Individuen.

IX

« Frag uns nicht nach der Formel, die dir Welten zu öffnen vermag,
doch irgendeine deformierte Silbe, trochen wie ein Ast.
Heute können wir dir einzig sagen, was wir
nicht sind,
was wir
nicht wollen. »
E. Montale
Das Leben kann nicht nur etwas sein, woran man sich festhält. Es existiert eine Idee, die jeden zumindestens einmal flüchtig streift. Wir besitzen eine Möglichkeit, die uns freier macht als die Götter: Jene davonzugehen. Es ist eine Idee, die in aller Fülle auszukosten ist. Nichts und Niemand verpflichtet uns zu leben. Nicht einmal der Tod. Darum ist unser Leben eine tabula rasa; eine noch unbeschriebene Tafel, die folglich alle möglichen Worte enthält. Mit einer solchen Freiheit können wir nicht als Sklaven leben. Sklaverei ist für jene gemacht, die zum Leben verdammt sind, jene, die bis in die Unendlichkeit gezwungen sind, nicht für uns. Für uns gibt es das Unbekannte.

Das Unbekannte von Stimmungen, in denen es sich zu verlieren gilt, von nie erforschten Gedanken, von Gewissheiten, die in Luft aufgehen, von perfekten Fremden, denen wir das Leben anzubieten haben. Das Unbekannte einer Welt, der wir endlich den Überfluss an Selbstliebe geben können. Und auch das Risiko. Das Risiko von Brutalität und Angst. Das Risiko schliesslich dem Lebensschmerz ins Gesicht zu blicken. All dies betrifft jene, die mit dem Beruf des Existierens Schluss machen wollen.

Unsere Zeitgenossen scheinen beruflich zu leben. Sie schlagen keuchend mit tausend Verpflichtungen um sich, selbst mit der tristesten – jener, sich zu amüsieren. Sie verhüllen die Unfähigkeit, über ihr eigenes Leben zu bestimmen, mit detaillierten und hektischen Aktivitäten, mit einer Geschwindigkeit, die täglich passivere Verhaltensweisen verwaltet. Sie kennen die Leichtigkeit des Negativen nicht.

Wir können uns entscheiden, nicht zu leben. Dies ist der schönste Grund, um sich mit Stolz dem Leben zu öffnen. « Es ist noch immer Zeit, die Tür hinter sich zuzuschlagen; wir können also ebensogut rebellieren und spielen » – so spricht der Materialismus der Freude.

Wir können uns entscheiden, nichts zu tun. Dies ist der schönste Grund, um zu handeln. Wenn wir die Kraft aller Taten, zu denen wir fähig sind in uns versammeln, dann wird uns kein Boss jemals die Möglichkeit zu Verweigern entreissen. Was wir sind und was wir wollen beginnt mit einem Nein. Daraus gehen die einzigen Gründe hervor, sich Morgens zu erheben. Daraus gehen die einzigen Gründe hervor, um bewaffnet zum Angriff auf eine Ordnung überzugehen, die uns erstickt.

Auf der einen Seite gibt es das Bestehende, mit seinen Gewohnheiten und seinen Sicherheiten. Und an Sicherheiten, diesem sozialen Gift, kann man sterben.

Auf der anderen Seite gibt es den Aufstand, das Unbekannte, das im Leben eines jeden hervorbricht. Der mögliche Beginn einer exzessiven Praxis der Freiheit.


Anmerkungen des Übersetzers
* “schlecht/böse” und “gefangen” fallen im italienischen Wort cattivo zusammen. Daher das Wortspiel mit cattività (Gefangenschaft) und cattiveria (Bosheit).
** Wortspiel zwischen “Staat” und “gewesen”, was im Italienischen beides stato heisst.

Neuigkeiten zu Alfredo Cospito, zwei Kurzartikel

Neuigkeiten zu Alfredo Cospito, zwei Kurzartikel (per Mail erhalten)

Heute, am 19.12.2022 kam die Antwort auf die von Alfredo Cospito beim Aufsichtsgericht eingerichtete Beschwerde.

Die Anhörung fand am 1. Dezember in Rom statt. Das Ergebnis der Antwort ist negativ (ausgefallen, A.d.Ü.), d.h. die Möglichkeit einer Herabstufung von Alfredo aus der 41bis-Regelung wird abgelehnt. Alfredo wird mindestens für die nächsten vier Jahre im 41bis verbleiben; in dieser Zeit kann die Fortführung oder Nichtanwendung der 41bis-Regelung auf Alfredo erneut geprüft werden. Die Gründe für die Ablehnung sind noch nicht bekannt und werden mit der Bekanntgabe des Urteils bekannt gegeben.

Heute befindet sich Alfredo im 60sten Tag seines Hungerstreikes. Im Moment wissen wir nicht, welche Absichten er bezüglich der Fortsetzung des Streiks hat, aber wir wissen, dass wir ihn weiterhin in seinem Kampf unterstützen werden, egal welche Entscheidung er trifft, und dass unabhängig von Alfredo´s Situation, der Kampf gegen das Gefängnis und die kapitalistische Gesellschaft, die es ernährt, weitergeht. Trotz der ungünstigen Nachrichten dürfen wir uns nicht entmutigen lassen, wir haben nie Hoffnung auf Gerechtigkeit gehabt, jetzt ist es mehr denn je notwendig, für die Freilassung von Alfredo und allen Geiseln des Staates zu kämpfen. An der Seite von Alfredo, für den anarchistischen und zerstörerischen Konflikt.

Tod dem Staat und es lebe die Anarchie!


Neuigkeiten von Alfredo Cospito

Alfredo ist in guter Verfassung, sehr klarsichtig und hat mit einer Ablehnung durch das Aufsichtsgericht in Rom gerechnet. Er verzweifelt nicht daran, dass er in seinem Kampf noch Erfolg haben wird. Auf jeden Fall lässt er verlauten, dass er beabsichtigt, bis zum Tod zu kämpfen. Da die Aussicht auf lebenslange Haft mit dem Urteil des Turiner Berufungsgerichts vom 5. Dezember vorerst abgewendet – oder zumindest aufgeschoben – ist, bekräftigt Alfredo, dass er seinen Hungerstreik erst beenden wird, wenn er aus 41bis deklassiert wird.

Er ist sich der Mobilisierung durch Nachrichtenberichte bewusst, wenn Aktionen und Initiativen dieses Ausmaß an Berichterstattung in den Medien des Regimes erreichen. Die Zeitungen hingegen erreichen ihn mit herausgeschnittenen Seiten, die in den letzten Wochen immer häufiger geworden sind. Derzeit scheinen einige Briefe, Telegramme und Postkarten durchzukommen, anders als in den Monaten vor seinem Kampf, als alles, was an ihn geschrieben wurde, beschlagnahmt wurde. Insbesondere bei Telegrammen, die anscheinend am häufigsten durch die Maschen der Zensur fallen, ist es wichtig, daran zu denken, dass diese individuell sein und den Namen und die Adresse des Absenders enthalten müssen.

Hier noch einmal die Adresse:

Alfredo Cospito
C. C. “G. Bacchiddu”
strada provinciale 56 n. 4
Località Bancali
07100 Sassari

John Zerzan, Die Katastrophe des Postmodernismus

Original aus Anarchist Library, die Übersetzung ist von uns.

In einem kurzen Moment der Erleuchtung hatten wir quasi die perfekte Einleitung, doch aufgrund alltäglicher Umstände ging der Faden des Gedankens für die Einleitung dieses Textes verloren. Wir fragten uns selbst und alle die wir kennen, wie und unter welchen Prämissen die Postmoderne definiert werden kann. So viele Ausgangspunkte und doch lassen sie alle was aus. Die Postmoderne erfasst künstlerische, architektonische, ästhetische, philosophische und weitere Fragen auf, die miteinander verknüpft sind, doch es nicht sein müssen. Nicht ohne Grund wird behauptet dass das erste Postmoderne literarische Werk Lewis Carroll´s „Alice im Wunderland“ sei. Oder das erste welches sehr starke Elemente der Postmoderne in sich tragen würde. Der ständige Wandel und Nicht-Sinn der Sprache und des Bildes, der Bruch mit allen Gesetzen der Natur, usw., nicht mehr die Geschehnisse sind von Bedeutung, sondern die Schilderung der Bilder, der Symbole, das Bild erzählt nur noch. Daher, ähnlich wie im Falle des Faschismus, handelt es sich hier um einen Begriff der von sich aus viele Merkmale vorweißt, die sich auch untereinander widersprechen, jedes Mal wenn man es zu festhalten denkt, entgleitet es aus den Händen wie nasse Seife. Dies ist nicht nur ein typischer Merkmal der Postmoderne, sondern sie besteht auf ihr undefinierbares Sein, im ontologischen Sinne sozusagen.

Aber welcher ist ihr Ursprung, welches ist der Grund für diese philosophische Schule die an sich nur Müll ist? Die so viele Diskurse und Debatten vereinnahmt und dominiert, wobei in den meisten Fällen ist dies vielen nicht mal bewusst, dass es so ist. Die Postmoderne ist eine Ideologie der Niederlage. Viele ihrer Apologeten waren ehemalige Marxisten oder Kommunisten, die eines Tages aufgewacht sind, so gegen Ende er 1970er und feststellten dass was sie jahrelang verteidigt hatten, wir reden hier über die UdSSR, auf Terror, Gulags, Massenerschießungen, etc, also eigentlich nichts was mit der Grundidee des Kommunismus was gemein hat, aufgebaut wurde. Nicht wenige von ihnen, allesamt aus Frankreich, kamen aus sogenannten Gruppen der Ultra-Gauche, wie Socialisme o Barbarie, wie Lyotard und Castoriadis, wobei letzter einen anderen ZigZag-Kurs einschlug. Die Überwindung des Kapitalismus würde also eine noch viel grausamere Gesellschaft hervorbringen, jene die sich aber auf die philosophischen Schulen der Vernunft, der Aufklärung, die sogenannten Meta-Erzählungen usw. stützte, die die Welt des Metaphysischen, von Gott und durch Gott, hinter sich lassen würde, die Industrialisierung würde dies sogar noch richtig schnell beschleunigen.

Da der Kapitalismus nicht mehr zu zerstören galt, wendete man sich anderen Fragen die der Herrschaft des Kapitals nicht nur in die Hände spielten, sondern dieser eine neue Legitimation gab. Der Mensch hatte nun endlich, vorausgesetzt man lebt in den entwickeltesten kapitalistischen Staaten auf dieser Welt, alle Möglichkeiten, dank der Technologien, sich komplett neu zu definieren, denn da die Probleme des Menschen, oder Subjektes, nicht mehr die objektive Realität ist, also die Schilderung, sondern nur die Bildes dieser, oder das Subjekt, musste dieser sich wie Haufen von Legosteinen zerlegen – dekonstruieren – und das werden was er wollte, wenn man auch meistens vergisst, dass der Kapitalismus die entfremdeten Voraussetzung dieser neuen Zusammensetzung definiert.

Wenn wir daher an die Ideologie, die in sich durch mehrere Ideologien manifestiert, denn sie vereinnahmt ja viele, der Postmoderne denken, stellen wir uns ein Werkzeug vor, welches keins ist, welches nicht dazu dient, wozu es gedacht worden ist, wie ein Dreikantschlüssel der von sich selbst behauptet, er sei keiner, er liest sich selbst anders, aber der dazu gut ist um Pflanzen mit verdampften Wasser zu begießen, um ihr Dasein als eine Farbe im umgedrehten Regenbogen der Sinne erleuchten wird, der aber in Wirklichkeit für Spielen gedacht war. Alles wird nur noch auf die verinnerlichten Vorstellungen reduziert, da es keine objektiven Wahrheiten mehr gibt, kann jeder für sich seine eigene erschaffen, es gibt kein richtig oder falsch (Kategorien die wir im moralischen Sinne wie sie meistens verwendet werden ablehnen) mehr, sondern nur noch eine unendliche Anzahl an Schilderungen/Erzählungen die alle denselben Wert haben. Also eine Welt der falschen Konfrontation, der falschen Kritiker und Kritikerinnen und des ewigen sozialen Friedens des Kapitals, welches auf Bergen toter Menschen und der Vernichtung des Lebens auf diesem Planeten aufgebaut ist. Wir verwenden hier absichtlich den Begriff des Falschen, weil in diesem Fall wollen wir den Schleier einer Konfrontation, die keine ist, enthüllen. Wenn wir sagen, dass wir gegen Staat, Kapital und Patriarchat sind, machen wir dies nicht weil wir der Meinung sind, sie wären falsch, im Sinne es handelt sich hier um was böses, was in diesem Sinne eine moralische Haltung wäre, sondern wir sind gegen alle drei aufgrund ihrer historischen Entwicklung und der Imperative die sie inne halten müssen.

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern.“ Marx, Thesen über Feuerbach

Dies sagte Marx sehr treffend in seinen „Thesen über Feuerbach“, die Postmoderne tut gar nichts davon, ihre Interpretation der Welt ist genauso falsch wie ihr angeblicher Versuch sie zu ändern. Sie hat die Aufgabe das Undefinierbare, denn für sie gibt es keine allgemeine Realität mehr, in tausend Puzzleteile auseinanderzunehmen um daraus nichts zu machen. Alles ist nicht mehr, was es scheint und was nicht mehr ist, scheint was zu sein. Wir stehen vor einer Achterbahn die gleichzeitig eine Mischung von geistiger Akrobatik und Jonglieren ist, die aber nicht die Absicht hat irgendwas sein zu wollen bzw. was zu ändern. Die Postmoderne will die Welt nicht verändern und ihre Interpretation, also die der unendlichen vielen Realitäten, ist nur ein Labyrinth aus dem kein Entrinnen ist. Wörter meinen nicht, was sie bedeuten, nichts ist mehr, weil mehr ist nichts, die Waffen der Kritik sind nutzlos und waren es noch nie so sehr. Im Allgemeinen kann mit aller Sicherheit gesagt werden, dass es sich hier um eine Ideologie der Konterrevolution handelt, da sie ihren Ursprung in der Niederlage hat, fast all ihre Apologeten haben der Idee einer klassenlosen Gesellschaft und einer sozialen Revolution den Rücken zu gewandt, die Postmoderne hat für sich erkannt, dass es kein Entrinnen aus dem jetzt gibt, dass jeder Versuch die Welt des Kapitals zu zerstören nur eine noch schlimmere Welt hervorbringen wird. Wo klar ist, dass die Welt des Kapitals nur Tod und Zerstörung hervorbringt. Und doch empfinden viele die Postmoderne als ein Instrument der Befreiung, zumindest der individuellen im Sinne der Bourgeoisie. Als das einzige Instrument/Werkzeug um diese zeitgenössische Epoche zu verstehen. Desto komplexer, undurchsichtiger, atomisierter, als desto mehr sich aus dem Kapitalismus heraus die sozialen Imperative entwickeln, die dieser verschärft, desto freier wird der Mensch sein, so die Postmoderne, erst wenn wir ein Teil der flüssigen Gesellschaft (Zygmunt Baumann) sind, desto freier werden wir sein. Erst der Blick vor dem Abgrund lässt einen weiten Blick ins Nichts zu. Im Sinne der Postmoderne kann die Freiheit nur noch als die Perversion der Freiheit im Sinne der Bourgeoisie im Kapitalismus sein, wir sind nur noch frei, um ausgebeutet zu werden. Aber all dies spielt keine Rolle mehr, weil wir dank des Postmodernismus sein können, wer wir wollen. Mit diesem Text fangen wir mit einer Reihe an Texten an, die sich in Form der Kritik mit dem Postmodernismus auseinandersetzen und logischerweise angreifen. Wir leben in einer Gesellschaft, die in Klassen aufgeteilt ist, sowie die herrschende Klasse alles tun wird um dies zu verewigen, lässt sich leicht erkennen, dass das Verhältnis zwischen diesen nur unversöhnlich ist, die Zerstörung des Kapitals wird von praktischer Natur sein.

Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ Karl Marx, Thesen über Feuerbach

Soligruppe für Gefangene

PS: danke an alle die nur mit so guten Ratschlägen und Tipps für diese Einleitung geholfen haben.


John Zerzan, Die Katastrophe des Postmodernismus

Madonna, „Are We Having Fun Yet?“, Boulevardzeitungen, Milli Vanilli, virtuelle Realität, „shop ‚till you drop“, PeeWee’s Big Adventure, New Age/Computer-“Empowerment“, Mega-Malls, Talking Heads, Comic-Filme, „grüner“ Konsum. Eine Anhäufung des entschieden Oberflächlichen und Zynischen. Toyota-Werbung: „Neue Werte: Sparen, Fürsorge – all das Zeug“; Details-Magazin: „Style Matters“; „Warum warum fragen? Probier’s mal mit Bud Dry“; endloses Fernsehen, das sich darüber lustig macht. Inkohärenz, Fragmentierung, Relativismus – bis hin zur Demontage (A.d.Ü., zerlegen) des Begriffs der Bedeutung selbst (weil die Rationalität so schlecht war?); Umarmung des Marginalen, während man ignoriert, wie leicht Marginales in Mode kommt. „Der Tod des Subjekts1“ und „die Krise der Repräsentation“.

Die Postmoderne. Ursprünglich ein Thema innerhalb der Ästhetik, hat sie laut Ernesto Laclau „immer weitere Bereiche“ kolonisiert, „bis sie zum neuen Horizont unserer kulturellen, philosophischen und politischen Erfahrung geworden ist.“ „Die wachsende Überzeugung“, so Richard Kearney, „dass die menschliche Kultur, wie wir sie kannten… nun ihr Ende erreicht“. Sie ist, vor allem in den USA, der Schnittpunkt zwischen poststrukturalistischer Philosophie und einer weitaus umfassenderen gesellschaftlichen Situation: sowohl ein spezialisiertes Ethos als auch, was noch viel wichtiger ist, die Ankunft dessen, was die moderne Industriegesellschaft angekündigt hat. Postmoderne ist Zeitgenossenschaft, ein Morast aufgeschobener Lösungen auf allen Ebenen, mit Mehrdeutigkeit, der Weigerung, über Ursprung oder Ende nachzudenken, sowie der Verweigerung oppositioneller Ansätze, der „neue Realismus“. Da sie nichts bedeutet und nirgendwohin führt, ist pm [die Postmoderne] ein umgekehrter Millenarismus, eine zusammenlaufende Frucht des technologischen „Lebens“-Systems des universellen Kapitals. Es ist kein Zufall, dass die Carnegie-Mellon-Universität, die in den 80er Jahren als erste vorschrieb, dass alle Studenten mit Computern ausgestattet sein müssen, „den ersten poststrukturalistischen Studienplan der Nation“ einführt.

Konsumnarzissmus und ein kosmisches „Wo ist der Unterschied?“ markieren das Ende der Philosophie als solcher und das Entstehen einer Landschaft, so Kroker und Cook, „des Zerfalls und Verfalls vor dem Hintergrund von Parodie, Kitsch und Burnout“. Henry Kariel kommt zu dem Schluss, dass „es für die Postmodernen einfach zu spät ist, sich der Dynamik der Industriegesellschaft zu widersetzen.“ Oberfläche, Neuheit, Kontingenz – es gibt keine Gründe für die Kritik an unserer Krise. Wenn der repräsentative Postmodernist sich gegen zusammenfassbare Schlussfolgerungen wehrt, zugunsten eines angeblichen Pluralismus und einer Offenheit der Perspektive, dann ist es auch vernünftig (wenn man dieses Wort verwenden darf), vorauszusagen, dass wir nicht mehr wissen, wie wir es sagen sollen, wenn wir in einer völlig neuen Kultur leben.

Das Primat der Sprache & das Ende des Subjekts

Was das systematische Denken betrifft, so ist die zunehmende Beschäftigung mit der Sprache ein Schlüsselfaktor, der das pm-Klima der Verengung und des Rückzugs erklärt. Der so genannte „Abstieg in die Sprache“ oder die „linguistische Wende“ hat die postmoderne und poststrukturalistische Annahme hervorgebracht, dass die Sprache die menschliche Welt konstituiert und die menschliche Welt die ganze Welt konstituiert. Während des größten Teils dieses Jahrhunderts rückte die Sprache in der Philosophie in den Mittelpunkt, und zwar bei so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Wittgenstein, Quine, Heidegger und Gadamer, während die wachsende Aufmerksamkeit für die Kommunikationstheorie, die Linguistik, die Kybernetik und die Computersprachen einen ähnlichen Schwerpunkt über mehrere Jahrzehnte hinweg in Wissenschaft und Technik erkennen lässt. Diese sehr ausgeprägte Hinwendung zur Sprache selbst wurde von Foucault als „entscheidender Sprung zu einer völlig neuen Form des Denkens“ gewürdigt. Weniger positiv lässt sie sich zumindest teilweise mit dem Pessimismus nach dem Abklingen des oppositionellen Moments der 60er Jahre erklären. Die 70er Jahre waren Zeuge eines beunruhigenden Rückzugs in das, was Edward Said das „Labyrinth der Textualität“ nannte, im Gegensatz zu den bisweilen aufrührerischen intellektuellen Aktivitäten der vorangegangenen Periode.

Vielleicht ist es nicht paradox, dass „der Fetisch des Textuellen“, wie Ben Agger urteilte, „in einem Zeitalter lockt, in dem die Intellektuellen ihrer Worte beraubt sind“. Die Sprache wird mehr und mehr entwertet, sie verliert an Bedeutung, vor allem im öffentlichen Gebrauch. Man kann sich nicht einmal mehr auf Worte verlassen, und das ist Teil einer größeren Anti-Theorie-Strömung, hinter der eine viel größere Niederlage steht als in den 60er Jahren: die des gesamten Zuges der aufklärerischen Rationalität. Wir haben uns auf die Sprache als vermeintlich solide und transparente Dienerin der Vernunft verlassen, und wo hat sie uns hingebracht? Auschwitz, Hiroshima, massenhaftes psychisches Elend, drohende Zerstörung des Planeten, um nur einige zu nennen. Das ist die Postmoderne mit ihren scheinbar bizarren und fragmentarischen Wendungen und Verdrehungen. Edith Wyschograds Saints and Postmodernism (1990) bezeugt nicht nur die Allgegenwärtigkeit des pm-“Ansatzes“ – es gibt offenbar keine Bereiche, die sich ihm entziehen -, sondern kommentiert auch die neue Richtung treffend: „Die Postmoderne als ‚philosophischer‘ und ‚literarischer‘ Diskursstil kann sich nicht einfach auf die Techniken der Vernunft berufen, die ihrerseits Instrumente der Theorie sind, sondern muss neue und notwendigerweise geheimnisvolle Mittel erfinden, um die Vernunftheorien zu untergraben.“

Der unmittelbare Vorläufer des Postmodernismus/Poststrukturalismus, der in den 50er Jahren und in weiten Teilen der 60er Jahre herrschte, war um die zentrale Bedeutung herum organisiert, die er dem sprachlichen Modell beimaß. Der Strukturalismus ging von der Prämisse aus, dass die Sprache unser einziges Mittel ist, um Zugang zur Welt der Objekte und Erfahrungen zu erhalten, und dass sich die Bedeutung ausschließlich aus dem Spiel der Unterschiede innerhalb der kulturellen Zeichensysteme ergibt. Levi-Strauss beispielsweise vertrat die Ansicht, dass der Schlüssel zur Anthropologie in der Aufdeckung unbewusster sozialer Gesetze (z. B. derjenigen, die Ehebeziehungen und Verwandtschaft regeln) liegt, die wie die Sprache strukturiert sind. Es war der Schweizer Linguist Saussure, der in einem für die Postmoderne sehr einflussreichen Ansatz betonte, dass die Bedeutung nicht in der Beziehung zwischen einer Äußerung und dem, worauf sie sich bezieht, liegt, sondern in der Beziehung der Zeichen zueinander. Dieser Saussur’sche Glaube an die geschlossene, selbstreferentielle Natur der Sprache impliziert, dass alles in der Sprache determiniert ist, was dazu führt, dass so kuriose Begriffe wie Entfremdung, Ideologie, Unterdrückung usw. über Bord geworfen werden und dass Sprache und Bewusstsein praktisch dasselbe sind.

Auf diesem Weg, der die Sichtweise der Sprache als äußeres Mittel des Bewusstseins ablehnt, erscheint der ebenfalls sehr einflussreiche Neo-Freudianer Jacques Lacan. Für Lacan ist nicht nur das Bewusstsein durch und durch von der Sprache durchdrungen und ohne eigene Existenz außerhalb der Sprache, auch das „Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert“.

Schon frühere Denker, vor allem Nietzsche und Heidegger, hatten angedeutet, dass eine andere Sprache oder ein verändertes Verhältnis zur Sprache neue und wichtige Einsichten bringen könnte. Mit der linguistischen Wende der neueren Zeit gerät sogar das Konzept eines denkenden Individuums als Grundlage der Erkenntnis ins Wanken. Saussure entdeckte, dass „die Sprache nicht eine Funktion des sprechenden Subjekts ist“, wobei das Primat der Sprache denjenigen verdrängt, der ihr eine Stimme verleiht. Roland Barthes, dessen Laufbahn die strukturalistische und die poststrukturalistische Periode verbindet, entschied: „Es ist die Sprache, die spricht, nicht der Autor“, was mit Althussers Feststellung einhergeht, dass die Geschichte „ein Prozess ohne Subjekt“ ist.

Wenn das Subjekt als eine wesentliche Funktion der Sprache betrachtet wird, rückt ihre erstickende Vermittlung und die der symbolischen Ordnung im Allgemeinen ganz oben auf die Tagesordnung. So versucht die Postmoderne, das, was jenseits der Sprache liegt, zu kommunizieren, „das Undarstellbare darzustellen“. Angesichts des radikalen Zweifels an der Verfügbarkeit eines Referenzpunktes in der Welt außerhalb der Sprache verschwindet das Reale aus der Betrachtung. Jacques Derrida, die Schlüsselfigur des postmodernen Ethos, geht davon aus, dass die Verbindung zwischen Worten und der Welt willkürlich ist. Die Objektwelt spielt für ihn keine Rolle. Die Erschöpfung der Moderne und der Aufstieg der Postmoderne bevor ich mich Derrida zuwende, noch ein paar Bemerkungen zu den Vorläufern und dem allgemeinen Kulturwandel. Die Postmoderne wirft Fragen zu Kommunikation und Bedeutung auf, so dass beispielsweise die Kategorie des Ästhetischen problematisch wird. In der Moderne mit ihrem sonnigeren Glauben an die Repräsentation versprachen Kunst und Literatur zumindest eine Vision der Erfüllung oder des Verstehens. Bis zum Ende der Moderne galt die „Hochkultur“ als Hort moralischer und geistiger Weisheit. Jetzt scheint es keinen solchen Glauben mehr zu geben, und die Allgegenwart der Frage nach der Sprache verrät vielleicht die Leere, die durch das Versagen anderer Kandidaten für vielversprechende Ausgangspunkte der menschlichen Vorstellungskraft entstanden ist. In den 60er Jahren scheint die Moderne das Ende ihrer Entwicklung erreicht zu haben, der strenge Kanon ihrer Malerei (z.B. Rothko, Reinhardt) weicht der unkritischen Übernahme der kommerziellen Sprache der Konsumkultur durch die Pop Art. Die Postmoderne, nicht nur in der Kunst, ist die Moderne ohne die Hoffnungen und Träume, die die Moderne erträglich machten.

In der bildenden Kunst ist eine weit verbreitete „Fast Food“-Tendenz zu beobachten, die in Richtung leicht konsumierbarer Unterhaltung geht. Howard Fox stellt fest, dass „Theatralität vielleicht die einzige durchdringende Eigenschaft der postmodernen Kunst ist“. Eine Dekadenz oder Erschöpfung der Entwicklung ist auch in den dunklen Gemälden eines Eric Fischl zu erkennen, in denen oft eine Art von Horror unter der Oberfläche zu lauern scheint. Diese Eigenschaft verbindet Fischl, den amerikanischen pm-Maler schlechthin, mit dem ebenso düsteren Twin Peaks und der pm-Fernsehfigur schlechthin, David Lynch. Seit Warhol ist das Bild selbstbewusst eine mechanisch reproduzierbare Ware, und das ist der eigentliche Grund für die Tiefenlosigkeit und den gemeinsamen Ton der Unheimlichkeit und Vorahnung.

Der oft zitierte Eklektizismus der postmodernen Kunst ist eine willkürliche Wiederverwertung von Fragmenten aus allen Bereichen, insbesondere aus der Vergangenheit, die oft die Form von Parodie und Kitsch annimmt. Demoralisiert, derealisiert, dehistorisiert: Kunst, die sich selbst nicht mehr ernst nehmen kann. Das Bild verweist nicht mehr in erster Linie auf ein „Original“, das irgendwo in der „realen“ Welt angesiedelt ist; es verweist zunehmend nur noch auf andere Bilder. Auf diese Weise spiegelt es wider, wie verloren wir in der immer stärker vermittelten Welt des technologischen Kapitalismus sind, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben.

Der Begriff Postmoderne wurde erstmals in den 70er Jahren auf die Architektur angewandt. Christopher Jencks schrieb von einem planungsfeindlichen, pluralistischen Ansatz, von der Aufgabe des Traums der Moderne von der reinen Form zugunsten des Hörens auf „die vielfältigen Sprachen der Menschen“. Ehrlicher sind Robert Venturis Lobgesang auf Las Vegas und Piers Goughs Eingeständnis, dass die pm-Architektur sich nicht mehr um die Menschen kümmert als die modernistische Architektur. Die Bögen und Säulen, die über die modernistischen Kästen gelegt werden, sind eine dünne Fassade der Verspieltheit und Individualität, die die anonymen Konzentrationen von Reichtum und Macht darunter kaum verändert.

Die Autoren der Postmoderne stellen die Grundlagen der Literatur in Frage, anstatt weiterhin die Illusion einer äußeren Welt zu schaffen. Der Roman lenkt seine Aufmerksamkeit auf sich selbst; Donald Barthelme zum Beispiel schreibt Geschichten, die den Leser immer wieder daran zu erinnern scheinen, dass sie Kunstwerke sind. Indem sie gegen die Aussage, den Blickwinkel und andere Darstellungsmuster protestiert, zeigt die pm-Literatur ihr Unbehagen gegenüber den Formen, die kulturelle Produkte zähmen und domestizieren. In dem Maße, in dem die Welt künstlicher wird und die Bedeutung immer weniger unserer Kontrolle unterliegt, möchte der neue Ansatz lieber die Illusion aufdecken, selbst um den Preis, nichts mehr zu sagen. Hier wie anderswo kämpft die Kunst gegen sich selbst, ihr früherer Anspruch, uns zu helfen, die Welt zu verstehen, verflüchtigt sich, während sogar das Konzept der Vorstellungskraft an Kraft verliert.

Für manche ist der Verlust der Erzählstimme oder des Blickwinkels gleichbedeutend mit dem Verlust unserer Fähigkeit, uns historisch zu verorten. Für Postmodernisten ist dieser Verlust eine Art Befreiung. Raymond Federman zum Beispiel schwärmt von der kommenden Fiktion, die „scheinbar bedeutungslos sein wird … absichtlich unlogisch, irrational, unrealistisch, unzusammenhängend und inkohärent“.

Die Phantastik, die seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch ist, ist eine gängige Form der Postmoderne und erinnert daran, dass das Phantastische die Zivilisation mit genau den Kräften konfrontiert, die sie für ihr Überleben unterdrücken muss. Aber es ist eine Phantastik, die – parallel zur Dekonstruktion und zum hohen Grad an Zynismus und Resignation in der Gesellschaft – nicht so sehr an sich selbst glaubt, dass sie etwas versteht oder mitteilt. Pm-Autoren scheinen in den Falten der Sprache zu ersticken und vermitteln kaum mehr als ihre ironische Haltung gegenüber den Wahrheits- und Sinnansprüchen der traditionellen Literatur. Typisch ist vielleicht Laurie Moores Roman Like Life von 1990, dessen Titel und Inhalt einen Rückzug aus dem Leben und eine Umkehrung des amerikanischen Traums offenbaren, in dem es nur noch schlimmer werden kann.

Die Feier der Ohnmacht

Die Postmoderne untergräbt zwei der wichtigsten Grundsätze des Humanismus der Aufklärung: die Macht der Sprache, die Welt zu formen, und die Macht des Bewusstseins, ein Selbst zu formen. So entsteht die postmoderne Leere, die allgemeine Vorstellung, dass die Sehnsucht nach Emanzipation und Freiheit, die die humanistischen Prinzipien der Subjektivität versprechen, nicht befriedigt werden kann. Die Postmoderne betrachtet das Selbst als eine sprachliche Konvention; wie William Burroughs es ausdrückte: „Dein ‚Ich‘ ist ein völlig illusorisches Konzept.“

Es ist offensichtlich, dass das gefeierte Ideal der Individualität seit langem unter Druck steht. Der Kapitalismus hat in der Tat Karriere damit gemacht, das Individuum zu feiern und es gleichzeitig zu zerstören. Und die Werke von Marx und Freud haben viel dazu beigetragen, den weitgehend fehlgeleiteten und naiven Glauben an ein souveränes, rationales kantianisches Selbst, das für die Realität zuständig ist, zu entlarven, wobei ihre neueren strukturalistischen Interpreten, Althusser und Lacan, dazu beigetragen und diese Bemühungen aktualisiert haben. Doch diesmal ist der Druck so groß, dass der Begriff „Individuum“ obsolet geworden ist und durch den Begriff „Subjekt“ ersetzt wurde, der immer auch den Aspekt des Unterworfenseins einschließt (wie z. B. in der älteren Formulierung „ein Untertan des Königs“). Selbst einige radikale Libertäre, wie die Gruppe Interrogations in Frankreich, stimmen in den Chor der Postmodernen ein und lehnen das Individuum als Wertkriterium ab, da diese Kategorie durch Ideologie und Geschichte entwertet wurde.

So zeigt die pm, dass die Autonomie weitgehend ein Mythos ist und die hochgehaltenen Ideale der Herrschaft und des Willens ebenfalls fehlgeleitet sind. Doch wenn uns hiermit ein neuer und ernsthafter Versuch der Entmystifizierung von Autorität versprochen wird, der sich hinter dem Deckmantel einer bourgeoisen humanistischen „Freiheit“ verbirgt, erhalten wir in Wirklichkeit eine Auflösung des Subjekts, die so radikal ist, dass es ohnmächtig, ja sogar inexistent wird, als irgendeine Art von Akteur überhaupt. Wer oder was bleibt übrig, um eine Befreiung zu erreichen, oder ist das nur ein weiterer Wunschtraum? Die postmoderne Haltung will beides: den denkenden Menschen „ausradieren“, während die Existenz ihrer eigenen Kritik von diskreditierten Ideen wie der Subjektivität abhängt. Fred Dallmayr, der die weit verbreitete Anziehungskraft des zeitgenössischen Antihumanismus anerkennt, warnt davor, dass die ersten Opfer die Reflexion und der Sinn für Werte sind. Die Behauptung, wir seien in erster Linie Instanzen der Sprache, beraubt uns offensichtlich unserer Fähigkeit, das Ganze zu erfassen, und das in einer Zeit, in der wir genau das dringend brauchen. Kein Wunder, dass die pm für einige in der Praxis lediglich auf einen Liberalismus ohne Subjekt hinausläuft, während Feministinnen, die versuchen, eine authentische und autonome weibliche Identität zu definieren oder zurückzufordern, wahrscheinlich ebenfalls nicht überzeugt wären.

Das postmoderne Subjekt, das, was vermutlich von der Subjekthaftigkeit übrig geblieben ist, scheint vor allem die vom und für das technologische Kapital konstruierte Persönlichkeit zu sein, die der marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton als „verstreutes, dezentriertes Netzwerk libidinöser Bindungen, entleert von ethischer Substanz und psychischer Innerlichkeit, die ephemere Funktion dieses oder jenes Konsumakts, Medienerlebnisses, sexueller Beziehung, Trends oder Mode“ beschreibt. Wenn Eagletons Definition des heutigen Nicht-Subjekts, wie sie von der pm verkündet wird, ihrem Standpunkt untreu ist, ist es schwer zu erkennen, wo er Gründe für eine Distanzierung von seiner vernichtenden Zusammenfassung findet. Mit der Postmoderne löst sich sogar die Entfremdung auf, denn es gibt kein Subjekt mehr, das entfremdet werden könnte! Die zeitgenössische Zersplitterung und Ohnmacht könnte kaum vollständiger verkündet, die vorhandene Wut und Unzufriedenheit nicht gründlicher ignoriert werden.

Derrida, Dekonstruktion und Différance2

Genug des Hintergrunds und der allgemeinen Charakterzüge für den Moment. Der einflussreichste spezifische postmoderne Ansatz ist der von Jacques Derrida, der seit den 60er Jahren als Dekonstruktion bekannt ist. Mit Postmoderne in der Philosophie sind vor allem die Schriften von Derrida gemeint, und diese früheste und extremste Sichtweise hat weit über die Philosophie hinaus Resonanz in der Populärkultur und ihren Gepflogenheiten gefunden.

Sicherlich hat die „linguistische Wende“ mit der Entstehung von Derrida zu tun, was David Wood dazu veranlasste, die Dekonstruktion als „eine absolut unvermeidliche Bewegung in der heutigen Philosophie“ zu bezeichnen, da das Denken sein unausweichliches Dilemma als geschriebene Sprache verhandelt. Dass Sprache nicht unschuldig oder neutral ist, sondern eine beträchtliche Anzahl von Voraussetzungen mit sich bringt, hat er in seiner Laufbahn herausgearbeitet und dabei die seiner Meinung nach grundlegend widersprüchliche Natur des menschlichen Diskurses offengelegt. Der „Unvollständigkeitssatz“ des Mathematikers Kurt Gödel besagt, dass jedes formale System entweder konsistent oder vollständig sein kann, aber nicht beides. In ähnlicher Weise behauptet Derrida, dass sich die Sprache ständig gegen sich selbst wendet, so dass wir bei genauer Analyse weder sagen können, was wir meinen, noch meinen, was wir sagen. Aber wie die Semiologen vor ihm schlägt Derrida gleichzeitig vor, dass eine dekonstruktive Methode den ideologischen Inhalt aller Texte entmystifizieren und alle menschlichen Aktivitäten als wesentliche Texte interpretieren könnte. Die grundlegende Widersprüchlichkeit und Verschleierungsstrategie, die der Metaphysik der Sprache im weitesten Sinne innewohnt, könnte aufgedeckt werden und eine intimere Art von Wissen hervorbringen.

Was diesem letztgenannten Anspruch mit seinem von Derrida immer wieder angedeuteten politischen Versprechen entgegenwirkt, ist genau der Inhalt der Dekonstruktion: Sie sieht die Sprache als eine sich ständig bewegende, unabhängige Kraft, die eine Stabilisierung des Sinns oder eine eindeutige Kommunikation, wie oben erwähnt, nicht zulässt. Diesen intern erzeugten Fluss nannte er „différance“, und das ist es, was die Idee der Bedeutung selbst zum Einsturz bringt, zusammen mit der selbstreferentiellen Natur der Sprache, die, wie bereits erwähnt, besagt, dass es keinen Raum außerhalb der Sprache gibt, kein „da draußen“, in dem Bedeutung überhaupt existieren könnte. Intention und Subjekt werden überwältigt, und was sich offenbart, sind keine „inneren Wahrheiten“, sondern eine endlose Vermehrung möglicher Bedeutungen, die durch die différance, das Prinzip, das die Sprache charakterisiert, erzeugt werden. Die Bedeutung innerhalb der Sprache wird auch durch Derridas Beharren darauf, dass Sprache metaphorisch ist und daher keine direkte Wahrheit vermitteln kann, schwer fassbar gemacht – ein von Nietzsche übernommener Begriff, der die Unterscheidung zwischen Philosophie und Literatur aufhebt. All diese Einsichten tragen vermutlich zum kühnen und subversiven Charakter der Dekonstruktion bei, aber sie provozieren sicherlich auch einige grundlegende Fragen. Wenn der Sinn unbestimmt ist, warum sind dann Derridas Argumente und Begriffe nicht auch unbestimmt, nicht festlegbar? Er hat seinen Kritikern zum Beispiel geantwortet, dass sie sich über seine Bedeutung im Unklaren sind, während seine „Bedeutung“ darin besteht, dass es keine klare, definierbare Bedeutung geben kann. Und obwohl sein gesamtes Projekt in einem wichtigen Sinne darauf abzielt, die Ansprüche aller Systeme auf irgendeine Art von transzendenter Wahrheit zu untergraben, erhebt er die différance in den transzendenten Status eines jeden philosophischen ersten Prinzips.

Für Derrida war es die Aufwertung der Sprache gegenüber der Schrift, die das gesamte westliche Denken dazu gebracht hat, den Niedergang zu übersehen, den die Sprache selbst der Philosophie bereitet. Durch die Privilegierung des gesprochenen Wortes wird ein falscher Sinn für Unmittelbarkeit erzeugt, die ungültige Vorstellung, dass beim Sprechen die Sache selbst präsent ist und die Repräsentation überwunden wird. Aber das gesprochene Wort ist nicht „authentischer“ als das geschriebene Wort, und es ist keineswegs immun gegen das eingebaute Versagen der Sprache, die (repräsentativen) Güter genau oder definitiv zu liefern. Es ist der unangebrachte Wunsch nach Präsenz, der die westliche Metaphysik charakterisiert, ein unreflektierter Wunsch nach dem Erfolg der Repräsentation. Es ist wichtig festzuhalten, dass Derrida, weil er die Möglichkeit einer unvermittelten Existenz ablehnt, zwar die Wirksamkeit der Repräsentation angreift, nicht aber die Kategorie selbst. Er macht sich über das Spiel lustig, spielt es aber trotzdem. Die différance (später einfach „Differenz“) geht aufgrund der Unverfügbarkeit von Wahrheit oder Bedeutung in Gleichgültigkeit über und schließt sich dem Zynismus im Allgemeinen an.

Schon früh diskutierte Derrida die Fehltritte der Philosophie im Bereich der Präsenz, indem er sich auf Husserls gequälte Suche nach ihr bezog. Als nächstes entwickelte er seine Theorie der „Grammatologie“, in der er der Schrift den ihr gebührenden Vorrang gegenüber der phonozentrischen3 oder sprachbetonten Ausrichtung des Westens zurückgab. Dies geschah vor allem durch die Kritik an wichtigen Persönlichkeiten, die die Sünde des Phonozentrismus begangen hatten, darunter Rousseau, Heidegger, Saussure und Levi-Strauss, wobei nicht zu übersehen ist, dass er den drei Letztgenannten viel zu verdanken hat.

Als ob er sich an die offensichtlichen Implikationen seines dekonstruktiven Ansatzes erinnern würde, weichen Derridas Schriften in den 70er Jahren von den früheren, recht geradlinigen philosophischen Diskussionen ab. Glas (1974) ist ein Mischmasch aus Hegel und Gent, in dem das Argument durch freie Assoziation und schlechte Wortspiele ersetzt wird. Auch wenn Glas selbst seine größten Bewunderer verblüfft, so entspricht es doch dem Grundsatz der unvermeidlichen Mehrdeutigkeit der Sprache und dem Willen, die Anmaßungen eines geordneten Diskurses zu unterlaufen. Spurs (1978) ist eine buchfüllende Studie über Nietzsche, die ihren Schwerpunkt letztlich nicht in Nietzsches Veröffentlichungen, sondern in einer handschriftlichen Notiz am Rande eines seiner Notizbücher findet: „Ich habe meinen Regenschirm vergessen.“ Es gibt unendliche, unentscheidbare Möglichkeiten, was diese gekritzelte Bemerkung bedeutet oder bedeutet – wenn überhaupt. Damit will Derrida natürlich andeuten, dass das Gleiche für alles gilt, was Nietzsche geschrieben hat. Der Platz für das Denken liegt nach der Dekonstruktion eindeutig (äh, sagen wir unklar) beim Relativen, beim Fragmentarischen, beim Marginalen.

Der Sinn ist gewiss nicht etwas, das man festhalten kann, wenn es ihn überhaupt gibt. In seinem Kommentar zu Platons Phaedrus geht der Meister der De-Komposition so weit zu behaupten, dass „wie jeder Text [es] nicht anders sein konnte, als mit allen Wörtern, die das System der griechischen Sprache ausmachten, verbunden zu sein, zumindest auf eine virtuelle, dynamische, laterale Weise“.

Damit verbunden ist Derridas Ablehnung von binären Gegensätzen wie wörtlich/metaphorisch, ernst/spielerisch, tief/oberflächlich, Natur/Kultur, ad infinitum. Er betrachtet diese als grundlegende begriffliche Hierarchien, die hauptsächlich durch die Sprache selbst eingeschmuggelt werden und die die Illusion einer Definition oder Orientierung vermitteln. Er behauptet weiter, dass die dekonstruktive Arbeit der Umkehrung dieser Paarungen, die eine der beiden gegenüber der anderen aufwerten, zu einer politischen und sozialen Umkehrung der tatsächlichen, nicht-begrifflichen Hierarchien führt. Die automatische Ablehnung aller binären Oppositionen ist jedoch selbst eine metaphysische Behauptung; sie umgeht in der Tat Politik und Geschichte, weil sie in den Gegensätzen, wie ungenau sie auch sein mögen, nichts anderes als eine sprachliche Realität sehen will. Indem sie jeden Binarismus auflöst, zielt die Dekonstruktion darauf ab, „die Differenz ohne Opposition zu denken“. Was in geringerer Dosierung als heilsamer Ansatz erscheint, als Skepsis gegenüber sauberen Entweder-Oder-Charakterisierungen, geht über in das sehr fragwürdige Rezept der Ablehnung jeglicher Eindeutigkeit. Zu sagen, dass es keine Ja- oder Nein-Position geben kann, ist gleichbedeutend mit einer Lähmung des Relativismus, in der die „Ohnmacht“ zum aufgewerteten Partner der „Opposition“ wird.

Vielleicht ist der Fall von Paul De Man, der Derridas bahnbrechende dekonstruktive Positionen erweitert und vertieft hat (und ihn nach Meinung vieler sogar übertrifft), aufschlussreich. Kurz nach dem Tod von De Man im Jahr 1985 wurde entdeckt, dass er als junger Mann im besetzten Belgien mehrere antisemitische, pro-nationalsozialistische Zeitungsartikel geschrieben hatte. Der Status dieses brillanten Dekonstrukteurs aus Yale, und für einige sogar der moralische und philosophische Wert der Dekonstruktion selbst, wurden durch diese sensationelle Enthüllung in Frage gestellt. De Man hatte wie Derrida „die Doppelzüngigkeit, die Verwirrung, die Unwahrheit, die wir im Gebrauch der Sprache für selbstverständlich halten“ betont. Passend dazu, wenn auch meiner Meinung nach zu seinem Nachteil, war Derridas gequälter Kommentar zu De Mans kollaborativer Zeit: „Wie können wir urteilen, wer das Recht hat zu sagen?“ Ein schäbiges Zeugnis für die Dekonstruktion, die in irgendeiner Weise als ein Moment des Antiautoritären betrachtet wird.

Derrida verkündete, dass die Dekonstruktion „die Subversion jedes Reiches anstiftet“. In der Tat ist sie im sicheren akademischen Bereich geblieben, indem sie immer raffiniertere textliche Komplikationen erfand, um sich selbst im Geschäft zu halten und eine Reflexion über ihre eigene politische Situation zu vermeiden. Einer von Derridas zentralsten Begriffen, die Verbreitung, beschreibt die Sprache unter dem Prinzip der Differenz nicht so sehr als eine reiche Ernte von Bedeutungen, sondern als eine Art endlosen Verlust und Verschütten, wobei die Bedeutung überall auftaucht und praktisch gleichzeitig verdunstet. Dieser unaufhörliche und unbefriedigende Fluss der Sprache ist eine treffende Parallele zum Herzen des Konsumkapitals und seiner endlosen Zirkulation von Nicht-Bedeutung. Derrida verewigt und universalisiert so unbewusst das beherrschte Leben, indem er die menschliche Kommunikation zu seinem Abbild macht. Das „jedes Reich“, das er durch die Dekonstruktion unterminiert sehen würde, wird stattdessen erweitert und für absolut gehalten.

Derrida repräsentiert sowohl die weitgereiste französische Tradition der explication de texte4 als auch eine Reaktion auf die gallische Verehrung der kartesianisch-klassizistischen Sprache mit ihren Idealen der Klarheit und Ausgewogenheit. Die Dekonstruktion entstand auch gewissermaßen als Teil des ursprünglichen Elements der Beinahe-Revolution von 1968, nämlich der Studentenrevolte gegen das erstarrte französische Hochschulwesen. Einige ihrer Schlüsselbegriffe (z.B. die Verbreitung) sind Blanchots Heidegger-Lektüre entlehnt, was eine bedeutende Originalität des Derride’schen Denkens nicht leugnen soll. Präsenz und Repräsentation stellen sich ständig gegenseitig in Frage und offenbaren das zugrunde liegende System als unendlich zerklüftet, und das ist an sich schon ein wichtiger Beitrag.

Unglücklicherweise scheint die Umwandlung der Metaphysik in eine Frage der Schrift, in der sich die Bedeutungen praktisch selbst wählen und somit ein Diskurs (und somit eine Handlungsweise) nicht als besser als eine andere bewiesen werden kann, nicht sehr radikal. Die Dekonstruktion wird heute von den Leitern englischer Fakultäten, von Berufsverbänden und anderen angesehenen Gremien begrüßt, weil sie die Frage der Repräsentation selbst so wenig aufwirft. Derridas Dekonstruktion der Philosophie räumt ein, dass sie genau das Konzept intakt lassen muss, dessen fehlende Grundlage sie entlarvt. Während er die Vorstellung einer sprachunabhängigen Realität für unhaltbar hält, verspricht die Dekonstruktion auch keine Befreiung aus dem berühmten „Gefängnis der Sprache“. Das Wesen der Sprache, das Primat des Symbolischen, wird nicht wirklich angegangen, sondern als ebenso unausweichlich wie unzureichend zur Erfüllung gezeigt. Kein Ausweg; wie Derrida erklärte: „Es geht nicht darum, sich in eine repressionsfreie neue Ordnung zu entlassen (es gibt keine).“

Die Krise der Repräsentation

Wenn der Beitrag der Dekonstruktion vor allem darin besteht, unsere Gewissheit über die Realität zu untergraben, dann vergisst sie, dass die Realität – Werbung und Massenkultur, um nur zwei oberflächliche Beispiele zu nennen – dies bereits erreicht hat. Diese durch und durch postmoderne Sichtweise ist Ausdruck der Bewegung des Denkens von der Dekadenz zu seiner elegischen oder post-gedanklichen Phase oder, wie John Fekete es zusammenfasste, „eine tiefgreifende Krise des westlichen Geistes, ein tiefgreifender Verlust der Nerven“.

Die heutige Überfrachtung mit Repräsentation dient dazu, die radikale Verarmung des Lebens in der technologischen Klassengesellschaft zu unterstreichen – Technologie ist Entbehrung. Die klassische Theorie der Repräsentation ging davon aus, dass Bedeutung oder Wahrheit den Repräsentationen, die sie vermitteln, vorausgehen und diese vorschreiben. Aber wir leben heute in einer postmodernen Kultur, in der das Bild weniger der Ausdruck eines individuellen Subjekts als vielmehr die Ware einer anonymen Konsumtechnologie geworden ist. Das Leben im Informationszeitalter wird immer mehr durch die Manipulation von Zeichen, Symbolen, Marketing- und Testdaten usw. kontrolliert. Unsere Zeit, sagt Derrida, ist „eine Zeit ohne Natur“.

Alle Formulierungen der Postmoderne stimmen darin überein, eine Krise der Repräsentation zu erkennen. Wie bereits erwähnt, begann Derrida mit einer Infragestellung des Wesens des philosophischen Projekts selbst, das auf Repräsentation beruht, und warf einige unbeantwortbare Fragen über die Beziehung zwischen Repräsentation und Denken auf. Die Dekonstruktion untergräbt die erkenntnistheoretischen Ansprüche der Repräsentation, indem sie zeigt, dass beispielsweise die Sprache für die Aufgabe der Repräsentation unzureichend ist. Aber diese Untergrabung vermeidet es, sich mit der repressiven Natur ihres Gegenstandes auseinanderzusetzen, indem sie wiederum darauf besteht, dass reine Präsenz, ein Raum jenseits der Repräsentation, nur ein utopischer Traum sein kann. Es kann keinen unvermittelten Kontakt oder keine Kommunikation geben, sondern nur Zeichen und Repräsentationen; die Dekonstruktion ist eine Suche nach Präsenz und Erfüllung, die unendlich und notwendigerweise aufgeschoben wird.

Jacques Lacan, der die gleiche Resignation wie Derrida teilt, enthüllt zumindest mehr über das bösartige Wesen der Repräsentation. In Erweiterung von Freud stellte er fest, dass das Subjekt durch den Eintritt in die symbolische Ordnung, nämlich in die Sprache, sowohl konstituiert als auch entfremdet wird. Während er die Möglichkeit einer Rückkehr zu einem vorsprachlichen Zustand, in dem das gebrochene Versprechen der Präsenz eingelöst werden könnte, verneinte, konnte er zumindest den zentralen, lähmenden Schlag erkennen, der in der Unterwerfung des freien Begehrens unter die symbolische Welt besteht, in der Auslieferung der Einzigartigkeit an die Sprache. Lacan bezeichnete die jouissance als unaussprechlich, weil sie sich nur außerhalb der Sprache ereignen kann: jenes Glück, das der Wunsch nach einer Welt ohne den Bruch des Geldes oder der Schrift, einer Gesellschaft ohne Repräsentation ist.

Die Unfähigkeit, symbolischen Sinn zu generieren, ist, etwas ironisch, ein Grundproblem der Postmoderne. Sie spielt ihre Position an der Grenze zwischen dem, was repräsentiert werden kann, und dem, was nicht repräsentiert werden kann, aus, eine (bestenfalls) halbherzige Lösung, die sich weigert, die Repräsentation zu verweigern. (Anstatt die Argumente für die Sichtweise des Symbolischen als repressiv und entfremdend zu liefern, wird der Leser auf die ersten fünf Aufsätze meines Buches Elements of Refusal [Left Bank Books, 1988] verwiesen, die sich mit Zeit, Sprache, Zahl, Kunst und Landwirtschaft als kulturellen Entfremdungen aufgrund von Symbolisierung befassen.) Inzwischen verliert ein entfremdetes und erschöpftes Publikum das Interesse am vermeintlichen Trost der Kultur, und mit der Vertiefung und Verdichtung der Vermittlung kommt die Entdeckung, dass dies vielleicht schon immer der Sinn der Kultur war. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass die Postmoderne die Reflexion über die Ursprünge der Repräsentation nicht anerkennt, da sie auf der Unmöglichkeit einer unvermittelten Existenz beharrt.

Als Antwort auf die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit der Prä-Zivilisation sagt die Postmoderne, dass die Kultur so grundlegend für die menschliche Existenz geworden ist, dass es keine Möglichkeit gibt, unter sie hinabzusteigen. Das erinnert natürlich an Freud, der das Wesen der Zivilisation als Unterdrückung von Freiheit und Ganzheit erkannte, der aber entschied, dass Arbeit und Kultur wichtiger seien. Freud war zumindest ehrlich genug, den Widerspruch oder die Unversöhnlichkeit zuzugeben, die mit der Entscheidung für die lähmende Natur der Zivilisation einhergeht, während die Postmodernisten dies nicht tun.

Floyd Merrell stellte fest, dass „ein Schlüssel, vielleicht der Hauptschlüssel zum Derrida’schen Denken“ Derridas Entscheidung war, die Frage nach den Ursprüngen nicht zu stellen. Während Derrida also in seinem gesamten Werk auf eine Komplizenschaft zwischen den Grundannahmen des westlichen Denkens und den Gewalttaten und Unterdrückungen hinweist, die die westliche Zivilisation geprägt haben, hat er zentral und sehr einflussreich alle Vorstellungen von Ursprüngen abgelehnt. Schließlich ist das kausale Denken eines der Objekte der Verachtung der Postmodernen. „Natur“ ist eine Illusion, was könnte also „unnatürlich“ bedeuten? Anstelle des wunderbaren „Unter dem Pflaster ist der Strand“ der Situationisten haben wir Foucaults berühmte Zurückweisung des gesamten Begriffs der „repressiven Hypothese“ in Die Ordnung der Dinge. Freud gab uns ein Verständnis von Kultur als verkümmernd und Neurosen erzeugend; die pm sagt uns, dass Kultur alles ist, was wir jemals haben können, und dass ihre Grundlagen, wenn es sie gibt, für unser Verständnis nicht zugänglich sind. Die Postmoderne ist offenbar das, was uns bleibt, wenn der Modernisierungsprozess abgeschlossen und die Natur für immer verschwunden ist.

Nicht nur, dass die pm an Becketts Bemerkung in Endgame anknüpft: „Es gibt keine Natur mehr“, sondern sie leugnet auch, dass es jemals einen erkennbaren Raum außerhalb von Sprache und Kultur gegeben hat. Die „Natur“, so Derrida im Gespräch mit Rousseau, „hat nie existiert“. Auch hier wird die Entfremdung ausgeschlossen; dieser Begriff impliziert notwendigerweise eine Idee von Authentizität, die die Postmoderne für unverständlich hält. In diesem Sinne zitiert Derrida „den Verlust dessen, was nie stattgefunden hat, einer Selbstpräsenz, die nie gegeben war, sondern nur erträumt wurde…“. Trotz der Grenzen des Strukturalismus zeugt Levi-Strauss‘ Zugehörigkeitsgefühl zu Rousseau andererseits von seiner Suche nach Ursprüngen. Indem er sich weigerte, die Befreiung auszuschließen, sei es in Bezug auf die Anfänge oder die Ziele, hörte Levi-Strauss nie auf, sich nach einer „intakten“ Gesellschaft zu sehnen, einer nicht zerbrochenen Welt, in der die Unmittelbarkeit noch nicht gebrochen war. Dafür stellt Derrida, freilich pejorativ, Rousseau als Utopisten und Levi-Strauss als Anarchisten dar und warnt vor einem „weiteren Schritt zu einer Art ursprünglicher Anarchie“, der nur eine gefährliche Illusion wäre.

Die wirkliche Gefahr besteht darin, die Entfremdung und Beherrschung, die die Natur vollständig zu überwinden drohen, nicht auf der grundlegendsten Ebene in Frage zu stellen – das, was vom Natürlichen in der Welt und in uns selbst übrig geblieben ist. Marcuse erkannte, dass „die Erinnerung an die Befriedigung am Ursprung allen Denkens steht, und der Impuls, die vergangene Befriedigung zurückzuerobern, ist die verborgene Antriebskraft des Denkprozesses“. Mit der Frage nach den Ursprüngen ist auch die Frage nach der Entstehung der Abstraktion, ja der philosophischen Begrifflichkeit überhaupt verbunden, und Marcuse kam bei seiner Suche nach dem, was einen Seinszustand ohne Unterdrückung ausmachen würde, nahe an eine Auseinandersetzung mit der Kultur selbst. Er konnte sich des Eindrucks nie ganz erwehren, „dass die Menschheit etwas Wesentliches vergessen hat“. Ähnlich ist der kurze Ausspruch von Novalis: „Philosophie ist Heimweh“. Im Vergleich dazu haben Kroker und Cook unbestreitbar recht, wenn sie schlussfolgern, dass „die postmoderne Kultur ein Vergessen ist, ein Vergessen der Ursprünge und Ziele“.

Barthes, Foucault und Lyotard

Wenn wir uns anderen poststrukturalistischen/postmodernen Persönlichkeiten zuwenden, verdient Roland Barthes, der zu Beginn seiner Karriere ein wichtiger strukturalistischer Denker war, Erwähnung. Sein Werk Writing Degree Zero drückte die Hoffnung aus, dass Sprache auf utopische Weise verwendet werden kann und dass es in der Kultur kontrollierende Codes gibt, die gebrochen werden können. Anfang der 70er Jahre schloss er sich jedoch Derrida an, der die Sprache als einen metaphorischen Sumpf ansah, dessen Metaphorizität nicht erkannt wird. Die Philosophie wird von ihrer eigenen Sprache verwirrt, und die Sprache im Allgemeinen kann nicht beanspruchen, das zu beherrschen, was sie bespricht. Mit Das Reich der Zeichen (1970) hatte Barthes bereits auf jede kritische, analytische Absicht verzichtet. Dieses Buch, das angeblich von Japan handelt, wird vorgelegt, „ohne den Anspruch zu erheben, irgendeine Realität abzubilden oder zu analysieren“. Verschiedene Fragmente befassen sich mit so unterschiedlichen kulturellen Formen wie Haiku und Spielautomaten, als Teile einer Art anti-utopischen Landschaft, in der die Formen keine Bedeutung haben und alles nur Oberfläche ist. Das Reich der Zeichen kann als das erste vollständig postmoderne Werk bezeichnet werden, und Mitte der 70er Jahre trug die Vorstellung des Autors vom Vergnügen am Text die gleiche Derride’sche Geringschätzung für den Glauben an die Gültigkeit des öffentlichen Diskurses weiter. Das Schreiben war zum Selbstzweck geworden, eine rein persönliche Ästhetik zur obersten Maxime. Vor seinem Tod im Jahr 1980 hatte Barthes ausdrücklich „jede intellektuelle Art des Schreibens“ angeprangert, insbesondere alles, was den Beigeschmack des Politischen hatte. In seinem letzten Werk, Barthes by Barthes, betrachtete der Hedonismus der Worte, der einem realen Dandytum entsprach, Konzepte nicht nach ihrer Gültigkeit oder Ungültigkeit, sondern nur nach ihrer Wirksamkeit als Taktik des Schreibens.

1985 forderte AIDS den bekanntesten Einfluss auf die Postmoderne, Michel Foucault. Seine weitreichenden historischen Studien (z. B. über Wahnsinn, Strafvollzug und Sexualität) machten ihn sehr bekannt und lassen bereits Unterschiede zwischen Foucault und dem relativ abstrakten und ahistorischen Derrida erkennen. Der Strukturalismus hatte, wie bereits erwähnt, das Individuum aus weitgehend linguistischen Gründen stark abgewertet, während Foucault „den Menschen (als) eine erst kürzlich gemachte Erfindung, eine noch keine zwei Jahrhunderte alte Figur, eine einfache Falte in unserem Wissen, die bald verschwinden wird“, charakterisierte. Sein Schwerpunkt liegt darin, den „Menschen“ als das zu entlarven, was als Objekt dargestellt und hervorgebracht wird, nämlich als eine virtuelle Erfindung der modernen Humanwissenschaften. Trotz seines eigenwilligen Stils waren Foucaults Werke weitaus populärer als die von Horkheimer und Adorno (z. B. Die Dialektik der Aufklärung) und Erving Goffman, die ebenfalls die versteckte Agenda der bourgeoisen Rationalität aufdeckten. Er wies auf die „individualisierende“ Taktik hin, die in den Schlüsselinstitutionen des frühen 19. Jahrhunderts am Werk war (Familie, Arbeit, Medizin, Psychiatrie, Bildung), und machte deren normalisierende, disziplinierende Rolle innerhalb der entstehenden kapitalistischen Moderne deutlich, da das „Individuum“ von und für die herrschende Ordnung geschaffen wird.

Foucault, typisch pm, lehnt das ursprüngliche Denken und die Vorstellung ab, dass es eine „Realität“ hinter oder unter dem vorherrschenden Diskurs einer Epoche gibt. Ebenso ist das Subjekt eine Täuschung, die im Wesentlichen durch den Diskurs geschaffen wird, ein „Ich“, das aus den herrschenden Sprachgebräuchen hervorgeht. Und so werden seine detaillierten historischen Erzählungen, die als „Archäologien“ des Wissens bezeichnet werden, anstelle von theoretischen Übersichten angeboten, als ob sie keine ideologischen oder philosophischen Annahmen enthielten. Für Foucault gibt es keine Grundlagen des Sozialen, die außerhalb der Kontexte verschiedener Epochen, oder Episteme, wie er sie nannte, zu begreifen wären; die Grundlagen ändern sich von einer Episteme zur anderen. Der vorherrschende Diskurs, der seine Subjekte konstituiert, bildet sich scheinbar von selbst. Dies ist ein wenig hilfreicher Ansatz für die Geschichte, der vor allem daraus resultiert, dass Foucault sich nicht auf soziale Gruppen bezieht, sondern sich ganz auf Gedankensysteme konzentriert. Ein weiteres Problem ergibt sich aus seiner Auffassung, dass die Episteme eines Zeitalters nicht von denen erkannt werden kann, die in ihr arbeiten. Wenn das Bewusstsein genau das ist, was sich nach Foucaults eigener Darstellung seines Relativismus nicht bewusst ist oder nicht weiß, wie es in früheren Epistemen ausgesehen hätte, dann ist Foucaults eigenes erhöhtes, umfassendes Bewusstsein unmöglich. Diese Schwierigkeit wird am Ende von Die Archäologie des Wissens (1972) eingeräumt, bleibt aber unbeantwortet, ein ziemlich krasses und offensichtliches Problem.

Das Dilemma der Postmoderne ist folgendes: Wie kann der Status und die Gültigkeit ihrer theoretischen Ansätze festgestellt werden, wenn weder Wahrheit noch Grundlagen des Wissens zugelassen werden? Wenn wir die Möglichkeit rationaler Grundlagen oder Standards ausschließen, auf welcher Grundlage können wir dann operieren? Wie können wir verstehen, was die Gesellschaft ist, die wir bekämpfen, geschweige denn, dass wir ein solches Verständnis teilen? Foucaults Beharren auf einem nietzscheanischen Perspektivismus übersetzt sich in den irreduziblen Pluralismus der Interpretation. Er relativierte Wissen und Wahrheit jedoch nur insoweit, als diese Begriffe an andere Denksysteme als sein eigenes gebunden sind. Auf diesen Punkt angesprochen, gab Foucault zu, dass er nicht in der Lage sei, seine eigenen Meinungen rational zu begründen. So behauptet der liberale Habermas, dass postmoderne Denker wie Foucault, Deleuze und Lyotard „neokonservativ“ seien, weil sie keine konsistente Argumentation für die eine oder andere gesellschaftliche Richtung bieten. Das Bekenntnis zum Relativismus (oder „Pluralismus“) bedeutet auch, dass es nichts gibt, was die Perspektive einer gesellschaftlichen Tendenz daran hindert, das Recht zu beanspruchen, eine andere zu dominieren, da es keine Möglichkeit gibt, Standards festzulegen.

Das Thema Macht war in der Tat ein zentrales Thema für Foucault, und die Art und Weise, wie er es behandelte, ist aufschlussreich. Er schrieb, dass die bedeutenden Institutionen der modernen Gesellschaft durch eine Kontrollintentionalität vereint sind, ein „karzerales Kontinuum“, das das logische Finale des Kapitalismus zum Ausdruck bringt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Aber die Macht selbst, so stellte er fest, ist ein Netz oder Feld von Beziehungen, in dem die Subjekte sowohl als Produkte als auch als Akteure der Macht konstituiert sind. Alles ist also Teil der Macht, und deshalb ist es sinnlos, eine „grundlegende“, unterdrückerische Macht zu suchen, die man bekämpfen kann. Die moderne Macht ist heimtückisch und „kommt von überall her“. Wie Gott ist sie überall und nirgends zugleich.

Foucault findet keinen Strand unter den Pflastersteinen, überhaupt keine „natürliche“ Ordnung. Es gibt nur die Gewissheit aufeinanderfolgender Machtregime, denen man irgendwie widerstehen muss. Aber Foucaults charakteristische Abneigung gegen den gesamten Begriff des menschlichen Subjekts macht es ziemlich schwierig zu erkennen, woher ein solcher Widerstand kommen könnte, ungeachtet seiner Ansicht, dass es keinen Widerstand gegen die Macht gibt, der nicht eine Variante der Macht selbst ist. Was den letztgenannten Punkt betrifft, so geriet Foucault bei der Betrachtung des Verhältnisses von Macht und Wissen in eine weitere Sackgasse. Er kam zu dem Schluss, dass sie untrennbar und allgegenwärtig miteinander verbunden sind und sich direkt gegenseitig bedingen. Die Schwierigkeiten, angesichts dieses Zusammenhangs weiterhin etwas Substantielles zu sagen, veranlassten Foucault schließlich, eine Theorie der Macht aufzugeben. Der damit verbundene Determinismus führte zum einen dazu, dass sein politisches Engagement immer geringer wurde. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum der Foucaultismus von den Medien stark gefördert wurde, während z.B. die Situationisten verdrängt wurden.

Castoriadis bezeichnete Foucaults Ideen zur Macht und zum Widerstand gegen sie einmal mit den Worten: „Leiste Widerstand, wenn es dir Spaß macht – aber ohne Strategie, denn dann wärst du nicht mehr proletarisch, sondern Macht“. Foucaults eigener Aktivismus hatte versucht, den empirizistischen Traum eines theorie- und ideologiefreien Ansatzes zu verkörpern, den des „spezifischen Intellektuellen“, der an bestimmten, lokalen Kämpfen teilnimmt. Diese Taktik sieht vor, dass die Theorie nur konkret eingesetzt wird, als Ad-hoc-„Werkzeugkasten“-Methoden für spezifische Kampagnen. Trotz der guten Absichten verweigert die Beschränkung der Theorie auf diskrete, verderbliche instrumentelle „Werkzeuge“ nicht nur einen expliziten Überblick über die Gesellschaft, sondern akzeptiert auch die allgemeine Arbeitsteilung, die den Kern von Entfremdung und Herrschaft bildet. Der Wunsch, Unterschiede, lokales Wissen und dergleichen zu respektieren, verweigert eine reduktive, totalitär anmutende Überbewertung der Theorie, sondern akzeptiert nur die Atomisierung des Spätkapitalismus mit seiner Aufsplitterung des Lebens in enge Spezialgebiete, die die Provinz so vieler Experten sind. Wenn „wir zwischen der Arroganz, das Ganze zu überblicken, und der Scheu, die Teile zu inspizieren, gefangen sind“, wie Rebecca Comay es treffend formulierte, wie kann dann die zweite Alternative (die von Foucault) einen Fortschritt gegenüber dem liberalen Reformismus im Allgemeinen darstellen? Diese Frage erscheint besonders relevant, wenn man sich daran erinnert, wie sehr Foucaults ganzes Unternehmen darauf abzielte, uns von den Illusionen der humanistischen Reformer in der Geschichte zu befreien. Der „spezifische Intellektuelle“ entpuppt sich in der Tat als ein weiterer Experte, ein weiterer Liberaler, der eher die Spezifika als die Wurzeln der Probleme angreift. Und wenn man sich den Inhalt seines Aktivismus anschaut, der sich hauptsächlich auf den Bereich der Strafrechtsreform bezog, ist die Ausrichtung fast zu lau, um überhaupt als liberal bezeichnet werden zu können. In den 80er Jahren „versuchte er, unter der Ägide seines Lehrstuhls am College de France Historiker, Juristen, Richter, Psychiater und Ärzte zu versammeln, die sich mit Recht und Strafe befassen“, so Keith Gandal. Alle Polizisten. „Meine Arbeit über die historische Relativität der Gefängnisform“, so Foucault, „war eine Anregung, über andere Formen der Bestrafung nachzudenken“. Offensichtlich akzeptierte er die Legitimität dieser Gesellschaft und der Bestrafung; nicht weniger überraschend war seine daraus resultierende Ablehnung der Anarchisten als infantil in ihren Hoffnungen für die Zukunft und ihrem Glauben an das menschliche Potenzial.

Die Werke von Jean-Francois Lyotard sind in hohem Maße widersprüchlich – was an sich schon ein Merkmal von der pm ist -, bringen aber auch ein zentrales postmodernes Thema zum Ausdruck: dass die Gesellschaft nicht als Ganzes verstanden werden kann und soll. Lyotard ist ein Paradebeispiel für antitotalisierendes Denken, und zwar so sehr, dass er die Postmoderne als „Ungläubigkeit gegenüber Metanarrativen“ oder Übersichten zusammenfasst. Die Idee, dass es sowohl ungesund als auch unmöglich ist, das Ganze zu begreifen, ist Teil einer enormen Reaktion in Frankreich seit den 60er Jahren gegen marxistische und kommunistische Einflüsse. Während Lyotard vor allem die marxistische Tradition ins Visier nimmt, die im politischen und intellektuellen Leben Frankreichs einst so stark war, geht er noch weiter und lehnt die Gesellschaftstheorie in ihrer Gesamtheit ab. So ist er zum Beispiel zu der Überzeugung gelangt, dass jedes Konzept der Entfremdung – die Vorstellung, dass eine ursprüngliche Einheit, Ganzheit oder Unschuld durch die Fragmentierung und Gleichgültigkeit des Kapitalismus zerbrochen wird – letztlich ein totalitärer Versuch ist, die Gesellschaft zwangsweise zu vereinheitlichen. Bezeichnenderweise denunziert seine Libidinöse Ökonomie Mitte der 70er Jahre die Theorie als Terror.

Man könnte sagen, dass diese extreme Reaktion außerhalb einer von der marxistischen Linken dominierten Kultur unwahrscheinlich wäre, aber ein anderer Blick sagt uns, dass sie perfekt zur allgemeinen, desillusionierten postmodernen Situation passt. Lyotards pauschale Ablehnung der postkantianischen Aufklärungswerte verkörpert schließlich die Erkenntnis, dass die rationale Kritik, zumindest in Form der selbstbewussten Werte und Überzeugungen der kantischen, hegelianischen und marxistischen Metanarrative, durch die düstere historische Realität entlarvt wurde. Lyotard zufolge bedeutet die pm-Ära, dass alle tröstlichen Mythen von intellektueller Meisterschaft und Wahrheit am Ende sind und durch eine Pluralität von „Sprachspielen“ ersetzt werden, dem Wittgensteinschen Begriff der „Wahrheit“, die vorläufig geteilt wird und ohne jegliche erkenntnistheoretische Berechtigung oder philosophische Grundlage zirkuliert. Sprachspiele sind eine pragmatische, lokalisierte, vorläufige Grundlage für Wissen; im Gegensatz zu den umfassenden Ansichten der Theorie oder der historischen Interpretation hängt ihr Gebrauchswert von der Zustimmung der Teilnehmer ab. Lyotards Ideal ist also eine Vielzahl von „kleinen Erzählungen/Narrationen“ anstelle des „inhärenten Dogmatismus“ von Metanarrativen oder großen Ideen. Leider muss sich ein solcher pragmatischer Ansatz mit den Dingen, wie sie sind, arrangieren und ist praktisch per definitionem vom vorherrschenden Konsens abhängig. Daher ist Lyotards Ansatz nur von begrenztem Wert, wenn es darum geht, einen Bruch mit den alltäglichen Normen herbeizuführen. Obwohl sein gesunder, antiautoritärer Skeptizismus die Totalisierung als unterdrückend oder zwanghaft ansieht, übersieht er, dass der Foucaultsche Relativismus der Sprachspiele mit ihren frei vereinbarten Bedeutungen dazu neigt, alles für gleich gültig zu halten. Wie Gerard Raulet feststellte, gehorcht die daraus resultierende Verweigerung des Überblicks eher der bestehenden Logik der Homogenität, als dass sie einen Hort der Heterogenität darstellt.

Den Fortschritt verdächtig zu finden, ist natürlich die Voraussetzung für jeden kritischen Ansatz, aber die Suche nach Heterogenität muss das Bewusstsein für ihr Verschwinden und die Suche nach den Gründen für ihr Verschwinden einschließen. Das postmoderne Denken verhält sich im Allgemeinen so, als wüsste es nicht, dass Arbeitsteilung und Kommodifizierung5 die Grundlage für kulturelle oder soziale Heterogenität beseitigen. Die Postmoderne versucht zu bewahren, was es praktisch nicht gibt, und lehnt ein breiteres Denken ab, das notwendig ist, um mit der verarmten Realität umzugehen. In diesem Bereich ist es von Interesse, das Verhältnis zwischen pm und Technologie zu betrachten, das für Lyotard von entscheidender Bedeutung ist.

Adorno fand den Weg des zeitgenössischen Totalitarismus durch das aufklärerische Ideal des Triumphs über die Natur, auch bekannt als instrumentelle Vernunft, vorbereitet. Lyotard sieht die Fragmentierung des Wissens als wesentlich für den Kampf gegen die Herrschaft an, was den notwendigen Überblick verwehrt, um zu sehen, dass die Isolation, die das fragmentierte Wissen darstellt, im Gegenteil die soziale Bestimmung und den Zweck dieser Isolation vergisst. Die gefeierte „Heterogenität“ ist nicht viel mehr als die zersplitternde Wirkung einer übermächtigen Totalität, die er lieber ignorieren würde. Nirgendwo wird die Kritik mehr verworfen als in Lyotards postmodernem Positivismus, der auf der Akzeptanz einer technischen Rationalität beruht, die auf Kritik verzichtet. Es überrascht nicht, dass Lyotard im Zeitalter der Zersetzung von Bedeutung und des Verzichts auf den Blick auf das, was das Ensemble der bloßen „Fakten“ wirklich ausmacht, die Computerisierung der Gesellschaft begrüßt. Ähnlich wie der Nietzscheaner Foucault glaubt Lyotard, dass die Macht mehr und mehr zum Kriterium der Wahrheit wird. Er findet seinen Gefährten in dem postmodernen Pragmatiker Richard Rorty, der ebenfalls die moderne Technologie begrüßt und den hegemonialen Werten der heutigen Industriegesellschaft tief verbunden ist.

1985 organisierte Lyotard eine spektakuläre Hightech-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou, in der die künstlichen Realitäten und Mikrocomputerarbeiten von Künstlern wie Myron Krueger gezeigt wurden. Bei der Eröffnung erklärten die Verantwortlichen: „Wir wollten darauf hinweisen, dass sich die Welt nicht in Richtung größerer Klarheit und Einfachheit entwickelt, sondern in Richtung eines neuen Grades an Komplexität, in dem sich der Einzelne zwar sehr verloren fühlen mag, in dem er aber tatsächlich freier werden kann.“ Offensichtlich sind Übersichten erlaubt, wenn sie mit den Plänen unserer Meister für uns und für die Natur übereinstimmen. Aber der spezifischere Punkt liegt in der „Immaterialität“, dem Titel der Ausstellung und einem Begriff von Lyotard, den er mit der Erosion der Identität, dem Zerfall der stabilen Barrieren zwischen dem Selbst und einer Welt, die durch unsere Einbindung in labyrinthische technologische und soziale Systeme entsteht, in Verbindung bringt. Es versteht sich von selbst, dass er diesen Zustand gutheißt und beispielsweise das „pluralisierende“ Potenzial der neuen Kommunikationstechnologien feiert – einer Technologie, die das Leben ent-sinnlicht, die Erfahrung verflacht und die natürliche Welt auslöscht. Lyotard schreibt: „Alle Menschen haben ein Recht auf Wissenschaft“, als hätte er auch nur die geringste Ahnung, was Wissenschaft bedeutet. Er schreibt den „freien Zugang der Öffentlichkeit zu den Speichern und Datenbanken“ vor. Eine entsetzliche Sicht der Befreiung, die ein wenig eingefangen wird durch: „Datenbanken sind die Enzyklopädie von morgen; sie sind die ‚Natur‘ für postmoderne Männer und Frauen.“

Frank Lentricchia bezeichnete Derridas dekonstruktivistisches Projekt als „eine elegante, gebieterische Übersicht, die in der Philosophiegeschichte nur von Hegel übertroffen wird.“ Es ist eine offensichtliche Ironie, dass die Postmodernisten eine allgemeine Theorie benötigen, um ihre Behauptung zu untermauern, warum es keine allgemeinen Theorien oder Metanarrative geben kann und soll. Sartre, die Gestalttheoretiker und der gesunde Menschenverstand sagen uns, dass das, was pm als „totalisierende Vernunft“ abtut, in Wirklichkeit der Wahrnehmung selbst inhärent ist: Man sieht in der Regel ein Ganzes und keine diskreten Fragmente. Eine weitere Ironie liegt in Charles Altieris Beobachtung über Lyotard, „dass dieser Denker, der sich der Gefahren von Meistererzählungen so sehr bewusst ist, dennoch der Autorität der verallgemeinerten Abstraktion völlig verpflichtet bleibt.“ Pm verkündet eine anti-generalistische Tendenz, aber seine Vertreter, Lyotard vielleicht ganz besonders, behalten ein sehr hohes Abstraktionsniveau bei, wenn sie über Kultur, Modernität und andere derartige Themen diskutieren, die natürlich bereits große Verallgemeinerungen sind.

„Eine befreite Menschheit“, schrieb Adorno, „wäre keineswegs eine Totalität“. Nichtsdestotrotz haben wir es gegenwärtig mit einer sozialen Welt zu tun, die eine ist und die sich mit aller Rache totalisiert. Die Postmoderne mit ihrer gefeierten Fragmentierung und Heterogenität mag sich dafür entscheiden, die Totalität zu vergessen, aber die Totalität wird uns nicht vergessen.

Deleuze, Guattari und Baudrillard

Die „Schizo-Politik“ von Gilles Deleuze ergibt sich zumindest teilweise aus der vorherrschenden Verweigerung eines Überblicks, eines Ausgangspunkts. Die auch als „Nomadologie“ bezeichnete Methode von Deleuze, die sich des „rhizomatischen Schreibens“ bedient, setzt sich für die Deterritorialisierung und Entschlüsselung von Herrschaftsstrukturen ein, durch die sich der Kapitalismus durch seine eigene Dynamik selbst ablöst. Mit seinem zeitweiligen Partner Felix Guattari, mit dem er eine Spezialisierung auf die Psychoanalyse teilt, hofft er, die schizophrene Tendenz des Systems bis zur Erschütterung verschärft zu sehen. Deleuze scheint die absurdistische Überzeugung von Yoshimoto Takai, dass der Konsum eine neue Form des Widerstands darstellt, zu teilen oder ihr zumindest sehr nahe zu kommen.

Diese Art der Verleugnung der Totalität durch die radikale Strategie, sie dazu zu bringen, sich ihrer selbst zu entledigen, erinnert auch an den ohnmächtigen pm-Stil der gegensätzlichen Repräsentation: Bedeutungen dringen nicht zu einem Zentrum vor, sie repräsentieren nicht etwas, das außerhalb ihrer Reichweite liegt. „Denken ohne zu repräsentieren“, so beschreibt Charles Scott den Ansatz von Deleuze. Die Schizo-Politik zelebriert Oberflächen und Diskontinuitäten; die Nomadologie ist das Gegenteil von Geschichte.

Deleuze verkörpert auch das postmoderne Thema des „Todes des Subjekts“, in seinem und Guattaris bekanntestem Werk, Anti-Ödipus, und in der Folge. Die „Wunschmaschinen“, die durch die Kopplung menschlicher und nicht-menschlicher Teile ohne Unterscheidung zwischen ihnen entstehen, versuchen, den Menschen als Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie zu ersetzen. Der Illusion eines individuellen Subjekts in der Gesellschaft stellt Deleuze ein Subjekt entgegen, das nicht einmal mehr als anthropozentrisch erkennbar ist. Man kann sich trotz seiner vermeintlich radikalen Intention des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich der Entfremdung hingibt, ja sich in Entfremdung und Dekadenz suhlt.

In den frühen 70er Jahren legte Jean Baudrillard in seinem Le miroir de la production (Spiegel der Produktion) (1972) die bourgeoisen Grundlagen des Marxismus offen, insbesondere seine Verehrung von Produktion und Arbeit. Dieser Beitrag beschleunigte den Niedergang des Marxismus und der Kommunistischen Partei in Frankreich, die nach der reaktionären Rolle, die die Linke bei den Umwälzungen des Mai ’68 gespielt hatte, bereits in Schieflage geraten war. Seitdem ist Baudrillard jedoch zu einem Vertreter der dunkelsten Tendenzen der Postmoderne geworden und hat sich vor allem in Amerika zu einem Popstar für die Ultraverdrossenen entwickelt, der für seine völlig desillusionierten Ansichten über die heutige Welt berühmt ist. Abgesehen von der unglücklichen Resonanz zwischen der fast halluzinatorischen Morbidität Baudrillards und einer in Auflösung begriffenen Kultur ist es auch wahr, dass er (zusammen mit Lyotard) durch den Raum, den er nach dem Ableben relativ tiefgründiger Denker wie Barthes und Foucault in den 80er Jahren ausfüllen sollte, vergrößert worden ist.

Derridas dekonstruktive Beschreibung der Unmöglichkeit eines Referenten außerhalb der Repräsentation wird für Baudrillard zu einer negativen Metaphysik, in der die Realität durch den Kapitalismus in Simulationen verwandelt wird, die keinen Rückhalt haben. Die Kultur des Kapitals wird als über ihre Risse und Widersprüche hinausgehend betrachtet, bis hin zu einem Ort der Selbstgenügsamkeit, der sich wie eine eher science-fictionhafte Darstellung von Adornos total administrierter Gesellschaft liest. Und es kann keinen Widerstand, kein „Zurück“ geben, zum Teil deshalb, weil die Alternative jene Nostalgie nach dem Natürlichen, nach den Ursprüngen wäre, die von der Postmoderne so vehement ausgeschlossen wird.

„Das Reale ist das, wovon man eine gleichwertige Reproduktion geben kann. Die Natur ist so weit hinter sich gelassen worden, dass die Kultur die Materialität bestimmt, genauer gesagt, die mediale Simulation die Realität prägt.“ „Das Simulakrum (A.d.Ü., Scheinbild) ist niemals das, was die Wahrheit verbirgt – es ist die Wahrheit, die verbirgt, dass es keine gibt. Das Simulakrum ist wahr.“ Debords „Gesellschaft des Spektakels“ – aber in einem Stadium der Implosion des Selbst, des Handelns und der Geschichte in die Leere der Simulationen, so dass das Spektakel nur noch sich selbst dient.

Es liegt auf der Hand, dass in unserem „Informationszeitalter“ die elektronischen Medientechnologien immer dominanter geworden sind, aber die Übertreibung von Baudrillards dunkler Vision ist ebenso offensichtlich. Die Betonung der Macht der Bilder darf nicht die zugrundeliegenden materiellen Determinanten und Ziele, nämlich Profit und Expansion, verschleiern. Die Behauptung, dass die Macht der Medien heute bedeutet, dass das Reale nicht mehr existiert, ist mit seiner Behauptung verwandt, dass die Macht „nirgendwo mehr zu finden ist“; und beide Behauptungen sind falsch. Die berauschende Rhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die wesentlichen Informationen des Informationszeitalters mit den harten Realitäten von Effizienz, Buchhaltung, Produktivität und dergleichen befassen. Die Produktion ist nicht durch die Simulation ersetzt worden, es sei denn, man kann sagen, dass der Planet durch bloße Bilder verwüstet wird, was nicht heißen soll, dass eine fortschreitende Akzeptanz des Künstlichen die Erosion dessen, was vom Natürlichen übrig geblieben ist, nicht erheblich unterstützt.

Baudrillard behauptet, dass der Unterschied zwischen Realität und Repräsentation zusammengebrochen ist und uns in einer „Hyperrealität“ zurücklässt, die immer und nur ein Simulakrum ist. Seltsamerweise scheint er die Unvermeidbarkeit dieser Entwicklung nicht nur anzuerkennen, sondern sie sogar zu feiern. Das Kulturelle im weitesten Sinne hat ein qualitativ neues Stadium erreicht, in dem der eigentliche Bereich der Bedeutung und der Signifikation verschwunden ist. Wir leben im „Zeitalter der folgenlosen Ereignisse“, in dem das „Reale“ nur noch als formale Kategorie überlebt, und das, so meint er, wird begrüßt. „Warum sollten wir denken, dass die Menschen ihr tägliches Leben verleugnen wollen, um nach einer Alternative zu suchen? Im Gegenteil, sie wollen daraus ein Schicksal machen … die Monotonie durch eine noch größere Monotonie ratifizieren.“ Wenn es einen „Widerstand“ geben sollte, dann ist sein Rezept dafür ähnlich wie das von Deleuze, der die Gesellschaft zu mehr Schizophrenie anregen würde. Das heißt, er besteht ganz und gar in dem, was das System gewährt: „Ihr wollt, dass wir konsumieren – o.k., lasst uns immer mehr konsumieren, und zwar alles Mögliche; zu jedem sinnlosen und absurden Zweck.“ Das ist die radikale Strategie, die er „Hyperkonformität“ nennt.

An vielen Stellen lässt sich nur erahnen, auf welche Phänomene sich Baudrillards Übertreibung bezieht, wenn überhaupt. Die Bewegung der Konsumgesellschaft in Richtung Uniformität und Zerstreuung wird vielleicht an einer Stelle angedeutet… aber warum sollte man sich die Mühe machen, wenn die Behauptungen nur allzu oft kosmisch überhöht und lächerlich erscheinen. Dieser extremste Theoretiker der Postmoderne, der inzwischen selbst zu einem der meistverkauften Kulturgüter geworden ist, hat von der „unheilvollen Leere des gesamten Diskurses“ gesprochen, anscheinend ohne zu wissen, dass er damit auf seine eigene Leere verweist.

Japan mag nicht als „Hyperrealität“ gelten, aber es ist erwähnenswert, dass seine Kultur noch entfremdeter und postmoderner zu sein scheint als die der USA. Nach dem Urteil von Masao Miyoshi „sind die Auflösung und der Untergang der modernen Subjektivität, von denen Barthes, Foucault und viele andere sprechen, in Japan schon seit langem zu beobachten, wo die Intellektuellen chronisch über die Abwesenheit des Selbst beklagen“. Eine Flut von weitgehend spezialisierten Informationen, die von Experten aller Art bereitgestellt werden, unterstreicht das japanische High-Tech-Konsumethos, in dem die Unbestimmtheit der Bedeutung und eine hohe Wertschätzung der ständigen Neuheit Hand in Hand gehen. Yoshimoto Takai ist vielleicht der produktivste Kulturkritiker des Landes; irgendwie erscheint es vielen nicht seltsam, dass er auch ein männliches Fotomodell ist, das die Tugenden und Werte des Einkaufens preist.

Yasuo Tanakas äußerst populäres Somehow, Crystal (1980) war wohl das japanische Kulturphänomen der 80er Jahre, denn dieser leere, unverschämt konsumorientierte Roman, der von Markennamen nur so strotzt (ähnlich wie Bret Easton Ellis‘ American Psycho von 1991), dominierte das Jahrzehnt. Doch mehr noch als die Oberflächlichkeit ist es der Zynismus, der den vollen Anbruch der Postmoderne in Japan zu kennzeichnen scheint: Wie sonst ist es zu erklären, dass die prägnantesten Analysen von der pm – Now is the Meta-Mass Age, zum Beispiel – von der Parco Corporation, dem trendigsten Marketing- und Einzelhandelsunternehmen des Landes, veröffentlicht werden. Shigesatu Itoi ist ein Top-Medienstar mit einer eigenen Fernsehsendung, zahlreichen Veröffentlichungen und ständigen Auftritten in Zeitschriften. Die Grundlage für den Ruhm dieses Idols? Ganz einfach, weil er eine Reihe von hochmodernen (auffälligen, fragmentierten usw.) Werbespots für Seibu, Japans größte und innovativste Kaufhauskette, geschrieben hat. Wo der Kapitalismus in seiner fortschrittlichsten, postmodernen Form existiert, wird Wissen genauso konsumiert, wie man Kleidung kauft. „Bedeutung“ ist passé, irrelevant; Stil und Aussehen sind alles.

Wir sind schnell an einem traurigen und leeren Ort angelangt, den der Geist der Postmoderne nur zu gut verkörpert. „Niemals zuvor in einer Zivilisation schienen die großen metaphysischen Fragen, die grundlegenden Fragen nach dem Sein und dem Sinn des Lebens, so weit entfernt und sinnlos“, urteilt Frederic Jameson. Peter Sloterdijk stellt fest, dass „die Unzufriedenheit in der Kultur eine neue Qualität angenommen hat: Sie erscheint als universeller, diffuser Zynismus“. Die Erosion des Sinns, vorangetrieben durch verstärkte Verdinglichung und Fragmentierung, lässt den Zyniker überall auftauchen. Psychologisch „ein Borderline-Melancholiker“, ist er nun „eine Massenfigur“.

Die postmoderne Kapitulation vor Perspektivismus und Dekadenz neigt dazu, die Gegenwart nicht als entfremdet zu betrachten – sicherlich ein altmodisches Konzept -, sondern eher als normal und sogar angenehm. Robert Rauschenberg: „Leute, die Dinge wie Seifenschalen, Spiegel oder Colaflaschen hässlich finden, tun mir wirklich leid, denn sie sind den ganzen Tag von solchen Dingen umgeben, und das muss sie unglücklich machen.“ Nicht nur, dass „alles Kultur ist“, die Kultur der Ware, ist beleidigend; es ist auch die Bestätigung dessen, was ist, durch die Weigerung, qualitative Unterscheidungen und Urteile zu treffen. Wenn die Postmoderne uns zumindest den Gefallen tut, unbewusst die Zersetzung und sogar die Verderbtheit einer kulturellen Welt zu registrieren, die die gegenwärtige erschreckende Verarmung des Lebens begleitet und unterstützt, dann ist das vielleicht ihr einziger „Beitrag“.

Wir sind uns alle der Möglichkeit bewusst, dass wir bis zu ihrer und unserer Selbstzerstörung eine Welt ertragen müssen, die auf fatale Weise unscharf ist. „Offensichtlich löst sich die Kultur nicht auf, nur weil die Menschen entfremdet sind“, schrieb John Murphy und fügte hinzu: „Es muss jedoch eine seltsame Art von Gesellschaft erfunden werden, damit die Entfremdung als normativ angesehen wird.“

Wo bleiben unterdessen Vitalität, Verweigerung, die Möglichkeit, eine nicht verstümmelte Welt zu schaffen? Barthes proklamierte einen nietzscheanischen „Hedonismus des Diskurses“; Lyotard riet: „Lasst uns Heiden sein.“ Welch wilde Barbaren! Natürlich ist ihr wirkliches Material leer und entmutigt, eine durch und durch relativierte akademische Sterilität. Die Postmoderne lässt uns hoffnungslos in einem unendlichen Einkaufszentrum zurück, ohne lebendige Kritik, nirgendwo.


1A.d.Ü., auf Englisch bedeutet subject „Subjekt“ aber auch „Untertan“.

2A.d.Ü., Différance stammt aus dem französischen Verb différer, was gleichzeitig bedeutet was zu zurückstellen/verschrieben und auch anders sein. Es handelt sich hier um einen Neologismus von Derrida. Auf Französisch Unterschied ist différence.

3A.d.Ü., Phonozentrismus ist der Glaube, dass Laute und Sprache der geschriebenen Sprache von Natur aus überlegen oder primärer sind als sie.

4A.d.Ü., Die explication de texte, oft auch als explication française bezeichnet, ist eine Methode zur Analyse literarischer Texte.

5A.d.Ü., zur Ware werdend, Verdinglichung.

Alfredo M. Bonanno – Insurrektionalistischer Anarchismus

Alfredo M. Bonanno Insurrektionalistischer Anarchismus
– Einleitung von der Soligruppe für Gefangene – Einleitung zur zweiten Auflage – Einleitung zur zweiten spanischen Ausgabe des Sammelbandes meiner Schriften mit dem Titel: No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia – Ihr könnt uns nicht aufhalten. Der revolutionäre anarchistische Kampf in Italien – Einleitung zur ersten Auflage – Ausgeschlossene und Eingeschlossene – Veränderungen der Welt der Arbeit und der Schule a) Beziehungen zwischen Inflation und Beschäftigung b) Der neue Beruf: Flexibilität c) Die Welt der Schulbildung – Verlust der Sprache – Verlust der Kultur – Die gute Technologie – Die Sprache der Technik – Das „Ende“ der Krise – Affinität – Informelle Organisation – Das revolutionäre Projekt – Redaktionelle Anmerkungen
Einleitung von der Soligruppe für Gefangene, Oktober 2022 Diese Textsammlung, wenn auch mit ähnlichen Titel, ist nicht dieselbe wie die 2015 von Edition Irreversibel und Konterband veröffentlicht wurde, die den Namen Anarchismus und Aufstand, von Alfredo Maria Bonanno. Diese Textsammlung ist eine von einer Reihe von Texten die Alfredo M. Bonanno vor langer Zeit veröffentlichte, welche wir nun ins Deutsche übersetzt und selber veröffentlicht haben. Die Zusammenstellung und der Sinn dahinter stammt nicht aus unserer Hand, am Ende dieser Textsammlung stehen die Quellen. In kommender Zeit werden neben dieser Sammlung genauso Stück für Stück alle Teile des Buches Movimento e progetto rivoluzionario. Astensionismo elettorale anarchico veröffentlicht werden, von welchen wir schon ein paar übersetzt haben. Aus dieser Reihe haben wir Movimento fittizio e movimento reale und I limiti dell’anarcosindacalismo, genauso wie Critica del sindacalismo, Contro l´amnistia und Autogestione e anarchismo fertiggemacht und auch bald veröffentlichen. So werden wir peu à peu die Schriften von Alfredo übersetzten, veröffentlichten und verbreiten. Für jeden Text werden wir eine Einleitung veröffentlichen, genauso wie die Gründe warum wir dies Taten und welche unsere Absichten und Ideen dahinter sind. Bei diesem Text ist es eher ein skurriler Zufall, da wir der Meinung waren, dass sich Alfredo mit der Frage der nationalen Befreiungsbewegungen näher beschäftigen würde, welches er aber nicht tut, sofern er sie nur am Rande erwähnt. Dies bemerkten wir aber mit voller Gewissheit ganz zum Schluss. Wir sind auch der Meinung, dass diese Textreihe nicht wirklich mit dem übereinstimmt, was Alfredo selber zu seinen Einleitungen schreibt, zwar ist es für ihn als gewisser Sammelband für das bessere Verständnis des aufständischen Anarchismus zu verstehen, finden wir hier doch Texte vor, die eher eine Analyse der Situation, vor allem in Italien, in den 90ern sind. Dennoch beherbergt diese Textsammlung viele Fragen und Analysen, die im gegenwärtigen Zeitgeist und in der gegenwärtigen Situation, zu überprüfen sind, die als sehr aktuell und eloquent verstanden werden müssen. Alfredo analysiert nicht nur den modernen kapitalistischen Staat und die technologischen Entwicklungen des Kapitals, sondern auch deren Schwachstellen, ihre immanenten und inhärenten krisenhaften Imperative, sprich das Kapital ist Krise, es gerät nicht immer wieder in welche, sondern ist von diesen nicht zu trennen. Die genaueren Aspekte, die er entlang dieser Schrift hervorbringt, sollten von der gegenwärtigen realen revolutionären Bewegung überprüft werden, man sollte die Zeit, in der es geschrieben wurde, berücksichtigen und dennoch mitten in einer weltweiten ökonomischen Krise, die sich zuspitzt, das Kapital ist gerade mehr als gewohnt in die Schieflage geraten, was dieses stets charakterisiert, wo die destruktive Kraft des Kapitals das komplette Leben auf diesem Planeten zu zerstören droht, ist diese Schrift ein wichtiger Vorschlag für alle Anarchisten, Anarchistinnen und sämtlichen Revolutionären zu verstehen, die der Herrschaft des Kapitalismus ein Ende setzen werden. Wir könnten noch vieles mehr zu dieser Textsammlung sagen, aber dies würde das qualvolle Lesen dieser erleichtern. Wir haben uns, wie bei allen Übersetzungen, uns viel Mühe gegeben, was nicht ausschließt, dass uns einige Fehler unterlaufen sind, sollte dies irgendwem auffallen, bitte meldet euch bei uns. Trotzdem bedanken wir uns an dieser Stelle bei dem Gefährten der uns mit der Korrektur aus dem Italienischen geholfen hat nochmals. Einleitung zur zweiten Auflage Hinter jedem Aspekt der anarchistisch insurrektionalistischen1 Theorie steht ein Projekt, ich sage nicht, ein erstickter Rahmen, der in allen seinen Teilen vollständig ist, sondern ein Projekt, das hinreichend erkennbar ist, weit über diese Seiten und die vielen anderen hinaus, die ich in meinem Leben zu diesem gequälten Thema geschrieben habe. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, kann eine analytische Klärung nicht viel ausrichten, sondern läuft Gefahr, das zu bleiben, was sie ist: eine Ansammlung von Worten, die vorgeben, der Realität entgegenzuwirken, ein unangemessen idealistischer Anspruch. Die verlockenden Sukkulenten der klassischen deutschen Philosophie, mit ihren verführerischen Stacheln, haben schon viel Schaden angerichtet, ich hoffe, sie sind nicht noch mehr Spiegel für naive revolutionäre Lerchen. Das soll nicht heißen, dass man das Problem der Methode ohne weiteres angehen kann, ohne zu berücksichtigen, was in allen Soßen gesagt worden ist, sogar von der klassischen deutschen Philosophie selbst, das wäre Naivität. In dieser Perspektive gibt es keine Abkürzungen oder bevorzugten Rezepte, sondern nur die harte revolutionäre Arbeit, das Studium und die Aktion. Die Ausrutscher, die ich in den letzten Jahren bei so vielen mehr oder weniger kantigen Zerstörern gesehen habe, trösten mich in dieser Starrheit der Absichten. Es wäre sinnlos, die eigene Radikalität für extrem zu halten, wenn man dann nur die Hand versteckt, ohne den Stein zu werfen. Dies ist kein Wettlauf um das aussagekräftigste Bild, um den Zauberspiegel, der sich mit schillernden Farben füllt und vier Sonntagsgedanken aus Perugina-Küssen kostbar garniert. Dieses Büchlein veranschaulicht eine Methode, die anarchische und insurrektionalistische Methode, aber sie spricht von einer Erfahrung, nicht von Theorien, die sich mehr oder weniger widersprechen oder sogar vertragen. Eine Erfahrung, die sich im Laufe der Zeit fortsetzt und sich sozusagen vor Ort, in der konkreten Aktion, ablagert, die ihre Form und ihren literarischen Ausdruck fast zufällig in Artikeln, Berichten, Flugblättern oder anderen, sporadisch den Erfordernissen des Augenblicks anvertrauten Texten findet. Anstatt darin ein Element der Dissoziation2 zu sehen, sehe ich darin, wie ich es immer gesehen habe, eine besondere Bewegung, ein charakteristisches Zusammentreffen von Ideen und Aktionen, so dass von den letzteren ein besonderes Licht auf die ersteren fällt und umgekehrt, ohne Lösung der Kontinuität. Viele, vom Innenminister abwärts, bis hin zum letzten Fan der Phantasie, haben darin eine unverdauliche Mischung aus kraftvollem, reifem Denken und alberner, kindischer Phantasie gesehen. Was kümmert mich das? Ich verfüge über eine ausreichend dicke Haut, um zu erkennen, dass es gleichermaßen weh tut, wenn die Kritik von einem Carabinieri kommt, der davon träumt, mir möglichst viele Jahre Gefängnis zu verpassen, und wenn sie in das Lob eines Schwachsinnigen oder in das literarische Geschwafel eines Esels getarnt, ich würde fast sagen, verpackt ist. Jede Methode beruht auf der Realität, sonst ist sie keine Methode und kann auch kein Projekt beleben, sie ist nur eine Bewegung nervöser und unermüdlicher Beine, ein Spaziergang im Märchenwald, ein Enträtseln von Sphinx-Rätseln, ein Lösen von Problemen der Darstellenden Geometrie, die nur für Kinder schwierig sind. Das Leben ist eine zu harte Lektion, um sie zu akzeptieren, selbst als Mitreisende, als schwindelnde Parasiten, die gerne über ihre Eindrücke und ihre Sehnsucht nach Freiheit sprechen. Ein schweres Wort, sehr schwer. Die Versuchung, frei zu sein, ist ungeheuerlich, man müsste sich die Brust aufreißen. Schon das Wort Freiheit ist ein Skandal, dass man es sagen kann, ohne rot zu werden, ist ein Skandal. Dass ich darauf bestehe, dieses Wort auszusprechen, ohne mich den Konsequenzen zu stellen, die das Wesen dessen, was dieses Wort impliziert und mir vor Augen führt, mit sich bringt, ist ebenso skandalös. Freiheit kann man ja nicht sagen, also ist dieses Wort Freiheit trügerisch und täuscht mich, sobald ich es ausspreche. Es wird zwar gesagt, aber es ist ein grundlegender Zusatz erforderlich, um mich selbst in Gefahr zu bringen. Diese Hinzufügung gibt dem Wort eine neue Bedeutung, unterbricht es und legt es kritisch bloß, durchschneidet die vielen bedeutungsvollen Brücken mit einem beharrlichen Geplapper, das von Laien in der Stimmung der Verrücktheit genährt wird, und entblößt es, indem es die Möglichkeit der Verwirklichung an die Oberfläche bringt. Verwirklichung der Freiheit um jeden Preis. In dieser fragenden Phase gibt es einen Mechanismus, der in seinen Details noch verfolgbar ist, das Wort schwingt noch in der kritischen Geste mit, die sich mit dem bereits Gesagten auseinandersetzt, aber es ist nicht nur dies. Die tiefe Bedeutung dieses Wortes liegt gerade darin, dass man sich offen der eigenen Wahrheit stellen kann, ohne dass irgendetwas als Schutzschild dient, hinter dem man die Schläge abfedern kann. Der Mechanismus, von dem ich spreche, die revolutionäre Methode, kann nicht darauf abzielen, die Ergebnisse zu beruhigen – in diesem Fall wäre es eine wirklich positive Kritik, die philosophisch darauf ausgerichtet ist, zu bewahren und nicht zu zerstören -, sondern er ist darauf ausgerichtet, weiter zu beunruhigen, ein letztes Mal vor der Beteiligung zu zerreißen, nicht nur mir, sondern allen eine mögliche Schlussfolgerung zugänglich zu machen, die sich gerade durch die Anwendung der Methode und die Übernahme revolutionärer Verantwortung bietet. Die außergewöhnliche neue Kondition/Bedingung, die ich auf diese Weise erahnen kann, ist die insurrektionalistische Methode, ein endloser Abgrund, von dem die wenigen angedeuteten Spuren, die ich als bereits geschehen ansehe, nur ein entferntes und blasses Bild sind. Der Abstand zwischen dem Denken und der Aktion kann manchmal viel kürzer werden, und dann ist es der richtige Moment, um zuzuschlagen. Triest, 20. Oktober 2007 Alfredo M. Bonanno   Einleitung zur zweiten spanischen Auflage des Sammelbandes meiner Schriften mit dem Titel: No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia3 Die Gefährten und Gefährtinnen, die die erste Auflage von No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia veröffentlicht haben, teilten mir mit, dass sie in die zweite Auflage eine Einleitung von mir einfügen möchten. Ich teile dieses Bedürfnis, weil die Auswahl der veröffentlichten Schriften das Vorhandensein von etwas Gemeinsamen, das Vorhandensein eines sowohl insurrektionellen als auch anarchistischen Projekts, vermuten lässt. Der Text: El proyeto revolucionario, der in dem Buch enthalten ist, umfasst El trabajo del revolucionario, aus dem Jahr 1988, Afinidad y organización informal, aus dem Jahr 1985, Organización de sintesis y organización informal, ebenfalls aus dem Jahr 1985, Autonomia del individuo und ein Teil meines Buches Autogestione e anarchismo, aus dem Jahr 19774. In diesen Schriften spreche ich das Problem des revolutionären Projekts an, aber viele Aspekte davon werden nicht vertieft, zumindest auf der Grundlage der Überlegungen, die ich in den letzten Jahren anstellen konnte. Viele Gefährten und Gefährtinnen haben die Anwesenheit dieses revolutionären Projekts in meinen Analysen hervorgehoben und wie es seit dem Kampf in Comiso gegen den im Bau befindlichen amerikanischen Stützpunkt in den Jahren 1982-1983 immer detaillierter und dringlicher in Form von Schriften und Aktionen geworden ist. Doch das Konzept des Insurrektionalismus selbst, der mögliche Traum eines insurrektionelen Anarchismus, der in der Lage ist, die Macht anzugreifen, indem er nicht nur die Herzen, sondern auch die Körper der Menschen bewegt, die methodologischen korrekten Konzepte der Affinität, der informellen Organisation, der Basiskerne, der Eingeschlossenen und der Ausgeschlossenen usw., machen das Projekt nicht deutlich. Was meine ich mit Projekt? Nicht nur eine bestimmte Menge mehr oder weniger umfangreicher, mehr oder weniger interessanter Analysen, Pamphlete, Bücher, Zeitungen, ja nicht einmal eine Reihe konkreter Aktionen, vom Kampf in Comiso bis zu den gegenwärtigen Kämpfen gegen den Bau von Hochgeschwindigkeitszügen. Mein Projekt lebt in meinem Herzen und ernährt sich von meinem Leben. Ich möchte mich bei dieser einleitenden Gelegenheit bemühen, etwas mehr zu sagen. Zunächst einmal, was es nicht ist, um so die Bedenken derjenigen zu zerstreuen, die mir oft vorgeworfen haben, ich sei zu sehr auf organisatorische Details fixiert. Das Projekt ist kein Fundament. Aber wenn es kein Fundament gibt, d.h. wenn es sich nicht auf eine stereotype Form reduzieren lässt – und die Staatsrechtslehre der Macht alles tut, um diese Form den Polizisten und Richtern zur Verfügung zu stellen – was ist es dann? Ich denke, es ist eine Vorwegnahme von etwas, das später kommen kann, von einer Verwirklichung, die immer in der Schwebe hängt und nie vollständig verwirklicht wird, von einer Konkretheit, die vor mir und vor Tausenden von Gefährtinnen und Gefährten atmet, einer Konkretheit, die von Fakten genährt wird, die aber in denselben Fakten nicht abgeschlossen ist. Das Projekt ist in den vielen Strömen, in denen es weiter pulsiert, ein Verweis auf die Zukunft. Es spricht von etwas, das heute zu tun ist, aber auf eine mögliche zukünftige Verwirklichung projiziert wird. Das Projekt beinhaltet also eine mögliche Bedingung, die in der Zukunft verwirklicht werden wird, an die ich glaube und für die ich bereit bin zu kämpfen. Ich spreche hier von einer Idee, artikuliert und wunderbar, komplex und schwer zu verstehen, ich spreche von Anarchie. Und ich spreche von einem Wert, der für mich hier ist, in meinem Herzen, als Vorgriff auf die Zukunft, auf die Zukunft, an die ich glaube, und nicht als literarische Übung. Der Wert, den das Projekt für mich hat, ist ein gegenwärtiger Wert, der mein Leben lenkt, der mich dazu bringt, jetzt Entscheidungen zu treffen und zu handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen durchzuführen), und nicht ein bloßer Zeithorizont, auf den ich zusteuere, und sei es nur aus der einfachen Tatsache heraus, dass ich lebe und mich dem Tod nähere. Es gibt kein Projekt ohne einen Glauben an die Zukunft, genauso wie es keine Zukunft ohne ein mehr oder weniger detailliertes Projekt gibt. Ich erinnere mich daran, dass die Parole der schwarzen Insurrektion in Los Angeles vor etwa fünfzehn Jahren „No future“ lautete, und dies markierte die Grenze dieser Revolte, es war in gewisser Weise sein eigener Grabgesang. Wenn ich ein Projekt habe, kann ich die Starrheit der Gegenwart, die stumpfe Bösartigkeit bestimmter Machtverhältnisse, das passive Hohngelächter der Macht, die nur auf einen Fehler von mir wartet, um mich zu zerstören, durchbrechen, mit meinem Projekt bin ich direkt in der Zukunft, ich akzeptiere nicht mehr die Unterordnung unter die Gegenwart, deshalb bin ich kaum kontrollierbar. Die Zukunft, meine Zukunft, aber auch die der Gesellschaft als Ganzes, ist nicht nur möglich, sondern auch realisierbar, und diese Möglichkeit der Verwirklichung ist mit meiner Erfahrung und der Erfahrung, die die Welt und die Gesellschaft sammeln, verflochten. Ein Projekt zu haben und für seine mögliche Verwirklichung zu agieren, bedeutet nicht nur zu träumen, sondern auch zu agieren, also Aktionen auf der Grundlage dessen, was ich bin, und auf der Grundlage dessen, was die Gesellschaft ist, auf der historischen Grundlage, die mich begleitet und die uns alle begleitet, zu realisieren. In die Zukunft projiziert zu leben bedeutet nicht, die eigene Geschichte und die Geschichte, in die die Gesellschaft eingebettet ist, zu vergessen, sondern sie kennenzulernen, indem man die vielen Unterschiede begreift, nicht nur die individuellen, sondern auch die kontinentalen, nationalen, regionalen, bis hin zu den einzelnen Gemeinschaften, den kleinsten. Ich denke, dass das Projekt, an dem ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe, etwas ist, das ständig im Entstehen begriffen ist, aber noch nicht in der einen oder anderen Realisierung zu erkennen ist. Deshalb bleibe ich ungerührt von der Kritik, die immer wieder an Anarchistinnen und Anarchisten geübt wird, wonach sie bei all ihrer harten Arbeit, ihren Aktionen und Theorien immer mit der Faust im Sack dastehen. Die Schönheit der Anarchie liegt gerade darin, dass sie sich der Geschichte entzieht und ihren festen Platz in der Zukunft hat. Diese Idee widerspricht jeder Logik der Entschlossenheit, jedem dialektischen Mechanismus, mehr oder weniger revidiert und modifiziert, jedem Anspruch, die Geschichte als Lehrmeister des gelebten Lebens zu sehen. Aber das Projekt ist, wie gesagt, kein Traum, der die unglaublichsten und absurdesten Formen annehmen kann, es ist ein Traum der besonderen Art, ein Tagtraum. Das Projekt, das sich an eine zukünftige Möglichkeit wendet, trägt die historische Notwendigkeit in sich, die es lebendig und funktionsfähig macht, die es dem möglichen Schicksal einer bloßen literarischen Flüchtigkeit entzieht. Sie ist in der Möglichkeit der Zukunft verwurzelt, aber in ihrem Inneren wird sie von den Koordinaten der Geschichte genährt, sie ist Geschichte, deshalb reagiert sie auf bestimmte Prinzipien, sie kann nicht ohne sie auskommen. Obwohl sie nicht deterministisch denkbar ist, bestimmt sie in ihrer Verwirklichung die vor ihr liegende Wirklichkeit. Der Insurrektionalismus entstand als Projekt aus dem begrenzten Traum der „grand soire“, aus der Revolution als spontanem und unvorhersehbarem Ereignis, aus dem vagen Millenarismus, der spätestens seit der Pariser Kommune weit verbreitet war. Der insurrektionalistische Anarchismus ist ein revolutionäres Projekt, das sich in die Zukunft projiziert, aber er hat seine Grundlage in der Geschichte und im Erbe der Kämpfe, die die Ausgebeuteten in der ganzen Welt angehäuft haben. Dieses Erbe macht die Möglichkeit der Zukunft lesbar. Wäre das insurrektionalistische Projekt nicht anarchistisch, würde es vor den tragischen Farcen enden, die von so vielen autoritären Revolutionen auf der ganzen Welt gespielt wurden und weiterhin gespielt werden. Nur das anarchistische Projekt der organisierten Revolte bietet eine positive Möglichkeit, die Idee der sozialen Revolution mit Leben zu füllen und aktiv zu gestalten, ohne sich in kleinliche Projekte zurückzuziehen, die oberflächlich betrachtet scheinbar bessere Aussichten bieten können. Der anarchistische Insurrektionalismus als ein Projekt und als eine Aktion, die nie ganz abgeschlossen ist, weil sie sich ständig an die Zukunft wendet, kann sein und kann auch nicht sein, er muss nicht sein, so wie die Anarchie nicht notwendigerweise ein Merkmal der Zukunft ist, es ist keineswegs sicher, dass die Welt auf die Anarchie zusteuert, wie die kropotkinschen Deterministen im 19. Jahrhundert glaubten. Bedeutet diese Macht nicht auch das mögliche Scheitern des insurrektionalistischen Projekts? Nein. Der Indeterminismus5 ist eines der logischen Merkmale der Möglichkeit, die Tatsache, dass ein Projekt nicht verwirklicht wird, weder hier und jetzt noch dort und dann, beweist nicht die Unzuverlässigkeit des Projekts selbst. Und wenn es das Projekt selbst ist, das unvollständig und unvollendbar ist, gibt es keinen Zweifel an seiner Gültigkeit, die niemals durch dieses oder jenes Scheitern zerstört werden kann. Das revolutionäre Agieren ist diese Unvollständigkeit, es sei denn, man modifiziert das Projekt und reduziert die Revolution auf einen einfachen Wechsel des Herrschers/Chefs. Diese wenigen Anmerkungen sollen verdeutlichen, dass das insurrektionalistische Projekt weder ein mehr oder weniger literarisch abgestimmtes Regelwerk ist, noch eine einfache Handlungsperspektive, wie man sie in Guerilla-Handbüchern findet. Träume sind oft viel komplexer als die Realität. Triest, 6. Januar 2007 Alfredo M. Bonanno   Einleitung zur ersten Auflage Ein unangenehmer Widerspruch lauert unaufgelöst in diesem Buch und droht, der Leserschaft die Arbeit zu erschweren. Ich sage gleich, dass diese einleitenden Zeilen überhaupt nicht hilfreich sein werden. Gleichzeitig sind sie aber auch für streng logische Zwecke unverzichtbar. Die hier vertretene These ist das Ergebnis eines langen Weges des Ringens und Nachdenkens. Es handelt sich um eine schwierige und komplexe These, die nicht nur schwer darzulegen ist – was vielleicht ein Manko des Autors ist -, sondern auch ein für alle Mal in einige klare Elemente zu fassen ist. Hier liegt der Widerspruch: das ganze Buch, das zu verschiedenen Zeiten über mehr oder weniger fünfzehn Jahre hinweg entstanden ist, spürt die Dringlichkeit und die Leidenschaft des Augenblicks, diese Einleitung, die kalt ist, tut es nicht. Hier habe ich die anatomische Absicht, die mit meinem ganzen Selbst kämpft, die grundlegenden Elemente des insurrektionalistischen Anarchismus aufzudecken. Wird das möglich sein? Ich weiß es nicht. Ich versuche es. Sollte die Lektüre dieser einleitenden Notizen das legitime Bedürfnis der Leserin oder des Lesers nach frischer Luft zu sehr bedrohen, dann lasst sie oder ihn das überspringen und tschüss. Die Insurrektion der großen Massen oder eines ganzen Volkes zu einem bestimmten Zeitpunkt setzt bestimmte bereits vorhandene Elemente voraus, setzt zerrüttete soziale und ökonomische Verhältnisse voraus, wenn nicht gar eine Situation extremer Unfähigkeit des Staates, die Ordnung und die Einhaltung der Gesetze aufrechtzuerhalten, aber er setzt auch Individuen und Gruppen von Individuen voraus, die in der Lage sind, diese Zerrüttung jenseits der äußeren Zeichen, mit denen sie sich manifestiert, zu begreifen. Mit anderen Worten, man muss von Zeit zu Zeit in der Lage sein, über die oft zufälligen und sekundären Motivationen, die die ersten insurrektionellen Feuer, die ersten Zusammenstöße, die ersten Warnungen begleiten, hinauszusehen, um seinen eigenen Beitrag zum Kampf zu leisten und ihn nicht im Gegenteil als einfache und zersetzte Ungeduld mit der politischen Herrschaft an der Macht zu bremsen oder zu unterschätzen. Doch wer sind die Personen, die bereit sind, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen? Es könnten die Anarchistinnen und Anarchisten sein, nicht wegen ihrer grundlegenden ideologischen Entscheidung, ihrer erklärten Ablehnung jeglicher Autorität, sondern wegen der kritischen Fähigkeit, die sie haben sollten, um Kampfmethoden und Organisationsprojekte zu bewerten. Außerdem können nur diejenigen, die rebellieren, die bereits rebelliert haben, wenn auch im Mikrokosmos ihres eigenen Lebens, die mit den Folgen dieser Rebellion konfrontiert waren und sie in vollen Zügen gelebt haben, die sensiblen Nerven und die nötige Intuition haben, um die Zeichen der sich anbahnenden insurrektionalistischen Bewegung zu erkennen. Nicht alle Anarchistinnen und Anarchisten sind Rebellen, und nicht alle Rebellen sind Anarchistinnen und Anarchisten. Erschwerend kommt hinzu, dass es nicht genügt, ein Rebell zu sein, um die Rebellion der anderen zu verstehen, sondern dass man auch bereit sein muss, zu verstehen, sich in die ökonomischen und sozialen Verhältnisse, mit denen man konfrontiert ist, zu vertiefen und sich nicht von der Flut der lautstarken Demonstrationen der populären Bewegung mitreißen zu lassen, selbst wenn diese mit dem Wind in den Segeln läuft und die ersten Erfolge die Fahnen der Illusion hochhalten. Kritik ist immer das erste Mittel, der Ausgangspunkt, aber es muss eine partizipatorische Kritik sein, eine Kritik, die das Herz mit einbezieht, die die Emotionen des tatsächlichen Kampfes gegen die Feinde aller Zeiten zum Klingen bringt, deren Gesichter zum ersten Mal im Staub aufgedeckt werden, und nicht eine mürrische Bewertung des Für und Wider. Aber ein Rebell ist nicht genug, selbst wenn sich hundert Rebellen zusammentun, werden sie hundert Moleküle sein, die in der zerstörerischen Agonie der ersten Stunden verrückt werden, wenn der Kampf heftig lodert und alles hinwegfegt. Wichtige Figuren, die als Beispiel und Ansporn dienen, sind die Rebellen, die sich den Bedürfnissen des Augenblicks beugen. Je mehr ihr Gewissen sie zu dem oft blinden, aber wirksamen und radikalen Angriff veranlasst, desto mehr erkennen sie selbst eine unüberwindbare Grenze, sie sehen keinen organisatorischen Ausweg, sie warten auf Vorschläge, die von den aufbegehrenden Massen kommen, ein Wort hier, ein Wort dort, im Herzen des Kampfes, in den Momenten der Pause, wenn alle reden wollen, während sie darauf warten, den Kampf wieder aufzunehmen. Und sie sind sich nicht bewusst, dass selbst in diesen erheiternden Momenten immer auch Politiker lauern. Die Massen haben also nicht die Tugenden, die wir ihnen oft zuschreiben. Die Vollversammlung ist sicherlich kein Ort, an dem man sein Leben aufs Spiel setzt, aber das eigene Leben wird durch die Entscheidungen, die in der Vollversammlung getroffen werden, aufs Spiel gesetzt. Und die politischen Tiere, die in diesen kollektiven Momenten ihre Häupter erheben, haben immer eine klare Vorstellung davon, was sie vorschlagen wollen, sie haben ein schönes Programm der Rekuperation6, der Rückkehr zur Normalität, des Aufrufs zur Ordnung in der Tasche. Natürlich werden sie nichts sagen, was nicht politisch korrekt ist, und so werden sie für Revolutionäre gehalten, aber sie sind es doch, die politischen Tiere aller Zeiten, die den Grundstein für den Wiederaufbau der zukünftigen Macht legen, die den revolutionären Schwung rekuperieren7 wird, indem sie ihn in mildere Bahnen lenkt. Lasst uns die Zerstörung begrenzen, Gefährten und Gefährtinnen, bitte, schließlich ist es das, was uns gehört, was wir zerstören. Vor anderen zu schießen und schneller zu sein, ist eine Wildwest-Tugend, die für einen Tag gut ist, danach muss man wissen, wie man seinen Kopf benutzt, und seinen Kopf zu benutzen bedeutet, einen Plan zu haben. Und der Anarchist/Anarchistin kann nicht einfach ein Rebell sein, er muss ein Rebell mit einem Projekt sein. Das heißt, er muss sein Herz und seinen Mut mit dem Wissen und der Voraussicht der Aktion vereinen. Seine Entscheidungen werden daher immer vom Feuer der Zerstörung entzündet, aber durch das Holz der kritischen Analyse genährt werden. Wenn wir einen Moment darüber nachdenken, gibt es kein Projekt, das spontan, wie man so schön sagt, mitten im Getümmel geboren werden kann. Es wäre töricht zu glauben, dass alles vom aufständischen Volk kommen muss, ein blinder Determinismus, der uns geknebelt in die Hände des ersten Politikers zu liefern droht, der auf einen Stuhl klettert und in der Lage ist, ein paar organisatorische und programmatische Linien anzudeuten, indem er mit vier rhetorisch aneinandergereihten Worten Rauch in die Augen wirft. Auch wenn die Insurrektion in erster Linie ein revolutionärer Moment großer kollektiver Kreativität ist, ein Moment, der analytische Anregungen von beträchtlicher Intensität liefern kann (man denke an die aufständischen Arbeiter der Pariser Kommune, die auf die Uhren schossen), kann er nicht die einzige Quelle theoretischer und planerischer (A.d.Ü. bezogen auf die Projektualität) Erkenntnisse sein. Die höchsten Momente des bewaffneten Volkes beseitigen zwar präventive Verzögerungen und Ungewissheiten, sie machen deutlich, was vorher verschwommen war, aber sie können nicht etwas beleuchten, das nicht da ist. Diese Momente sind der starke Scheinwerfer, der ein revolutionäres und anarchistisches Projekt realisierbar macht, aber dieses Projekt, auch in seinen methodologischen Umrissen, muss vorher existiert haben, muss vorher ausgearbeitet worden sein, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, und, soweit möglich, experimentiert worden sein. Wenn wir andererseits in Massenkämpfe, in Auseinandersetzungen um Zwischenforderungen eingreifen, tun wir das dann nicht fast ausschließlich, um unser methodologisches Erbe anzudeuten? Dass Fabrikarbeiter Arbeit fordern und versuchen, Entlassungen zu vermeiden, dass eine Gruppe von Obdachlosen versucht, eine Unterkunft zu bekommen, dass Gefangene für ein besseres Leben in Strafanstalten streiken, dass Schüler gegen eine Schule ohne Kultur rebellieren, all das interessiert uns bis zu einem gewissen Punkt. Wenn wir uns als Anarchistinnen und Anarchisten an diesen Kämpfen beteiligen, wissen wir sehr wohl, dass die quantitative Antwort, d.h. das Wachstum unserer Bewegung, sehr relativ ist, egal wie sie ausfällt. Oft vergessen die Ausgeschlossenen auch, wer wir sind, und es gibt keinen Grund, sich an uns zu erinnern, geschweige denn einen Grund, der auf Dankbarkeit beruht. In der Tat haben wir uns immer wieder gefragt, was wir als Anarchistinnen und Anarchisten und damit als Revolutionärinnen und Revolutionäre inmitten dieser rachsüchtigen Kämpfe tun, wir, die wir gegen die Arbeit, gegen die Schule, gegen jedes staatliche Zugeständnis, gegen das Eigentum und sogar gegen jede Art von Abmachungen sind, die gnädigerweise ein besseres Leben im Gefängnis ermöglichen. Die Antwort ist einfach. Wir sind dort, weil wir eine andere Methode haben. Und unsere Methode hat die Form eines Projekts. Wir sind an der Seite der Ausgeschlossenen, in diesen intermediären Kämpfen, weil wir ein anderes Modell vorschlagen, eines, das auf der Selbstorganisation der Kämpfe, auf dem Angriff, auf der permanenten Konfliktualität beruht. Das ist unsere Stärke, und nur für den Fall, dass die Ausgeschlossenen diese Angriffsmethode akzeptieren, sind wir bereit, an ihrer Seite zu kämpfen, selbst für ein Ziel, das an sich nur auf der Grundlage einer Forderung basiert (A.d.Ü., somit diese auch nicht verlässt). Eine Methode bliebe in jedem Fall ein toter Buchstabe, ein Sammelsurium bedeutungsloser Worte, wenn sie sich nicht in einem Projekt artikuliert, einem Projekt, das in der Lage ist, dem spezifischen Problem, mit dem die Ausgeschlossenen konfrontiert sind, Substanz zu verleihen. So viele ängstliche Kritiker des anarchistischen Insurrektionalismus wären zu ihrem unterbrochenen Schlaf zurückgekehrt, wenn sie diesem Aspekt Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Was nützt es uns, wenn wir uns vorwerfen, dass wir auf hundert Jahre alten methodologischen Forderungen beharren, wenn das, was wir sagen, nicht beachtet wird? Der Insurrektionalismus, von dem wir sprechen, ist etwas anderes als die glorreichen Tage auf den Barrikaden, auch wenn er in bestimmten Momenten die geeignetsten Anregungen für einen Kampf bieten kann, der auf einen Zusammenstoß auf den Barrikaden ausgerichtet ist. Nur, dass er an sich, als revolutionäre Theorie und Analyse, als Methode, die in einem Projekt verkörpert ist, diesem apokalyptischen Moment nicht unbedingt Rechnung trägt, sondern sich unabhängig von Fahnenschwingen und Gewehrsalven entwickelt und vertieft. Viele Gefährten und Gefährtinnen sind sich der Notwendigkeit des Angriffs voll bewusst und bemühen sich nach Kräften, ihn zu realisieren. Sie erkennen verwirrt die Schönheit des Kampfes und der Konfrontation mit dem Klassenfeind, aber sie wollen sich nicht einem Mindestmaß an kritischer Reflexion unterziehen, sie wollen nichts von revolutionären Projekten hören, und so vergeuden sie weiterhin den Enthusiasmus ihrer Rebellion, der sich in tausend Rinnsale ergießt und schließlich in kleinen und uneinheitlichen Manifestationen der Intoleranz erlischt. Es gibt natürlich keine einheitliche Typologie dieser Gefährten und Gefährtinnen und man kann sagen, dass jeder von ihnen ein Universum für sich darstellt, aber sie alle, oder fast alle, haben ihre Verärgerung über jeden Diskurs, der methodologische Klarstellungen beinhaltet, gemeinsam. Unterscheidungen stören sie. Was nützt es mir, wenn ich von Affinitätsgruppen, von informeller Organisation, von Basiskernen, von Koordination spreche? Ist nicht alles klar, der Missbrauch und die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung und die Grausamkeit der Macht stehen vor uns, deutlich sichtbar, sind sie nicht in den Menschen und Dingen verwirklicht, die in der Sonne liegen, als ob nichts sie stören könnte? Welchen Sinn ergeben Diskussionen, für die noch Zeit zu finden ist? Warum nicht sofort, hier und jetzt, angreifen, ja, warum nicht gleich die erste Uniform angreifen, die zur Hand ist? Schließlich war sogar ein „vernünftiger“ Mensch wie Malatesta in gewisser Weise dieser Meinung, als er sagte, dass er die individuelle Rebellion dem Abwarten vorzog, bis die Welt auf den Kopf gestellt wurde, um zu agieren. Ich persönlich habe nie etwas dagegen gehabt, ganz im Gegenteil. Die Rebellion ist der erste Schritt, die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Brücken hinter uns abgebrochen werden, dass die Verbindungen, die uns mit tausend starken Fäden an die Gesellschaft und die Macht binden, wenn nicht gekappt, so doch zumindest geschwächt werden, die Verbindungen mit der Familie, mit der herrschenden Moral, mit der Arbeit, mit dem Gehorsam gegenüber Gesetzen. Ich glaube aber, dass dieser Schritt nicht ausreicht. Ich glaube, wir müssen weiter gehen, über die Möglichkeiten nachdenken, unserer Aktion eine größere organisatorische Kraft zu verleihen, so dass die Rebellion in eine projektuale Intervention in Richtung einer verallgemeinerten Insurrektion umgewandelt wird, so dass wir von der individuellen Insurrektion, dem ersten und notwendigen Schritt, weitergehen. Dass dieser zweite Moment für viele Gefährten und Gefährtinnen nicht sympathisch ist, ist eine ganz klare Tatsache. Da sie sich von allen Bemühungen in dieser Richtung entfremdet fühlen, gehen sie dazu über, das Problem zu unterschätzen oder, was noch schlimmer ist, alle anderen Gefährten und Gefährtinnen zu verachten, die dem organisatorischen Problem Aufmerksamkeit und Mühe widmen. Dieses Buch versucht, einige wesentliche Elemente für eine eingehende Betrachtung des organisatorischen Aspekts des insurrektionalistischen Anarchismus zu liefern. Insbesondere geht es um die Probleme der Affinität und damit der Affinitätsgruppen, der Informalität und damit der informellen Organisation, der Selbstorganisation der Kämpfe und damit der Basiskerne und der Koordinierung zwischen diesen von Anarchisten und Nicht-Anarchisten gebildeten Kernen (A.d.Ü. nuclei8) mit den von Anarchisten gebildeten Affinitätsgruppen mittels der informellen Organisation. Wie wir sehen, hat das Thema recht schwierige methodologische Merkmale, die die Verfügbarkeit bestimmter Konzepte erfordern, die oft aufgrund ihrer allgemeinen Bedeutung, die nicht immer mit der Bedeutung übereinstimmt, die sie im Kontext einer insurrektionalistischen Organisationstheorie annehmen, falsch dargestellt werden, und die vor allem ein wenig kritische Aufmerksamkeit erfordern, das heißt, dass wir uns von den Vorurteilen befreien, die manchmal unsere Sichtweise einschränken, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Diese Einleitung wird auf den folgenden Seiten eher schematisch auf diese Konzepte eingehen, der Text wird deutlicher, aber vielleicht auch schwieriger zu verstehen sein, wenn man diese Schlüsselkonzepte nicht vorher verstanden hat. Eine anarchistische Gruppe kann sogar unter völlig Fremden gebildet werden. Es ist mir schon oft passiert, dass ich in Italien und anderen Ländern die Räume von anarchistischen Gruppen betreten habe und fast niemanden kannte. Die bloße Anwesenheit an einem bestimmten Ort, die Haltung, die Art zu sprechen und sich zu verhalten, die Diskussion, die persönlichen Äußerungen, die mehr oder weniger von den grundlegenden ideologischen Entscheidungen des orthodoxsten Anarchismus durchdrungen sind, führen dazu, dass ein Anarchist in kurzer Zeit das Gefühl hat, mit den anwesenden Gefährten in bester Weise und zur gegenseitigen Zufriedenheit zu kommunizieren. Es ist nicht meine Absicht, hier über die Art und Weise zu sprechen, wie eine anarchistische Gruppe organisiert werden kann. Es gibt viele Möglichkeiten, und jeder wählt seine Gefährten so, wie er es für richtig hält. Aber es gibt eine besondere Art und Weise, eine anarchistische Gruppe zu gründen, und das ist diejenige, die in erster Linie, aber nicht ausschließlich, das ist offensichtlich, die reale oder mutmaßliche Affinität zwischen allen Teilnehmern berücksichtigt. Nun ist diese Affinität ein Gut, das sich nicht in einer Grundsatzerklärung, in einem apriorischen Programm, in der Teilnahme an konkreten Kämpfen oder in einem Zeugnis der „Militanz“ findet, wie weit diese auch zurückreichen mag. Die Affinität ist ein Gut, das durch gegenseitiges Kennenlernen entsteht. Deshalb gibt es Fälle, in denen man annimmt, mit jemandem verwandt zu sein, nur um später festzustellen, dass man gar nicht verwandt ist, und umgekehrt. Eine Affinitätsgruppe ist also ein Schmelztiegel, in dem Affinitätsbeziehungen reifen und sich festigen. Da aber die Vollkommenheit Sache der Engel und nicht der Menschen ist, muss auch die Affinität mit intellektuellem Scharfsinn betrachtet werden und darf nicht törichterweise als Allheilmittel für all unsere Schwächen akzeptiert werden. Ich kann nur dann entdecken, dass ich eine Affinität zu jemandem habe, wenn ich mich in Bezug auf diese Person in Gefahr begebe, d.h. wenn ich mich offenbare, wenn ich jede Vortäuschung ablege, die mich normalerweise wie eine zweite Haut schützt, die härter und widerstandsfähiger ist als die physische. Und diese Enthüllung meiner selbst kann nicht nur durch Plaudern, Erzählen, Warten auf das Plaudern des anderen erfolgen, sondern sie muss in den Dingen, die wir gemeinsam tun, in der Aktion stattfinden. Es gibt kleine Signale, die wir in der Praxis oft nicht überprüfen, die aber viel bedeutsamer sind als Worte, die wir in der Praxis besser überprüfen. Und aus diesem gegenseitigen Austausch entwickeln sich die Bedingungen, die für ein gegenseitiges Kennenlernen notwendig sind. Wenn die gesamte Aktivität der Gruppe nicht auf das Tun um des Tuns willen ausgerichtet ist, auf das Ziel, quantitativ zu wachsen, auf das Ziel, hundert zu werden, während es gestern nur zehn waren, wenn dieses numerische Kalkül im Hintergrund bleibt, während das wesentliche Ziel das qualitative Ziel wird und bleibt, die anderen Gefährten und Gefährtinnen zu spüren, sie vereint zu fühlen und an der eigenen Spannung zur Aktion teilzuhaben, an dem eigenen Wunsch, die Welt zu verändern, wenn dies geschieht, befinden wir uns in der Gegenwart einer Affinitätsgruppe. Wenn dies nicht der Fall ist, ist die Suche nach Affinität wieder einmal die Suche nach einer Schulter, an die man sich anlehnen kann, um die Tränen zu vergießen, die wir alle so dringend brauchen. Die Bildung einer Affinitätsgruppe ist also nicht ausschließlich eine Angelegenheit theoretischer Diskussionen, sondern fließt im Wesentlichen in die praktische Tätigkeit der Gruppe ein, in die Entscheidungen, die sie trifft, um in die Realität einzugreifen, in die sozialen Kämpfe, denn durch diese Entscheidungen und diese Kämpfe kann jeder einzelne Teilnehmer seine Kenntnisse mit allen anderen Gefährten vertiefen, und hier, in diesem vielfältigen und komplexen Prozess, auch die theoretische Vertiefung. Die Affinität ist also einerseits ein gegenseitiges Wissen, andererseits ein Wissen in der Aktion, in der Praxis, in der Verwirklichung der eigenen Ideen. Der Blick zurück, den ich meinen Gefährten in Bezug auf meine Person gestatte, geht somit in den Blick nach vorn über, den wir alle zusammen, sie und ich, in die Zukunft werfen, wenn wir gemeinsam ein Projekt aufbauen, das heißt, wenn wir beschließen, in die Realität der Kämpfe einzugreifen und zu sehen, wie und in welche Richtung wir eingreifen können. Die beiden Momente, das rückwärtige Moment, das aus dem Moment des Wissens, sagen wir des Individuums, besteht, und das vorwärts gerichtete Moment, die Projektualität, die aus dem Wissen, sagen wir der Gruppe, besteht, schweißen zusammen und machen die Affinität der Gruppe selbst aus, so dass sie in jeder Hinsicht als „Affinitätsgruppe“ betrachtet werden kann. Der auf diese Weise erlangte Zustand ist nicht für alle Zeiten in Stein gemeißelt. Er (Der Zustand) bewegt sich, er entwickelt sich und macht Rückschritte, er verändert sich im Laufe der Kämpfe, und innerhalb der Kämpfe nimmt er Nahrung auf, um sich theoretisch und praktisch zu verändern. Es gibt keine Monolithizität9, keinen Beschluss aus der Führungsspitze, keinen Glauben, auf den man schwören muss, keine Zehn Gebote, auf den man sich in Momenten des Zweifels und der Angst verlassen kann. Alles muss in der Gruppe diskutiert werden, und im Laufe der Kämpfe muss alles von Grund auf neu überdacht werden, auch wenn es scheint, dass die festen Punkte für immer garantiert sind. Die Ausarbeitung eines Projektes der Intervention bleibt das gemeinsame Erbe der Affinitätsgruppe, da dies gerade das geeignetste Feld für die Untersuchung und Erforschung der Bedingungen ist, unter denen sie zu agieren beschließt. So hat die Affinitätsgruppe im Vergleich zu einer Gruppe, die einer Syntheseorganisation10 angehört, offensichtlich eine geringere Vorstellung von ihren Möglichkeiten der Intervention. Aber die Breite der Interessen einer anarchistischen Synthesestruktur ist nur scheinbar. Im Rahmen der Syntheseorganisation erhält die Gruppe zum Zeitpunkt des Kongresses eine Ansprache und kann sich zwar frei für alle Probleme interessieren, die eine in Klassen geteilte Gesellschaft kennzeichnen, aber sie arbeitet im Wesentlichen im Rahmen des Kongressdiktats. Da sie an die ein für alle Mal akzeptierten programmatischen Grundsätze gebunden ist, ist sie weit davon entfernt, anders entscheiden zu können, und da sie das nicht kann, tut sie es auch nicht, und indem sie es nicht tut, hält sie sich schließlich an die starren Grenzen, die auf dem Kongress von der Organisation gesetzt wurden, die als notwendige und unvermeidliche Bedingung in erster Linie den Schutz der Organisation selbst vorsehen, das heißt, die Macht so wenig wie möglich zu „stören“, um nicht „verbannt“ zu werden. Alle diese Grenzen werden von der Affinitätsgruppe umgangen, einige leicht, andere nur durch den Mut der Entscheidungen der Gefährten in ihr. Das ändert nichts an der Tatsache, dass auch eine solche Struktur den Gefährten und Gefährtinnen keinen Mut geben kann, wenn sie ihn nicht selbst besitzen, sie kann keine Entscheidungen zum Angriff vorschlagen, wenn in jedem von ihnen kein rebellischer Geist vorhanden ist, sie kann nicht agieren, wenn jeder beschließt, nur an das Nachmittagsgeschwätz zu denken. Nachdem sie sich mit den Problemen der Realität auseinandergesetzt, die unverzichtbaren Dokumente gefunden und die Analysen formuliert hat, beschließt die Affinitätsgruppe, die Initiative zu ergreifen. Dies ist eines der grundlegenden Merkmale dieser Art von anarchistischer Struktur. Sie wartet nicht darauf, dass Probleme auftauchen, wie eine Spinne inmitten ihres Netzes, sie sucht sie, sie drängt sie zu einer Lösung, die, einmal vorgeschlagen, natürlich von der aus der Realität der Ausgeschlossenen, die direkt unter den negativen Folgen des Problems leiden, akzeptiert werden muss. Um jedoch einen Vorschlag der Projektualität für einen sozialen Kontext zu machen, der unter einem besonderen Angriff der Macht leidet, einem spezifischen, umschriebenen Angriff, der in einer oder mehreren repressiven Quellen und in einem bestimmten Territorium identifizierbar ist, ist es notwendig, physisch inmitten der Ausgeschlossenen, in diesem Territorium, anwesend zu sein und eine eingehende Kenntnis der Probleme zu haben, die das repressive Faktum im Gange kennzeichnen. So richtet sich die Affinitätsgruppe immer auf eine lokalisierte Intervention, indem sie ein bestimmtes Problem gemeinsam mit den Leuten angeht und all jene Bedingungen schafft, psychologische und praktische, individuelle und kollektive, theoretische Vertiefung und Verfügbarkeit von Mitteln, damit dieses Problem mit den methodologischen Merkmalen angegangen wird, die die des Insurrektionalismus sind: Selbstorganisation, permanente Konfliktualität, Angriff. Es ist nicht immer so, dass eine einzelne Affinitätsgruppe über die praktischen und theoretischen Möglichkeiten verfügt, eine solche Intervention durchzuführen. Wie die (wenigen und oft umstrittenen) Erfahrungen zeigen, ist es aufgrund des Ausmaßes des Problems, der Komplexität der Intervention, der Weite des Territoriums und der Langsamkeit der Mittel, die für die Verbreitung des vorgeschlagenen Modells der Projektualität in Zusammenarbeit mit den Ideen und Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung eingesetzt werden müssen, oft erforderlich, dass breitere Kräfte zusammenarbeiten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ständigen Kontakt mit anderen Affinitätsgruppen zu halten, um eine breitere Intervention ins Auge zu fassen, die Anzahl der Gefährten und Gefährtinnen, die Verfügbarkeit von Mitteln und die Klarheit der Ideen an die Komplexität und den Umfang des zu behandelnden Problems anzupassen. So wurde die informelle Organisation geboren. Mehrere anarchistische Affinitätsgruppen schließen sich zu einer informellen Organisation zusammen, deren Ziel es ist, das Problem anzugehen, das die Intervention einer einzelnen Affinitätsgruppe unzureichend machte. Natürlich müssen alle Gruppen, die an der informellen Organisation teilnehmen, die Intervention in ihren Grundzügen teilen und sich dann sowohl an praktischen Aktionen als auch an theoretischen Ausarbeitungen beteiligen. In der Praxis kommt es oft vor, dass Affinitätsgruppen informelle Beziehungen zueinander haben, die sich auf Dauer verfestigen, d.h. in regelmäßigen Treffen zur Vorbereitung spezifischer Kämpfe oder – noch besser – in Treffen, die im Verlauf bestimmter Kämpfe stattfinden. Das macht es einfacher, Informationen über einzelne laufende Interventionen, laufende Projekte und Anfragen aus der Welt der Ausgeschlossenen zu verbreiten. Das „Funktionieren“ einer informellen Organisation ist sehr einfach. Es gibt keine Namen, um sie zu unterscheiden, da es keine Ziele für quantitatives Wachstum gibt. Es gibt keine festen Strukturen (abgesehen von einzelnen Affinitätsgruppen, die ihre Arbeit völlig unabhängig voneinander machen), sonst würde der Begriff „informell“ keinen Sinn mehr ergeben. Es gibt keine „konstituierenden“ Momente, es gibt keine Kongresse, sondern nur regelmäßige Treffen (die vorzugsweise direkt im Verlauf der Kämpfe stattfinden), es gibt keine Programme, sondern nur das gemeinsame Erbe der insurrektionalistischen Kämpfe und die Methodologie, die sie kennzeichnet: Selbstorganisation, permanente Konfliktualität, Angriff. Positiv ist, dass der Zweck der informellen Organisation der ist, der ihr von den einzelnen Affinitätsgruppen, die sie bilden, gegeben wird. In der Regel handelt es sich bei den wenigen Erfahrungen, die gemacht wurden, um ein spezifisches Problem, wie z.B. die Zerstörung der Raketenbasis in Comiso 1982-1983. Es könnte sich aber auch um eine Reihe von Interventionen handeln, bei denen die informelle Organisation so artikuliert wird, dass sie den einzelnen Gruppen in verschiedenen Situationen eine Möglichkeit zur Intervention bietet, z.B. durch wechselnde Verpflichtung, wenn es darum geht, lange an einem bestimmten Ort präsent zu sein (in Comiso blieben die anwesenden Gruppen gut zwei Jahre dort). Ein weiteres Ziel könnte sein, analytische und praktische Mittel für die Untersuchung, aber auch finanzielle Unterstützung zur Verfügung zu stellen, über die die einzelne Gruppe vielleicht nicht verfügt. Positiv ist, dass die informelle Organisation in erster Linie dazu dient, die verschiedenen Affinitätsgruppen und die Gefährten und Gefährtinnen in den Gruppen kennenzulernen. Das ist, wenn man darüber nachdenkt, ein anderer Grad der Untersuchung der Affinität. Dieses Mal sind die Grenzen des zu erreichendes Zieles, die Untersuchung der Affinität, die durch den Teil des Projektes intensiviert wird, aber die Vertiefung des individuellen Wissens nicht ausschließt, auf der Ebene von mehreren Gruppen zu finden. Daraus folgt, dass auch die informelle Organisation eine Struktur der Affinität ist, denn sie basiert auf der Menge der Affinitätsgruppen, die sie bilden. Diese Überlegungen, die wir seit fast fünfzehn Jahren mehr oder weniger artikulieren, sollten allen interessierten Gefährten und Gefährtinnen das Wesen der informellen Organisation rechtzeitig bewusst gemacht haben. Das scheint nicht der Fall zu sein. Das größte Missverständnis rührt meiner Meinung nach von dem – in einigen von uns latent vorhandenen – Wunsch her, unsere Muskeln zu zeigen und uns eine starke Struktur der Organisation zu geben, weil es keine andere Möglichkeit gäbe, eine Macht zu bekämpfen, die ihrerseits muskulös und stark ist. Das erste Merkmal einer starken Struktur sollte nach Ansicht dieser Gefährten und Gefährtinnen (mehr oder weniger deutlich) spezifisch und robust, zeitlich stabil und gut sichtbar sein, um quasi ein Leuchtfeuer im Nebel der Kämpfe der Ausgeschlossenen zu sein, ein Leuchtturm, ein Wegweiser, ein Bezugspunkt. Leider! Wir sind nicht dieser Meinung. Die gesamte ökonomische und soziale Analyse des postindustriellen Kapitalismus macht deutlich, wie von einer solchen Struktur, die stark und für das bloße Auge sichtbar ist, die Macht einen Bissen abbekommen würde. Das Verschwinden einer Zentralität der Klasse (zumindest von dem, was in der Vergangenheit fälschlicherweise für Zentralität gehalten wurde) macht einen Angriff durch starre Strukturen, die deutlich sichtbar und stark in ihren Artikulationen sind, undurchführbar. Sollten diese Strukturen nicht beim ersten Aufprall zerstört werden, würden sie mit Sicherheit in die Sphäre der Macht kooptiert werden, mit der Aufgabe der Rekuperation und des Recyclings der unbeugsamsten Elemente. Aber in diesem Punkt verweisen wir auf die Lesart der hier vorgestellten Texte, die sicherlich viel überzeugender sind. Solange die Affinitätsgruppe in sich geschlossen bleibt, eine Gruppe von Gefährten und Gefährtinnen, die sich selbst Regeln geben und diese einhalten, und mit geschlossen bleiben meine ich nicht nur, dass sie nicht aus ihrem Sitz herausgehen und sich auf die üblichen Diskussionen unter Eingeweihten beschränken, sondern auch, dass sie mit Erklärungen und entsprechenden Dokumenten auf die verschiedenen repressiven Abläufe der Macht reagieren, die von der Macht vorgeschlagen werden, solange die Dinge auf dieser Ebene bleiben, unterscheidet sich die Struktur der Affinität von jeder anderen anarchistischen Gruppe nur in ihren offensichtlichen Aspekten, in ihren Worten, in ihren „politischen“ Entscheidungen, in der Art und Weise, wie sie die verschiedenen Reaktionen auf die Anmaßungen der Macht, unser Leben und das Leben aller Ausgeschlossenen zu regeln, interpretiert. Der tiefe Sinn, der wesentliche Zweck, eine „andere“ Struktur zu sein, d.h. auf organisatorischen Entscheidungen zu basieren, die sich von allen anderen anarchistischen Gruppen unterscheiden, die Affinität, wird nur bei dem Einsatz eines spezifischen Kampfprojekts effektiv wirksam. Und das kennzeichnende Element dieses Projekts, jenseits der Worte oder Motivationen, die es mehr oder weniger analytisch tiefgründig und praktisch wirksam machen, ist die Anwesenheit der Ausgeschlossenen, d.h. der Leute, kurz gesagt, der mehr oder weniger großen Massen, die unter den repressiven Effekten der Macht leiden, gegen die sich dieses Projekt richtet, indem sie auf die insurrektionalistische Methode zurückgreifen. Die Teilnahme der Massen ist daher das Gründungselement des insurrektionalistischen Projekts und, ausgehend von der Bedingung der Affinität der einzelnen anarchistischen Gruppen, die daran teilnehmen, auch das Gründungselement dieser Affinität selbst, die eine arme elitäre Kameradschaft11 bliebe, wenn sie sich auf das gegenseitige Streben nach einer tieferen persönlichen Bekanntschaft zwischen Gefährten und Gefährtinnen beschränken würde. Es wäre jedoch unsinnig, Menschen zu Anarchisten und Anarchistinnen zu machen, indem man ihnen vorschlägt, unseren Gruppen beizutreten, um den Kampf anarchistisch zu führen. Das wäre nicht nur Unsinn, sondern eine schreckliche ideologische Forcierung und würde den ganzen Sinn von Affinitätsgruppen und der eventuellen informellen Organisation, die geschaffen wurde, um mit dem repressiven Angriff umzugehen, den zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Gebiet, ein mehr oder weniger beständiger Teil der Ausgeschlossenen von der Macht erleidet, auf den Kopf stellen. Um Organisationsstrukturen zu schaffen, die in der Lage sind, die Ausgeschlossenen so zu gruppieren, dass sie Angriffe gegen die Repression starten können, ist es notwendig, autonome Basiskerne ins Leben zu rufen, die natürlich jeden anderen Namen annehmen können, der auf das Konzept der Selbstorganisation hinweist. Damit kommen wir zum zentralen Punkt des insurrektionalistischen Projekts: die Konstituierung/Bildung der autonomen Basiskerne (der Einfachheit halber akzeptieren wir diesen Begriff hier). Ihr wesentliches, sofort sichtbares und nachvollziehbares Merkmal ist, dass Anarchisten und Nicht-Anarchisten an ihnen teilnehmen. Aber es gibt noch andere Punkte, die schwieriger zu verstehen sind und die sich bei den wenigen praktischen Versuchen als Quelle für nicht wenige Missverständnisse erwiesen haben. In erster Linie sind es quantitative Strukturen. Wenn es sich um Strukturen dieser Art handelt, und das tun sie tatsächlich, muss deutlich gemacht werden, dass sie ein besonderes Merkmal haben. Sie sind reale Bezugspunkte, keine festen Orte, an denen die Menschen sich selbst zählen und an denen deshalb all jene Verfahren eingerichtet werden müssen, die eine aggregierte Persistenz im Laufe der Zeit ermöglichen (Mitgliedschaft, Zahlung eines Mitgliedsbeitrags, Bereitstellung von Dienstleistungen usw.). Da die autonomen Basiskerne nur den Zweck des Kampfes haben, funktionieren sie wie eine Lunge in ihrer Atmungsfunktion: sie schwellen an, wenn der Kampf intensiver wird und schrumpfen, wenn der Kampf schwächer wird, um beim nächsten Zusammenstoß wieder anzuschwellen. In den toten Winkeln, zwischen einer Verpflichtung und einer anderen – und mit Verpflichtung ist hier jeder Moment des Kampfes gemeint, selbst das Verteilen eines einfachen Flugblatts, die Teilnahme an einer Kundgebung, aber auch die Besetzung eines Gebäudes oder die Sabotage eines Instruments der Macht – bleibt der Kern als Referenz in der Zone, als Zeichen einer informellen organisatorischen Präsenz. Wenn man ein stabiles quantitatives Wachstum der autonomen Basiskerne für möglich hält, muss man sie in parasyndikalistische Organismen umwandeln, d.h. in etwas Ähnliches wie die Cobas12, die die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter in den verschiedenen Produktionssektoren verteidigen, indem sie ein breites Spektrum an defensiven und fordernden Interventionen zugunsten ihrer Vertreterinnen und Vertreter vorschlagen, mit der Folge, dass die Stimme des Organismus, der die Forderung vorschlägt, umso stärker ist, je höher die Zahl der Delegationen ist. Der autonome Kern hat nichts von alledem. Er schlägt keinen Forderungskampf mit der Methode von Forderungen und Delegation vor, er schlägt keinen Protest für allgemeine Ziele vor, die von der Verteidigung von Arbeitsplätzen über Lohnerhöhungen bis hin zum Gesundheitsschutz in den Fabriken usw. reichen können. Der Basiskern wird geboren und stirbt mit seinem einzigen Ziel, das im Moment der Aufnahme des Kampfes identifiziert wird, ein Ziel, das an sich auch einen fordernden Charakter haben kann, aber nicht mit der repräsentativen Methode der Delegation angestrebt wird, sondern mit der direkten Methode des unmittelbaren Kampfes, des permanenten und unangekündigten Angriffs, der Zurückweisung jeder politischen Kraft, die behauptet, jemanden oder etwas zu vertreten. Die Anhänger der Basiskerne können daher nicht legitimerweise eine mehrfache Unterstützung erwarten, die einen breiten Bereich ihrer Bedürfnisse abdeckt. Sie müssen verstehen, dass es sich dabei nicht um eine parasitäre Unterstützung handelt, sondern um ein Instrument des Kampfes gegen ein bestimmtes Ziel, und dass er als Instrument nur dann gültig bleibt, wenn sie die ursprüngliche Entscheidung beibehalten, nur auf die oben genannten insurrektionalistischen Kampfmethoden zurückzugreifen. Die Teilnahme an den Kernen ist daher absolut spontan, da sie durch keinen anderen Nutzen als den spezifischen und ausschließlichen der größeren Stärke und Organisation bei der Erreichung des gemeinsam festgelegten Angriffsziels erbeten oder angeraten werden kann. Es ist daher mehr als logisch zu erwarten, dass diese Organisationen nie eine hohe, geschweige denn stabile quantitative Zusammensetzung erreichen werden. Wenn man sich auf einen Kampf vorbereitet, gibt es immer nur wenige, die das zu erreichende Ziel sehen, es teilen und darüber hinaus bereit sind, sich selbst zu gefährden. Wenn der Kampf beginnt und die ersten Ergebnisse erzielt werden, werden auch die Zögerlichen und Schwachen zum Mitmachen verleitet und der Kern schwillt an, nur um zu sehen, wie diese Teilnehmer in letzter Minute wieder verschwinden, eine Tatsache, die an sich völlig physiologisch ist und die nicht negativ beeindrucken oder ein negatives Urteil über dieses spezifische Instrument der Massenorganisation unterstützen sollte. Ein weiterer Punkt, bei dem Unklarheit herrscht, ist die begrenzte Lebensdauer des autonomen Kerns, die auf das Erreichen (oder die gemeinsame Einigung über die Unmöglichkeit des Erreichens) des gesetzten Ziels beschränkt ist. Viele fragen sich: Wenn die Kerne „auch“ als Umgruppierungspunkte fungieren, warum lassen wir sie dann nicht für eine andere mögliche zukünftige Nutzung als die jetzige am Leben? Die Antwort hängt wieder einmal mit dem Konzept der „Informalität“ zusammen. Jede Struktur, die im Laufe der Zeit über den Zweck hinaus besteht, für den sie geboren wurde, wenn ihre wesentliche Existenzbedingung dieser Zweck war und nicht eine allgemeine, weitreichende Verteidigung derer, die an ihr teilnehmen, schrumpft früher oder später zu einer stabilen Struktur und wandelt ihren ursprünglichen Zweck in einen neuen und scheinbar legitimen Zweck des quantitativen Wachstums, der Stärkung zur besseren Erreichung einer Vielzahl von Zwecken, die alle gleichermaßen interessant sind und die sich dem nebulösen Horizont der Ausgeschlossenen nicht entziehen können. Parallel zur Verwurzelung der informellen Struktur in ihrer neuen stabilen Form werden geeignete Personen gefunden, um diese Struktur zu leiten, immer diejenigen, die am fähigsten sind und am meisten Zeit zur Verfügung haben, kurz gesagt, früher oder später wird sich der Kreis um eine Struktur schließen, die sich selbst als revolutionär und sogar anarchistisch bezeichnet und die damit ihren wahren und einzigen Zweck entdeckt hat: ihr eigenes Überleben. Selbst die seltenste Form der Macht, wie die, die wir in der „Stabilität“ einer organisatorischen Struktur, auch wenn sie anarchistisch und revolutionär ist, entstehen sehen, zieht eine Menge Leute an, die natürlich alle gutgläubige Gefährten und Gefährtinnen sind, die Gutes für die Menschen tun wollen, und so weiter und so fort. Ein letztes organisatorisches Element, das manchmal unverzichtbar sein kann, ist die „Koordinierung von autonomen Basiskernen“. Diese Struktur, die die gleichen Merkmale der Informalität aufweist, setzt sich aus einigen wenigen Vertretern der Basis zusammen, und es ist fast immer unabdingbar, dass sie mit angemessenen Mitteln für den zu erreichenden Zweck ausgestattet wird. Wenn die einzelnen Kerne aufgrund ihrer Funktion als „Lunge“ auch eine Informalität in Bezug auf das Fehlen eines Veranstaltungsortes, eines Treffpunktes, haben können, da der Kern sich direkt auf dem Platz treffen kann, kann dies für die Koordination nicht geschehen, dies erfordert einen offiziell zugänglichen Ort, der im Falle eines Kampfes, der sich über Monate oder Jahre hinzieht und ein ziemlich großes Gebiet betrifft, auch wenn es durch die Besonderheit des Problems, das das Projekt hervorgebracht hat, begrenzt ist, zum Ort wird, an dem die verschiedenen Aktivitäten der Kerngruppen koordiniert werden. Die Präsenz der Affinitätsgruppen ist in der Koordination nicht direkt sichtbar, und dasselbe gilt für die informelle Organisation. Natürlich sind alle anarchistischen Gefährten und Gefährtinnen, die sich im Kampf engagieren, in den verschiedenen Basiskernen präsent, aber dies ist fast immer nicht der beste Ort für anarchistische Propaganda im klassischen Sinne. Was innerhalb der Koordination und in den einzelnen Kernen vor allem getan werden muss, ist eine analytische Klärung des Grundproblems, des Ziels, das man erreichen will, und dann eine Vertiefung der insurrektionalistischen Mittel, die im Kampf eingesetzt werden sollen. Die Aufgabe der Gefährten und Gefährtinnen besteht darin, sich an dem Projekt zu beteiligen und gemeinsam mit allen Beteiligten die Mittel und Methoden zu vertiefen, die eingesetzt werden sollen. Obwohl dies in dieser Schematisierung einfach erscheint, erweist es sich in der Praxis als sehr kompliziert. Die Funktion der „Koordination der autonomen Basiskerne“ ist daher die der Verknüpfung von Kämpfen. Hier wird nur ein Problem angedeutet (extrem unverdaulich für Anarchisten, aber sehr einfach für Nicht-Anarchisten): die Notwendigkeit, im Falle eines Massenangriffs gegen Machtstrukturen die einzelnen Aufgaben vor dem eigentlichen Angriff zu verteilen, d.h. sich bis ins kleinste Detail darüber zu verständigen, was zu tun ist. Viele stellen sich diese Gelegenheiten des Kampfes als ein Fest der Spontaneität vor: das Ziel liegt vor aller Augen, du musst nur dorthin gehen, die Kräfte, die es bewachen, in die Flucht schlagen und es zerstören. Ich habe es hier so formuliert, obwohl ich weiß, dass viele hundert verschiedene Nuancen sehen werden, aber der Kern ändert sich nicht. In solchen Fällen müssen entweder alle Teilnehmer genau wissen, was zu tun ist, da der Kampf in einem Gebiet stattfindet und bewaffneter Widerstand zu überwinden ist, oder wenn nur einige wenige wissen, was zu tun ist, und der Rest nicht, wird die Verwirrung genauso groß sein, wenn nicht sogar schlimmer, als wenn niemand weiß, was zu tun ist. Deshalb ist ein Plan erforderlich. Es gab Fälle, in denen ein bewaffneter militärischer Plan nötig war, um ein Flugblatt zu verteilen (z.B. während der Insurrektion in Reggio Calabria). Aber kann dieser Plan wirklich allen zugänglich gemacht werden, selbst ein paar Tage vor dem Angriff? Ich glaube nicht. Es gibt Gründe zur Vorsicht, die dagegen sprechen. Zum anderen müssen die Details des Angriffsplans allen Beteiligten zugänglich gemacht werden. Daraus folgt, dass nicht jeder mitmachen kann, sondern nur diejenigen, die auf irgendeine Weise bekannt sind, entweder durch ihre Mitgliedschaft in den autonomen Basiskernen oder durch ihre Mitgliedschaft in Affinitätsgruppen, die durch informelle Organisation Teil der Koordination geworden sind. Damit soll verhindert werden, dass die Polizei und die Geheimdienste die Koordination unterwandern, was in solchen Fällen mehr als wahrscheinlich ist. Unbekannte Personen sollten von anderen, die sie kennen, verbürgt werden. Das mag unangenehm sein, aber es lässt sich nicht vermeiden. Das Problem wird noch komplizierter, wenn das aktuelle Projekt, selbst in seinen Grundzügen, vielen Gefährten und Gefährtinnen bekannt ist und diese daran interessiert sein könnten, sich an einer dieser Angriffsaktionen zu beteiligen, über die wir gerade sprechen. In diesem Fall konnte der Zustrom beträchtlich sein (im Fall von Comiso kamen in den Tagen der versuchten Besetzung etwa dreihundert Gefährten aus ganz Italien und sogar aus dem Ausland) und die Notwendigkeit, die Anwesenheit von Infiltratoren zu vermeiden, noch viel ernster. Die Gefährten und Gefährtinnen, die erst im letzten Moment eintrafen, konnten sich daher in der Organisation der Aktion fremd fühlen und nicht verstehen, was vor sich ging. Auf die gleiche Weise finden sich all diejenigen, die sich entscheiden, die oben genannte Überprüfung nicht zu akzeptieren, de facto als Außenseiter wieder. Und nun zwei letzte Fragen: Warum halten wir die Methodologie und das insurrektionalistische Projekt für das am besten geeignete Mittel für die revolutionäre Auseinandersetzung heute? Was versprechen wir uns vom Einsatz insurrektionalistischer Mittel in einer Situation, in der es sich nicht um eine laufende Insurrektion handelt? In Bezug auf die erste Frage macht die Analyse der heutigen gesellschaftlichen und ökonomischen Formation deutlich, dass diese Mittel am besten geeignet sind und jeden Kampf, der auf der Grundlage von synthetischen Strukturen geführt wird, die im Kleinen wie im Großen alle Mängel der Parteiformen der Vergangenheit reproduzieren, entweder unmöglich machen oder nur für die Umstrukturierung der Herrschaft nützlich sind. Der größte Teil dieses Buches befasst sich eingehend mit diesem Problem. Die zweite Frage kann damit beantwortet werden, dass wir nicht wissen, welche Bedingungen a priori für die Entwicklung einer Insurrektion gegeben sein müssen. Jede Gelegenheit kann die richtige sein, auch wenn es ein kleines, scheinbar unbedeutendes Experiment ist. Aber es gibt noch mehr: Ein Projekt des insurrektionalistischen Kampfes zu entwickeln, es aus einem spezifischen Problem heraus zu entwickeln, das in der Tiefe als repressive Tatsache zum Nachteil beträchtlicher Massen von Ausgeschlossenen wirkt, ist kein einfaches „Experiment“, es ist eine Insurrektion im Gange, ohne damit übertreiben zu wollen, was klein beginnt und fast sicher klein bleibt. Was zählt, ist die Methode, und in dieser Richtung haben Anarchisten und Anarchistinnen noch einen weiten Weg vor sich, sonst wären sie nicht auf die vielen Insurrektionen eines ganzen Volkes vorbereitet, die stattgefunden haben und weiterhin stattfinden. Letztendlich ist dieses Buch ein Beitrag zu dem großen Problem „Was tun?“   Catania, 21. November 1998 Alfredo M. Bonanno   Ausgeschlossene und Eingeschlossene Das Ende der Ideologien, aber nicht ganz. Kein politischer Apparat kann jemals ganz ohne sie auskommen. Die grundlegenden Veränderungen in der Produktionsstruktur des Kapitals, die in den letzten zehn Jahren weltweit stattgefunden haben, haben plötzlich fast alle bestehenden ideologischen Hüllen entleert. Das soll nicht heißen, dass die politische Funktion als Verwaltungs- und Repressionsaktionen des Staates besser auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen abgestimmt ist. Unmittelbar hinter den alten Gespenstern sind andere aufgetaucht, deren Merkmale nicht leicht zu erkennen sind, da es sich um ideologische Hüllen handelt, die sich noch in der Entstehung befinden. Nach dem derzeitigen Stand der Dinge können wir nur sagen, dass ihr Ziel dasselbe ist wie immer: irrationale Gefühle und Instinkte anzusprechen, um ein Verhalten zu erreichen, das der Aufrechterhaltung der von der herrschenden Klasse auferlegten Ordnung dient. Zu den unmittelbarsten Bewegungen, die sofort in den Vordergrund der Nachrichten sprangen, gehört die alte Fata Morgana der Freiheit, die in den logischen Fallen des alten Liberalismus einbalsamiert und in aller Eile entstaubt wurde, um eine Grundlage für die finstersten Operationen zur Verwaltung der neuen Märkte im Osten zu schaffen. Dass jeder Liberalismus auf einer präzisen Unterscheidung zwischen zwei Kategorien von Menschen beruht, denjenigen, die in den Genuss der Menschenrechte kommen, in erster Linie der politischen, aber auch der konkreteren, wie z.B. des Rechts auf Leben, und denjenigen, die diese Rechte nur in eingeschränktem Maße haben und daher anfällig für eine mögliche Aussetzung oder Unterdrückung sind. Historisch gesehen muss hier nicht daran erinnert werden, dass Locke, der Paladin der politischen Freiheit, sein privates Vermögen den Investitionen verdankte, die er in die englischen Unternehmen getätigt hatte, die fast ein Jahrhundert lang im Sklavenhandel tätig waren, und dass die englische Revolution selbst, aus der die Idee des politischen Liberalismus hervorging, den Sieg über Spanien als eine große Eroberung betrachtet hatte, da sie mit dem Frieden von Utrecht die Zerstörung des spanischen Monopols im Sklavenhandel erreicht und diese lukrative Tätigkeit selbst und in großem Maßstab aufgenommen hatte. Wenn wir genau hinsehen, besteht die neue ideologische Hülle, wie sie zumindest von den dafür verantwortlichen akademischen Organisationen schnell vorbereitet wird, in Wirklichkeit aus einer Aufpfropfung der alten liberalen Heuchelei in den sozialen Körper, der heute so zersetzt wie eh und je zu sein scheint. Von diesem uralten Gerede wird nur eine Sache wichtig, und die ist tatsächlich über jeden Zweifel erhaben. Die Menschen sind nur im Prinzip gleich, in der Praxis werden sie in zwei Kategorien eingeteilt: diejenigen, die Rechte haben, und diejenigen, die keine haben. Mit Rechten ist hier die substanzielle Möglichkeit gemeint, Zugang zu den Quellen des Wohlstands zu erhalten, transformative Bewegungen herbeizuführen, die in der Lage sind, die Unterschiede in der Einkommensverteilung zu verringern, mit anderen Worten, alles, was die Hoffnung auf eine bessere und weniger schwierige Zukunft als die Gegenwart zulässt. Ob diese neuen politischen Bewegungen, die in der Praxis weltweit auf eine Phase der unternehmerischen Öffnung ausgerichtet sind, die sich als mögliche Teilhabe der unteren Schichten an den Lebensbedingungen der oberen Schichten definieren lässt, eine Reduzierung des gesamten Machtapparats der Staaten bewirken können, bleibt abzuwarten, während andererseits die ideologische Wirkung dieser Perspektive im Gange ist, eine Wirkung, die dazu beiträgt, die besten Voraussetzungen für die produktive Gestaltung der Welt in einer postindustriellen Perspektive zu schaffen. Der wesentliche Punkt dieses Prozesses ist, dass nur ein kleiner und sehr kleiner Teil der Produzenten Zugang zu menschenwürdigen Lebensbedingungen haben wird. Mit menschenwürdigen Bedingungen meinen wir eine immer größere Übereinstimmung zwischen den Möglichkeiten, die der Staat und das kapitalistische System insgesamt bieten, und der Möglichkeit, sie auszubeuten. Der Rest, die große Mehrheit, wird einen Platz in der Segregation finden müssen, in jener „schmutzigen“ Arbeit, die die alten Liberalisten, wie zum Beispiel Mandeville, mit Sklavenarbeit verglichen. Nicht „schmutzig“ im Sinne der alten körperlichen Verrohung, sondern „schmutzig“ im wahren Sinne des Wortes, in dem Sinne, dass es die Intelligenz schmutzig macht, sie herabsetzt, sie auf das Niveau von Maschinen reduziert und ihr die charakteristischste Eigenschaft des Menschen, die Unberechenbarkeit, entzieht. In diesem Kontext, in dem die ideologische Modernisierung mit tiefgreifenden Veränderungen in der Produktionsstruktur einhergeht und zu einem koordinierten System von realen und imaginären Prozessen führt, die alle synchron auf Flexibilität, Anpassung, demokratischer und vollversammlungsbezogener Diskussion und der kritischen Ablehnung jeglicher Autorität, die nicht effizient ist, basieren, wird die alte Funktion des Staates, der die Verwaltung und Repression zentralisiert, schwächer werden. Und dieses Verblassen ist in der Ordnung der Dinge, im Geist der Zeit, wenn man so will. Aber hier muss die Frage gestellt werden: Ist dieses Verblassen eine gute Sache? Die Antwort, zumindest für Anarchisten, sollte positiv ausfallen. Und so wäre es auch gewesen, wenn sie nicht in jüngster Zeit auf Überlegungen gestoßen wären, die wir hier hervorheben möchten. Beginnen wir mit den positiven Aspekten. Jede Verringerung der Macht der Staaten ist eine positive Bewegung, die größere, wenn auch reduzierte Räume der Freiheit, konsequentere Verteidigungsbewegungen, das Warten auf bessere Zeiten, das Überleben, wenn man so will, aber auch organisatorische Formen des Kampfes ermöglicht, die die großen repressiven Giganten mit Leichtigkeit zerstören. Die Teilnahme an Kämpfen, die Staaten zersetzten, ist daher eine positive Bewegung, und in diesem Zusammenhang waren nationale Befreiungskämpfe – leider nicht immer – Gelegenheiten, den monolithischen Charakter der Macht zu untergraben und mögliche Linien sozialer Divergenz vorzuschlagen, Alternativen, die in der Lage sind, praktikable andere Wege aufzuzeigen. Oft wurde all dies durch das Aufkommen substanziellerer Bewegungen, kapitalistische Umstrukturierungen im Vordergrund, imperialistische Umwälzungen in der Machtverteilung auf Weltebene, den Mechanismus der ungleichen Entwicklung usw. überschattet. Im Moment überschneiden sich andere Überlegungen mit den vorherigen. Das heißt nicht, dass wir nationale Befreiungskämpfe und alle Bewegungen, die auf die eine oder andere Weise dazu beitragen, die zentralisierenden Staaten der Vergangenheit aufzubrechen, negativ bewerten sollten, aber es sind dennoch Überlegungen, die das Problem auf eine andere Grundlage stellen, die der Zeit, in der wir leben, besser entspricht. Zunächst einmal müssen wir die internationalen Ströme betrachten, die die verschiedenen Repressions- und Produktionsapparate der einzelnen Staaten im Rahmen von Vereinbarungen ausgleichen, die mehr oder weniger intime, mehr oder weniger hybride Zusammenschlüsse vorsehen, die in jedem Fall ausreichen, um jene Datenzirkulation zu gewährleisten, auf der jede Struktur der Kontrolle und der inneren Ordnung letztlich beruht. Diese Suprastrukturen werden sich in den nächsten Jahren ausweiten und die Welt, wie wir sie bereits kennen, neu aufteilen, wobei sich die Linien nicht so sehr von den bisherigen unterscheiden. So sehr sich diese neuen spaltenden Formen auch in ganz anderes ideologisches Papier verpackt präsentieren, erfüllen sie doch die Aufgabe, die alte Staatsmacht in ihren jetzigen zersetzenden Formen wiederherzustellen. Man könnte spekulieren, und das nicht zu Unrecht, dass die Ausarbeitung des Nationalismus als ideologisches Bindeglied bestimmter Auflösungsprozesse ein gar nicht so dummes Instrument ist, das absichtlich eingesetzt wird, um ansonsten unmögliche Strukturveränderungen zu ermöglichen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die heutige weltweite Produktionsstruktur keine großen zentralisierten Staaten duldet, die daher in ihren Beziehungen zum Kapital zu elefantös sind, das auf der anderen Seite immer mehr an Kapazität gewinnt, um Produktionsprozesse zu beschleunigen. Zweitens muss der Notwendigkeit Rechnung getragen werden, das demokratische Instrument der Konsensbildung an die veränderten Produktionsbedingungen anzupassen. Wenn letztere ein dequalifiziertes Individuum hervorbringen, das durch die prekäre Lohnarbeit nicht nur in Bezug auf seine Arbeitsfähigkeit, sondern auch in Bezug auf seine psychische Zusammensetzung im weitesten Sinne instabil wird, wenn dieses Individuum als Element der Gesellschaft, der Familie, der Arbeitskategorie, der Freizeitumgebung, der es angehört, kurz gesagt, als soziales Element, ständig in instabilen Verhältnissen gehalten wird, dann kann es nicht gezwungen werden, sich mit einer monolithischen Staatsbürokratie zu befassen, die heute mehr denn je der Vergangenheit anzugehören scheint. In dem Maße, in dem das Individuum, vor allem durch die Schule, der Instrumente der kulturellen Qualifizierung beraubt wird, die es endgültig von einem Subjekt in einen Staatsbürger eines demokratischen Staates verwandeln sollten, werden die Staatsapparate demokratisiert und fordern das Subjekt – das immer noch der so genannte Staatsbürger der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten ist – zur maximalen Kooperation auf. Andererseits wäre eine demokratische Umstrukturierung der modernen Staaten ohne eine qualitative Verflachung der Individuen, ohne die Auflösung der traditionellen Organisationsformen des Proletariats und vor allem ohne die Vernichtung jener Klasseneinheit nicht möglich gewesen, die sich in der Vergangenheit immer wieder in wenn auch nicht revolutionären, so doch zumindest in Bewegungen geäußert hatte, die in der Lage waren, die Akkumulationsprozesse des Kapitals zu bremsen und zu stören. Schließlich müssen wir die Tatsache berücksichtigen, dass diese zersetzenden Bewegungen auf zwei Ebenen wirken, von denen nur die zweite aus revolutionärer Sicht interessant erscheint. Die erste dieser Ebenen ist die offizielle Ebene, die von der Mittelklasse der fortschrittlichsten Länder gefördert wird, mit dem Ziel, die alten monolithischen Strukturen der Staaten auf einer akzeptableren Basis wiederherzustellen, entsprechend den neuen Produktionsprozessen des Kapitals. Und diese Basen erscheinen im Vergleich zu früheren Verwaltungen unzusammenhängend, nicht zuletzt, weil sie ideologisch geschickter sein müssen. Diese offizielle Bewegung des Staatszerfalls hat ihre Wurzeln in der regionalistischen These, die die administrative und in gewisser Hinsicht auch die politische Dezentralisierung zum Schlüssel für ein regeneriertes und effizienteres Staatssystem machte. Das weitgehende Scheitern des Regionalismus in Staaten wie Italien, einem guten Beispiel auf diesem Gebiet, darf uns nicht über eine Umkehrung dieses Trends hinwegtäuschen. Die herrschenden Klassen müssen die beherrschten Klassen illusorisch dazu bringen, sich an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Dieses Bedürfnis ist so alt wie die Welt, aber in den letzten Jahrzehnten ist es nicht nur eine schamlos und ständig verletzte Fassade, sondern eine unvermeidliche Realität geworden. Der italienische „Leghismus“ (A.d.Ü.: Separatismusbestrebung der damaligen Partei Lega Norte), ein Phänomen, das heute nicht nur in Italien auf großes Interesse stößt, muss auf diese Richtung des Zerfalls der monolithischen Staaten der Vergangenheit zurückgeführt werden und kann sich daher als Erbe und extremer Rationalisierer des alten Regionalismus betrachten. Der Übergang zwischen diesen beiden Arten, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, ist jedoch nicht kontinuierlich, denn es gibt einen Bruch, der vielleicht nicht sehr wichtig ist aus Sicht derjenigen, die Staaten als den Feind betrachten, den es in jedem Fall zu besiegen gilt, ohne zu subtil zu sein, aber wichtig für diejenigen, die versuchen, die Zusammensetzung des Feindes besser zu verstehen, um seine Schwachstellen zu erkennen: und dieser Bruch liegt genau in der ideologischen Veredelung, die mit der einfachen und offensichtlichen Beobachtung betrieben wird, dass die wohlhabenden Klassen der ökonomisch reichsten Regionen davon profitieren würden, einen verkleinerten Staat in Eigenregie zu verwalten. Andererseits hat sich diese ideologische Veredelung wie immer als unverzichtbar erwiesen, um die Menschen auf einer emotionalen Ebene anzusprechen, indem die Frustrationen der breiten Massen, die ohnehin weit vom Wohlstand der engstirnigen herrschenden Klassen entfernt sind, an den klassischen Symbolen der Diversität abgeladen werden: dem Schwarzen, dem Juden, dem Einwanderer, dem Dieb, dem Gewalttätigen, oder indem nationalistische Mythen konstruiert werden, die manchmal an die Lächerlichkeit grenzen. Aber in diesen Dingen ist das Lächerliche weit davon entfernt, ein negatives Element zu sein, denn in der allgemeinen Abwesenheit von kritischem Licht wird es zu einem Element des Zusammenhalts und der verbindenden Kraft innerhalb der breiten Masse. Diese Ebene der Zersetzung, die von den herrschenden Klassen gesteuert und verwaltet wird, die jedes Interesse daran haben, für sich selbst privilegierte Zonen zu schaffen, mögliche teutonische Schlösser, in denen sie sich verschanzen können, um ihren privilegierten Zustand der Eingeschlossenheit zu verwalten, indem sie auf Distanz bleiben und mit dem Hauptinstrument der Ignoranz den ständigen Druck der Ausgeschlossenen verwalten, manifestiert sich heute auf europäischer Ebene und könnte morgen globale Dimensionen annehmen. Der Zerfall des Sowjetimperiums brachte den kolossalsten Schub für diese Art von Partikularismus mit sich, der in Regionen, in denen die ethnischen Besonderheiten in vierzig Jahren erzwungener Gemeinsamkeit nicht ausgelöscht worden waren, noch verstärkt wurde. Und es war diese Besonderheit, die es fast immer auf sich nahm, sich zu entwickeln und an die Bedingungen des laufenden Klassenkonflikts anzupassen, das ideologische Element, bis es zu den Zuspitzungen von Grausamkeit und Brutalität kam, die man im ehemaligen Jugoslawien in Aktion sehen kann. Trotz der unterschiedlichen Situationen und damit trotz der extremen Vielfalt im Verhalten der einzelnen Staaten zeichnet sich ein hinreichend klarer Trend ab, der sich in der Hypothese eines gesteuerten Zerfalls oder eines fließenden Übergangs zu einer anderen Art der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten zusammenfassen lässt. Das Rezept für diesen Übergang ist komplex und besteht auf jeden Fall, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, aus einem administrativen und einem ideologischen Element. Diese beiden Elemente durchdringen und unterstützen sich gegenseitig, indem sie sich gegenseitig hervorbringen, ohne dass eines von ihnen den möglichen Rückgriff auf repressive Instrumente und eine vorübergehende Verwaltung der Macht ausschließen kann, die objektiv als eine Rückkehr in die Vergangenheit angesehen werden könnte. Politischer Pragmatismus zieht sich angesichts solcher Kleinigkeiten nicht zurück. Aber es bleibt die andere Ebene der Zersetzung, die in die Köpfe der Menschen eindringt, die auf individueller Ebene wirkt und die der Staat nicht vermeiden kann, weil er die Zersetzung selbst steuern muss und keine Verhaltensmodelle und Wertmaßstäbe aus der Vergangenheit vorschlagen kann. Die einzige Grenze, die sie diesem mangelnden Sinn für den Staat entgegensetzen kann, ist die kulturelle Segregation, die viel rigider und effektiver ist als die physische Segregation, die wir in der Vergangenheit zu sehen gewohnt waren. Eine noch nie dagewesene Apartheid, die unüberwindbar ist, weil sie auf der Abwesenheit von Begehren beruht, denn man kann nicht begehren, was man nicht kennt. Aber vorläufig, und es ist nicht absehbar, bis wann, findet dieser Zerfall statt und geht einher mit dem Verschwinden des ideologischen Bindeglieds, was für die Länder des Ostens positiv und für den sogenannten antikommunistischen Westblock negativ ist. Die Funktion, die der proletarische Internationalismus in der UdSSR oder in China hatte, bestand darin, ein Gegengewicht zur Angst vor dem Kommunismus zu schaffen, die von den Herrschaftsinteressen des Westens geschürt wurde. Als all das verschwand, wurden die großen Illusionen durch kleine Phantasien ersetzt, die in einigen Fällen in die Tat umgesetzt wurden, wie im Fall der verschiedenen Nationalismen, die de facto auf der europäischen Bühne agieren, und in einigen anderen Fällen noch in der Planung sind. Es ist nicht unwichtig, einige Überlegungen zu den Elementen dieser zerstörerischen Erosion von unten anzustellen, die heute nicht nur in Staaten mit fortgeschrittenem Kapitalismus zu beobachten ist. Beginnen wir mit dem Niedergang der Idee des Fortschritts. Dieses Konzept, das seinen Ursprung in der Aufklärung hat, sollte laut liberalistischem Geschwätz zuerst den Rechtsstaat und dann den demokratischen Staat untermauern, der es allen ermöglicht, zur Verbesserung der öffentlichen Angelegenheiten beizutragen. Nur, dass die Illusionen des Fortschritts13, um den Titel eines berühmten Buches von Georges Sorel zu verwenden, gerade dazu dienten, Hoffnungen auf Verbesserungen zu schüren, sowohl kurzfristige, reformistische, als auch langfristige, revolutionäre. Revolutionäre und reformistische Politiker teilten die Erwartung einer besseren Zukunft, die durch die objektive Bewegung der Geschichte garantiert wird. Diese Idee war alles andere als eine leere Übung müßiger Geister, sondern nährte in Millionen von Menschen Träume von zukünftigem universellem Überfluss, vom Greifen in den Haufen, indem sie Utopie und Verwaltungspragmatismus in denselben Korb warf. All das kam zu einem Ende und trug Stück für Stück zum fortschreitenden Zerfall bei. In diesem Punkt identifizieren sich marxistische und liberalistische Ideologien miteinander. Beide versprachen Wohlstand und Arbeit für alle, einen allgemeinen, aber differenzierten Konsum und ein exponentielles ökonomisches Wachstum. Dann wurde erkannt, dass die Nachfrage nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden kann und dass sich die Verbraucher in zwei Gruppen aufteilen müssen: diejenigen, die Zugang zum Konsum haben, und diejenigen, die ihre Bedürfnisse schrittweise bis zum Überleben reduzieren müssen. Auf globaler Ebene wird dies in den unterentwickelten Ländern deutlich, wo Menschen an Hunger, Krankheiten und mittelalterlichen Plagen sterben, ganz im Gegensatz zu den privilegierten Lebensbedingungen der herrschenden Klasse. Und diese Gegensätze sind nicht nur räumlich weit entfernt und durch Wüste oder Sümpfe begrenzt, sondern finden sich Seite an Seite in den großen Metropolen, die vielleicht der deutlichste Beweis für das Scheitern der progressiven Ideologie sind. Bei der kontinuierlichen Entwicklung der sozialen Bedingungen in den letzten Jahren haben sich bestimmte Prozesse verstärkt, die jetzt als echte Veränderungen angesehen werden können. Die Struktur der Herrschaft hat sich von einer klaren Herrschaftsbeziehung zu einer Beziehung verschoben, die auf Angleichung und Kompromissen beruht. Dies hat dazu geführt, dass die Nachfrage nach Dienstleistungen gegenüber der Nachfrage nach traditionellen Waren (z. B. langlebigen Konsumgütern) deutlich gestiegen ist. Dies hat zu einer Beschleunigung der IT-basierten Aspekte der Produktion und der damit verbundenen Robotisierung der Produktionssektoren geführt, was dazu geführt hat, dass der tertiäre Sektor (Handel, Tourismus, Transport, Kreditwesen, Versicherungen, öffentliche Verwaltung usw.) gegenüber den anderen Sektoren (Industrie und Landwirtschaft) die Oberhand gewonnen hat. All dies bedeutet nicht, dass der Industriesektor an Konsistenz oder produktiver Bedeutung verloren hat, sondern nur, dass er prozentual immer weniger Arbeiter beschäftigen wird, während die bisherigen Produktionsstandards beibehalten oder sogar erhöht werden. Das Gleiche gilt auch für die Landwirtschaft, die eine starke Beschleunigung der produktiven Industrialisierung erleben wird und sich daher nur noch statistisch und nicht mehr sozial vom Industriesektor unterscheiden kann. Im Wesentlichen sieht die Situation wie ein „Übergang“ aus, kein deutlicher und klarer Übergang, sondern eine Tendenzlinie. Es gibt keinen Bruch zwischen der industriellen und der post-industriellen Periode. Die Phase, in der wir uns befinden, ist sicherlich die der Überwindung veralteter Produktionsstrukturen, die umstrukturiert werden, aber es ist noch nicht die Phase der vollständigen Schließung von Fabriken und der Einführung der Herrschaft der computerisierten Produktion. Die Tendenz zur Auflösung von Produktionseinheiten und zur Stimulierung kleiner unabhängiger Kerne, die die Logik der Selbstausbeutung innerhalb des zentralisierten industriellen Produktionsprojekts voll anwenden, ist sicherlich bereits vorherrschend; aber wie es sich für die vorsichtigen Strategien des Kapitals gehört, wird sie weiterhin von langsamen Anpassungen innerhalb des industriellen Sektors im traditionellen Sinne begleitet werden. Das gilt viel mehr für eine Situation wie in Italien, die rückständiger ist als das japanische oder amerikanische Modell. In einem langsamen und unumkehrbaren Prozess werden die Arbeiterinnen und Arbeiter von gestern nach und nach aus den Fabriken entfernt und in eine Atmosphäre hoher Konkurrenzfähigkeit katapultiert, die mit allen Mitteln versucht, ihre Produktionskapazitäten zu steigern – das einzig akzeptable Gut für die computerisierte Logik der Produktionszentren. Die atomisierte kapitalistische Konfliktualität ist das tödlichste Element, das es gibt, das in der Lage ist, die andere Konfliktualität, die revolutionäre, die darauf abzielt, den Klassengegensatz nicht rekuperierbar zu machen, auszulöschen. Der höhere Verdienst der Bewohner der produktiven „Inseln“, ihre scheinbar größere „Freiheit“, ihre Möglichkeit, ihre Arbeitszeiten selbst zu bestimmen, ihre qualitativen Unterschiede (wenn auch immer in der Wettbewerbslogik des Marktes, der von den Zentren, die die Aufträge liefern, angetrieben wird), all das erzeugt die Überzeugung, dass sie im gelobten Land angekommen sind: dem Reich des Glücks und des Wohlstands. Immer höhere Gewinne und immer mehr übersteigerte „Kreativität“. Und diese Inseln des Todes werden sich mit ideologischen und praktischen Barrieren umgeben, die vor allem darauf abzielen, alle, die nicht dazugehören, in die stürmische See des unmöglichen Überlebens zurückzutreiben. Das Problem, das sich daraus ergibt, ist genau das der Ausgeschlossenen. Erstens, diejenigen, die am Rande stehen. Sie wurden aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen, weil sie sich nicht in die neue Wettbewerbslogik des Kapitals einfügen konnten, und sie sind oft nicht bereit, ein Mindestmaß an Überlebenschancen zu akzeptieren, das ihnen von einem Sozialstaat zugewiesen wird, der in einer Produktionssituation, die dazu neigt, die Tugenden des „Selfmademan“ zu verherrlichen, zunehmend als eine Ruine der Vergangenheit angesehen wird. Das werden nicht nur die Gruppen sein, die ethnisch zu dieser sozialen Rolle verurteilt sind, sondern im Zuge des sozialen Wandels, über den wir hier sprechen, werden auch soziale Gruppen daran teilhaben, die bisher in einer einschläfernden Lohnarbeit gefangen waren und nun in eine sich schnell und radikal verändernde Situation geworfen werden. Selbst die verbleibende Unterstützung, die diese zusätzlichen Gruppen genießen können (Frührente, Abfindungsfonds, verschiedene Sozialleistungen usw.), wird sie nicht dazu bringen können, eine Situation zu akzeptieren, die auch in qualitativer Hinsicht immer diskriminierender wird. Vergessen wir nicht, dass das Konsumniveau dieser ausgegrenzten Gruppen nicht einmal im Entferntesten mit dem der ethnischen Gruppen verglichen werden kann, die nie in die Lohnarbeitszonen aufgenommen wurden. Dies wird zweifellos zu Explosionen des „sozialen Unwohlseins“ anderer Art führen, die die Revolutionäre mit den grundlegenden Antrieben der Rebellion in Einklang bringen müssen. Und dann sind da noch die Eingeschlossenen, die in den „Inseln“ der Privilegien ersticken werden. Hier wird der Diskurs, der komplizierter zu werden droht, nur dann wesentlich, wenn man bereit ist, dem Menschen und seinem wirklichen Bedürfnis nach Freiheit Anerkennung zu schenken. Gerade die „Rückkehrer“ aus diesem Gebiet werden mit ziemlicher Sicherheit zu den rücksichtslosesten Vollstreckern der Logik des Angriffs auf das Kapital in seiner neuen Form gehören. Wir steuern auf eine Zeit blutiger Zusammenstöße und harter Repression zu. Der soziale Friede, der einerseits erträumt und andererseits gefürchtet wurde, bleibt der unzugänglichste Mythos jenes utopischen Kapitals, das sich als Erbe der „friedlichen“ Logik des Liberalismus wähnte, das das Wohnzimmer vom Staub des Tages säuberte und in der Küche schlachtete, das sich zu Hause eine wohltätige Gesinnung gab und in den Kolonien mordete. Die neuen Möglichkeiten für kleine, erbärmliche, obszöne tägliche Freiheiten werden mit einer tiefgreifenden, grausamen und systematischen Diskriminierung großer Teile der Gesellschaft bezahlt. Dies wird – früher oder später – innerhalb derselben privilegierten Schichten zum Wachstum eines Bewusstseins der Ausbeutung führen, das unweigerlich zu Rebellionen führen wird, selbst wenn diese auf einige wenige Personen beschränkt sind, selbst wenn es sich um die Besten handelt. Abschließend muss gesagt werden, dass der neuen kapitalistischen Perspektive eine starke ideologische Unterstützung wie in der Vergangenheit fehlt, die den Ausbeutern, insbesondere den mittleren Führungskräften, Halt geben könnte. Wohlstand um des Wohlstand willen ist zu wenig, vor allem für große Gruppen von Menschen, die in der jüngeren Vergangenheit direkt von befreienden Utopien, revolutionären Träumen und (wenn auch eingeschränkten und unglücklichen) Versuchen von insurrektionalistischen Projekten erfahren oder einfach nur darüber gelesen haben. Und es wird nicht lange dauern, bis die Letzteren die Ersteren einholen. Nicht alle, die dazugehören, werden glücklich im künstlichen Glück des Kapitals leben. Viele von ihnen werden erkennen, dass das Elend eines Teils der Gesellschaft das Wohlbefinden der anderen vergiftet und die Freiheit selbst (umgeben von Stacheldraht) zu einem königlichen Gefängnis macht. In den letzten Jahren hat das industrielle Projekt einige Kurskorrekturen erfahren, nicht zuletzt durch die Aufpfropfung von staatlichen Kontrollen und Methodologien, die mit den politischen Interessen der Konsensverwaltung verbunden sind. Betrachtet man es von der technischen Seite, kann man sehen, wie sich die Organisation der Produktion verändert. Sie steht nicht mehr im Mittelpunkt der Tätigkeit, die an einem bestimmten Ort, z. B. der Fabrik, ausgeübt werden soll, sondern verteilt sich immer mehr über das gesamte Gebiet, auch in großer Entfernung. Dies ermöglicht die Entwicklung von Industrieprojekten, die eine bessere und ausgewogene Verteilung der Produktionseinheiten über das Gebiet berücksichtigen und einen Aspekt der sozialen Ungleichgewichte der Vergangenheit auslöschen: Ghettos und industrielle Superkonzentrationen, Gebiete mit hoher Umweltverschmutzung und systematischer Zerstörung von Ökosystemen. Das Kapital blickt nun in eine ökologische Zukunft, schöpft aus dem großen Kessel der Umweltschützer und vertritt eine Ideologie des Schutzes der natürlichen Ressourcen, die es möglich erscheinen lässt, eine Stadt der Zukunft mit einem „menschlichen Gesicht“ zu bauen, sei es nun sozialistisch oder nicht. Das eigentliche Motiv, das das kapitalistische Projekt in diese fernen Länder der Utopie von gestern treibt, ist sehr einfach und keineswegs menschenfreundlich: es beruht auf der Notwendigkeit, das Unbehagen der Klasse zu minimieren und den tatsächlichen Konflikt mit einer honigsüßen progressiven Anpassung zu glätten, die auf unbegrenztem Vertrauen in die Technologie beruht. Es liegt auf der Hand, dass den Eingeschlossenen die attraktivsten Vorschläge gemacht werden, nicht zuletzt, um – so weit wie möglich – Ausfälle zu vermeiden, die der kapitalistischen Zukunft ein echter Dorn im Auge sein werden, da die einzelnen Subjekte, die ihre Planung in einem revolutionären Sinne ändern werden, wenn sie aus der Sphäre des Produktionsprozesses selbst kommen, über echte Mittel verfügen werden, die sie der Revolution gegen die Hegemonie der Ausbeutung zur Verfügung stellen können. Doch diese saint-simonistische Hoffnung14, die Welt durch „gute“ Technologie zu beherrschen, erweist sich schon jetzt als unbegründet, weil sie das Problem der physischen Dimensionen, die dem Ghetto der Ausgeschlossenen zuzuordnen sind, nicht berücksichtigt. Letztere können innerhalb des Gartenprojekts in einer Mischung aus Glück und Entbehrung recycelt werden, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Spannungen und ständige Wutausbrüche werden die ersehnte Utopie der Ausbeuter ernsthaft gefährden. Das war schon vorher klar. Die Probleme des Wettbewerbs und des Monopolismus drohten die Produktionsstrukturen in eine Reihe von wiederkehrenden „Krisen“ zu verwickeln. In den meisten Fällen handelt es sich um Produktionskrisen. Für die damalige Mentalität war es in der Tat unabdingbar, die sogenannten „Skaleneffekte“ zu erzielen, und das war nur möglich, indem man mit immer größeren Produktionsvolumina arbeitete und gleichzeitig die Fixkosten so gut wie möglich verteilen konnte. Daher die Standardisierung der Produktionsprozesse, die Anhäufung von Produktionseinheiten an bestimmten Orten, die chaotisch nach einer kolonisierenden Logik verteilt sind (z. B. die sizilianischen „Kathedralen in der Wüste“15), die Einheitlichkeit des Produkts, die Parzellierung von Kapital und Arbeit usw. Die ersten Korrekturen kamen durch das massive Eingreifen des Staates zustande. Die Möglichkeiten, die sich durch diese Präsenz eröffneten, waren vielfältig. Der Staat war nicht länger ein passiver Zuschauer, ein bloßer „Kassierer“ des Kapitals, sondern ein aktiver Akteur, ein „Bankier“ und Unternehmer. Im Wesentlichen geht es darum, die Produktion von Gebrauchswerten zu verringern und die Produktion von Tauschwerten zu erhöhen, um sozialen Frieden zu schaffen. Das Kapital fand eine Teillösung und beendete damit seine Wettbewerbszeit. Der Staat half mit, um die ökonomische Produktion vollständig in die Produktion von sozialem Frieden umzuwandeln. Dieses letzte utopische Projekt ist offensichtlich unerreichbar. Früher oder später geht die Maschine kaputt. Der neue Produktionsprozess – der schon oft als postindustriell bezeichnet wurde – ermöglicht niedrige Produktkosten auch bei nicht großvolumiger Verarbeitung; er erlaubt erhebliche Veränderungen in der Produktion, auch ohne Kapitalerhöhung; er entwickelt nie dagewesene Möglichkeiten für Veränderungen in der Produkt–Uniformität. Das eröffnet der Mittelklasse, den Führungskräften in der Produktion und der vergoldeten Isolation der herrschenden Klassen Horizonte der „Freiheit“, die vorher unvorstellbar waren. Aber es erinnert sehr an die Freiheit der Burg der Deutschordensritter im Nazi-Stil. Rund um die Mauern der Burg, die von bewaffneten Männern wimmelt, herrscht nur der Frieden der Friedhöfe. Keiner der Verfechter der Ideologien des postindustriellen Neokapitalismus hat sich die Frage gestellt, was er angesichts der Gefahr, die auf ihn zukommt, tun soll. Künftige Aufstände werden immer blutiger und schrecklicher werden. Und sie werden es noch mehr sein, wenn wir wissen, wie wir sie in einer Insurrektion der Massen verwandeln können. Die negative Auslese gegenüber denjenigen, die von der Burg der teutonischen Ritter ausgeschlossen werden, wird nicht nur durch die reale Arbeitslosigkeit hervorgerufen, sondern vor allem durch den fehlenden realen Zugang zu Daten. Das neue Produktionsmodell wird zwangsläufig die Verfügbarkeit von Datenwissen verringern. Das ist nur zum Teil eine Folge der Computerisierung der Gesellschaft. Vielmehr ist sie eine der Voraussetzungen für die neue Herrschaft, die seit mindestens zwei Jahrzehnten geplant ist und ihren Höhepunkt in der Schule der Massen findet, die schon vor langer Zeit von adäquaten kulturellen Mitteln entleert wurde. Genau wie zur Zeit der industriellen Revolution führte das Aufkommen der Maschinen zu einer Verringerung der Selbstbestimmungsfähigkeit großer Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern und damit zu ihrem Eindringen in die Fabriken, wodurch die bisherige bäuerliche Kultur zerstört und dem Kapital eine Belegschaft ausgeliefert wurde, die praktisch nicht in der Lage war, die neue mechanisierte Welt, die sich abzeichnete, zu „verstehen“; die Computerrevolution, die vom Staat auf den Anpassungsprozess der kapitalistischen Widersprüche aufgepfropft wurde, ist dabei, das Industrieproletariat in die Hände eines neuartigen Mechanismus zu geben, der mit einer Sprache ausgestattet ist, die nur von einer privilegierten Minderheit verstanden wird. Der Rest wird zurückgedrängt und gezwungen, das Schicksal des Ghettos zu teilen. Das alte Wissen, selbst das, das von Intellektuellen durch den deformierenden Spiegel der Ideologie gefiltert wurde, wird in Maschinensprache kodiert und mit den neuen Bedürfnissen kompatibel gemacht. Dies wird eine der historischen Gelegenheiten sein, um unter anderem den mageren Realgehalt des ideologischen Blödsinns zu entdecken, mit dem wir in den letzten zwei Jahrhunderten gefüttert worden sind. Das Kapital wird dazu neigen, alles aufzugeben, was sich nicht sofort in diese neue, allgemeine Sprache übersetzen lässt. Traditionelle Bildungsprozesse werden inhaltlich immer mehr entwertet und ihre tatsächliche (und selektive) Warensubstanz freigelegt. Als Ersatz für die Sprache wird ein neuer Verhaltenskanon bereitgestellt, der aus mehr oder weniger präzisen Regeln besteht und im Prinzip aus den alten Prozessen der Demokratisierung und des Funktionierens von Vollversammlungen besteht, die das Kapital bereits perfekt zu kontrollieren gelernt hat. Dies hat den doppelten Nutzen, dass die Ausgegrenzten beschäftigt bleiben und an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten „teilhaben“ können. Die computerisierte Gesellschaft von morgen hat vielleicht ein sauberes Meer und eine „fast“ perfekte Erhaltung der begrenzten Umweltressourcen, aber sie wäre ein Dschungel von Verboten und Regeln, die zu ihrem Entsetzen in eine tiefgreifende persönliche Entscheidung zur Beteiligung am Gemeinwohl umgewandelt werden. Ohne eine Orientierungssprache sind die Ghettoisierten nicht mehr in der Lage, zwischen den Zeilen der Kommunikation der Macht zu lesen, und es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sich spontan, irrational und selbstzerstörerisch aufzulehnen. Die Zusammenarbeit derjenigen, die von der fiktiven Freiheit des Kapitals angewidert sind, die revolutionär einen kleinen Teil der Technologie beisteuern, die sie dem Kapital entrissen haben, wird nicht ausreichen, um eine Brücke zu bauen oder eine Sprache zu finden, auf der eine kluge und korrekte Gegeninformation aufbauen kann. Die organisatorische Arbeit zukünftiger Insurrektionen wird notwendigerweise dieses Problem lösen müssen, um – vielleicht bei Null beginnend – die wesentlichen Bedingungen einer Kommunikation zu konstruieren, die im Begriff ist, unterbrochen zu werden, und die gerade im Moment ihrer Schließung durch spontane und unkontrollierte Reaktion zu Demonstrationen von solcher Gewalt führen könnte, dass vergangene Erfahrungen leicht in der Bedeutungslosigkeit verblassen würden. Man darf sich das Ghetto nicht als Slum der Vergangenheit vorstellen, als einen Harlekinmantel aus dem Müll der Überflüssigen, der über das Leid der Entbehrung geworfen wird. Das neue Ghetto, das durch die Regeln der neuen Sprache kodifiziert ist, wird ein – natürlich passiver – Nutzer der Technologien der Zukunft sein und auch in der Lage sein, die rudimentären manuellen Fähigkeiten zu besitzen, die es ihm ermöglichen, Objekte zu bedienen, die nicht nur Bedürfnisse befriedigen, sondern selbst ein großes und kolossales Bedürfnis sind. Diese Gesten werden so verarmt sein, dass sie perfekt zu der allgemeinen Verarmung der Lebensqualität im Ghetto passen. Sogar Objekte von beträchtlicher produktiver Komplexität können zu relativ niedrigen Kosten geliefert und mit jenem panischen Gefühl der Exklusivität beworben werden, das die Käufer jetzt in den Bann der Projekte des Kapitals zieht. Wenn sich die Produktionsbedingungen geändert haben, werden wir außerdem nicht mehr eine serielle Wiederholung desselben Objekts mit erheblichen Schwierigkeiten (vor allem in Bezug auf die Kosten) für Modifikationen und technologische Entwicklungen haben, sondern (sogar innerhalb des Ghettos) eine Reproduktion von artikulierten, flexiblen, austauschbaren Prozessen, die in der Lage sind, (zu geringen Kosten) die neuen Ideen der Kontrolle zu nutzen und in besonderer Weise in der Lage sind, die Nachfrage selbst zu beeinflussen, sie zu orientieren und die wesentlichen Bedingungen der Produktion des sozialen Friedens zu realisieren. Eine solche scheinbare Vereinfachung des Lebens, sowohl für die Eingeschlossenen als auch für die Ausgeschlossenen, eine solche technologische „Freiheit“ lässt Ökonomen und Soziologen heute träumen, die sich – wie die guten Menschen, die sie immer waren – erlauben, die Umrisse einer klassenübergreifenden Gesellschaft zu skizzieren, die in der Lage ist, „gut zu leben“, ohne die Ungeheuer des Klassenkampfes, des Kommunismus oder der Anarchie zu wecken. Der Rückgang des Interesses an den Gewerkschaften/Syndikaten und die Entleerung der reformistischen Bedeutung, die diese Organisationen in der Vergangenheit hatten, und ihre Umwandlung in eine bloße Übermittlungskette für die Weisungen der Arbeitgeber werden als Beweis für das Ende des Klassenkampfes und das Aufkommen der klassenübergreifenden Realität gesehen, und das alles parallel zum Aufkommen der postindustriellen Gesellschaft. Das ist aus mehreren Gründen, die wir weiter unten sehen werden, nicht sinnvoll. Die Gewerkschafts- Syndikatsbewegung (welcher Art auch immer) hat ihre revolutionäre Bedeutung verloren (falls sie jemals eine hatte), und sogar ihre reformistische Bedeutung, nicht weil der Klassenkampf vorbei ist, sondern weil sich die Bedingungen des Kampfes grundlegend verändert haben. Letztendlich stehen wir vor einer Fortsetzung mit immer größer werdenden und unlösbaren Widersprüchen. Schematisch können zwei Phasen rekonstruiert werden. Im Industriezeitalter herrschen Kapitalkonkurrenz und ein Produktionsprozess, der auf Herstellung basiert. Der wichtigste ökonomische Sektor ist der sekundäre Sektor, der produzierte Energie als transformierende Ressource und Finanzkapital als strategische Ressource nutzt. Die Technologie dieser Zeit ist im Wesentlichen mechanisch und die prominenteste Produzentenfigur ist die des Fabrikarbeiters. Die in den Projekten angewandte Methodologie ist empirisch, d.h. sie basiert auf Experimenten, während die Organisation des gesamten Produktionsprozesses auf ökonomischem Wachstum bis ins Unendliche basiert. In der postindustriellen Periode, auf die wir uns zubewegen, in die wir aber noch nicht ganz eingetreten sind, insbesondere in der italienischen Situation, setzt sich der Staat über die kapitalistische Konkurrenz durch und setzt seine Systeme der Konsensbildung und Produktionsordnung im Wesentlichen zum Zweck des sozialen Friedens durch. Die technische Herstellungsweise wird durch die Verarbeitung von Daten und die Umwandlung von Dienstleistungen ersetzt. Der vorherrschende ökonomische Sektor wird der tertiäre Sektor (Dienstleistungen, eben), der quartäre Sektor (spezialisierte Finanzen), der quinäre Sektor (Forschung, Freizeit, Bildung, öffentliche Verwaltung). Die wichtigste transformative Ressource ist die Information, die aus einem komplexen System der Datenübertragung besteht, während die wichtigste strategische Ressource das Wissen ist, das langsam das Finanzkapital ersetzt. Die Technologie verlässt die mechanische Komponente und bewegt sich auf die intellektuelle zu; der typische Mitarbeiter dieser neuen Technologie ist nicht mehr der Arbeiter, sondern der Techniker, der Fachmann, der Wissenschaftler. Die in den Projekten angewandte Methodologie basiert auf abstrakter Theorie und nicht mehr auf Experimenten, während die Organisation des Produktionsprozesses auf der Kodifizierung von theoretischem Wissen beruht. Die Dämmerstunde der Arbeiter-Zentralität -. Indem er sich auf die industrielle Produktionsphase konzentrierte, betrachtete der Marxismus den Beitrag der Arbeiterklasse zur revolutionären Lösung der gesellschaftlichen Widersprüche als grundlegend. Daraus ergab sich eine tiefgreifende Konditionierung der Strategie der revolutionären Bewegung, die sich an den Zielen der Machteroberung orientierte. Dahinter steckt der von Marx gepflegte Hegelsche Irrglaube, dass der dialektische Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie durch eine indirekte Stärkung des Proletariats durch die Stärkung des Kapitals und des Staates verschärft werden kann. Auf diese Weise wurde jeder Sieg der Unterdrückung als Vorzimmer des zukünftigen proletarischen Sieges gelesen. All dies in einer fortschrittlichen – typisch aufklärerischen – Vision von der Konstruierbarkeit des „Geistes“ in der Welt der Materie. Mit zweifellos interessanten Modifikationen hat sich diese alte Vorstellung vom Klassenkampf bis gestern gehalten, zumindest in einigen der alptraumhaften Träume, die die Überlebenden der alten Projekte von Ruhm und Eroberung von Zeit zu Zeit hatten. Auf theoretischer Ebene hat es nie eine ernsthafte kritische Analyse dieser rein fantastischen Situation gegeben. Man war sich nur mehr oder weniger einig, dass die zentrale Rolle der Arbeiterinnen und Arbeiter an eine andere Stelle verlagert wurde. Zunächst zaghaft, im Sinne einer Verbreitung der Fabrik im Gebiet. Dann, noch entscheidender, im Sinne einer fortschreitenden Ersetzung der klassischen sekundären durch tertiäre Produktionsprozesse. Auch die Anarchistinnen und Anarchisten hatten ihre Illusionen, und auch diese sind untergegangen. Um die Wahrheit zu sagen, hatten sie nie die Illusion von der Zentralität der Arbeiterklasse, aber sie sahen die Rolle der Arbeit oft als grundlegend an, wobei die Industrie die Führung über den primären Sektor (Landwirtschaft) übernahm. Diese Illusionen wurden durch den Anarcho-Syndikalismus genährt. Die letzten Feuer in diesem Sinne wurden mit der Wiedergeburt und dem anschließenden Erlöschen des Enthusiasmus für die aus der Asche auferstandene spanische CNT gesehen, und es waren viele, angefacht vor allem von denen, die heute als die radikalsten Verfechter der neuen „Wege“ des reformistischen Anarchismus erscheinen. Die zugrundeliegende Vorstellung, die diese Form der Zentralität der Arbeiter antreibt (die sich von der der Marxisten unterscheidet, aber nicht so unterschiedlich ist, wie gemeinhin angenommen wird), war der Schatten der Partei. Die anarchistische Bewegung fungierte lange Zeit vor allem als synthetisierende Organisation, also mit dem schwerlastigen Teil der Partei. Natürlich könnten einige Gefährten einwenden, dass diese Aussagen zu allgemein sind, aber sie können nicht leugnen, dass die Mentalität, die die Synthesebeziehung bestimmt, die eine spezifische anarchistische Organisation mit der äußeren Realität der Bewegung herstellt, eine Beziehung ist, die der der klassischen „Partei“ nahe kommt. Gute Absichten allein sind nicht genug. Genau, diese Mentalität ist überholt. Nicht nur bei den jüngeren Gefährten und Gefährtinnen, die ein offenes und ungezwungenes Verhältnis zur revolutionären Bewegung wünschen, sondern vor allem in der gesellschaftlichen Realität selbst. Wenn die für die Industrie typischen Produktionsbedingungen einen syndikalistischen/gewerkschaftlichen Kampf oder eine auf Syntheseorganisation basierende Strategie verständlich machten, so ist heute, in einer tiefgreifend veränderten Realität, in einer postindustriellen Perspektive, die einzig mögliche Strategie für Anarchistinnen und Anarchisten die informelle, d.h. von Gruppen von Gefährtinnen und Gefährten, die sich mit präzisen Zielen zusammenschließen, auf der Grundlage von Entscheidungen der Affinität (A.d.Ü., oder eher durch?) dazu beitragen, Basiskerne zu schaffen, die auf Zwischenziele ausgerichtet sind, und in der Zwischenzeit die Bedingungen schaffen, um die Situationen in insurrektionalistische Bedingungen zu verwandeln. Die Partei des Marxismus ist tot. Auch die Syntheseorganisation der Anarchisten. Wenn ich Kritik wie die von sozialen Ökologinnen und Ökologen lese, die vom Tod des Anarchismus sprechen, wird mir klar, dass es sich dabei um ein sprachliches Missverständnis handelt und dass es an der Fähigkeit mangelt, sich mit den Themen auseinanderzusetzen. Was für sie – und auch für mich – tot ist, ist der Anarchismus, der sich als organisatorischer Bezugspunkt der kommenden Revolution verstand, der sich als Synthesestruktur verstand, die darauf abzielte, all die vielfältigen Formen zusammenzufassen, in denen sich die menschliche Kreativität zur Zerschlagung der staatlichen Konsens- und Unterdrückungsstrukturen verwirklicht. Was tot ist, ist der statische Anarchismus der traditionellen Organisationen, der auf den Ansprüchen von Forderung und Quantität beruht. Die Hoffnung, dass eine soziale Revolution zwangsläufig aus unseren Kämpfen resultieren muss, hat sich als unbegründet erwiesen. Es kann so sein, oder es kann auch nicht so sein. Der Determinismus ist tot, und das blinde Gesetz von Ursache und Wirkung ist damit auch tot. Die revolutionären Mittel, die wir einsetzen, einschließlich der Insurrektion, führen nicht zwangsläufig zu einer sozialen Revolution. In Wirklichkeit gibt es das Kausalmodell, das den Positivisten des letzten Jahrhunderts so wichtig war, nicht. Genau deshalb wird eine Revolution möglich. Kürzere Datenübertragungszeiten führen zu schnelleren Entscheidungen. Indem diese Zeiten auf Null zurückgesetzt werden (wie es bei der „Echtzeit“ der Fall ist), werden programmatische Entscheidungen nicht beschleunigt, sondern verändert. Sie sind etwas anderes. Durch den Wechsel der Projekte werden auch die Elemente der produktiven Investitionen verändert, indem man vom traditionellen (hauptsächlich finanziellen) Kapital zum Kapital der Zukunft (hauptsächlich intellektuell) übergeht. Die Verwaltung des Verschiedenen ist eines der grundlegenden Elemente von Echtzeit. Aber die Macht, indem sie das Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie verfeinert, Wettbewerbswidersprüche eindämmt, die Konsensbildung organisiert und, was noch viel wichtiger ist, all dies in einer Echtzeitperspektive programmiert, schneidet diese einen großen Teil der Gesellschaft ein für alle Mal aus: den Teil der Ausgeschlossenen. Die Veränderung der Geschwindigkeit der Produktionsabläufe wird vor allem einen kulturellen und sprachlichen Wandel zur Folge haben. Und hier liegt die größte Gefahr für die Ghettoisierten. Um der Macht die Legitimität zu negieren und ein „vielfältiges Verhalten“ zu erzeugen, braucht es eine Sprach-, wenn nicht sogar eine Interessengemeinschaft. Die Partei hat das Gleiche getan und die Gewerkschaften/Syndikate auch. Die Sprachgemeinschaft wurde in eine fiktive Opposition von Klassenunterschieden übersetzt, die durch die Forderung nach Verbesserungen und den Widerstand, diese zu gewähren, charakterisiert war. Aber etwas zu fordern, setzt eine „Gemeinschaft“ mit denjenigen voraus, die die Sache, die du fordern willst, vertreten. Jetzt zielt das globale Unterdrückungsprojekt darauf ab, diese Gemeinschaft zu zerschlagen. Nicht unbedingt durch spezielle Gefängnismauern, Ghetto-Viertel, Trabantenstädte oder große Industriezonen, sondern ganz einfach durch die Dezentralisierung der Produktion, die Verbesserung der Dienstleistungen, die Ökologisierung der Produktionsmentalität und die absolute Ausgrenzung der Ausgeschlossenen. Und diese Trennung wird dadurch erreicht, dass sie schrittweise der gemeinsamen Sprache beraubt werden, die sie bis dahin mit dem anderen Teil der Gesellschaft hatten. Sie werden nicht mehr wissen, worum sie bitten sollen. Die Konsensbildung basierte in einer Ära, die man noch als industriell bezeichnen konnte, auf einer möglichen Beteiligung an den produktiven Vorteilen. In einer Epoche, in der die Möglichkeiten der Veränderung des Kapitals praktisch unendlich sind, braucht das Duo Kapital-Staat eine eigene Sprache, die sich von der Sprache der Ausgeschlossenen unterscheidet, um diese Aussicht bestmöglich zu realisieren. Die Unzugänglichkeit zur vorherrschenden Sprache wird eine noch wirksamere Segregation darstellen als die traditionellen Grenzen des Ghettos. Die immer schwieriger werdende Erschließung der dominanten Sprache wird nach und nach immer schwieriger werden, bis sie absolut „anders“ wird. Von diesem Moment an wird sie aus den Wünschen der Ausgeschlossenen verschwinden und völlig ignoriert werden. Von diesem Moment an sind die Eingeschlossenen für die Ausgeschlossenen „anders“ und umgekehrt. Für das repressive Projekt ist diese Fremdartigkeit unerlässlich. Die grundlegenden Konzepte der Vergangenheit, wie die der Solidarität, des Kommunismus, der Revolution und der Anarchie, fanden ein sinnvolles Fundament in der anerkannten Bedeutung des Gedankens der Gleichheit. Aber für die germanischen Ritter, die in der Burg leben, werden die Ausgeschlossenen keine Menschen sein, sondern bloße Dinge, Gegenstände, so wie für unsere Vorfahren Sklaven bloße Dinge waren, die man kaufen und verkaufen konnte. Wir fühlen uns dem Hund gegenüber nicht gleichberechtigt, weil dieses Tier nur bellt, also nicht unsere Sprache „spricht“. Deshalb lieben wir ihn zwar, aber wir empfinden ihn als „anders“ und machen uns keine Gedanken über sein Schicksal, zumindest nicht auf der Ebene aller Hunde insgesamt, sondern hängen lieber an dem Hund, der uns mit Herablassung, Zuneigung oder Wildheit gegenüber seinen Feinden versorgt. Das Gleiche gilt für alle, die nicht dieselbe Sprache haben wie wir. Beachte, dass man hier nicht „Ausdrucksweise“ mit „Sprache“ verwechseln sollte. Unsere fortschrittliche und revolutionäre Tradition hat uns bewusst gemacht, dass alle Menschen gleich sind, ungeachtet der Unterschiede in Hautfarbe und Sprache. Stattdessen haben wir es hier mit einer möglichen Entfaltung des repressiven Projekts in dem Sinne zu tun, dass den Ausgeschlossenen die Möglichkeit genommen wird, mit den Eingeschlossenen zu kommunizieren. Indem sie die Verwendbarkeit des geschriebenen Wortes stark einschränkt, indem sie Zeitungen und gedrucktes Papier allmählich durch das per Kabel übertragene Wort, durch Bilder, Farben und Musik ersetzt, kann die Macht von morgen eine Sprache konstruieren, die nur für die Ausgeschlossenen geeignet ist, die ihrerseits verschiedene, sogar kreative Wege der sprachlichen Reproduktion entwickeln, aber immer innerhalb ihres eigenen Codes, völlig abgeschnitten von jeglichem Kontakt mit dem Code der Eingeschlossenen und damit von jedem möglichen Verständnis der Welt der Letzteren. Und von Unverständnis bis hin zu Desinteresse und Engstirnigkeit ist der Weg kurz. In diesem Sinne befindet sich der Reformismus auf dem Weg in den Tod. Es werden keine „Ansprüche“ möglich sein, weil wir nicht wissen, was wir von einer Welt fordern sollen, die uns nicht mehr interessiert und uns nichts Verständliches mehr sagt. Abgeschnitten von der Sprache der Eingeschlossenen, werden die Ausgeschlossenen folglich auch von der von ihnen entwickelten Technologie abgeschnitten sein. Sie werden vielleicht in einer besseren, atemberaubenderen Welt leben, mit weniger Gefahren durch apokalyptische Konflikte, mit einer allmählichen Abschwächung der Spannungen auf ökonomischer Basis, aber mit einer Zunahme der Spannungen auf irrationaler Basis. Von den eher peripheren Gebieten des Planeten, in denen die Durchsetzung des Projektes der Ausbeutung trotz seiner „Echtzeit“ immer auf Hindernisse ethnischer und geografischer Natur stoßen wird, bis hin zu den zentraleren Gebieten mit einem fortgeschrittenen Grad an Rigidität in der Klassenspaltung wird es eine Verschiebung weg von Konflikten auf ökonomischer Basis hin zu Konflikten irrationaler Natur geben. Die Eingeschlossenen und ihre Projekte der Kontrolle mögen das Ziel verfolgen, einen Konsens zu erreichen, indem sie die ökonomischen Schwierigkeiten der Ausgeschlossenen verringern, sie mögen ihnen sogar vorgefertigte Sprachen zur Verfügung stellen, die auf die partielle und sklerotische Nutzung16 eines Teils der herrschenden Technologie ausgerichtet sind, sie mögen sogar eine bessere Lebensqualität ermöglichen, aber sie werden nicht in der Lage sein, die Ausbrüche irrationaler Gewalt zu verhindern, die aus dem Gefühl der Nutzlosigkeit, der Langeweile und der tödlichen Atmosphäre des Ghettos entsteht. Die Massenbewegungen, die einige unserer Gefährten und Gefährtinnen heute so beeindrucken und ihnen ihre Gefährlichkeit (und ihrer Meinung nach auch ihre Nutzlosigkeit) vor Augen führen, weisen auf die am ehesten vorhersehbare Entwicklung der Kämpfe von morgen hin. Viele Jugendliche sind praktisch nicht mehr in der Lage, die Situation, in der sie sich befinden, kritisch zu beurteilen. Ohne das Mindestmaß an Kultur, das die Schulen einst vermittelten, und bombardiert mit Botschaften, die auf grundloser und zweckloser Gewalt beruhen, werden sie auf tausend Arten zu einer unbewussten, irrationalen, spontanen Rebellion getrieben, ohne die „politischen“ Ziele, die frühere Generationen klar zu erkennen glaubten. Die „Orte“ dieser kollektiven Explosionen und die Wege dorthin sind sehr unterschiedlich. Die Anlässe auch. In jedem Fall kann man jedoch einen Weg der Intoleranz gegenüber der Verwaltung des Todes zurückverfolgen, den die kapital-staatliche Kombination durchsetzen will. Es ist völlig sinnlos, sich von solchen Demonstrationen einschüchtern zu lassen, denn ihnen fehlt der Interpretationsschlüssel, den uns die Tradition als Indikator für revolutionäre Instanzen in Massenbewegungen gelehrt hat. Es geht nicht darum, Angst zu haben, sondern zur Tat zu schreiten17, bevor es zu spät ist. Veränderungen in der Welt der Arbeit und der Schule Der Glaube, dass die Planung einer konstanten Steigerung des kollektiven Wohlstands durch die Ausweitung der Nachfrage etwas Illusorisches und Unmögliches ist, erschüttert alle materiellen Erwartungen und verschiebt den Eintritt von Randgruppen in den Bereich des sinnvollen Konsums auf unbestimmte Zeit. Mit Schrecken stellt man fest, dass dieser Bereich im Gegenteil schrumpft, dass der Staat immer weniger in der Lage ist, ein akzeptables Wohlergehen zu gewährleisten, da immer größere Bevölkerungsschichten aus den Grenzen der Imperien drängen und jedes mittelfristige Rezept zu einem periodischen Scheitern wird, das prompt mit Definitionen eines hoffnungsvollen Possibilismus übermalt wird. Monumentale Programme entpuppen sich als minderwertige politische Betrügereien. Es wird nicht nur versäumt, das Armutsproblem durch eine umfassende soziale Umstrukturierung zu lösen, sondern es besteht auch der bewusste Unwille, das Problem zu lösen. Die Vereinigten Staaten als das reichste Land stellen damit die Geißel einer düsteren Zukunft für ihre proletarischen Massen dar, die sich auf dem Weg in die Deentlohnung18 und Marginalisierung befinden. In einer Welt, die immer mehr die Form von Nachrichtenverbreitung und Informationsverwaltung annimmt, vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich, anstatt sich zu verringern, und dieser inzwischen unüberbrückbare Abgrund ist in den solidesten und monolithischsten staatlichen Verhältnissen, in denen der Dezentralisierungsprozess noch in seinen formalen Aspekten stecken bleibt, noch viel größer. Ein riesiges Universum von heruntergekommenen Gebäuden breitet sich wie ein Lauffeuer aus und bedeckt selbst Gebiete, die früher als entwickelt galten, als Zentren der Geschäfte und des Ideenaustauschs, mit erschreckenden Flecken von radikalem Elend. Die Metropolen stellen den extremen Bruchpunkt dieses konzentrierten Universums innerhalb einer kontinuierlichen und ununterbrochenen Bewegung der Kommunikation dar. So ist man inmitten der Menschen auf sich allein gestellt, isoliert in der Wüste, die das globale Dorf selbst beinhaltet. Es ist nicht nur ein Problem des ökonomischen Wohlstands. Es ist auch das Scheitern aller Freiheitsversprechen, aller Hoffnungen auf eine endgültige Bestätigung der Würde des Menschen, egal welcher Rasse und welchen sozialen Standes. Die Werte, die im globalen Dorf herrschen, sind alles andere als universell. Es sind Werte der Trennung, der Ghettoisierung, der endlosen Wiederholung aller Klischees, die Barrieren errichten und die erzwungene Konzentration ermöglicht haben. Im Gegenteil, von vielen Seiten, sowohl von der Rechten als auch von der Linken, kommen Argumente, die universelle Werte, die für alle gelten, für unangemessen erklären; Konzepte wie Gleichheit, die real und nicht fiktiv ist, werden oft mit wenig Unterscheidungsvermögen kritisiert. Bei der Verteidigung von Unterschieden werden einerseits Affinitäten markiert, die angemessene Reaktionen jenseits der alten Klassenmuster verfestigen könnten; andererseits werden Unterschiede, die keine solchen sind, wie die zwischen Nationen und Völkern, verschärft, wobei manchmal auf Diskurse zurückgegriffen wird, die mehr als vierzig Jahre lang begraben schienen. In diesem Hexenkessel scheint keine starke zentralistische Staatsperspektive akzeptabel zu sein, und das ist den Menschen definitiv bewusst geworden. Eines der Symptome, und in anderer Hinsicht vielleicht auch eine der Ursachen, dieses von unten nach oben verlaufenden Zerfalls des Staatsverständnisses ist in der Krise der humanistischen Kultur zu suchen, der traditionellen Grundlage jedes starken Staates. Die unglaubliche Absenkung der Qualität der Schulbildung, einschließlich der Hochschulbildung, erreicht gerade in den Geisteswissenschaften und den höchsten Abschlüssen in Ländern mit dem höchsten industriellen Entwicklungsstand ungeahnte Ausmaße. Dies wird keineswegs durch einen ansonsten zu vernachlässigenden Zuwachs an technologischer Kultur kompensiert, und auf jeden Fall wäre diese letztere Kultur, selbst wenn sie in einem Lebens- und Denkmodell identifizierbar wäre, wie es die alte humanistische Kultur war, für einen starken und verwaltungsmäßig einheitlichen Staat nicht ausreichend. Dieser reale Zustand der Auflösung des Staatsverständnisses kann für einen Anarchisten sehr interessant sein, wenn dieser wirklich in der Lage ist, aus den historischen Fesseln einer überholten -Ansammlung revolutionärer Konzeptionen auszubrechen. Gleichzeitig bleibt dieser Zustand ein Nährboden für die Ausbreitung unzähliger politischer Bewegungen, die sich auf einzelne Argumente stützen und nicht in der Lage sind, eine globale Vision des Lebens und der Gesellschaft zu bieten, wie es der Anarchismus ist. Auf dem Terrain des Verzichts auf den traditionellen Staat gibt es daher viele Referenzen, die politisch bleiben und deren einziger Zweck es ist, die tiefgreifenden Veränderungen des Kapitalismus in der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten im globalen Maßstab zu begleiten. Aber das ist eine andere Sache. a) Beziehungen zwischen Inflation und Beschäftigung Es gibt viele Definitionen von Inflation, die sich in der einfachen Beobachtung eines Aufwärtstrends des allgemeinen Preisniveaus zusammenfassen lassen. Für das neoklassische ökonomische Denken (bis in die 1920er Jahre) war Inflation nur auf den Fall eines totalen Währungskollapses (z. B. in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg) beschränkt, bei dem Preissteigerungen jenseits jedes logischen Maßes und jeder Progression liegen. Der normale Preistrend wurde als ausgleichender Trend des Marktes betrachtet, der auf diese Weise die günstigen Perioden, in denen die Preise plötzlich stiegen, mit Abwärtsphasen ausglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen war der Preisanstieg ein ununterbrochenes Phänomen, das parallel zum Anstieg der Geldeinkommen verlief. Die neoklassischen Ökonomen gingen davon aus, dass es trotz der ständigen Ungleichgewichte und Abweichungen vom Vollbeschäftigungsniveau eine spontane Tendenz zur Rückkehr zum Gleichgewicht im System gibt, da eine Reihe von automatischen Mechanismen als Korrektiv wirken. Zu diesen Mechanismen gehören auch die Auswirkungen von Preisbewegungen. Sie sagten, dass in einem ökonomischen System mit einem Überangebot und daher einer Tendenz zu steigender Arbeitslosigkeit ein Rückgang der Preise (als Ergebnis einer Erhöhung des Produktangebots) zu einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung führen würde (als Ergebnis eines Rückgangs der Löhne). In Wirklichkeit sahen die Dinge anders aus. Der Preisverfall führte zu einer Verringerung der ökonomischen Aktivität und damit zu einem Rückgang der Nachfrage nach Einkäufen19 (aufgrund des Rückgangs der verfügbaren Lohnlinien, d.h. erhöhter Arbeitslosigkeit), was nicht zu einer Wiederherstellung des optimalen Beschäftigungsniveaus führte, sondern im Gegenteil zu immer größerer Arbeitslosigkeit. Keynes war der erste, der der Meinung war, dass nur staatliche Eingriffe die Situation korrigieren könnten. Er zeigte den Zusammenhang zwischen Nachfrage, Einkommensniveau und Beschäftigung auf. Die Einwirkung auf die Beschäftigung wirkte sich also auf die Nachfrage aus, was die Produktion ankurbelte und einen Mechanismus in Gang setzte, der zur Vollbeschäftigung tendierte. Das Denken dieses englischen Ökonomen entwickelte sich angesichts der Ereignisse, die den Kapitalismus in den 1930er Jahren betrafen. Damals herrschte hohe Arbeitslosigkeit in einem Kontext, der den Unternehmern selbst bei einem starken Rückgang der Kosten (sinkende Löhne, sinkende Zinsen für Kapitalkredite) keine Aussicht auf künftige Investitionen bot, und das, weil sie ihre Produkte mit ziemlicher Sicherheit nicht verkaufen konnten. Die Arbeitslosigkeit hat heute andere Merkmale als in den 1930er Jahren. Das liegt an den institutionellen Mechanismen, die diesen Prozess verlangsamen (Tarifverträge, gewerkschaftliche/syndikalistische Kämpfe usw.), und ist nicht unbedingt mit sinkenden Löhnen und damit mit einer geringeren Kampfbereitschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter verknüpft. Im Gegenteil, sie kann auch aus der Angst der Arbeitgeber entstehen, die Situation nicht unter Kontrolle zu haben. Zum Beispiel kann eine übermäßige Gewerkschafts-, Syndikatsmacht die andere Seite dazu bringen, keine neuen Mitarbeiter einzustellen und damit die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. In diesem Fall – dem von Mitte der 1980er Jahre – reicht Keynes‘ Rezept zur Stützung der Nachfrage nicht aus. Es entsteht die merkwürdige Situation, dass die Unterstützung der Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter, die zunächst als Mittel zur Stärkung der schwächeren Partei ausgegeben wurde, in der Praxis aber auf die Aufrechterhaltung der Nachfrage abzielt, einen ebenso unvermeidlichen Zweck erfüllt, nämlich die Verringerung der Investitionen aufgrund des Rückgangs der Renditeerwartungen für das Kapital, was zu einem Rückgang der Produktion und damit zu einem Anstieg der Inflation führt. Das Kapital hat zwei Möglichkeiten, mit der Inflation umzugehen. Die erste geht davon aus, dass das kapitalistische System von einem inhärenten Mechanismus gesteuert wird, der es spontan zum Gleichgewicht der Vollbeschäftigung führt, der optimalen Situation, in der individuelles und kollektives Wohlergehen übereinstimmen sollten. Der zweite ist der Meinung, dass der Kapitalismus in sich widersprüchlich ist und daher eine Gleichgewichtssituation unmöglich ist. Die einzige Lösung besteht also darin, in widersprüchlichen Situationen, die nicht miteinander vereinbar sind, mittelfristig den maximalen Gewinn zu erzielen. Im ersten Fall wird die Inflation als Anomalie betrachtet, als ein mehr oder weniger vorübergehendes Übel, das geheilt werden kann und das das System beeinträchtigt, wenn es sich der Vollbeschäftigung nähert oder wenn es sich diametral von ihr entfernt. Die Verantwortung für das nicht perfekte Funktionieren des Systems wird also in dem nicht konformen Verhalten einer oder mehrerer Kategorien von ökonomischen Akteuren (Unternehmer, Gewerkschaften/Syndikate, Arbeitskräfte usw.) gesucht, die durch ihr Handeln/ihre Aktion den Prozess der Wiederherstellung des Gleichgewichts einleiten sollten. Im zweiten Fall wird die Inflation als eine der Bedingungen für die Entwicklung des Systems selbst betrachtet, eine Form, die sie im Gesamtzusammenhang der Probleme der kapitalistischen Akkumulation annimmt. So wird eine bestimmte Kategorie von ökonomischen Subjekten – die Unternehmer – identifiziert, die die Investitionsentscheidungen treffen. Die Inflation wird in dieser Perspektive zu einem der Instrumente, die zur Durchsetzung der Interessen der herrschenden Seite eingesetzt werden können. Sie ist keine Krankheit mehr, die es zu vermeiden gilt, sondern ein unausweichliches Ereignis im turbulenten Leben des kapitalistischen Systems. Die Inflation der Nachfrage ist die klassische Form der Inflation, die durch einen Überschuss der Nachfrage über das Angebot an Waren und Dienstleistungen bestimmt wird, woraus ein Anstieg der Marktpreise resultiert. Langfristig führt der Nachfrageüberschuss zu einem Anstieg der Zirkulation des Geldes (die übrigens aus einem nominalen Anstieg der Einkommen resultiert, so dass die Inflation der Nachfrage von Anfang an mit der Inflation der Kosten verbunden ist, wie wir gleich sehen werden), einem Anstieg der Geldmenge, der nicht mit dem produktiven Niveau des Kapitals und dem Niveau des Produktangebots übereinstimmt. Es ist klar, dass es nicht möglich ist, festzustellen, was zuerst steigt: die Marktpreise oder die Löhne, und daher kann kein eindeutiger Unterschied zwischen der Inflation der Nachfrage und der Inflation der Kosten festgestellt werden. Wenn wir jedoch eine – wenn auch enge – Unterscheidung treffen wollen, ist es nur möglich, von einer Steigerung der Nachfrage zu sprechen, wenn wir es mit autonomen Expansionen der Nachfrage zu tun haben, die nicht an vorherige Erhöhungen der Produktionskosten (vor allem der Lohnkosten) gebunden sind. Dies ist der Fall, wenn eine nachfragefördernde ökonomische Politik nach dem Rezept von Keynes verfolgt wird, die in gewisser Weise einer Art Einkommensumverteilung entspricht, da sie vom Staat nur durch den Rückgriff auf öffentliche Schulden erreicht werden kann, da Steuern und Gebühren immer unzureichend sind. Die Staatsverschuldung besteht sowohl aus den Summen, die große und kleine Kapitalisten und Sparer dem Staat leihen, als auch aus dem Papiergeld, das gedruckt und ausgegeben wird. Der erste Teil ist theoretisch nicht inflationsfördernd, aber in der Praxis ist er es, weil er die Nachfrage anregt und damit zur Erhöhung der Marktpreise beiträgt; der zweite Teil der Staatsverschuldung ist zweifellos eine treibende Kraft für die Inflation (durch die Erhöhung der umlaufenden Geldmenge steigen die Preise). Die Inflation der Kosten ist ein Anstieg der Verbraucherpreise, der auf einen direkten oder indirekten Anstieg der Produktionskosten (in erster Linie der Arbeitskosten) zurückzuführen ist. Schließlich wirken sich auch Erhöhungen der Kosten für die in der Produktion verwendeten Rohstoffe inflationär aus, aber es wäre korrekter, diese Erhöhungen auf den ursprünglichen Anstieg der Löhne in den rohstoffproduzierenden Industrien selbst zurückzuführen. Nun ist der Arbeitsmarkt kein Wettbewerbsmarkt, sondern ein Monopolmarkt (basierend auf gewerkschaftlichen/syndikalistischen Lohnverhandlungen). Daraus folgt, dass man in der Kosteninflation keine Wettbewerbselemente finden kann, die auf die Existenz eines hypothetischen Ausgleichsmechanismus hindeuten könnten. Hier ist die Grundlage des Mechanismus ausschließlich sozialer und politischer Natur. Diese Inflation ist also ein sozialer Konflikt über die Art und Weise, wie das Nationaleinkommen verteilt werden kann, der auf den ständigen Versuchen einiger sozialer Gruppen beruht, ihre Verfügungsmöglichkeiten (und damit ihren Konsum) schneller zu erhöhen, als es mit den Zielen anderer Gruppen und dem abstrakten Konzept der allgemeinen ökonomischen Stabilität vereinbar ist. Dies führt zu einem kontinuierlichen Anstieg der Preise und einer Spirale aus Preis-Lohn- und Lohn-Preis-Verhältnis. In den letzten Jahren war es so, dass es selbst unter Bedingungen, die eine Preissenkung ermöglicht hätten, immer wieder zu Steigerungen kam, scheinbar ohne Grenzen. Solange es nun einen erheblichen Anstieg der Arbeitsproduktivität gibt, führt dies nicht zu weiteren Preiserhöhungen, weil der Anstieg durch die günstige Konjunkturentwicklung gedeckt ist und der bisherige Anstieg sogar als günstiger Beitrag zur Realisierung der Produktion angesehen wird, weil er die immer befürchtete Krise der Überproduktion hinausschiebt oder vermeidet (jedenfalls nie ganz). Aber diese ständigen Steigerungen schlagen sich früher oder später, vor allem unter den Bedingungen, dass es keine parallelen Produktivitätssteigerungen gibt, im weitesten Sinne auf die Reallöhne, nieder (d.h. auch im sehr weiten Sinne der Neuzusammensetzung der Arbeitskräfte unter den derzeitigen allgemeinen Lebensbedingungen der Gesellschaft mit fortgeschrittenem Kapitalismus, wenn nicht sogar postindustriell). Daraus folgt, dass ständige Erhöhungen der Geldlöhne notwendig sind, was sich auf die Arbeitskosten und damit auf den industriellen Gewinn auswirkt. Natürlich kann dieser letzte Schritt durch verschiedene Faktoren verzögert werden (Selbstfinanzierungsfähigkeit der Unternehmen, expandierende Märkte, geringe Abhängigkeit vom Finanzmarkt usw.), aber sobald er ausgelöst wird, wird er zu einer unaufhaltsamen Ursache der Kosteninflation. Die internationalen Ursachen der Inflation sind ökonomische und politische Elemente, die andernorts zu einem Anstieg der Rohstoffpreise führen, die, wenn sie importiert werden, einen Inflationsprozess von immensen Ausmaßen verursachen. Dies führt zu einer Reihe von Konsequenzen in Form von Erwartungen, Konflikten und Abwehrhaltungen in der Gesellschaft und damit auf dem Arbeitsmarkt. Die monopolistische Situation der Löhne verhindert korrigierende Eingriffe im kapitalistischen Sinne und setzt die Unternehmen den vollen Auswirkungen der internationalen Inflation aus, die nicht durch drastische Lohn- oder Beschäftigungskürzungen abgemildert werden kann. Der einzige Weg, den Kapitalisten dann einschlagen können, ist die Erhöhung der Preise. Was sind die kapitalistischen Versuche, das Inflationsproblem zu lösen? Einkommenspolitik ist der Weg, den die Linke vertritt (natürlich immer im Namen des Kapitals). Das Ziel ist nicht so sehr, die Inflation zu beeinflussen, sondern die Arbeitslosigkeit, und wenn man Ersteres ändert, ändert man Letzteres. Es ist sicher, dass einige beschäftigungsfördernde Maßnahmen in der Vergangenheit (auch in jüngster Zeit) zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Reallöhnen und Arbeitsproduktivität geführt haben, d.h. zu einer Verschlechterung der Produktionsbedingungen und damit zu einer Verringerung der Gewinne und folglich zu einem Rückgang der Investitionen. Jetzt, angesichts der Inflation, spüren die Arbeiterinnen und Arbeiter zuerst die Kürzung der Reallöhne, die sie bekommen, also kämpfen sie für eine Erhöhung der Geldlöhne bei gleichzeitigem Erhalt der Beschäftigung. Die Unternehmer werden ihrerseits dazu gedrängt, zunächst einmal die Nachfrage nach Arbeitskräften zu straffen, während sie gleichzeitig versuchen, die Produktion zu rationalisieren. All dies erhöht den reinen Geldlohn, lässt aber die Probleme der Beschäftigung und der Produktivität ungelöst. Bleibt nur noch die Lösung, alle Kostensteigerungen auf die Preise umzulegen. Daraus ergibt sich eine konstante Senkung des Reallohns (im weitesten Sinne wie zuvor) und eine prompte Reaktion mit weiteren Erhöhungen des Nominallohns. Was die Beschäftigung angeht, betrachten wir nun die vorherige Situation (industrielle Ökonomie). Die Beschäftigungsentwicklung in einer traditionellen Ökonomie wird von vielen Faktoren beeinflusst. Insbesondere die folgenden Faktoren erhöhen die Arbeitslosigkeit: die Anhebung des Rentenalters, der Zustrom höherer potenzieller Bildungsabschlüsse, die Zunahme der Arbeit von Frauen, der Zustrom von Arbeitskräften vom Land in die Stadt in Situationen geringerer industrieller Kapazität. Lohnerhöhungen haben auch einen Einfluss auf die steigende Arbeitslosigkeit. Die Unternehmen gehen dazu über, Arbeitskräfte einzusparen, indem sie die Zusammensetzung der Investitionen ändern (erste Versuche zur Automatisierung der Fabriken werden unternommen), Arbeitsrhythmen werden beschleunigt (Überstunden, Zeitmessung usw.). Umstrukturierung spart Arbeit und erhöht die Arbeitslosigkeit. In dieser Phase – die für Italien zwischen 1973 und 1980 anzusetzen ist – entwickelte sich auch eine sehr breite Schicht von Nicht-Erwerbstätigen, die nicht als „arbeitslos“ definiert werden konnten, da sie nicht auf der Suche nach Arbeit waren, sondern sich einfach „durchschlugen“ oder die Arbeit verweigerten und auch alle Verfahren, die zur Rolle der Arbeitslosen als Arbeitssuchende führen. In diesem Klima der Rezession haben die Ökonomen erkannt, dass das System nicht spontan zum Gleichgewicht tendiert, so wie es in einem Klima der anfänglichen ökonomischen Entwicklung der Fall war, als es aus einer pathologischen ökonomischen Situation kam, die durch den Krieg und die Notwendigkeit des Wiederaufbaus verursacht wurde. Nach der Krise von 1973 haben die Ökonomen den Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit besser verstanden. In der Tat besteht innerhalb bestimmter Grenzen ein umgekehrtes Verhältnis zwischen der Veränderung der Löhne (und damit des Preisniveaus) und der Arbeitslosigkeit. Wenn die Löhne und die daraus resultierende Nachfrage nach Waren steigen (und damit die Arbeitslosigkeit sinkt), steigt das Preisniveau (d. h. die Inflation). Die erste Folge dieser Entdeckung war, dass Keynes‘ These von der sozialen Stabilität als Folge der Vollbeschäftigung zu einer Illusion wurde. Ein Anstieg der Beschäftigung führt zwangsläufig zu einem Anstieg der Preise und damit zu einer ökonomisch und sozial instabilen Situation. Es war Milton Friedman, der auf die Notwendigkeit einer „natürlichen“ Arbeitslosenquote schloss, die in konstantem Verhältnis zu einem hypothetischen optimalen Preisniveau stehen sollte, damit es weder zu sozialen noch zu ökonomischen Störungen kommen würde. Doch dieser theoretische Hinweis stieß auf praktische Hindernisse, die den Kapitalismus in den späten 1970er Jahren an den Rand des Zusammenbruchs brachten, von dem er sich mit dem Übergang zur postindustriellen Phase erholte. Diese Hindernisse waren: die gewerkschaftliche/syndikalistische Indexierung, die Grenzen der Arbeitskräftemobilität, die Starrheit der Investitionen, die Utopie der Vollbeschäftigung, die unzureichenden Marktinformationen und schließlich die tatsächlichen Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter. Es war wiederum Friedman, bald gefolgt von Franco Modigliani und Ezio Tarantelli, der feststellte, dass die Förderung der Nachfrage einen Anstieg der Arbeitslosigkeit bedeutete und nicht, wie Keynes gedacht hatte, einen Rückgang. Für Italien kann die postindustrielle Wende um 1981 herum angesetzt werden. Während die italienische Ökonomie zuvor ein System progressiver Anpassungen angesichts des internen und externen Inflationsdrucks (z.B. auch angesichts steigender Ölpreise) bevorzugt hatte, gibt es seither viel härtere und effektivere Anpassungsprozesse. Die Kämpfe sind praktisch erloschen. Der Weg des gewerkschaftlichen/syndikalistischen Konflikts ist, wenn auch nur formal, versperrt. Das große Gerede über die „terroristische“ Gefahr trägt dazu bei, den letzten autonomen Widerstand des Arbeiterkampfes zu brechen. Es wird ein Klima der Einschüchterung und Kriminalisierung geschaffen, das dazu führt, dass diese Anpassungen kapitalistisch durchgesetzt werden können. Der Rückgang der Beschäftigung nimmt dramatisch zu und breitet sich in der gesamten Industrie aus. Es kommt zu einer effektiven Schließung der großen Industrieanlagen. In der Lombardei beträgt der jährliche Rückgang nach 1981 um sieben Prozent. Nicht nur das Beschäftigungsniveau ändert sich, sondern auch die Klassenstruktur selbst. Die absurden Träume der alten und neuen Marxisten verblassen. Die Thesen der organisierten Autonomie erweisen sich als unbegründet. Die italienische ökonomische Welt begann sich durch eine doppelte Aktion zu verändern. Erstens eine Produktionskrise, die zu einem deutlichen Rückgang der Auslastung von Industrieanlagen führt. Zweitens eine Produktivitätssteigerung infolge von Entlassungen, die bei älteren Arbeitern und Frauen beginnen und sich dann auf jüngere und mittelalte Arbeiter ausweiten. Der Arbeitsmarkt verändert sich entsprechend. Der kämpferischste Kern der Arbeiterklasse löst sich durch den weit verbreiteten Einsatz von Instrumenten zur Stabilisierung des Produktionszyklus auf: in erster Linie Entlassungsfonds. Die Löhne kommen zum Stillstand und die seltsamen Phänomene, die im letzten Jahrzehnt so häufig auftraten, dass die Löhne selbst in Zeiten geringerer Produktion stiegen, treten nicht mehr auf. Jetzt wird die Beschäftigung nicht mehr durch starre Gewerkschafts- Syndikatsverträge verteidigt, und vor allem ist sie nicht mehr beängstigend in ihrer Fähigkeit zum autonomen Kampf, auch jenseits der Hinweise der Gewerkschaft/Syndikat und der Rekuperation der KPI (Kommunistische Partei Italien). Da das Kapital keine Angst mehr hat, wird die Beschäftigung in Bezug auf den Produktionszyklus weniger starr. Die ersten positiven Ergebnisse für das Kapital zeichneten sich ab. In einer Situation starrer Beschäftigung blieb den Kapitalisten – um ihre Produktionsprobleme zu lösen – nur der Weg, die Preise zu erhöhen und damit die Inflation zu steigern. Nach 1981 erholte sich das italienische ökonomische System. Die Inflation verlangsamt sich. Lohnindexierungen haben eine geringere Verhandlungsmacht und machen es dem Kapital somit leichter, zu manövrieren. Die Produktivität von Unternehmen wächst durch die externe Mobilität von Arbeit. Ein heftiger Einsatz von Instrumenten zur Einkommensstabilisierung (Abfindungsfonds) beginnt. Die Arbeiterklasse ist am Ende. Die Gewerkschaften/Syndikate, die von ihrer wahren Kampfkraft lebten, nur um sie zu kontrollieren und ganz sicher nicht, um sie zu beleben, sind ebenfalls am Ende. Es wird mit neuen Formen der Kontrolle des Arbeitsmarktes experimentiert. Insbesondere Fiat und Montedison bewegen sich auf ein anderes System der Einstellungskontrolle und auf eine Liquidierung von überschüssigen Arbeitskräften zu, die fast ausschließlich auf Entlassungen basiert. Die Produktivität stieg also nicht aufgrund eines verstärkten Einsatzes von Produktionsfaktoren (technologische Verbesserungen und Beschäftigungszuwächse), sondern im Gegenteil aufgrund einer rationelleren Ausbeutung der vorhandenen Faktoren. Die Gewerkschaften/Syndikate sahen sich gezwungen, Vorschläge zu machen, die sie einige Jahre zuvor selbst für absurd hielten, wie Solidaritätsverträge, Ausbildungsverträge, die Abrufe für junge Menschen zuließen, und die Verkürzung der Arbeitszeit als Versuch, die Beschäftigung auszuweiten (was in der Praxis höchst zweifelhaft war, da Italien die niedrigste jährliche Stundenauslastung seiner Arbeitskräfte aufweist). Ab 1983 begann man in großen Unternehmen zu erkennen, dass die bloße Unterauslastung der Anlagen angesichts der Durchschnittszeiten nicht ausreicht, um eine Lösung des Problems zu gewährleisten. Daher nehmen Renovierungs-, Umstrukturierungs- und Innovationsprojekte zu. Der Staat und die Gewerkschaften/Syndikate haben ihrerseits ein großes Interesse daran, eine neue Politik der Arbeitsplatzerfindung zu schaffen. Wieder einmal werden die Interessen der Kapitalisten mit denen der Gewerkschaften/Syndikate und des Staates gleichgesetzt. Erstere sind sehr besorgt über eine zukünftige Umschichtung der überschüssigen Arbeitskräfte (sonst würde die Nachfrage nach Gütern zu stark schrumpfen); letztere und dritte sind besorgt unter dem Gesichtspunkt der immer möglichen sozialen Unruhen und haben nun die Illusion einer spontanen Wiederaufnahme des Arbeitsangebots verloren. So werden die tertiären Sektoren mit massiven staatlichen Investitionen ausgebaut, mit Hilfe der Gewerkschaften/Syndikate, die jetzt die Variable der Arbeitermobilität ausufern lassen, und zur großen Freude der Kapitalisten, die gerade aus diesem Sektor Nahrung für den Strukturwandel ihrer Unternehmen finden. Dem Staat wird gesagt, dass monetäre Maßnahmen allein nicht mehr ausreichen, um die Produktionseffizienz der Unternehmen zu reorganisieren. Es ist eine Übertragung von Finanzinvestitionen erforderlich. Daher eine ökonomische Politik, die auf öffentlichen monetären Zuwendungen an die Industrie basiert, um technologische Innovationen zu ermöglichen, eine Kreditpolitik und eine Kapitalbeschaffung auf dem Aktienmarkt, die niedrige Zinsen begünstigt. Es geht nicht mehr nur um die Finanzierung der Industrie, sondern um ein allgemeines ökonomisches Klima (von der Börse bis zum Anleihemarkt, von Devisen bis zu Staatsschulden), das günstige Bedingungen für Innovationen schafft. Das alte Konzept der Bevorzugung einiger weniger Industriesektoren zu begünstigen, die als „führend“ gelten, ist verschwunden (oder wird bald verschwinden). Jetzt bewegen sich alle Branchen auf technologische Verbesserungen zu, die den gesamten Produktionsapparat betreffen, von der Produktqualität bis zur Verwaltung. Elektronik ist weit verbreitet. Diese Situation, die mindestens bis 1981 konstant blieb, brachte die auf Nachfragestützung basierende Beschäftigungspolitik (und damit die neokeynesianischen Ökonomen in Verruf) in den Fokus. Dies führte zu einer begrenzten Umverteilung der Einkommen, aber vor allem zu einer Verringerung des Verhandlungspotenzials der Gewerkschaften/Syndikate, die vor der Wahl standen, entweder die Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter zu unterstützen und Träger des Inflationsprozesses zu werden oder die Forderungen der Kapitalisten zu unterstützen und als Verräter der Interessen der produktiven Klasse zu erscheinen. Die monetaristische Politik ist die klassische Wahl der Konservativen und Technokraten. Sie basiert auf der Annahme, dass eine Kontrolle der umlaufenden Geldmenge und der Geschwindigkeit des Geldumtauschs dazu beitragen kann, die Inflation in einem für die kapitalistische Entwicklung akzeptablen Rahmen zu halten. Das führt zwangsläufig zu einer Arbeitslosigkeit, die über dem natürlichen Niveau liegt (das jetzt mit der Schulpflicht stark gestiegen ist). Aber das ist ein Opfer, das gebracht werden muss, um größeren Schaden zu verhindern. Die Lohnabhängigen müssen die Vorteile einer Verlangsamung des Preisanstiegs erkennen und die Tatsache, dass diese Vorteile erst nach einer gewissen Zeit und nicht sofort eintreten. Ein dritter Weg besagt – basierend auf den Analysen von Modigliani und Tarantelli – dass eine klare Trennung zwischen den beiden vorherigen Wegen nicht möglich ist. Diese beiden Ökonomen argumentieren (um die Wahrheit zu sagen, der zweite nicht mehr, da er von den Roten Brigaden getötet wurde) für die Notwendigkeit, die Nachfrage und damit die Beschäftigung zu stützen, sprechen aber gleichzeitig von der Notwendigkeit, das Reallohnniveau zu senken. Modigliani erklärte auch, dass der einzige Ausweg, um die totale Zerschlagung der Gewinne zu vermeiden, die jeden Investitionsanreiz zerstört, die Senkung der überhöhten Arbeitskosten ist. Deshalb: Löhne und Entlassungen stoppen. Der erste Aspekt des Rezepts ermöglicht eine Neuausrichtung der Produktivität, der zweite eine rasche Umstrukturierung des Industriesektors. Frühere Befürchtungen hinsichtlich dieser Lösung und möglicher sozialer Unruhen haben sich als unbegründet erwiesen. Modigliani und Tarantelli haben seit langem darauf hingewiesen, dass die Vorteile einer solchen Perspektive in Bezug auf die politische Stabilität es ermöglichen, soziale Unruhen zu vermeiden, weil sich die Menschen besser regiert fühlen, weil sie sehen, dass der Preisanstieg verzögert wird und weil alle der Illusion kurzfristiger Vorteile unterliegen, gerade weil sie in einer Situation der wirtschaftlichen und institutionellen Wiederbelebung leben. b) Die neue Professionalität der Arbeit: Flexibilität Die Professionalität der Arbeit wird heute durch das Produktionssystem anders gefordert. Es geht weder um einen einfachen Mangel an Professionalität noch um eine erweiterte Professionalität. Es gibt erhebliche Probleme in Bezug auf die Flexibilität. Das Konzept der horizontalen Spezialisierung bedeutet, oberflächlich zu arbeiten, im Gegensatz zu der vertikalen Spezialisierung, die die Produktionswelt der Vergangenheit brauchte. Um die Probleme im Zusammenhang mit den veränderten Anforderungen an die Professionalität, die das Produktionssystem an das Bildungssystem richtet, besser verstehen zu können, müssen wir kurz gesagt die Bedingungen, unter denen diese Anforderungen gestellt werden, die Art und Weise, wie sie gestellt werden, und die möglichen Antworten kennen. Die allgemeine Situation des Produktionssystems ist die einer tieferen Integration zwischen der technologischen Komponente und der sozio-organisatorischen Komponente. Die technischen Hilfsmittel haben an Quantität und Qualität zugenommen und die Menschen, die sie bedienen, haben jetzt verschiedene Aufgaben, die unterschiedliche berufliche Fähigkeiten erfordern. Man kann also sagen, dass der massenhafte (und qualitative) Einzug der Technologie in das Produktionssystem eine tiefgreifende Veränderung der sozialen Organisation, die ihm zugrunde liegt, bewirkt hat. Diese Veränderung kann in zwei Aspekten beschrieben werden: a) einem quantitativen Aspekt, der durch einen erheblichen Rückgang der Beschäftigung gekennzeichnet ist, obwohl die Beziehung zwischen Computerisierung und Beschäftigung viel schwieriger ist als eine banale Gleichung zwischen Zunahme auf der einen und Abnahme auf der anderen Seite; b) einem qualitativen Aspekt, der durch eine tiefgreifende Veränderung in der Verteilung der Professionalität gekennzeichnet ist. Der erste dieser beiden Aspekte wirkt sich auf den zweiten aus, da er einen Druck auf der Ebene der endogenen Entscheidungen des Produktionssystems ausübt, der wiederum zu Signalen für das Bildungssystem wird. Diese Entscheidungen werden erst zu einem späteren Zeitpunkt zu Orientierungsentscheidungen, sowohl für diejenigen, die die Lehrpläne erstellen, als auch für die Schüler selbst. All dies führt dazu, dass ein neues Modell der Professionalität entsteht, das heute weit verbreitet ist. Letztendlich wird das Problem unserer nahen Zukunft vielleicht nicht so sehr das der Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen möglichen sozialen (revolutionären) Umwälzungen sein, sondern eher das Problem der Trennung von Wissen, das Problem der Schaffung einer absolut unüberwindbaren kulturellen Mauer zwischen denen, die eine operative und entscheidungsbefugte Professionalität besitzen, und denen, die nur eine exekutive Pseudoprofessionalität besitzen. Der zweite Aspekt, der qualitative Aspekt, kommt dann mit seiner ganzen Bedeutung zum Vorschein. Die Veränderung betrifft die Art und den Inhalt der Professionalität sowie ihre Verteilung auf die verschiedenen Ebenen, in denen die Produktionseinheit gegliedert ist. Das hat offensichtliche Auswirkungen auf die Dauerhaftigkeit innerhalb derselben Einheit, auf der einst die „Möglichkeit einer Karriere“ beruhte. Heutzutage ist diese Möglichkeit viel geringer, auch wegen der geringeren Professionalität, daher ist Flexibilität so wichtig. Aber dazu später mehr. Die Abflachung der Professionalität ergibt sich aus dem System, das innerhalb der Produktionseinheit aufgebaut wurde. Es ist ein „geschlossenes“ Modell oder zumindest eines, das sich nach dem abstrakten Ideal der Automatisierung abschotten will. Der menschliche Bediener und die sich verändernde physische Realität können nicht in ein computergestütztes System der Regulierung und Kontrolle „passen“. Dieses System basiert auf einer mathematischen Logik und modelliert auf dieser Logik den Produktionsprozess der Umwandlungen durch eine Reihe von Informationen, die die Bedienterminals in Echtzeit erreichen. Es ist also das zwischengeschaltete Automatisierungssystem zwischen Mensch und Realität, das die „technische Expertise“ beinhaltet, die der Transformationsprozess weiterhin erfordert. Dem Menschen bleibt nur die Aufgabe, die Ausnahmen zu überwachen und zu kontrollieren. Die neue „Professionalität“ hat also ganz andere Merkmale als die der Vergangenheit, und zwar nicht nur im Bereich der traditionellen Produktion (Industrie- oder Fabriksektor), sondern auch in der Dimension des Produktionssystems, die die so genannten „freien Tätigkeiten“ umfasst, vom Handwerk bis zu den freien Berufen. Schematisch lässt sich diese neue Funktion wie folgt beschreiben: (a) Visualisierungsprozesse. Diese sind unverzichtbar und erfordern eine Ausbildung des Auges und eine Reaktion des visuellen Reizes mit Geschwindigkeiten, die noch vor wenigen Jahren für den optischen Apparat unfassbar gewesen wären. Die Lektüre eines Videos ist eine sehr komplexe Angelegenheit, die die visuelle Anpassung nur schrittweise und mit einer „Ausbildung“ oder, wenn man so will, einer jahrelangen Konditionierung abdecken kann. Bei diesen Visualisierungsprozessen muss man aber auch die programmatischen Reaktionen einbeziehen, also alles, was nach der reinen visuellen Wirkung kommt. Mit anderen Worten: Auf die „Lektüre“ des Videos folgt die Ausarbeitung eines mentalen Schemas, das dem Subjekt einen ausreichenden Hinweis auf den stattfindenden Prozess gibt. Dabei geht es nicht so sehr um die einzelnen Elemente des Prozesses, sondern um eine globale Idee, die in groben Zügen die mehr oder weniger gute Eignung des tatsächlichen Prozesses für ein Sicherheitssystem angibt, das in der Lage ist, die Ausnahmen festzulegen. Einige dieser Ebenen sind in der Tat diskretionärer Natur und wären durch eine rein mathematische Verarbeitung nicht leicht zu erreichen, da die Auflösung der entsprechenden Algorithmen selbst mit modernen Computern nicht zu bewältigen ist. b) Konzeptualisierungsprozesse. Dies ist das Element der Bewertung, die das Subjekt durch das mentale Schema vornehmen muss. Hier sehen wir die tatsächliche Verschlechterung der Fähigkeit zu konzeptionieren, d.h. die Probleme, die die Realität aufwirft, in Ideen umzuwandeln, um eine Entscheidung zu treffen, d.h. den Willen auf die Bedürfnisse eines zu erreichenden Ziels abzustimmen. Die Grenzen des Ermessensspielraums in diesen Prozessen der Konzeptualisierung sind sehr streng. Hier stirbt das Subjekt. Seine Autonomie schwindet genau in dem Moment, in dem die ganze Technologie zur Verfügung steht, um die großen Probleme zu lösen, die ihn in der Vergangenheit behindert haben. Je weniger Dinge es (A.d.Ü., das Subjekt) zu tun hat, desto weniger Dinge wird es tun wollen, denn desto weniger Dinge wird es können. Langsam verwandelt sich das denkende Subjekt in ein Subjekt, das die beste Lösung innerhalb eines Schemas findet, das nur funktioniert, um ein Ziel zu erreichen, das außerhalb seiner Wünschbarkeit liegt. Die Werteskala, auf die sich ein solcher Prozess stützt, ist außerhalb der Wünsche des Einzelnen festgelegt. Bei der Verarbeitung von Informationen teilt der Computer den Menschen in zwei Hälften. c) Prozesse verstehen. Auch diese werden reduziert. Weniger Möglichkeiten für Ideen, weniger Möglichkeiten, etwas zu verstehen. Niemand kann außerhalb der Konzepte, die Unterscheidungen verarbeiten, verstehen. Je weniger Dinge es zu verstehen gibt, desto weniger versteht man. Wenn es weniger Dinge zu verstehen gibt, hat man die Illusion, mehr, schneller und besser zu verstehen. Das gibt ein Gefühl der Sicherheit, das typisch für Menschen ist, die wenig wissen und sich vormachen, dass ihr bescheidenes Wissen mehr oder weniger „alles“ Wissen ist. Zweifel und die damit verbundenen Mühen sind typisch für diejenigen, die die Grenzen ihres Wissens erweitern und dabei feststellen, dass sie neue, immer weiter entfernte Grenzen entdecken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „neue“ Professionalität sehr reduzierte Inhalte hat, die mit der Verfeinerung einiger Fähigkeiten und dem endgültigen Niedergang anderer einhergehen. Unter diesen Fähigkeiten, die neu bewertet werden, steht in einer hypothetischen Werteskala die Aufmerksamkeit an erster Stelle. Das ist eine Fähigkeit, die man entwickeln kann und die darin besteht, die Wahrnehmung des Prozesses und seine Umwandlung in ein mentales Schema innerhalb bestimmter Grenzen konstant zu halten. Diese Beständigkeit neigt natürlich dazu, in ihrer Häufigkeit nachzulassen, nicht nur wegen der Müdigkeit, sondern auch wegen der Wiederholungen und den verschiedenen Trieben des Verlangens und der Erinnerung. Die Wiederaufnahme dieser Senkungen innerhalb der Toleranzgrenzen, die in einer sehr kurzen Zeit erfolgen muss, kennzeichnet die Aufmerksamkeit, die, wie wir sehen, eine geistige Fähigkeit ist, die auf der Schnelligkeit des Eingreifens in anormalen Situationen beruht. Wenn Ausnahmen im Verhalten des Prozesses auftreten, muss die Aufmerksamkeit ihre Fähigkeit zeigen, die Normalität wiederherzustellen. Auch das Verantwortungsbewusstsein, das bei der Betrachtung des Niveaus der neuen Professionalität berücksichtigt wird, ist nicht so sehr (oder zumindest nicht nur) eine ideologische Konditionierung und bedingungslose Akzeptanz bestimmter Werte (das reibungslose Funktionieren des Produktionssystems), sondern eine reale „Fähigkeit“, die wie die Aufmerksamkeit auch quantifizierbar ist. Tatsächlich wird das Verantwortungsbewusstsein von denjenigen, die die verschiedenen Ebenen der „Professionalität“ des betrieblichen Subjekts bewerten, unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit betrachtet, in einer bestimmten Zeiteinheit in eine genau festgelegte Reihe von Wahlmöglichkeiten einzugreifen und diejenige und nur diejenige Wahl zu treffen, die das bestmögliche Funktionieren des Systems ermöglicht. Es wäre falsch zu denken, dass diese Möglichkeit nur technischer Natur ist. Die Inhalte des Verantwortungsbewusstseins werden, sobald sie einzeln genommen werden, null und nichtig und kündigen ihre ideologische Essenz auf. Wenn man diese Überlegungen berücksichtigt, kann man eine unterschiedliche Verteilung der Professionalität in der traditionellen Fabrik und in der postindustriellen Produktionseinheit schematisch darstellen. a) In der traditionellen Fabrik gibt es eine große Bandbreite an differenzierten Aufgaben und kulturellen Ebenen. Sie reicht von einem Bereich mit niedrigem Gehalt bis zu einem mit hohem und sehr hohem Gehalt. Auf der Nachfrageseite zeigt sich, dass das traditionelle Produktionssystem weniger niedrige und hohe Professionalität absorbiert, während die Arbeitskräftenachfragekurve auf den mittleren Ebenen stark ansteigt. Das bedeutet, dass in der Fabrik in der Vergangenheit die durchschnittliche Professionalität viel gefragter war als die niedrige und hohe Professionalität. b) In der postindustriellen Produktionseinheit hingegen ist die niedrige Professionalität stark gefragt, während die durchschnittliche Professionalität tendenziell auf ein Minimum sinkt und die hohe Professionalität (die in jedem Fall deutlich unter dem quantitativen Niveau der niedrigen Professionalität bleibt) dann wieder erheblich zunimmt. In dieser Situation ist die Möglichkeit einer Versetzung oder Mobilität innerhalb derselben Produktionseinheit nicht mehr gegeben. Mit anderen Worten: es ist nicht möglich, von niedriger zu hoher Professionalität überzugehen, weil es einen Engpass bei den Anforderungen der durchschnittlichen Professionalität gibt. Dieser Engpass, der immer größer wird, bis er zu einer echten kulturellen Mauer wird, macht die interne Struktur der Produktionseinheit mit der Zeit immer starrer, sodass nur noch interstrukturelle Mobilität möglich ist. Deshalb ist es so wichtig, dass du flexibel bist und dich auf immer neue Arbeitsmöglichkeiten einlassen kannst. Die tiefe Trennung zwischen den Bereichen niedriger und hoher Professionalität bleibt jedoch immer bestehen. Bevor wir dieses Thema verlassen, müssen wir daran denken, dass, so sehr das Konzept der neuen Professionalität auch darauf abzielt, den einzelnen Akteur von Inhalten zu entleeren und nur einige seiner Fähigkeiten zu schärfen, die Überlegung immer noch gültig ist, dass der Unterschied zwischen niedriger und hoher Professionalität nicht ausschließlich durch die Schärfung der individuellen Fähigkeiten gelöst wird, sondern auch durch die Wiederherstellung von Inhalten, einschließlich der traditionellen oder kulturellen Inhalte im engeren Sinne. Es ist außerdem logisch, dass diese Wiederherstellung ausschließlich in der Sphäre der Hochprofessionalität stattfindet, die auch die Aufgabe hat, die ideologischen Bedingungen zu schaffen, die es den niederen Berufsschichten ermöglichen, ihre reale Ausbeutungssituation zu akzeptieren. Die Flexibilität ist, wie wir gesehen haben, eines der zentralen Konzepte, die im Übergang von den 1970er zu den 1990er Jahren entwickelt wurden. Die letzte Periode der 1970er Jahre, die die spektakulärsten Rückentwicklungsprozesse innerhalb des altmodischen kapitalistischen Systems markierte, kann als eine Zeit des Bruchs in Erinnerung bleiben, in der die Gewissheiten einer fernen und nicht so fernen Vergangenheit zusammenbrachen. Die erste dieser Gewissheiten war die Programmierung des kapitalistischen Projekts, das auf fortschreitender Akkumulation und der Abflachung von Konflikten durch die Veredelung des Staates als Produzent und nicht mehr nur als Polizist beruht. Es ist nicht mehr legitim, von einer „Krise“ (in Anführungszeichen) zu sprechen. Das geht nur, wenn die ökonomische Theorie selbst und nicht nur die produktive Struktur in dieses Konzept einbezogen wird. Gerade die Theorien (sowohl die neoklassischen als auch die managementorientierten im engeren Sinne), die für die Möglichkeit plädierten, Ordnung in die Vielfalt der Phänomene zu bringen, um zu einer Programmlinie für die Entwicklung des Kapitals zu gelangen, wurden Ende der 1970er Jahre besiegt. Das ist genau die Situation, die nicht nur die Struktur, sondern auch die Theorien betrifft, die die Vernunft über die Kraft der Ereignisse siegen lassen wollten. Die erste Entdeckung, die zu Beginn der 1980er Jahre gemacht wird, ist genau die der fehlenden Ordnung in der ökonomischen Realität. Das ist zweifellos eine Entdeckung der Krisensituation, aber es ist auch eine neue Theorie, die die frühere Bedeutung von Krisen auf Null zurücksetzt und sie zu einem Kraftpunkt für das Vorwärtskommen macht. Unternehmen arbeiten in Situationen extremer Unsicherheit und Instabilität. Die Kontrolle über die industrielle Situation ist praktisch verloren. Turbulenzen sind eine ständige Realität. Die Elemente dieser Turbulenzen werden anschließend mit großer Genauigkeit theoretisch isoliert: die Gewerkschafts- Syndikatsbewegung der 1960er Jahre, das hohe Beschäftigungsniveau, die Inflation, die Währungsinstabilität. Es wird die These entwickelt, dass diese turbulente Realität nicht anpassbar ist. Die Pluralität der Kräfte in Aktion wird daher nur in kurzfristigen Situationen nachvollziehbar. Dies erfordert eine neue Fähigkeit des Produktionsunternehmens: Flexibilität, d.h. die Fähigkeit, sich an diese Situation ständiger Instabilität und Turbulenz anzupassen, im Gegensatz zur früheren Situation, in der die Widersprüche des Produktionssystems an die Starrheit der Struktur des einzelnen Unternehmens angepasst werden sollten. Es geht also darum, die Flexibilität bei Entscheidungen, bei der Organisation von Produktionszyklen, beim Einsatz von Arbeitskräften, bei Programmen und bei der Anwendung von Ideologien zu maximieren. In diesem Sinne werden die Organisationsstrukturen dezentralisiert, bürokratische Aspekte (Buchhaltung, Steuern usw.) versuchen, ihre ewige Unbeweglichkeit zu verlieren, und das Paket an Arbeitskräften wird verschoben und stößt bei diesem vermeintlich sehr gefährlichen Vorhaben auf weniger Widerstand als erwartet. Risiken (einschließlich des Risikos sozialer Verwerfungen) werden Teil der Marktstrategie und werden hier durch Umstrukturierung (d. h. die Unterteilung von Produktionseinheiten) gelöst. In einem turbulenten und feindlichen Ambiente passt sich die Produktionseinheit an und wird flexibel. Wie das weiche Schilfrohr biegt es sich, um dem Sturm zu trotzen. Was früher starr und geordnet war, in stabilen Formen, die erfolglos mit den ständigen Widrigkeiten einer Umwelt kämpften, die sich per Definition für feststehend hielten, bricht jetzt auf tausend Arten zusammen, in hundert produktiven Strukturen, in Dutzenden von verschiedenen Denkweisen und vielfältigen Zielen. Der Pluralismus hält Einzug in die Welt der Produktion und entdeckt, dass er schließlich das einzige Element ist, das sich harmonisch mit einer politischen Situation mit demokratischer Struktur verbinden kann. Die autoritären Ideologien und repressiven Praktiken der Vergangenheit sind nur noch eine vage Erinnerung. Die harte Arbeit, die alle leisten, um den sogenannten „Terrorismus“ zu bekämpfen (einschließlich der Gefährten und der Gefährtinnen, die diesen Begriff leichtfertig verwenden, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie damit wieder für genau die Sache funktional werden, die sie bekämpfen wollen), trägt dazu bei, dieses neue Gewand der Possibilisten20 in weißen Kitteln zu befeuern. Die „Bösen“ werden beiseite geschoben, aber nicht auf brutale Art und Weise (es wird immer wieder über die Grenzen und Gefahren repressiver Entscheidungen gesprochen, die auf der Idee eines „Notstands“ basieren). War es ein Zufall, dass der Weg der Flexibilität gewählt wurde, um die Situation der 1970er Jahre zu überwinden, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die Technologie spezifische Apparate zur Verfügung stellte, die die Unternehmen in der Praxis flexibel machen konnten? Sicherlich nicht, und ebenso sicher ist es nicht möglich, die Bedingungen dieser Beziehung festzulegen, d.h. wie die Technologie diese Entscheidungen beeinflusst hat und diese Entscheidungen die Entwicklung der technologischen Forschung beeinflusst haben. Das Gleiche und noch viel mehr ist in den letzten Jahren passiert. Wir werden nie wissen, wie sehr die Technologie heute das Produktions- und Sozialsystem als Ganzes zu flexiblen Entscheidungen drängt und wie sehr diese Entscheidungen – die inzwischen unverzichtbar geworden sind – zu technologischen Erfindungen drängen, die zunehmend in der Lage sind, organisatorische Flexibilität zu realisieren. Die Irrationalität wird zur Grundlage des theoretischen Projekts der Ökonomie und verdrängt die alten mechanistischen Mythologien des Gleichgewichts. Das bringt die neoklassische Theorie zurück in den Bereich der neuesten Entwicklungen in der Wissenschaft, die natürlich weit von den Mechanismen des 19. Jahrhunderts entfernt sind. Aber das hier, so interessant es auch ist, ist eine ganz andere Sache. c) Die Welt der Schule Vorbei sind die Zeiten, in denen die Schule als geschlossenes System mit eigenen Problemen betrachtet werden konnte, die man nach draußen tragen musste, um sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen (Nachbarschaft, Fabrik usw.). Jetzt wird die Schule voll in die allgemeinen Bedingungen des sozialen Konflikts hineinprojiziert. Nur sind sich die Schülerinnen und Schüler (und die Lehrkräfte) dieser Realität nicht unbedingt bewusst und in sie eingebunden, obwohl sie de facto projiziert wird. In der Praxis erfüllt die Schule sehr spezifische Funktionen, die zunehmend an die produktiven Realitäten angepasst werden. 1) Qualifizierung. Die Funktion, qualifizierte Arbeitskräfte zu produzieren, ist stark zurückgegangen, da das Produktionssystem nicht mehr auf vertikale Spezialisierungen angewiesen ist, die sich durch hohe Qualifikationen und geringe Anpassungsfähigkeit auszeichnen, sondern im Gegenteil auf horizontale Spezialisierungen mit Menschen, die eine Vielzahl von Dingen beherrschen, über geringe Qualifikationen verfügen und daher eine größere Bereitschaft haben, sich an wechselnde Arbeitsplätze anzupassen oder sogar ein langes Leben zu führen, indem sie einfach nach Arbeit suchen. 2) Unbestimmtheit der Lehrinhalte. Grundsätzlich sind die kulturellen Inhalte der Qualifizierung immer verfügbar und angesichts des beträchtlichen wissenschaftlichen Fortschritts gibt es auf allen Ebenen sehr zugängliche Instrumente für die Vermittlung dieser Inhalte (z. B. Lehrbücher, audiovisuelle Medien, Computer, Filme, Aufnahmen usw.). Es ist nur so, dass die Übertragung nicht stattfindet und wenn doch, dann nur teilweise. Der allgemeine Kontext ist nicht anregend. Die Lehrkräfte wiederum sind nicht ausreichend qualifiziert. Außerdem stellen sie fest, dass es für ihre Bemühungen keine betrieblichen Absatzmärkte gibt. Dadurch verringert sich auch der minimale Aufwand für die Vermittlung dieser kulturellen Inhalte, die ebenfalls zur Verfügung stehen würden. Das Ergebnis ist eine allgemeine kulturelle Verarmung der Schule, die dem Bedürfnis des Kapitals entspricht, eine Masse von Ausgeschlossenen mit weniger verfügbaren kulturellen Inhalten aufzubauen. 3) Demokratische Mentalität. Dies ist eine „neue“ Funktion des Bildungssystems. Ein Mensch, der flexibel, anpassungsfähig und mobil ist, kann nicht autoritär erzogen werden. Er muss von klein auf lernen, sich zu beteiligen. Daher die weite Verbreitung von Vollversammlungsprozessen und das Verschwinden der alten autoritären und begriffsstutzigen Auffassung. 4) Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems. Sie besteht in dem Versuch, die zukünftigen Arbeitskräfte präventiv auf die Sektoren zu lenken, in denen das Risiko der Arbeitslosigkeit am geringsten ist. Dabei geht es nicht so sehr darum, auf „geschlossene Zahlen“ in Fakultäten oder Gymnasien zurückzugreifen, sondern einfach darum, eine andere Ideologie und eine veränderte Werteskala in Bezug auf die traditionellen Unterteilungen der menschlichen Tätigkeit zu entwickeln. 5) Sozialer Schutz. Schulen reduzieren Spannungen und soziale Konflikte, indem sie den potenziellen zukünftigen Druck auf das Beschäftigungsniveau innerhalb einer Institution, die damit zu einer Art Parkplatz wird, aufhalten. 6) Einen Konsens herstellen. Die Schule wendet verschiedene Verfahren an, um dies zu erreichen. Einige sind „objektiver“ Natur, d.h. sie werden einfach durchgeführt, weil die Schulpflicht bis zu einem bestimmten Alter eingeführt wurde (was, wie wir gesehen haben, erhebliche Vorteile für das Kapital mit sich bringt). Andere sind absichtlich und geplant. Letztere sind: (a) positive Bewertung des kapitalistischen Kulturmodells durch die Überarbeitung der Konzepte von Sparen, Arbeit, Eigentum, Familie, Gott, Staat usw; b) die Akzeptanz des ökonomischen Gesellschaftsmodells, wonach die beste Lösung immer diejenige ist, die mit dem geringsten Aufwand das maximale Ergebnis erzielt; c) Hindernis für „abweichendes“ Verhalten, aber mit Rückgriff auf Diskussion und Kritik und unter weitestgehender Vermeidung brutaler Unterdrückung; d) Akzeptanz (Kritik) des hierarchischen Modells, da die Hierarchie existiert, weil sie die beste Lösung für das Problem des sozialen Funktionierens ist. Sie wird also nicht aufgezwungen, sondern nur kritisch akzeptiert (was viel effektiver ist); e) Bau einer Brücke zwischen dem ökonomischen System und dem Schulsystem, die sicherstellt, dass die Aktivitäten der Schule besser auf die Anforderungen der Produktionssituation im Allgemeinen abgestimmt sind; f) Vermittlung der brennendsten sozialen Probleme („Terrorismus“, Mafia, Drogen usw.) innerhalb der Schule, damit sie hier eine geeignete „Behandlung“ erfahren, um zu Elementen ideologischer Einheitlichkeit und damit eines gesellschaftlichen Konsenses zu werden; g) Bereitstellung einer allgemeinen Anpassungsfähigkeit, die es den zukünftigen Arbeitskräften ermöglicht, auch unter Bedingungen tiefgreifender Veränderungen in der Arbeitswelt zu überleben. Verlust der Sprache Zu den Projekten der Macht gehört die Reduzierung der Sprache als vielfältiges und kreatives Mittel der Kommunikation. Als Sprache müssen wir hier die Gesamtheit aller Ausdrucksmittel betrachten und insbesondere diejenigen, die die Manifestation komplexer Konzepte sowohl in Bezug auf Objekte als auch auf Gefühle ermöglichen. Diese Reduzierung ist für die Macht notwendig, denn bei dem Projekt, Kontrolle langsam durch bloße Repression zu ersetzen, spielt der Konsens eine grundlegende Rolle, und es kann keinen unmittelbaren und einheitlichen Konsens geben, wenn es eine weit verbreitete Kreativität gibt. Das alte revolutionäre Problem der Propaganda hat sich in den letzten Jahren stark verändert und die Grenzen eines Realismus aufgezeigt, der auf dem Anspruch beruhte, den Ausgebeuteten die Verzerrungen der Welt deutlich vor Augen zu führen und sie so zu einem Bewusstsein zu befähigen. Bleiben wir in der historischen Sphäre des Anarchismus, so haben wir den wirklich außergewöhnlichen Fall von Malatestas literarischer Fähigkeit, die auf einer für seine Zeit fast beispiellosen Essenz der Schriftsprache beruht. Malatesta setzte nicht auf rhetorische Effekte oder die Konstruktion von Schlagwörtern, sondern auf die elementare Logik von Schlussfolgerungen, die von einfachen Anhaltspunkten ausgingen, auf dem gesunden Menschenverstand beruhten und zu komplexen Schlussfolgerungen führten, die so für den Leser verständlicher waren. Auf einer ganz anderen sprachlichen Seite agierte stattdessen Galleani, der viel mehr auf rhetorische Konstruktionen und die Suche nach einer musikalischen Satzstruktur setzte sowie auf die Verwendung von Wörtern, die zu seiner Zeit bereits beiseite gelegt worden waren und die er wieder in Gebrauch nahm, alles mit dem Ziel, eine sprachliche Atmosphäre zu schaffen, die seiner Meinung nach die Geister zur Aktion bewegen konnte. Beide sind heute nicht mehr als Beispiele für revolutionäre Sprache geeignet. Malatesta, weil es immer weniger zu „beweisen“ gibt, Galleani, weil es immer weniger zu „bewegen“ gibt. Vielleicht lassen sich die Vorbilder der revolutionären Literatur am besten in Frankreich erkennen, sowohl wegen der großen spezifischen Tradition, die mit der italienischen, spanischen oder englischen nicht zu vergleichen ist, als auch wegen des besonderen Geistes der Sprache und Kultur dieses Volkes. Bleibt man in derselben Epoche wie die zitierten italienischen Beispiele, so sind Faure, Grave und Armand wegen ihrer Klarheit und anschaulichen Darstellung hervorzuheben, während Libertad und Zo d’Axa wegen ihrer expositorischen und in gewisser Hinsicht auch rhetorischen Forschung hervorstechen. Vergessen wir nicht, dass es in Frankreich bereits das Beispiel von Proudhon gab, dessen Stil in der Akademie selbst Zustimmung und sogar Begeisterung hervorgerufen hatte, und später das von Faure, der als eine Art Fortsetzer dieser großen Schule angesehen werden sollte, zusammen mit dem methodischen und asphyktischen21 Grave, einem Autodidakten und begeisterten Schüler von Kropotkin, dessen Französisch nicht schlecht war, sondern gerade deshalb, weil es, wie das von Bakunin, das Französisch eines Russen war. Über die sprachlichen, literarischen und journalistischen Experimente von Libertad, Zo d’Axa und anderen, die idealerweise an den Vorläufer Cœurderoy anknüpfen, könnte man lange sprechen, aber obwohl sie eines der besten Beispiele für revolutionären Journalismus darstellen, sind selbst sie heute in der Art und Weise, wie sie realisiert wurden, undenkbar. Tatsache ist, dass sich die Realität verändert hat, während die Revolutionäre ihre Sprache weiterhin auf die gleiche Weise produzieren, sogar noch schlimmer. Um den Verfall zu berechnen, muss man nur ein Flugblatt von Zo d’Axa „En dehors“, mit Daumiers großer Zeichnung auf der einen und Zo d’Axas Schrift auf der anderen Seite, mit einigen versteinerten Flugblättern von heute vergleichen, was ein solcher Vergleich auch wert sein mag. Aber hier ist es nicht einmal mehr ein Versteinerungsproblem. Nicht nur unsere privilegierten Gesprächspartner verlieren die Sprache, sondern auch wir verlieren sie, und da wir uns zwangsläufig an einem gemeinsamen Treffpunkt begegnen müssen, wenn wir kommunizieren wollen, ist der Verlust nicht rekuperierbar22. Der Prozess der allgemeinen Abflachung betrifft alle Sprachen, da er die Heterogenität des Ausdrucks auf die Einheitlichkeit des Mediums zurückführt, um sie zu ermöglichen. Der Mechanismus ist mehr oder weniger der folgende und kann mit dem Fernsehen veranschaulicht werden. Das quantitative Wachstum von Daten (Nachrichten) führt dazu, dass immer weniger Zeit für die Übermittlung von Bildern und Worten zur Verfügung steht. Dies führt zu einer fortschreitenden und spontanen Auswahl von Bildern und Wörtern, so dass einerseits diese an sich heterogenen Elemente essentialisiert werden und andererseits die Datenmenge wächst. Die ersehnte Klarheit, über die Generationen von Revolutionären, die den Menschen die Realität erklären wollten, nachgeweint haben, wurde schließlich auf die einzig mögliche Art und Weise erreicht, nämlich nicht dadurch, dass man die Realität klar macht (was unmöglich ist), sondern dadurch, dass man die Klarheit real macht, d.h. dass man eine von der Technologie konstruierte Realität als wirklich existierend betrachtet. Dies geschieht mit allen sprachlichen Ausdrücken und beinhaltet auch die verzweifelten Versuche, die menschliche Kreativität durch das privilegierte Tor der Kunst zu retten, die es schafft, immer weniger Möglichkeiten durchzulassen, die zudem auf dieser Ebene an zwei Fronten kämpfen müssen: gegen den Sog der Abflachung, der Gleichförmigkeit als kreativ erscheinen lässt, und gegen den entgegengesetzten Sog, der aber denselben Ursprung hat, des Marktes und der Zitate. Meine alten Thesen zur arte povera und Kunst als Zerstörung liegen mir immer mehr am Herzen. Nehmen wir ein klärendes Beispiel. Jede Sprache hat als Werkzeug immer mehrere Möglichkeiten der Verwendung. Wir können auch sagen, dass sie dazu dienen kann, einen Code zu übermitteln, der einen Konsens bestätigt oder perfektioniert, oder eine Übertretung zu schaffen. Die Musik bildet da keine Ausnahme, denn sie hat ihre eigenen Probleme und findet den Weg der Transgression schwieriger. (Je leichter die Übertretung scheint, desto weiter ist man davon entfernt, sie zu verwirklichen). Nun, Rock ist eine Musik der Rekuperation und hat dazu beigetragen, einen großen Teil der revolutionären Energien der 1970er Jahre auszulöschen. Das Gleiche geschah seinerzeit mit der musikalischen Innovation der Wagnerzeit, so Nietzsches bemerkenswerte Erkenntnis. Man bedenke jedoch, welch großer thematischer und kultureller und damit auch technischer und sozialer Unterschied zwischen diesen beiden musikalischen Produktionen besteht, die beide auf denselben rekuperativen Zweck ausgerichtet sind. Wagner musste einen gewaltigen kulturellen Rahmen und eine tiefgreifende Verzerrung des sprachlichen Instruments konstruieren, um die revolutionäre Jugend seiner Zeit zu fesseln. Heute hat der Rock dieselbe Aufgabe übernommen, und zwar in einem viel größeren Maßstab und mit einem kulturellen Aufwand, der im Vergleich dazu sogar lächerlich ist. Die Massifizierung der Musik hat die Arbeit der Rekuperation und des Katalogisierens begünstigt. Man kann also sagen, dass die reduktive Aktion in zweierlei Hinsicht wirkt: erstens im Sinne des Instruments, das einem Prozess der Vereinfachung und Entschlackung unterworfen wird, und zweitens im Sinne seiner Verwendung, die standardisiert wird und Effekte hervorbringt, die immer auf einen von allen oder fast allen akzeptierten Durchschnitt zurückzuführen sind. Dies geschieht in der sogenannten Literatur (Poesie, Belletristik, Theater) und auch in dem engen Mikrokosmos, der die revolutionäre Tätigkeit der Untersuchung sozialer Probleme darstellt. Egal, ob sie in Form von Artikeln in den Zeitungen der Bewegung oder in Form von Flugblättern, Pamphleten, Aufsätzen mit einem gewissen Tiefgang oder Büchern veröffentlicht werden, die damit verbundenen Risiken sind ziemlich ähnlich. Der Revolutionär ist auch ein Kind seiner Zeit und benutzt die Werkzeuge seiner Zeit. Die Möglichkeit, die aktuellen Bedingungen der Gesellschaft und der produktiven Formation im Wasserzeichen zu lesen, hat abgenommen, sowohl weil es viel weniger an die Oberfläche zu bringen gibt als auch weil es weniger Interpretationswerkzeuge gibt. In einer Gesellschaft, die extrem in verschiedene Klassen polarisiert war, bestand die Aufgabe der Gegeninformation darin, die Realität der Ausbeutung ans Licht zu bringen, an deren Verschleierung die Macht ein Interesse hatte, also auch die Mechanismen der Ausbeutung des produktiven Mehrwerts, die repressiven Machenschaften, die autoritären Verzerrungen des Staates und so weiter. In einer Gesellschaft, die immer mehr zur demokratischen Verwaltung und zur computerisierten Produktion tendiert, wird das Kapital gerade deshalb lesbarer, weil es weniger wichtig ist, es zu lesen, weniger wichtig, seine Ausbeutungsmethoden zu entdecken, oder zumindest weniger wichtig, diese massive Umwälzung von Meinungen und Aktionen zu fördern. Die heutige Gesellschaft muss mit kulturellen Instrumenten gelesen werden, die nicht nur Interpretationen unbekannter Tatsachen liefern, die so an die Oberfläche geholt werden, sondern auch unbewusste Konflikte, die weit entfernt sind vom alten und sehr sichtbaren Klassenwiderspruch. Damit soll verhindert werden, dass wir durch die Umkehrung von Lebensweisen in eine vereinfachende Ablehnung hineingezogen werden, die nicht in der Lage ist, die Mechanismen der Rekuperation, Konsensbildung und Integration zu beurteilen. Mehr noch als die Dokumentationen brauchen wir jetzt eine aktive Beteiligung, auch durch das Schreiben, an dem, was ein Gesamtprojekt sein muss. Wir können nicht einfach nur anprangern, sondern müssen analysieren, indem wir die Analysen in ein präzises Projekt einordnen, das im Zuge der Analyse selbst verstanden werden kann. Dokumentation oder Denunziation sind nicht mehr akzeptabel, mehr ist nötig, solange wir die /Zunge23 haben um zu sprechen und solange sie uns nicht abgeschnitten wird. Diese neue Interaktion zwischen Ausdrucksform und Projekt macht die Stärke der Verwendung des sprachlichen Instruments aus, stößt aber auch an ihre Grenzen, wenn die Sprache sich selbst verarmen lässt, indem sie die reduktionistischen Absichten, die von der Macht erforscht und angewandt werden, aufnimmt und sich zu eigen macht. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass in Schriften, die revolutionäre Probleme klären sollen, eine losgelöste Objektivierung stattfindet. Der sprachliche Ausdruck hat als Instrument immer eine soziale Dimension, die im Stil zusammengefasst wird, der nicht nur „der Mensch“ ist, wie Buffon es ausdrückte, sondern „der Mensch in einer bestimmten Gesellschaft“, wie es genauer zu sagen ist. Und es ist der Stil, der das zugegebenermaßen schwierige Problem löst, zusammen mit jenem Minimum an unverzichtbarem Inhalt, den sogenannten Sachdaten, die Einbeziehung in ein Projekt zu gewährleisten. Wenn dieses Projekt lebendig und den Bedingungen des Konflikts angemessen ist, kann der Stil belebt werden, aber wenn der Stil nicht geeignet ist oder sich in einem illusorischen Traum von Objektivität verliert, läuft selbst das angemessenste Projekt Gefahr, verloren zu gehen. Unsere Sprache muss daher Formen haben, die in der Lage sind, unseren revolutionären Inhalt zu tragen, die eine provokative Eigendynamik haben, die in der Lage sind, die gewohnten Kommunikationswege zu verletzen und umzustoßen, die es verstehen, die Realität, die uns am Herzen liegt, darzustellen, ohne sich in Schleier zu hüllen, die von versteckten und schwer zu erfassenden Logiken auferlegt werden. Projekt und Sprache, die zur Veranschaulichung verwendet werden, müssen sich im Stil treffen, und hier müssen sie sich gegenseitig anerkennen. Heute sind wir uns dessen bewusst, dass das Instrument einen erheblichen Teil des Inhalts ausmacht, auch wenn wir nicht bis zum Äußersten gehen wie in dieser These. Wir müssen uns um diese Prozesse kümmern und dürfen uns nicht von einer neuen praktisch orientierten Ideologie überwältigen lassen, die uns suggeriert, dass das Wegwerfbare wichtig ist und kein Zusammenhang zwischen Projekt und Stil besteht. Die anhaltende, allgemeine sprachliche Verarmung spiegelt sich also auch in dem kommunikativen Werkzeug wider, das wir als Revolutionäre nutzen können. Erstens, weil wir als Männer und Frauen unserer Zeit an den reduktiven kulturellen Prozessen teilnehmen, die sie kennzeichnen. Wir verlieren Werkzeuge, wie wir sie alle verlieren, wir verkümmern andere, und lassen wiederum andere verarmen. Das ist normal, auch wenn wir uns um bessere Ergebnisse bemühen sollten und mehr Widerstand gegen reduktive Projekte leisten können. Diese Verringerung der stilistischen Möglichkeiten ist eine Folge der inhaltlichen Verarmung, aber sie kann auch zu einer weiteren Verarmung führen, da sie den wesentlichen Teil des Projekts nicht zum Ausdruck bringt, der an die Ausdrucksform gebunden bleibt, da er nicht anders objektiviert werden kann. Es ist also nicht das „Genre“, das den Inhalt rettet, sondern in erster Linie die Art und Weise, wie dieser Inhalt Gestalt annimmt. Jemand denkt sich im Rahmen seiner eigenen Fähigkeiten von vornherein ein Ausdrucksschema aus und wird dieses Schema nie los, sondern tut so, als ob er alle Inhalte, die er bekommen kann, in dieses Schema hineinfiltert, und denkt, dass dieses Schema „seine Art ist, sich auszudrücken“, als ob er ein lahmes Bein oder dunkle Augen hätte. Aber so ist es nicht. Früher oder später muss er sich aus diesem Gefängnis befreien, wie jeder andere auch, wenn er dem, was er mitteilt, Leben einhauchen will. Manche wählen, um ein Beispiel zu nennen, den ironischen Schnitt24, um die innere Dringlichkeit zu vermitteln. Gut, aber Ironie hat von Natur aus, d.h. um ironisch zu sein und deshalb zu gefallen, die Leichtigkeit, den Tanz, den Witz, die anspielende Metapher. Sie kann nicht als System gewählt werden, denn dann verfällt sie in Wiederholung und wird pathetisch wie die satirischen Beilagen in Zeitungen, wie die Strips, von denen man erst wissen muss, wie die Geschichte ausgeht, sonst kann man sie gar nicht verstehen, wie Kasernenwitze. Ähnlich verhält es sich mit der Anziehungskraft der Realität, dem Bemühen, sie durch Kommunikation sichtbar und greifbar zu machen. Ausgehend von der Annahme, dass es keinen unmittelbaren Genuss von etwas geben kann, das der Realität nicht ähnelt, wird sie schließlich süßlich, unrealisierbar, verliert sich in einem ständigen Bedürfnis nach materiellen Beweisen und verliert jene Begrifflichkeit, die der wahren Kommunikation zugrunde liegt. Ein Klischee aus dem Museum des alltäglichen Unsinns besagt, dass man nicht weiß, was man sagen soll, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Das ist nicht wahr. Der Kommunikationsfluss ist nicht unidirektional, sondern multidirektional, d.h. wir kommunizieren nicht nur, sondern empfangen auch Kommunikation. Und das gleiche Problem, das wir bei der Kommunikation mit anderen haben, haben wir auch beim Empfangen von anderen. Auch beim Empfangen gibt es ein Stilproblem, gleiche Schwierigkeiten, gleiche Illusionen. Wenn wir uns auf die geschriebene Sprache beschränken, z. B. wenn wir einen Artikel in einer unserer Zeitungen lesen, können wir auch die Art und Weise rekonstruieren, in der der Autor dieses Artikels die Mitteilungen, die von außen an ihn herangetragen werden, empfängt; der Stil muss zwangsläufig derselbe sein, wir können dieselben Lesarten, dieselben Fehler und dieselben Kurzschlüsse erkennen. Denn diese Begebenheiten und Einschränkungen sind nicht nur Elemente des Stils, sondern auch wesentliche Bestandteile seiner Gestaltung, der angewandten Methode und seines Lebens selbst. Wir können gut erkennen, dass die Fähigkeit, die Artikulationen eines revolutionären Projekts zu erfassen, das notwendigerweise sowohl die eingehenden Kommunikationen als auch die Tatsachen transzendieren muss, umso bescheidener ist, je ärmer und repetitiver die eingehenden Kommunikationen sind, wie sehr sie auch direkt aus der Realität der Tatsachen stammen mögen. Was in Worten und leider auch in Fakten herauskommt, ist eine Annäherung, eine Ungewissheit, eine Elementarität von Ideen, die sowohl der Komplexität der Intuitionen und Erkenntnisse des Gegners als auch unserer eigenen revolutionären Intentionalität Unrecht tun. Wäre es anders, wäre der sozialistische Realismus die einzig mögliche Lösung gewesen, mit einer guten Arbeiterklasse, die immer bereit ist, sich zu mobilisieren, wie die guten rumänischen Bergarbeiter, um Iliescus25 neue Ordnung wiederherzustellen. Verlust der Kultur Über den Kulturbegriff gäbe es viel zu diskutieren, von der allgemein humanistischen Sichtweise, die früher vertreten wurde, bis hin zu einem moderneren Konzept, das auf der zentralen Bedeutung der Wissenschaften beruht. Für uns ist Kultur etwas anderes, obwohl wir nicht sagen können, dass sie etwas ganz anderes ist. Sie ist ein Produkt der Realität, in der wir leben, der Summe des Wissens, der Verfügbarkeit von Werkzeugen, aber sie ist auch ein wesentlicher Teil von jedem von uns, bis zu dem Punkt, dass sie ein Element des Lebens und der Möglichkeit ist, etwas zu begreifen, das im Leben Gefahr läuft, in Monotonie und Wiederholung zu versinken. Es gibt also eine passive und eine aktive Art, seine Beziehung zu dem heterogenen kulturellen System zu leben, das wir durchlaufen und von dem wir ständig durchdrungen werden. Wir können seine Auswirkungen genießen, uns wie Ton formen lassen und als dressierte Papageien dastehen, die auf den Schrott starren, den die universellen Wissenszentren (die nicht einmal mehr in Technik und Humanismus unterteilt sind) anbieten. Aber aus einer anderen Perspektive können wir uns aktiv der Eroberung dieses Wissens widmen, ohne es in all seinen verrückten Variationen zu verfolgen, aber auch ohne es zu zerlegen, um es zu einem Brei für Säuglinge zu verarbeiten. Dieses geheimnisvolle kulturelle Universum, das wir in einer von der Geschichte der Macht geprägten Wirklichkeit vor uns haben, ist zweifellos das Ergebnis der Aktivitäten der Macht selbst, Instrument und Produkt zugleich, Ursache und Wirkung, niemals trennbare Elemente einer kontinuierlichen menschlichen Schöpfung. Aber der Mensch ist auch dieses Ding hier, dieses historische Produkt der Macht, das zurückgeschält, befreit werden muss, und das kann nicht geschehen, indem man ein schönes, aber totes Simulakrum der libertären Ideologie an die Oberfläche holt, einen Menschen, der abstrakt frei, unbefleckt und rein ist und daher keine Kultur als Lebensmöglichkeit braucht. Der revolutionäre Instinkt der Sauberkeit, vor allem der Zerstörung, ist sicherlich eine der wesentlichen Komponenten der transformierenden Aktion der Realität, aber er kann nicht an sich als Hüter und Träger der nackten Wahrheit betrachtet werden, das wäre eine triviale, aber auch widerwärtige Vereinfachung. Die Realität ist immer komplexer, als man sie sich vorstellen kann, und das gilt nicht nur für die gegenwärtigen, unter Ausbeutung liegenden Bedingungen, sondern auch für die zukünftigen, endgültig befreiten. Die entblößte Natürlichkeit ist auch eine kulturelle Inszenierung, die leider tragisch ideologisiert ist und die folkloristischsten und ungerechtfertigtesten Extremismen, die auf der Illusion eines persönlichen und endgültigen Kontakts mit der Natur basieren, zum Opfer fällt. Die Realität ihrerseits ist immer von Schleiern umhüllt, die wir entdecken, interpretieren und zerreißen müssen, die wir aber nicht ignorieren können. Die Kultur verwaltet diese Schleier, natürlich auf ihre eigene Art und Weise und für ihre eigenen Interessen, indem sie sich mit der Verwaltung der verantwortlichen Macht verkörpert, aber sie verschließt sich nicht nur in dieser Verwaltung, sie ist selbst, als Kultur, ein Moment des Lebens, ein Aspekt des Werdens, der werdenden Aktion. Die Wiederaneignung von Kultur ist also ein vielschichtiger Prozess mit unterschiedlichen Anreizen und Hindernissen. Sie mit einer simplen Reduktion auf das Offensichtliche gleichzusetzen, erscheint mir gefährlich, denn das Offensichtliche, das extrem Einfache, ist gerade die Komponente mit dem höchsten ideologischen Gehalt, man denke nur an die Werbung, die Sprache der Sportzeitungen, die Konventionen und ihre massenhaft produzierten Phrasen. Die Anarchisten und Anarchistinnen, die innerhalb ihrer Bewegung schon immer verschiedene Komponenten hatten, die bewusst darauf ausgerichtet waren, diese Unruhen zu provozieren, haben in den letzten Jahrzehnten, von Ausnahmen abgesehen, ebenfalls einen starken Rückgang der Kreativität erlitten. Es gab einmal eine Zeit, in der mit Ausnahme der anarchosyndikalistischen Komponente, die zwangsläufig an die Module der Wiederholbarkeit gebunden war, andere Komponenten eine erstklassige Kultur hervorbrachten, die vielleicht sofort von den fortgeschritteneren Komponenten der Macht aufgegriffen wurde; heute, zumindest nach dem „Achtundsechziger“-Phänomen und seiner relativen Rekuperation, kann man sagen, dass eher ein Festhalten an kulturellen Modellen vorherrscht, die von der Akademie bereitgestellt und entsprechend ausgelöscht und angepasst wurden. Durch Überladung wurde und wird dieser Anpassungsprozess auf die billige Art und Weise durchgeführt, d.h. indem diese akademischen Inhalte im Namen eines unangebrachten revolutionären Essentialismus vom technischen Teil befreit werden, begleitet von einer Verachtung für die Schwierigkeiten dieser Inhalte, die unsere allgemeine Unwissenheit verdeckt. Wie viel Unsinn wurde zum Beispiel schon über Musik gesagt. Dass Musik ein Teil der Kultur ist, steht außer Frage, dass uns dieser Teil systematisch genommen wird, auch, aber dass sie nur „Freizeitbeschäftigung“ und nicht „kreativ“ ist oder dass sie „nie den Anspruch hatte, eine ernsthafte Sache zu sein“, halte ich für Ungeheuerlichkeiten. Musik ist Kultur und hat daher das Recht, mit all ihren Beschränkungen, die ihr durch die Verwaltung der Macht auferlegt werden, Teil der menschlichen Möglichkeiten zur Befreiung zu sein. Man muss sehen, wie man es angeht, aber das ist ein anderes Thema. Ich muss leider zugeben, dass dies sicherlich nicht der Weg für einen kritischen Ansatz ist, der zu revolutionären Durchbrüchen führen kann. Indem wir richtige Aussagen inmitten von anderen widersprüchlichen und oberflächlichen Aussagen machen, geben wir denen die Hand, die uns diese kulturellen Werkzeuge wegnehmen wollen. Und aus dieser Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Musik und Mathematik (zum Beispiel). Wir werden von einer Pseudokultur belagert, das stimmt, Ballast, mit dem wir gefüttert werden, damit wir wahnwitzige Überlebensbedingungen akzeptieren, aber das bedeutet nicht, dass alles zu dieser unverdaulichen Scheiße geworden ist. Und diese Invasion wird zu einer Lawine, wenn sie die Form von Informationen, von Fakten annimmt. Berge von Informationen türmen sich vor uns auf, wir werden von Eruptionen und Flutwellen von Papier, Bildern und Werbung überwältigt. Geräusche, Rhythmen, Moden und Aufzeichnungen häufen sich auf lästige Weise. Wir werden dazu gedrängt, zu akzeptieren, zu empfangen, zu beobachten und uns mit einer Zwangsneurose zu bewegen, die uns beeinflusst und in uns stagniert. Es geht nicht einmal mehr darum, von einer kritischen Herrschaft über dieses beängstigende kulturelle Universum zu träumen, das durch das Aufkommen der Telematik in Sachen Herrschaft perfektioniert wird. Aber wir können auch nicht alles über Bord werfen und von einer Unschuld träumen, die nie von dieser Welt war, von einer Rückkehr zur Natur, in der, wenn es einen Lärm gibt, es nicht der des Regimes ist, sondern nur der des Waldorchesters. Das ist Unsinn. Die Erstickung, die wir spüren, kann uns nicht dazu bringen, Unsinn zu sagen (und zu tun). Der Mensch ist heute mehr denn je in eine komplexe kulturelle Situation eingetaucht, die verstanden werden muss, wenn sie verändert werden soll. Der Gedanke, dass wir auf sie verzichten können, indem wir sie einfach austreiben oder abstrakte Verurteilungen aussprechen, ist kein geeignetes Mittel für die revolutionäre Aktion. Die gute Technik Die grundlegende Logik, oder besser gesagt der gesunde Menschenverstand, sagt, dass man die richtigen Mittel braucht, um etwas zu tun. Deshalb lese ich zufällig, dass Gefährtinnen und Gefährten, die wie ich nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Dringlichkeit des Angriffs und der Zerstörung telematischer Netzwerke teilen, der Meinung sind, dass wir als ersten Schritt, um alles andere anzugreifen, „das Computerwissen in die Hand nehmen“ müssen. Ich stimme dieser kognitiven Prämisse in dem Sinne zu, dass Wissen immer, oder fast immer, eine gute Sache ist, solange wir uns darüber im Klaren sind, was wir lernen und wie wir es nutzen können, und es vermeiden, in die jetzt aufgestellten Fallen zu tappen, die uns nur lernen lassen, was unsere Feinde wollen und nicht, was wir wollen. Das Problem ist schwierig, aber es lässt sich auf einfache Weise schematisieren, indem man von der sogenannten Grenze der „guten“ Technologie ausgeht. Fast alle ökologischen Thesen beruhen auf einer angeblichen Lösung dieses Problems und auf einer ebenso angeblichen Identifizierung dieser Grenze. Solange man diese Perspektive beibehält, ist der Einsatz von weniger schädlichen Technologien sicherlich möglich und niemand würde auf die Idee kommen, eine Rückkehr in die Steinzeit vorzuschlagen. Aber Technologie ist nicht gleich Technologie, und es gibt einen großen Unterschied zwischen den Technologien, die auf die Entwicklung der Kernenergie abzielen, und denen, die auf die Implementierung des Telematiknetzes abzielen, das sich jetzt sehr schnell entwickelt. Der Sektor der Nuklearproduktion ist ein Hochrisikosektor und stellt eine Gefahr für die Sicherheit aller dar. Daher berührt er Interessen, die in gewissen Grenzen sozial gegensätzliche Schichten, Ausgegrenzte und Eingeschlossene, sensibilisieren können. Die Angst vor einem totalen Krieg hat letztlich zu einer anderen Weltordnung geführt, die sich auf Teilkriege und eine schrittweise Reduzierung des Atomwaffenarsenals stützt. Wir haben es hier mit einem Interesse zu tun, das auf beiden Seiten der Klassenbarrikade verstanden wird, auch wenn es gegensätzlich ist. Der Sektor der telematischen Produktion ist sicherlich auch ein Risikosektor, und zwar deshalb, weil er die Ordnung der Welt, wie wir sie kennen, stört, aber es ist ein Risiko, das die Eingeschlossenen nach und nach beseitigen, indem sie die Ausgeschlossenen von sich ablösen und so eine andere Interpretation der Interessen vorschlagen, die angesichts der Verbreitung telematischer Mittel geschützt werden müssen. Mit anderen Worten: die Folgen, von denen wir gleich sprechen werden, werden nicht für alle gleich sein – wie im Fall des Atomtods -, sondern von den Eingeschlossenen wahrgenommen und kontrolliert werden, während sie für die Ausgeschlossenen unbekannt, daher unkontrollierbar und daher tödlich sein werden. Was die Atomkraft im Grunde in einer sozialen Mischform vereinte, trennt die Telematik, indem sie eine Mauer hochzieht, die eine viel starrere Einteilung in Klassen ermöglicht als die, die wir historisch kennen. Aber was könnten diese Konsequenzen sein? Viele fragen sich, was mit Informationstechnologie und Computern los ist, warum dieser Neo-Luddismus? Ist das nicht etwas Veraltetes? Riskieren ihre Befürworter in ihrer heiligen Wut nicht, sogar die gute Technologie zu untergraben, die wir nach der Revolution nutzen können, ja die wir heute nutzen müssen, um gegen den Klassenfeind zu kämpfen? Das sind Fragen, die beantwortet werden müssen. Die Telematik hat eine neue Welt eröffnet, aber es ist eine Welt, die, um verwaltet und genutzt werden zu können, technologisch gesehen, eine erhebliche Einschränkung der derzeitigen menschlichen Möglichkeiten in Bezug auf Intelligenz, analytische Fähigkeiten, Selbstbewusstsein, individuelle Autonomie, Reflexion und Planung erfordert. Keine Technologie ist an sich gut, man muss sehen, wie man sie einsetzt; aber diese Technologie ist an sich schlecht, nicht aus dem Grund, dass die Atomtechnologie schlecht war und ist (schlecht für alle), sondern weil die telematische Technologie nur für die Ausgeschlossenen schlecht ist. Denn während jede Technologie, auch die aus der Kernkraft, eine multiplikative Prothese menschlicher Fähigkeiten darstellt, ist die Telematik im Gegenteil eine reduktive Prothese derselben Fähigkeit. Wenn sich die Telematik bis zur Welteroberung ausbreiten soll, muss sie die Menschen in ihrem Gebrauch schulen. Da sie den Einzelnen nicht auf seiner Ebene erreichen kann, auch nicht auf der des gesunden Menschenverstandes, muss sie ihn auf seine eigene Ebene herablassen, die der Maschine. Der neue Mensch, den die Telematik massenhaft und für den massiven Bedarf einer Ersatztechnologie herstellen will, ist ein Mensch mit wenig Intelligenz, wenig Kommunikationsfähigkeit, reduzierten phantasievollen und kreativen Möglichkeiten, aber sehr hohen Fähigkeiten in Bezug auf Mobilität, Reflexe und Entscheidungsfindung zwischen verschiedenen Elementen, die jedoch in einem präzisen, vorher festgelegten Rahmen angegeben werden. Um dies zu erreichen, strebt das Projekt der Telematik eine tiefgreifende Veränderung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit an. Wenn wir nun ein wenig über die grundlegende Bedeutung nachdenken, die diese Fähigkeiten für uns haben, wird uns klar, welch dramatische Situation in einem sozialen Kontext entstehen würde, in dem dieses Projekt unbemerkt und völlig unangewendet bleiben würde. Was sie verändern, ohne es zu merken, ist die Beziehung, die schon immer zwischen unserem Körper und der Technologie bestand, eine Beziehung der Prothese, also der Steigerung der Fähigkeiten des Körpers. Es ist sicher, dass eine kurzsichtige Person mit einer Brille besser sieht und durch die richtige Korrektur der Gläser sogar genauso gut sehen kann wie ein Mensch mit guter Sehkraft. Im Gegensatz dazu hat das digitale Bild, das die Telematik liefert, nichts mit der Realität zu tun. Wenn wir ein Haus mit unseren Augen sehen, setzen wir durch die mentalen Prozesse der Wahrnehmung und der Erinnerung ein komplexes System der analogen Rekonstruktion in Gang, das es uns ermöglicht zu behaupten, dass wir vor einem Haus stehen. Wenn wir aber ein Haus auf einem Computerbildschirm sehen, sind es die tausenden von Lichtimpulsen der Maschine, die ein Bild suggerieren, das überhaupt nicht wie ein Haus aussieht; um ein Haus zu sehen, müssen wir dazu erzogen werden, das heißt, wir müssen uns auf die Ebene der Maschine reduzieren. Natürlich sind wir im ersten Moment geneigt, zu rebellieren und das Bild des Hauses „seltsam“ zu finden, aber es geht darum, die Zeit verstreichen zu lassen, ohne zu reagieren. Nach und nach entsteht eine neue Verhaltenskarte in unserem Bewusstsein. Wir reagieren anders auf dieses Bild und es fällt uns schwerer, uns gegen den Gedanken aufzulehnen, dass es wirklich das Bild eines Hauses ist. An diesem Punkt dringt der Computer in uns ein, die Technologie ist nicht länger etwas Äußerliches, die mechanische Hand von immenser Stärke ist eine umgekehrte Prothese, die in unser Gehirn eindringt und uns konditioniert. So sind wir in der Lage, selbst eine lange Bildfolge und sogar eine ganze Fernsehsendung zu akzeptieren und sie fälschlicherweise für eine Wiedergabe der Realität zu halten. Unsere Fernsehkonditionierung wird uns in der Tat keine Rebellion mehr erlauben, im Gegenteil, mit kaum höherer Auflösung wird der integrierte Schaltkreis jeden heute noch wahrnehmbaren Unterschied auslöschen. Die Telematik befasst sich aber nicht nur mit dem Problem des Empfangs (Wahrnehmung), sondern auch mit dem der Übertragung (Sprache). Auch in diesem Sinne muss man sich auf eine Reduzierung einstellen. Durch die Telematiktechnologie findet eine kontinuierliche Auslese des sprachlichen Erbes statt, wobei eine große Anzahl von Wörtern völlig unbrauchbar wird und in Vergessenheit gerät, um durch andere, oft englischsprachige Wörter ersetzt zu werden, die stärker essentialisiert sind. Ein zentrales Problem in der Geschichte des Kampfes gegen den Klassenfeind stellt sich also in diesen Jahren: entscheiden oder nicht entscheiden für einen sofortigen und umfassenden Angriff gegen die Errungenschaften der Telematik? Diese Entscheidung muss getroffen werden, bevor die Entwicklung dieser Technologie uns die Möglichkeit raubt, uns für einen Kampf dagegen zu entscheiden. Es kann sein, dass wir nicht in der Lage sind, innerhalb kurzer Zeit die allgemeinen Auswirkungen der Telematik zu verstehen, und diese Unkenntnis kann sogar parallel zu unserem Wissen über das telematische Medium selbst wachsen, eben weil kein wirkliches Wissen über diese Technologie möglich ist, das nicht selbst stellvertretend ist, d.h. der Akzeptanz von Bedingungen allgemeiner intellektueller Unterwerfung unterliegt. In Bezug auf das Wissen über Computer, das angeblich notwendig ist, um sie zu bekämpfen und zu ihrer Zerstörung beizutragen, gibt es einen unklaren Aspekt, den ich hervorheben möchte. Ich frage mich, was gemeint ist, wenn man sagt, dass man sich „Computerwissen aneignen“ muss. In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Tatsache erinnern, die ich, wenn auch indirekt, selbst erlebt habe. Anfang der 1960er Jahre wurden zwei meiner mathematischen Freunde, beide Assistenten für Statistik an der Universität Catania, durch ein interessantes, von Olivetti subventioniertes und vom Institut für Mathematik der Universität Pisa koordiniertes Angebot angelockt und erklärten sich bereit, an die letztgenannte Fakultät zu wechseln, um am Bau des ersten rein italienischen Computers mitzuwirken. Nach einiger Zeit, ich glaube, ein paar Jahren, traf ich einen der beiden, der mir von seinen traurigen Schicksalsschlägen in Pisa erzählte. Hier war das Gesamtprojekt an einem bestimmten Punkt aufgrund von Schwierigkeiten bei der Lösung einiger komplexerer Algorithmen ins Stocken geraten. Der Leiter des Projekts hatte die geniale Idee, die direkte Lösung der Algorithmen, die viel Zeit und eine Menge mathematische Kreativität erforderte, zu umgehen, indem er eine Anzeige in der „Settimana enigmistica“ schaltete und um die Mitarbeit von Enthusiasten in der Branche bat, die sich gegen ein bescheidenes Entgelt meldeten und die Probleme, wie man sagt, auf indirekte Weise lösten, d.h. mit Hilfe von Tabellen oder Matrizen, die alle Möglichkeiten der binären Logik entwickeln, eine unglaublich lange, aber auch unglaublich dumme Arbeit. Als der Olivetti-Computer der sogenannten ersten Generation fertig war, löste er die oben genannten Algorithmen mühelos selbst. Die traurige Realität in der Elektronik ist, dass abgesehen von den rein technischen Aspekten der Bauteile kaum eine Spur von echten kognitiven Problemen vorhanden ist. Viele Gefährtinnen und Gefährten, vielleicht angelockt durch die lautstarken elektronischen Diebstähle oder die Sabotage durch „Viren“-Programme, stellen sich vor, dass auch sie diese Kunststücke vollbringen können und leiten daraus die Notwendigkeit ab, zu lernen, wie man Programme herstellt und so weiter. Das führt dann zu mehr oder weniger sinnvollen Fantasien über die Gültigkeit von „Lehrgängen“ , die besucht werden müssen, oder Handbüchern, die „studiert“ werden müssen. Meiner Meinung nach unterscheidet sich das Problem nicht von dem, das dazu führt, dass man zu dem Schluss kommt,, obwohl man ihn in der eigenen Küche herstellen kann, dass es besser ist, Sprengstoff zu vermeiden: es ist schneller und weniger gefährlich, ihn zu kaufen und ganz einfach zu lernen, wie man ihn benutzt. Die Sprache der Technik Wir müssen Technologie doppelt kritisch betrachten: erstens, weil sie die Macht im Allgemeinen stützt, indem sie unvorhersehbare künftige Nutzungen ermöglicht, und zweitens, weil sie ein zweites Diskursgebiet eröffnet, das in sich selbst gefaltet werden kann, um sich an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Man kann sagen, dass es keine apologetische Aussage gibt, die nicht eine versteckte kritische Implikation enthält, die ebenso plausibel ist. Ebenso gibt es keine positive kritische Analyse, die die heutigen Fehler aufzeigt, um sie zu korrigieren, ohne eine apologetische Implikation, die umso stärker ist, je mehr sie sich als fähig erweist, die kritischen Überlegungen selbst zu überwinden. Die Vielfalt der Handlungsfelder, in denen Technologie eingesetzt und reproduziert wird und in denen die Denksysteme ausgearbeitet werden, die die zeitgenössischen und ambivalenten Voraussetzungen für ihren Konsum und ihre Produktion schaffen, schafft oft absolut unvorhersehbare Probleme der Interaktion. Der unüberlegte Umgang mit der Nutzung bestimmter Technologien lässt keine Vorhersagen zu, weder positive noch negative. Streng genommen würde sie nicht einmal die negative, also destruktive Forderung rechtfertigen, die wir an sie stellen. Aber die Unwissenheit der anderen, also das einfache Stecken des Kopfes in den Sand, hat uns nicht dazu gebracht, zu glauben, dass passives Warten und Intuition gerechtfertigt sind. Es kann gut sein, dass wir uns irren und dazu beitragen, die geniale Geburt einer glücklichen Zukunft für die Menschheit im Keim zu ersticken oder zu erschweren, aber es sieht nicht so aus, als gäbe es im aktuellen wissenschaftlichen Panorama solche Hinweise, die uns nach einem Wunder schreien lassen. Annäherung und Oberflächlichkeit herrschen vor und werden nur in den kurzlebigen Projekten gemildert, die zunehmend den Platz der alten langfristigen Illusionen einnehmen. Sicherlich haben wissenschaftliche Hypothesen und ihre technologischen Anwendungen die Materie immer verändert und sie den Bedürfnissen des Menschen unterworfen, seinem grundlegenden Wunsch, die Realität seinen eigenen Vorstellungen anzupassen. Dieser „historische“ Verlauf menschlicher Ereignisse entspricht nicht genau dem, was wir als Realität zu bezeichnen gewohnt sind, denn viele technologische und wissenschaftliche Anpassungen der Materie können nicht als positive Ereignisse für den Menschen bezeichnet werden, vom Schießpulver bis zur Atombombe, aber wir können mit Sicherheit von einer gewundenen und oft widersprüchlichen Bewegung sprechen, die darauf abzielt, die Spontaneität der Natur und der Lebensprozesse im Allgemeinen auf die Kontrollierbarkeit und Reproduzierbarkeit der Technologie zu reduzieren. Schließlich ist der Mensch unter den Tieren derjenige, der am wenigsten in der Natur leben kann, einer der wehrlosesten, mit den schwächsten Jungen, aber mit der Fähigkeit, Umweltbedingungen von ungünstig zu günstig zu verändern. Aus diesen Gründen ist der Mensch, wie wir ihn heute kennen, das Produkt einer kurzen geschichtlichen Entwicklung von ein paar tausend Jahren, auch ein Produkt der Technologie. Bis zu diesem Punkt wäre es nicht verkehrt, wenn diese Technik heute auch das einfache Programm hätte, die Realität zu verändern und Prothesen zu schaffen, die dem Menschen zwar nicht unbedingt nützlich sind, aber zumindest von ihm kontrolliert werden können. Natürlich verwandelt jede Prothese den Menschen durch die Vergrößerung seiner begrenzten Möglichkeiten in einen Giganten, der zu Zerstörungen fähig ist, von denen die Titanen nicht einmal zu träumen wagten. Das ist auch insofern richtig, als die Idee der Vervielfältigung der Kraft selbst den Keim der Gefahr in sich birgt, aber da die Prothese immer eine nützliche Sache ist, müssen auch gewisse Risiken in Kauf genommen werden. Und so wird es schon seit Jahrtausenden gemacht. Beängstigende Prothesen, von Bronze zu Eisen, von Stahl zu Raketen, haben sich oft überlagert, ohne Zeit zum Nachdenken zu lassen. Enthusiasmus und Schwachsinn, steriler Widerstand und hoffnungsvolle Verzauberung. Bleibt man bei den Veränderungen der Materie, dann gab es bei der Konstruktion von Prothesen, egal wie groß die Gefahren waren, immer die Möglichkeit, wenn auch nur theoretisch, für Kontrollen zu sorgen, die den menschlichen Leichtsinn eindämmen konnten. All das hat sich mit der Technologie der letzten zwei Jahrzehnte grundlegend verändert. Die Gefährlichkeit hat aus zwei Gründen, die oft missverstanden werden, unerträgliche Grenzen erreicht, so dass jede Kritik an der Technologie entweder in einem generischen Maximalismus endet, der nur versucht, eine unbekannte Gefahr zu bannen, oder in dem Wunsch, etwas zu unterscheiden, das gerade wegen der Unwissenheit, mit der man sich ihm nähert, nicht unterschieden oder gar erkannt werden kann. Der erste dieser Gründe ist die Tatsache, dass die Technik heute nicht nur die Materie verändert, d.h. sie bearbeitet und anders nutzt, sondern in die Materie eindringt und so ihre Zusammensetzung verzerrt. Der zweite Grund ist, dass die verfügbaren Mittel, die durch die Technologie realisiert werden, durch diesen Eintritt in die Materie auf unvorhersehbare Weise verändert werden können, wodurch wissenschaftliche Aspekte, Hypothesen oder einfache technische Erkenntnisse, die zuvor unter Kontrolle gehalten wurden, gefährlich werden. Die Erschaffung neuer Materialien, neuer Lebewesen, einer neuen virtuellen Realität, die als weiterer Schritt der wissenschaftlichen Forschung und ihrer technischen Anwendung betrachtet wird, kann nicht besorgniserregender sein, als es die Erfindungen von chemischen Waffen, Atomreaktoren oder der Wasserstoffbombe waren und sind. Sobald man aber ein bisschen mehr nachhakt, auch ohne auf bestimmte Themen einzugehen, kommt man nicht umhin, überrascht zu sein, dass man vor einer Schwelle steht, die noch nie zuvor überschritten wurde. Veränderungen auf genetischer oder molekularer Ebene, wie z.B. die Verwirklichung einer fantastischen Realität, in der man das volle Gefühl des Seins und Agierens haben kann, ermöglichen die groß angelegte Produktion absolut unbekannter Lebewesen und Materialien sowie die Suggestion von undenkbaren Verhaltensweisen und beschleunigen den Prozess der Loslösung von der Realität, der für das Konsensmanagement so nützlich ist. Viele dieser neuen Produkte – wenn man als Produkt auch die virtuelle Möglichkeit betrachtet, eine nicht existierende Realität zu erleben -, die sich in die Gesamtheit aller anderen Materialien und damit aller anderen Lebewesen und in die Erfahrung der Realität, die wir täglich kennen, einfügen, werden unvorhersehbare Folgen für diejenigen haben, die heute in der Enge der Labore lediglich diese Umwandlungen durchführen, ohne sich über die möglichen Konsequenzen Gedanken zu machen. Die einfache Herstellung einer gigantischen Kuh, eines winzigen Laborpferdes oder einer Maus, die so groß wie ein Pferd ist, kann niemanden außer Science-Fiction-Fans beeindrucken. Dasselbe gilt für die Herstellung von supraleitenden Materialien, die Strom fast verlustfrei übertragen können. Das Gleiche gilt für die Erfahrungen, die sich aus der virtuellen Realität ergeben, die nur die Schwelle zu einer massiven und fesselnden Nutzung des gesamten weltweiten Telematiknetzes darstellt, die zunächst fasziniert, dann schockiert und schließlich den Normen des neuen gesunden Menschenverstands entspricht, der in dem Moment eingeengt und konditioniert wird, in dem er sich im Gewand der größten Freiheit präsentiert, nämlich der, seine Träume konkret zu leben. Niemand kann sagen, wie die Umwelt auf bestimmte Materialien und Lebewesen reagieren wird, niemand kann vorhersagen, wie sich unsere Welt durch unser verändertes Verhalten verändern wird, sobald wir in der Lage sind, mit den uns zur Verfügung stehenden neuen Materialien zu interagieren. Wenn die Technologie der Vergangenheit als komplexes System, das auf den wissenschaftlichen Hypothesen der Forschung und Analyse beruhte, Gefahren darstellte, die innerhalb bestimmter Grenzen begrenzt oder zumindest im Rahmen widersprüchlicher Interessen wechselseitig kontrolliert werden konnten, und wenn sie schließlich als befreiender Traum die verlockende revolutionäre Möglichkeit darstellte, eines Tages ein Instrument der Freiheit für alle zu sein, das die Teilung in Klassen und das Gespenst des Staates abschafft, wenn all dies in vielerlei Hinsicht begründet und plausibel war, dann lag das daran, dass jedes neue Stück des technologischen und wissenschaftlichen Gesamtrahmens innerhalb bestimmter Grenzen vorhersehbar war. Heute, da diese Möglichkeit der Vorhersage fehlt, sowohl für die einzelnen Prothesen, die nun nicht mehr als solche definiert werden können, als auch für die Wechselwirkung, die jede neue technologische Produktion innerhalb des Gesamtensembles der sozialen Formation hat, haben wir endlich erkannt, dass auch die alte Verwaltungsillusion der Kontrolle und Begrenzung lediglich das Produkt einer historischen Epoche war, die nun vorbei ist. Und da wir solche Folgen nicht vorhersehen können, können selbst die harmlosesten Experimente zur unwiederbringlichen Ausbreitung einer beängstigenden Katastrophe beitragen. Das „Ende“ der Krise Zu den verschiedenen Veränderungen, die in den kursierenden Analysen zu erkennen sind, gehört die unterschiedliche Rolle, die der „ökonomischen Krise“, verstanden im weitesten Sinne des Begriffs, zugewiesen wird. In der Vergangenheit, auch in der jüngeren Vergangenheit, war in marxistischen Kreisen viel von einem „objektiven Werden der Krise“ die Rede, auf dem verschiedene strategische und organisatorische Überlegungen beruhten. So wurde nicht nur die Möglichkeit, eine revolutionäre Konfrontation mit dem Klassenfeind zu erlangen, sondern auch die strategische Funktion der revolutionären Partei und die „siegreiche“ Wahl des verallgemeinerten Instruments unter dem Begriff „bewaffneter Kampf“ mit dem angeblich objektiven Verlauf der „Krise“ verknüpft. Das ist nicht mehr der Fall, das wissen wir auch, aber die Gründe, die zu dem jetzigen Zögern geführt haben, sind alles andere als seriöser Natur und verdienen keine weitere Untersuchung, denn sie lassen sich in der Umkehrung der Perspektive zusammenfassen, die aufgrund trivialer Fragen der Geschäftsführung erfolgte. Die Dinge liefen schief (aber hätten sie, ausgehend von dieser Prämisse, besser laufen können?) und so kam man zu dem Schluss, dass die „Funktion“ des objektiven Mechanismus nicht so funktionierte, wie sie sollte. Andere Schlussfolgerungen gehen in Richtung der Leugnung des Mechanismus in einem mit der Umstellung auf kollaborationistische Praktiken, die nur die Tatsache offenbaren, dass die geistige Trägheit von heute mit der von gestern identisch ist, nur dass die von gestern unter dem gnädigen Mantel vorgefertigter Wörter und Konzepte verborgen war. Dass die Marxisten diesen Begriff auch in einem tröstlichen Sinne verwendet haben, ist eine bekannte Tatsache. In konfliktarmen Zeiten, wenn die Herzen lauwarm werden, setzt der deterministische Zug seinen Marsch fort. Die Krise arbeitet an der Stelle der Revolutionäre, sie gräbt sich in das Herz der sozialen und ökonomischen Formation und bereitet den Boden für die Widersprüche der Zukunft (A.d.Ü., vor). Auf diese Weise sieht der Militante, der alles den revolutionären Hoffnungen geopfert hat, nicht, dass ihm der Boden unter den Füßen fehlt, und kämpft weiter, weil er glaubt, einen mächtigen Verbündeten zu haben, der in der Natur der Dinge verborgen ist. In widersprüchlicheren Zeiten, wenn das Niveau des Klassenkampfes steigt, hört der Determinismus auf, d.h. er wird unbrauchbar und wird durch einen opportunistischen Voluntarismus ersetzt, der in der Lage ist (oder hofft), auf den Initiativen der Bewegung, plötzlichen destruktiven Entscheidungen, spontanen organisatorischen Schöpfungen usw. zu reiten. Aber jenseits der betrieblichen Probleme, die die Träumer der überholten Macht vorbringen, geht es um den eigentlichen Kern des Problems. Tatsächlich ist der Verlauf des ökonomischen und sozialen Prozesses als Ganzes, sowohl im Detail der spezifischen Situation als auch in den großen internationalen Polarisierungen als Ganzes, nicht homogen. Es gibt Perioden der Beruhigung, der konstanten Produktivitätsindizes, des größeren internationalen (politischen und ökonomischen) Gleichgewichts; es gibt aber auch Perioden, in denen sich die Widersprüche verschärfen und das ganze System einen kritischen Punkt zu erreichen scheint. Die Ökonomen selbst haben von „Zyklen“ gesprochen, waren sich aber nie einig über deren Identifizierung oder Spezifizierung. Man kann sagen, dass das Kapitel über Zyklen dasjenige ist, das die witzigsten Dinge in dieser ganzen lächerlichen Wissenschaft enthält. Ist es für Kapitalisten möglich, die ökonomische Formation und ihre einzelnen Strukturen in Ordnung zu bringen? Die Antwort ist negativ. Aber diese negative Antwort ist keineswegs diejenige, die zum Eingeständnis der Unvermeidbarkeit von Krisen führt und damit zu der möglichen, friedlichen Erwartung, dass die Dinge – aus sich heraus – zum revolutionären Durchbruch führen werden. Im Gegenteil. Eine solche „revolutionäre“ Theorie hat sich mit der kapitalistischen Planungstheorie (d.h. Long Range Planning, d.h. strategische Langzeitplanung) gepaart. In beiden Fällen wurde derselbe Fehler gemacht. Man betrachtete die ökonomische (und soziale) Formation als ein Ganzes, das wohlgeordneten Gesetzen unterliegt, die von einer präzisen Wissenschaft (der Ökonomie) und ihrer Kammerzofe (der Soziologie) untersucht und hervorgehoben wurden, so dass Revolutionäre (auf der einen Seite) und Kapitalisten (auf der anderen Seite) bestimmte Anhaltspunkte zur Festlegung ihrer langfristigen Strategien ableiten konnten. Heute ist man sich darüber im Klaren, dass es keine Krisen gibt, und zwar nicht, weil die Welt perfekt geordnet ist, sondern im Gegenteil, weil sie absolut ungeordnet ist, weil sie ständig Turbulenzen ausgesetzt ist, die sich verstärken oder abschwächen können, die aber nicht als „Krisen“ bezeichnet werden können, da sie nicht „anomalen“ Situationen entsprechen, sondern, genauer gesagt, der Realität der ökonomischen und sozialen Formation selbst. Für Kapitalisten wurde die langfristige Planung in den frühen 1970er Jahren obsolet. Für Revolutionäre ist der parallele Begriff der „Krise“ noch nicht überholt. Die Verzögerung ist nicht unbedeutend. Es scheint mir sinnvoll, die veränderten Bedingungen der Ökonomie – zumindest auf der mikroökonomischen Ebene – genauer zu betrachten, um die Veränderungen zu verstehen, die in den revolutionären Analysen stattfinden, die auf der „Krise“ basieren, verstanden als ein begrenzendes Konzept, das einen angemesseneren Einsatz der Instrumente des Bruchs ermöglicht. In der Tat besteht kein Zweifel daran, dass ein Großteil der anarchistischen Analyse selbst auf verzögertem Verständnis, unzulässigen Übertragungen und unfreiwilligen Akzeptanzen beruht. Lange Zeit dachten wir, wir könnten die ökonomischen Analysen der marxistischen Kirche nutzen, indem wir sie einfach von bestimmten Prämissen und Schlussfolgerungen befreien. Das hat schon genug Fehler verursacht. Es ist gut, wenn man versucht, das Problem zu lösen. Ich glaube, dass marxistische Überlegungen in keiner Weise verwendet werden können. Außer sie von ihren dialektisch-deterministischen Prämissen zu befreien, was sie in unverdauliche Banalitäten verwandelt. Die Notwendigkeit, die Produktion an Vorhersagen anzupassen, die auf der Grundlage einer nicht existierenden Prämisse (ökonomische Ordnung und ökonomische Gesetze) gemacht wurden, machte die Situation der kapitalistischen Unternehmen, die das wesentliche Element dessen darstellen, was wir „Kapital“ nennen, sehr riskant. Alle Abweichungen von der Vorhersage wurden daher als falsche Elemente betrachtet, die auf die ökonomische Situation zurückgeführt werden sollten. Der dauerhafte und konstante Charakter dieser vermeintlich außergewöhnlichen Ereignisse wurde dabei übersehen. Veränderungen der Nachfrage, oligopolistischer Wettbewerb, Marktverteidigung der Unternehmen, das Niveau der Preise, der Wechselkurse, der Kosten, der Beschäftigungsvorschriften, der Umweltbedingungen – all das konnte nicht länger als „eine Reihe störender Elemente“ betrachtet werden, die den „Gewissheiten“ der Theorie widersprachen, die als einzige zur Interpretation der Realität befugt war. Auf diese Weise sorgte das Kapital auf der strategischen Ebene für Überraschungen. Mit anderen Worten, es war mit ständigen Änderungen der Prognosen konfrontiert, wodurch es immer schwieriger wurde, sich an Veränderungen der ökonomischen Realität anzupassen. So begann sich der Verdacht der möglichen Irrationalität des ökonomischen Verhaltens zu verbreiten – negativ. Das korrigierende Eingreifen des Staates, vor allem Ende der 1970er Jahre, war zweifellos ein Aspekt einer möglichen Erholung, konnte aber allein nicht ausreichen. Nicht zuletzt, weil die staatlichen Anreize wohlüberlegt auf eine Verringerung der negativen Aspekte des „kapitalistischen Wettbewerbs“ abzielten, aber zu sehr auf die institutionellen Bedürfnisse der sozialen Kontrolle ausgerichtet waren. Schließlich ist der Staat ein eigentümliches ökonomisches Unternehmen, das dazu neigt, die gesamte ökonomische (und soziale) Formation auf ein einziges Unternehmen zu reduzieren, das ein einziges Gut produziert: den sozialen Frieden. Das Kapital weiß sehr gut, weil es sich im deformierenden Spiegel der Erfahrungen mit dem Realsozialismus widergespiegelt sieht, dass der Weg zur kapitalistischen Regeneration, der über das Staatskapital führt, für es vielleicht ein noch schlimmeres Übel ist, weil es zwar das Fortbestehen der Herrschaft garantiert, aber die klassischen Aspekte des kapitalistischen Modells zu sehr verzerrt und in den engen Grenzen der institutionellen Kontrollbedürfnisse bändigt. Denn wenn wir genau hinsehen, diente die ganze Phase der Einführung der korrigierenden Variable „Staat“ – eine Phase, die, rein ökonomisch gesehen, in den frühen 1980er Jahren endete – auch dazu, dass der Staat – zumindest in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – das Projekt finanzierte, mit dem die tiefgreifendste technologische Innovation der Geschichte, die elektronische, eingeleitet wurde. Das war in der Tat ein unverzichtbares Element für das Leben mit dem Monster. Die Lösung lag darin, so schnell wie möglich eine maximale Produktionsflexibilität zu erreichen. Die Ökonomen haben hart gearbeitet. Angesichts der Gefahr, nicht aus der „Krise“ herauszukommen, wurden sie aktiv. Zuerst kritisierten sie die neoklassische Theorie des Unternehmens, dann die Managementtheorie. Anfangs versuchte diese Kritik, die Theorie zu einer tieferen Suche nach „Uniformitäten“ zu drängen, um den Unsicherheiten, die durch die extreme Vielfalt der Phänomene entstehen, ein Ende zu setzen. Dann kam die Kritik an der „Krisenkultur“, die als passive Akzeptanz einer anormalen Situation verstanden wurde, von der man annahm, sie sei überwindbar. Die gesamte Zeit der 1970er Jahre war geprägt von ökonomischer Forschung, die darauf abzielte, die mangelnde Gültigkeit von Prognosen, die auf früheren (neoklassischen oder betriebswirtschaftlichen) ökonomischen Theorien beruhten, in einem negativen Sinne zu untersuchen. Mit Beginn der 1980er Jahre wurden schließlich die „Instabilität“ und die relative Komplexität der Phänomene als Strukturen der ökonomischen Formation anerkannt, und die Vorstellung eines Nebeneinanders widerstreitender Kräfte und Interessen, innerhalb derer eine Ordnung geschaffen werden könnte, wurde endgültig ad acta gelegt. Ökonomen sprechen heute eindeutig von „Nicht-Regulierbarkeit“. Eine gegebene Situation – kurzfristig, wenn nicht sogar sehr kurzfristig – wird für das Unternehmen nur verständlich, wenn man die ökonomische Realität als ein Ganzes ohne Zentren und Ordnungsfähigkeit betrachtet, als eine Vielzahl von Kräften, die auf Entscheidungen einwirken, die sich nicht immer auf die abstrakten Kanons der „Rationalität“ zurückführen lassen. Die ökonomische Theorie hat auf dieses Problem eine klare Antwort gegeben. Das kapitalistische Unternehmen kann mit dieser Situation nur umgehen, wenn es seine Flexibilität maximiert. Das ist keine „neue“ Situation, sondern eine „neue“ Art, die Realität zu sehen. Das Unternehmen muss flexibel sein in seinen Entscheidungen, in seiner Produktionsorganisation und in seiner Anpassung an den allgemeinen ökonomischen Wandel. So werden Unternehmen dezentralisiert, Produktionsprozesse sind nicht mehr festgelegt, „Anomalien“ werden zur Regel, das Chaos wird in den beruhigenden Kanon des „ökonomischen Gesetzes“ zurückgebracht. In Wirklichkeit ist das Chaos das gleiche geblieben, nur die Art und Weise, wie es betrachtet wird, hat sich geändert. Der Kapitalist lernt, das Monster zu reiten. Seit jeher ist er ein Mann mit wenigen Skrupeln und dem Mut eines Piraten. Heute wird er es noch mehr. Vorbei sind die Priester der Ökonomie, die ihm tröstende Wiegenlieder sangen. Wenn er überleben will, muss er das Messer zwischen seine Zähne nehmen. Raub und Gewalt sind zunehmend die Waffen der kurz- und mittelfristigen Zukunft. Große Planungsperspektiven – oft gefolgt von sozialem Gezänk – werden beiseite geschoben. Die ökonomische Theorie der Vergangenheit kommt zu einem schlechten Ende. Das neoklassische Modell, das von einem rationalen ökonomischen Kalkül der Akteure ausging, die dann auf dem Markt aufeinandertrafen und dort ihr Gleichgewicht erreichten, wird auf den Prüfstand gestellt. Dasselbe gilt für die Managementtheorie, die sich ausschließlich auf die organisatorische Stabilität des Unternehmens und seine Planbarkeit stützte. Diese Überbleibsel der Vergangenheit werden durch das Konzept „Versuch und Irrtum“ ersetzt, ein Konzept, das aus der Kybernetik übernommen wurde. Diese Versuche sind natürlich nur möglich, wenn das Unternehmen sehr flexibel geworden ist und wenn es diese Versuche selbst ausreichend kontrollieren kann, und zwar nicht a priori (was sich auch als hypothetisch erwiesen hat), sondern a posteriori, um die verschiedenen Versuche wirksam zu machen. Diese Thesen legten auch die Annahmen der „begrenzten Rationalität“ beiseite, die die Managementtheorie in den 1970er Jahren prägten. Die neue Situation wirft eindeutig das Problem auf, wie sich das Unternehmen angesichts der Unmöglichkeit, externe Variablen und einige der gleichen internen Variablen zu kontrollieren, selbst regulieren muss. Gerade die „politischen“ Komponenten des Unternehmens, die Technostruktur im Sinne der amerikanischen „linken“ Ökonomen der 1960er Jahre, werden zu Elementen der Unsicherheit. Auf der Seite der Makroanalyse – insbesondere des Staates und seines Einflusses auf die Ökonomie – verlieren die Annahmen von vor ein paar Jahrzehnten ihre Bestimmtheit. Auf der Seite der Mikro-Analyse verlieren die einzelnen Unternehmen ihre strategische Planungskapazität. Die neue Realität ist also gekennzeichnet durch den Einzug externer Instabilität in das Unternehmen, das Ende der Stabilität der Beziehungen zwischen verschiedenen Unternehmen, die Veränderung der Regulierungsfunktion des Staates (stärkere Betonung des Aspekts der einfachen Konsensbildung), das Ende der Stabilität der Organisationsverfahren innerhalb des Unternehmens und die Überwindung des Konzepts der kapitalistischen Akkumulation und des quantitativen Wachstums der Produktion. Die neuen Methoden beruhen alle im Wesentlichen auf der Schnelligkeit der Entscheidungsfindung, der Flexibilität des produktiven Wandels und der erheblichen Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren. Auf diese Weise verändert sich die unternehmerische Prägung des Unternehmens grundlegend. Die Wissenschaft der ökonomischen Entscheidungen verschwindet, an ihre Stelle tritt eine Praxis (oder, wenn man es vorzieht, eine Kunst) der empirischen, eklektischen, agilen und schamlosen Entscheidungsfindung, die auf dem unmittelbaren Profit und der sehr kurzen Frist basiert. Die Ökonomen entwickeln die „Kontingenztheorie“, eine Theorie der Kontingenz, die das Unternehmen von innen heraus an unwiederholbare externe Situationen bindet. Man kann Prognosen, die auf Gesetzen beruhen, nicht einer ökonomischen Berechnung unterziehen, sondern nur kurzfristige Orientierungen bewerten, die auf empirischen Überlegungen beruhen und das Ergebnis der jüngsten Erfahrungen sind, die nichts mit langfristigen Gesetzen zu tun haben. Die Träume des Neokapitalismus fallen für immer. Mit ihnen fällt – oder beginnt dessen Niedergang und endgültiger Untergang – das große Geschäft. Wir sind uns bewusst, dass die analytischen Kategorien, die aus der Perspektive einer starren Organisation entwickelt wurden, uns daran hindern, die ökonomische Realität in ihrem realen Aspekt zu betrachten und somit eine angemessene produktive Aktion verhindern. Um diese Veränderungen zu verstehen, ist es notwendig, unsere Aufmerksamkeit auf einige wesentliche Elemente der bisherigen ökonomischen Analyse zu richten. Zum Beispiel der Produktlebenszyklus, die Kostenreduktionskurve als Funktion der Erfahrung mit einzelnen Produktionsprozessen, Konzentrationsindizes (für einzelne Unternehmen und für oligopolistische Branchengruppen), die Unternehmensgröße, die These, dass kleine Unternehmen den rückständigen Teil der Ökonomie darstellen, die Antriebsfunktion staatlicher Investitionen, das Vorhandensein technologisch fortgeschrittener Investitionskerne, die in der Lage sind, die gesamte Ökonomie eines Gebiets mitzureißen: Das sind eine Reihe klassischer Punkte des traditionellen Ansatzes. Diese fallen nach und nach alle weg. Die Schlussfolgerung ist, dass keine allgemeine Theorie möglich ist, sondern nur Annäherungen, die die Kontraste zwischen der äußeren Realität und dem Unternehmen abmildern. Aus diesem Schmelztiegel geht das „neue Unternehmen“ hervor. Es ist nicht mehr zentralisiert und hat nicht die Absicht, als Bezugspunkt zu dienen, um – in seiner eigenen Struktur – die Funktionen und Interessen zu polarisieren, die außerhalb liegen. Einst waren Forschung, periphere Produktion, kommerzieller Vertrieb, die staatliche Nachfrage (die im Laufe der Zeit stetig wachsen musste), die Suche nach Rohstoffen, die Ausbreitung des Eigentums über das Territorium, das Wachstum der politischen Macht usw. Planungselemente, die mit der „zentralen“ Position des Unternehmens verbunden waren. Jetzt wächst das Unternehmen nicht mehr zu immer größerer Größe heran und sieht sich nicht mehr als kompakte Einheit. Es wächst weiter, aber auf eine andere Art und Weise. Es ist wichtig, dieses Konzept zu verstehen. Das „neue Wachstum“ basiert ausschließlich auf den Beziehungen, die das Unternehmen mit der Außenwelt hat. So entstehen Vereinbarungen, Projekte, eine gemeinsame Sprache und Code-Harmonien. Nicht nur mit anderen Unternehmen (ohne Grenzen), sondern auch mit der Umwelt als Ganzes, mit dem Staat (ja, mit Staaten) sowie mit Zentren für Spitzentechnologie und wissenschaftliche Forschung. Dieses neue System (Japan war bis vor kurzem Vorreiter, weit vor den USA) verwandelt sich von einem geschlossenen System in eine System-Situation oder, wie es genannt wurde, in ein „System-Land“. Die System-Situation bietet die Technologie, die Professionalität der Arbeit, die Dienstleistungen, die Möglichkeiten zur Überwindung und Verbesserung der rechtlichen Infrastruktur, die Themen, das soziale und ideologische Verhalten. Mit einem Wort, es bietet die passende Umgebung. Nicht das objektive Umfeld, das existiert und auf das sich das traditionelle Unternehmen bezog, indem es versuchte, es auf seine eigenen Ordnungsbedürfnisse zu reduzieren, sondern ein überarbeitetes Umfeld, das für das neue Konzept der Unternehmensentwicklung geeignet ist. Dieses Konzept muss beachtet werden, wenn man von der Fragmentierung des Unternehmens spricht. Man atomisiert nicht eine physische Situation, sondern eine Gesamtsituation. Ermöglicht wurde dies natürlich vor allem durch die Verfügbarkeit neuer elektronischer Technologien, die die Grenzen des Raums und die damit verbundene Grenze der Zeit aufgehoben haben. Ein modernes Unternehmen, das in Echtzeit arbeitet, braucht keine Lager und keine starren Lieferprognosen mehr, es braucht keine Produktionsanlagen, die über einen langen Zeitraum hinweg unveränderlich sind, und es braucht auch keine großen finanziellen Investitionen, um die notwendigen Änderungen an den Produktionslinien vorzunehmen. Seine Flexibilität ist so groß, dass sie exponentiell wächst, vor allem nachdem das Hauptproblem der Arbeit gelöst wurde und die Geister der sozialen Kämpfe, die dieser Knoten mit sich brachte, beiseite geschoben wurden. Der multinationale Konzern, wie wir ihn in den vergangenen Jahren kennengelernt haben, hat sich ebenfalls verändert. Man hat nicht mehr den großen autarken Koloss. Es gibt kein Zentrum mehr, das seine eigene strategische Entwicklung auch den Staaten aufzwingen kann. Das neue multinationale Unternehmen ist an die Umwelt gebunden, mit der es interagiert, indem es versucht, die äußeren Bedingungen zu seinen Gunsten zu verändern. Es beherrscht nicht mehr die technologischen Kreisläufe und kontrolliert nicht mehr die Märkte. Kein einzelnes Unternehmen, egal wie groß es ist, kann heute die Entwicklung von Technologien kontrollieren und selbst entscheiden, ob es sie einsetzt oder nicht. Das multinationale Unternehmen wird tendenziell zu einem supranationalen kollektiven Unternehmen, das sich in eine Reihe von komplementären Unternehmen verwandelt, die intern durch die Produktionsbedingungen der Technologie und die individuell begrenzten Ausbeutungskapazitäten gebunden sind. Was wir – wenn auch in groben Zügen – beschrieben haben, kann nicht uninteressant für revolutionäre anarchistische Gefährten und Gefährtinnen sein. Wenn das „Ende“ der Krise es dem Kapitalismus ermöglicht, zu überleben, indem er sich an die ökonomische Realität anpasst, die als Chaos verstanden wird, ist es nicht mehr möglich, mit friedlichem Herzen zu warten. Aus demselben Grund, aus dem wir nicht mehr von Planung, Vorhersehbarkeit und ökonomischen Gesetzen sprechen können, können wir auch nicht von „Krise“ als einer Situation sprechen, die wir zu unseren Gunsten wenden können. Wir können uns den Klassenkampf auch nicht als einen Kampf mit wechselnden Phasen vorstellen. Zugegeben, dieser Konflikt ist im Laufe der Zeit nicht konstant, da Momente größerer und geringerer Intensität nur allzu deutlich zu erkennen sind, aber es handelt sich um qualitative und quantitative Veränderungen, die nicht deterministisch auf einfachen ökonomischen Stress zurückgeführt werden können. Dem Klassenkampf liegt ein riesiges Geflecht von sozialen und ökonomischen Beziehungen zugrunde. Keine Analyse kann uns einen sicheren Weg geben, um Erwartungen und Legitimationen von Verhalten zu messen. Die Zeit ist immer reif für einen Angriff, auch wenn die Folgen natürlich sehr unterschiedlich sein können. In diesem Sinne sollten wir über eine mögliche revolutionäre Organisation nachdenken, die in der Lage ist, besser auf die Realität des Klassenkampfes zu reagieren. Die Organisationsstruktur der Vergangenheit – von der Partei bis zur föderierten Gruppe, von der Gewerkschaft/Syndikat bis zu den Räten – entsprach mehr oder weniger genau einer Vorstellung von der ökonomischen Realität, die das kapitalistische Unternehmen im Zentrum sah, eine Konzentration von Macht und Ausbeutungskapazität. Im Gegensatz dazu wurde eine ebenso (oder etwas weniger) monolithische Struktur (Gewerkschaft/Syndikat, Partei, Föderation von Gruppen usw.) für notwendig erachtet. Heute hat sich nicht nur die produktive Realität verändert (was in mancher Hinsicht gar nicht mehr in Frage kommt, vor allem nach der fortgeschrittenen technologischen Veredelung), sondern auch die Art und Weise, wie diese Realität betrachtet wird. Selbst in der Vergangenheit, als die Menschen auf die Ewigkeit der ökonomischen Gesetze schworen, war die produktive Realität chaotisch und bestrafte systematisch diejenigen, die sich ihr deterministisch näherten. Vielleicht lassen sich die Begriffe „Konjunktur“ und „Krise“ auf diese kollektiven Bestrafungen zurückführen. Eine andere Organisationsstruktur, die weitgehend studiert und umgesetzt, aber sicher nicht von Grund auf neu entdeckt werden muss. Diese Aufgabe scheint uns vorrangig zu sein. Alle Versuche, die Leichen vergangener Organisationsprozesse (in erster Linie natürlich die Leiche der „revolutionären“ bewaffneten Partei) wieder zum Leben zu erwecken, sollten erklären, wie man mit einer ökonomischen (und sozialen) Realität umgeht, die heute immer mehr im Sinne von Unbestimmtheit und schon gar nicht im Sinne von starren ökonomischen Gesetzen lesbar wird. Jedes Mal, wenn diese Erklärung versucht wird, jedes Mal, wenn wir von einem revolutionären Organisationsvorschlag ausgehen, der mit Bildern aus der Vergangenheit verknüpft ist (Parteien, Föderationen von Gruppen, Gewerkschaften/Syndikate usw.), sehen wir, wie die grundlegende Vorstellung der ökonomischen Realität mit der Annahme der Existenz von mehr oder weniger starren Gesetzen verbunden ist. Wenn diese Gesetze als selbstverständlich hingenommen oder zwischen den Zeilen versteckt werden, bleibt der Glaube an das zyklische Konzept der „Krise“ in vollem Umfang erhalten – ein Glaube, der, wie wir wissen, in schwierigen Zeiten sehr nützlich ist, genau wie der andere Glaube, der, der vom Himmelreich spricht. Affinität Bei den anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten gibt es ein ambivalentes Verhältnis zum Problem der Organisation. Die beiden Extreme sind die Akzeptanz einer dauerhaften Struktur, die mit einem genau definierten Programm ausgestattet ist, über (wenn auch wenige) Mittel verfügt und in Kommissionen unterteilt ist, und auf der anderen Seite die Ablehnung jeglicher stabiler und strukturierter Beziehungen, selbst auf kurze Sicht. Die klassischen anarchistischen Föderationen (alte und neue) und die Individualisten bilden die beiden Extreme von etwas, das dennoch versucht, der Realität der Konfrontation zu entkommen. Der Gefährte oder die Gefährtin, der oder die an organisierten Strukturen festhält, hofft, dass aus dem quantitativen Wachstum eine revolutionäre Veränderung der Realität hervorgeht, und gibt sich deshalb der billigen Illusion hin, jede autoritäre Ausweitung der Struktur und jedes Zugeständnis an die Parteilogik zu kontrollieren. Der individualistische Gefährte ist eifersüchtig auf sein eigenes Ich und fürchtet jede Form der Ansteckung, jedes Zugeständnis an andere, jede aktive Zusammenarbeit und betrachtet diese Dinge als Verzicht und Kompromisse. Selbst Gefährten und Gefährtinnen, die sich kritisch mit dem Problem der anarchistischen Organisation auseinandersetzen und eine individualistische Isolation ablehnen, befassen sich oft nur mit dem Problem der klassischen Organisation und tun sich schwer, an alternative Formen stabiler Beziehungen zu denken. Die Basisgruppe wird als unverzichtbares Element der spezifischen Organisation angesehen und der Zusammenschluss zwischen Gruppen auf der Grundlage ideologischer Klärung wird zu ihrer natürlichen Folge. Die Organisation entsteht also vor den Kämpfen und passt sich schließlich an die Perspektive einer bestimmten Art von Kampf an, die – so wird zumindest angenommen – die Organisation selbst wachsen lässt. Auf diese Weise erweist sich die Struktur als stellvertretende Form gegenüber den repressiven Entscheidungen der Macht, die aus verschiedenen Gründen den Schauplatz der Klassenkonfrontation beherrscht. Der Widerstand und die Selbstorganisation der Ausgebeuteten werden als molekulare Elemente gesehen, die hier und da erfasst werden können, die aber erst dann bedeutsam werden, wenn sie Teil der spezifischen Struktur werden oder sich unter der (mehr oder weniger erklärten) Führung der spezifischen Struktur zu Massenorganismen konditionieren lassen. Auf diese Weise bleibt man immer in einer Warteposition. Wir sind alle wie auf Bewährung (A.d.Ü., auf „halber“ Freiheit). Wir hinterfragen das Verhalten der Macht und sind bereit, auf die Unterdrückung, die uns widerfährt, zu reagieren (immer innerhalb der Grenzen des Möglichen). Nur selten ergreifen wir die Initiative, werden selbst aktiv und kehren die Logik der Verlierer um. Diejenigen, die sich in strukturierten Organisationen wiedererkennen, warten auf ein unwahrscheinliches quantitatives Wachstum. Diejenigen, die innerhalb von Massenstrukturen arbeiten (z.B. in der anarchosyndikalistischen Sichtweise), erwarten, dass sie von den kleinen defensiven Ergebnissen von heute in das große revolutionäre Ergebnis von morgen übergehen werden. Diejenigen, die dies leugnen, erwarten das Gleiche, ohne zu wissen, was, oft in einem Groll gegen alles und jeden gefangen, sicher in ihren eigenen Ideen, ohne zu erkennen, dass diese nichts anderes sind als die leere negative Implikation der organisatorischen und programmatischen Aussagen anderer. Stattdessen scheint es uns, dass andere Dinge getan werden können. Wir gehen von der Überlegung aus, dass man Kontakte zwischen Gefährten und Gefährtinnen herstellen muss, um zur Aktion überzugehen. Allein ist man nicht in der Lage zu agieren, außer sich auf einen platonischen Protest zu reduzieren, so blutig und schrecklich wie man will, aber immer noch platonisch. Wenn man einschneidend auf die Realität agieren will, muss man viele sein. Auf welcher Grundlage soll man andere Gefährten und Gefährtinnen finden? Was bleibt übrig, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass die Programme und Plattformen von vornherein und ein für alle Mal festgelegt wurden? Die Affinität bleibt. Unter anarchistischen Gefährtinnen und Gefährten gibt es Affinitäten und Differenzen. Ich spreche hier nicht von charakterlichen oder persönlichen Affinitäten, also von jenen Gefühlsaspekten, die Gefährten oft miteinander verbinden (vor allem Liebe, Freundschaft, Sympathie usw.). Ich spreche von einer Vertiefung des gegenseitigen Wissens. Je mehr diese Vertiefung wächst, desto größer kann die Affinität werden, andernfalls können die Unterschiede so offensichtlich werden, dass ein gemeinsames Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unmöglich ist. Die Lösung bleibt einem tiefen gemeinsamen Wissen anvertraut, das durch detaillierte Planung der verschiedenen Probleme, die die Realität der Klassenkämpfe aufwirft, entwickelt werden muss. Es gibt eine ganze Reihe von Problemen, die in der Regel nicht in ihrer Gesamtheit erklärt werden. Wir beschränken uns oft auf die nächstgelegenen Probleme, weil sie uns am meisten betreffen (Unterdrückung, Gefängnisse usw.). Aber gerade in der Fähigkeit, tiefer in das Problem einzudringen, das wir angehen wollen, liegt das geeignetste Mittel, um die Bedingungen für eine gemeinsame Affinität festzulegen, die sicherlich nicht absolut oder total sein muss (außer in sehr seltenen Fällen), aber ausreichen kann, um handlungsfähige (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) Beziehungen herzustellen. Wenn wir unsere Interventionen auf die offensichtlichsten und oberflächlichsten Aspekte dessen beschränken, was wir als unmittelbare und wesentliche Probleme betrachten, werden wir nie in der Lage sein, die Affinitäten zu entdecken, die uns interessieren, und wir werden immer der Gnade plötzlicher und unerwarteter Widersprüche ausgeliefert sein, die jedes Projekt der Intervention in die Realität zunichte machen können. Ich bestehe darauf, dass wir Affinität und Gefühl nicht verwechseln dürfen. Es mag Gefährten und Gefährtinnen geben, mit denen wir uns verbunden fühlen, die uns aber nicht sehr sympathisch sind, und umgekehrt gibt es Gefährten und Gefährtinnen, mit denen wir keine Affinität teilen, die aber aus verschiedenen anderen Gründen unsere Sympathie haben. Man darf sich in seinem Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unter anderem nicht von falschen Problemen, wie dem der vermeintlichen Unterscheidung zwischen Gefühlen und politischen Beweggründen, behindern lassen. Aus dem vorher Gesagten könnte man schließen, dass Gefühle etwas sind, das von politischen Analysen getrennt werden muss, so dass wir zum Beispiel eine Person lieben können, die unsere Ideen überhaupt nicht teilt, und umgekehrt. Das ist im Prinzip möglich, auch wenn es noch so verletzend ist. In das Konzept der Vertiefung der Probleme, das weiter oben zum Ausdruck kam, muss jedoch auch der persönliche Aspekt (oder, wenn man es vorzieht, die Gefühle) einbezogen werden, denn wenn wir uns instinktiv unseren Impulsen unterwerfen, mangelt es uns oft an Reflexion und Analyse, da wir nicht zugeben können, dass wir einfach vom Gott des Exzesses und der Zerstörung besessen sind. Aus dem Gesagten ergibt sich, wenn auch nebulös, eine erste Annäherung an unsere Vorstellung von einer anarchistischen Gruppe: eine Ansammlung von Gefährtinnen und Gefährten, die durch gemeinsame Affinität verbunden sind. Je tiefer das Projekt ist, das diese Gefährten und Gefährtinnen gemeinsam aufbauen, desto größer ist ihre Affinität. Daraus folgt, dass echte Organisation, die effektive (und nicht fiktive) Fähigkeit, gemeinsam zu agieren, d.h. zueinander zu finden, analytisch zu studieren und zur Aktion überzugehen, mit der erreichten Affinität zusammenhängt und nichts mit Akronymen, Programmen, Plattformen, Fahnen und getarnten Parteien zu tun hat. Die Affinitätsgruppe ist also eine spezifische Organisation, die sich um gemeinsame Affinitäten versammelt. Diese sind vielleicht nicht für jeden identisch, aber die verschiedenen Gefährten und Gefährtinnen werden unendliche Schattierungen von Affinität haben, die umso vielfältiger sind, je größer die Anstrengung der analytischen Vertiefung ist, die erreicht wurde. Daraus folgt, dass die Menge dieser Gefährten und Gefährtinnen auch eine Tendenz zum quantitativen Wachstum haben wird, aber begrenzt und nicht der einzige Zweck der Aktivität. Die zahlenmäßige Entwicklung ist für das Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unerlässlich und ist auch ein Beweis für die Breite der durchgeführten Analyse und ihre Fähigkeit, nach und nach Affinitäten mit einer größeren Anzahl von Gefährten und Gefährtinnen zu entdecken. Daraus folgt, dass sich der so geschaffene Organismus irgendwann selbst gemeinsame Interventionsmittel gibt. Erstens ist es ein Diskussionsinstrument, das für eine gründliche Analyse notwendig ist und möglichst viele Hinweise auf eine breite Palette von Problemen geben kann, und gleichzeitig ein Bezugspunkt für die Überprüfung – auf persönlicher oder kollektiver Ebene – der Affinitäten oder Divergenzen, die nach und nach entstehen werden. Abschließend muss gesagt werden, dass das Element, das eine solche Gruppe zusammenhält, zweifelsohne die Affinität ist, aber ihre treibende Kraft ist die Aktion. Wenn man sich auf das erste Element beschränkt und den zweiten Aspekt unterbewertet, trocknet jede Beziehung in byzantinischem Perfektionismus aus. Informelle Organisation Unterscheiden wir zunächst zwischen der spezifischen informellen anarchistischen Organisation und der spezifischen synthetischen anarchistischen Organisation. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich hingegen bemerkenswerte Klarstellungen. Was ist eine offensichtlich anarchistische spezifische Syntheseorganisation? Es handelt sich um eine Organisationsstruktur, die auf Gruppen oder Einzelpersonen basiert, die in mehr oder weniger ständiger Beziehung zueinander stehen, und die ihren Höhepunkt in regelmäßigen Kongressen hat. In diesen öffentlichen Vollversammlungen werden grundlegende theoretische Analysen besprochen, ein Programm analysiert und Aufgaben verteilt, die die ganze Bandbreite der Interventionen im sozialen Bereich abdecken. Diese Organisation ist daher ein Bezugspunkt, ein Pol, der in der Lage ist, die Kämpfe, die in der Realität der Klassenkonfrontation stattfinden, zu bündeln. Die verschiedenen Kommissionen dieses Organisationsmodells greifen in die Kämpfe ein (als einzelne Gefährtinnen und Gefährten, die sie bilden, oder als Gruppen) und leisten durch ihr Eingreifen ihren Beitrag, ohne jedoch die theoretische und praktische Ausrichtung aus den Augen zu verlieren, die die Organisation als Ganzes auf dem vorherigen Kongress beschlossen hat. Wenn sich diese Art von Organisation in ihrer vollen Stärke entwickelt (wie es 1936 in Spanien geschah), beginnt sie auf gefährliche Weise einer Partei zu ähneln. Die Synthese wird zur Kontrolle. In Momenten der Müdigkeit fällt diese Rückbildung natürlich kaum auf und mag sogar wie Blasphemie erscheinen, aber zu anderen Zeiten ist sie deutlicher sichtbar. Im Wesentlichen wird bei der Organisation der Synthese (die immer spezifisch und anarchistisch ist) ein Kern von Spezialisten vorausgesetzt, die Vorschläge auf theoretischer und ideologischer Ebene formulieren und sie so weit wie möglich an das auf dem Kongress beschlossene allgemeine Programm anpassen. Abweichungen von diesem Programm können auch bemerkenswert sein (schließlich würden Anarchisten und Anarchistinnen eine zu sklavische (A.d.Ü., wortgetreu, wortwörtlich) Anpassung nicht zulassen), aber wenn sie auftreten, wird darauf geachtet, sie kurz gesagt, wieder in die Normalität der zuvor beschlossenen Linie zurückzuführen. Das Interventionsprojekt dieser Organisation besteht daher darin, in den verschiedenen Realitäten präsent zu sein: Antimilitarismus, Atomkraft, Gewerkschaften/Syndikate, Gefängnisse, Ökologie, Interventionen in der Nachbarschaft, Arbeitslosigkeit, Schulen, etc. Diese Präsenz äußert sich in direkten, d.h. direkt organisierten Interventionen oder in der Teilnahme an Interventionen, die von anderen Gefährtinnen und Gefährten oder anderen Organisationen (anarchistisch oder nicht) durchgeführt werden. Daraus lässt sich ableiten, dass der Zweck der Beteiligung darin besteht, den Kampf in das Projekt der Synthese einzubringen. Er kann nicht autonom sein, er kann sich nicht wirklich an die Bedingungen des Kampfes anpassen, er kann nicht wirklich auf einer klaren Ebene mit den anderen revolutionären Kräften zusammenarbeiten, wenn nicht durch den ideologischen Filter der Synthese, wenn nicht durch die Bedingungen, die durch das auf dem Kongress verabschiedete Projekt auferlegt werden. Diese Situation, die ohnehin nicht immer so starr ist, wie es hier den Anschein hat, bringt die unauslöschliche Tendenz der Syntheseorganisationen mit sich, das Niveau der Kämpfe zu senken, indem sie Vorsichtsmaßnahmen und Mittel vorschlagen, die darauf abzielen, jede Flucht nach vorn, jede Wahl von zu ungedeckten Zielen, jeden Einsatz von zu gefährlichen Mitteln zu reduzieren. Lasst uns ein Beispiel nehmen. Wenn eine Gruppe, die zu dieser Art von Organisation gehört (die zwar eine Synthese darstellt, aber dennoch spezifisch und anarchistisch ist), sich einer Kampfstruktur anschließt, z.B. gegen die Repression, ist sie gezwungen, die von dieser Struktur vorgeschlagenen Aktionen im Lichte der Analysen zu bewerten, die zuvor erstellt und mehr oder weniger auf dem Kongress angenommen wurden. Daraus folgt, dass sich die Struktur des Kampfes an diese Analysen anpassen muss, sonst wird die Gruppe, die Teil der Syntheseorganisation ist, ihre Zusammenarbeit unterbrechen (wenn sie eine Minderheit darstellt) oder den Ausschluss derjenigen erzwingen (faktisch, wenn auch nicht mit einem präzisen Antrag), die andere Methoden des Kampfes vorgeschlagen hatten. So sehr diese politische Realität auch einigen missfallen mag, so ist sie nun einmal. Es stellt sich die Frage, warum der Vorschlag der Gruppe, die Teil der Syntheseorganisation ist, per definitionem immer rückständiger, d.h. rückwärtsgewandter oder vorsichtiger sein muss als andere Vorschläge, was mögliche Aktionen des Angriffs gegen die Strukturen der Unterdrückung und des sozialen Konsenses angeht. Und warum? Die Antwort ist einfach. Die spezifische und anarchistische Syntheseorganisation, die, wie wir gesehen haben, ihr Hauptmoment im periodischen Kongress findet, hat als grundlegendes Ziel das quantitative Wachstum. Als Struktur der Synthese braucht sie eine operative Kraft, die wachsen muss. Nicht ganz unendlich, aber fast. Andernfalls wäre sie nicht in der Lage, in die verschiedenen Realitäten einzugreifen und könnte nicht einmal ihre Hauptaufgabe wahrnehmen, die darin besteht, sie zu einem einzigen Bezugspunkt zusammenzufassen. Jetzt müssen diejenigen, deren primäres Ziel quantitatives Wachstum ist, Interventionsinstrumente einsetzen, die Proselytismus und Pluralismus garantieren können. Bei jedem Problem kann sie keine eindeutige Position einnehmen, die sich oft als ungenießbar für die meisten erweist, sondern muss einen Mittelweg finden, einen politischen Weg, der den wenigsten missfällt und für die meisten akzeptabel ist. Auch hier gilt, dass bei einigen Themen, wie z.B. Repression und Gefängnisse, die richtigste Position oft sehr gefährlich ist, und keine Gruppe kann eine Organisation, der sie angehört, gefährden, ohne sich vorher mit den anderen Gruppen zu einigen. Aber das kann nur auf einem Kongress oder zumindest auf einer Sonderkonferenz geschehen, und jeder weiß, dass sich gerade in diesen Gremien immer die gemäßigtste und sicher nicht die fortschrittlichste Meinung durchsetzt. Die Präsenz der Syntheseorganisation in den realen Kämpfen, den Kämpfen mitten im Klassenkampf, stellt also eine (oft unfreiwillige, aber dennoch kontrollierende) Bremse und Kontrolle dar. Bei der informellen Organisation gibt es diese Probleme nicht. Die Affinitätsgruppen und die Gefähren und Gefährtinnen, die sich in einem Bereich der Projektualität mit informellem Charakter wiedererkennen, sind de facto zusammen und sicher nicht wegen der Einhaltung eines Programms, das auf einem Kongress festgelegt wurde. Das Projekt, in dem sie sich wiedererkennen, wird durch sie selbst, ihre Analysen und ihren Aktionen realisiert. Es mag gelegentlich einen Bezugspunkt in einer Zeitung oder in einer Reihe von Treffen finden, aber das ist nur zur Erleichterung, während es nichts mit Kongressen oder ähnlichen Angelegenheiten zu tun hat. Die Gefährtinnen und Gefährten, die sich mit einer informellen Organisation identifizieren, gehören ihr automatisch an. Sie bleiben mit anderen Gefährtinnen und Gefährten in Kontakt, sei es über die Zeitung oder auf andere Weise, aber noch wichtiger ist, dass sie an den verschiedenen Aktionen, Demonstrationen, Treffen usw. teilnehmen, die von Zeit zu Zeit stattfinden. Der zentrale Punkt der Verifizierung und Vertiefung wird dadurch gegeben, dass wir uns in Momenten des Kampfes sehen, die am Anfang auch einfach Momente der theoretischen Verifizierung sein können und dann zu etwas anderem werden. In einer informellen Organisation gibt es kein Problem der Synthese, es gibt keinen Wunsch, in den verschiedenen Situationen präsent zu sein, geschweige denn, ein Projekt zu formulieren, das die Kämpfe wieder in den Rahmen eines zuvor genehmigten Programms bringt. Der einzige Bezugspunkt ist die insurrektionalistische Methodologie: das heißt, die Selbstorganisation der Kämpfe, die permanente Konfliktualität und der Angriff. Das revolutionäre Projekt Es ist nicht einfach, die verschiedenen Aspekte der revolutionären Intervention zu erfassen. Noch schwieriger ist es, sie alle zusammen in einem Gesamtvorschlag zu erfassen, der seine eigene Logik und eine gültige operative Formulierung hat. Das ist es, was ich unter einem revolutionären Projekt verstehe. Bei der Bestimmung des Feindes verstehen wir uns (fast immer) ausreichend. In die Vagheit der Definition packen wir die Elemente, die uns aus unseren Erfahrungen (Leiden und Freuden), aus unserer sozialen Situation und aus unserer Kultur zufallen. Jeder glaubt, dass er über geeignete Elemente verfügt, um eine Karte des gegnerischen Gebiets zu zeichnen und Ziele und Verantwortlichkeiten festzulegen. Dass die Dinge nicht so sind, ist auch normal. Aber das ist uns egal. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, nehmen wir die entsprechenden Anpassungen vor und gehen weiter. Unklar in der Art und Weise, wie wir vorgehen, unklar in den Dingen, die uns umgeben, beleuchten wir uns nur und ausschließlich mit der armseligen Kerze der Ideologie und gehen so sicher wie unter der Leitung eines Leuchtturms weiter. Die tragische Tatsache ist, dass sich die Dinge um uns herum verändern, oft sehr schnell. Die Bedingungen des Klassenverhältnisses, die sich in der widersprüchlichen Situation ständig erweitern und verengen, werden heute enthüllt, um morgen wieder versteckt zu werden. So tauchen die Gewissheiten von gestern in die Dunkelheit von heute ein. Wer einen konstanten, wenn auch nicht unbeweglichen Richtungspol beibehält, wird nicht für das gehalten, was er eigentlich ist, nämlich ein ehrlicher Navigator im Meer der Klassenverwirrungen, sondern für einen sturen Wiederholer veralteter Schemata und abstrakter ideologischer Metaphern. Diejenigen, die darauf beharren, den Feind hinter der Uniform, hinter der Fabrik, hinter dem Ministerium, hinter der Schule, hinter der Kirche usw. zu sehen, werden verachtet. Die Dinge in ihrer harten Realität werden durch das Abstrakte, die Art des Seins, die Relativität der Positionen ersetzt. Der Staat wird so zu einer Art, die Dinge zu sehen, und nicht zu einer materiellen Tatsache, die aus Menschen und Dingen besteht. Das Ergebnis ist, dass die Ideen des Staates nicht bekämpft werden können, ohne die Menschen und Dinge des Staates anzugreifen. Sie isoliert bekämpfen zu wollen, in der Hoffnung, dass sich die ihnen zugrunde liegende materielle Realität durch ihren Sturz in den kritischen Abgrund der logischen Widersprüche ändert, ist eine tragische idealistische Illusion. Und das ist es, was in Zeiten wie diesen passiert, in denen Kämpfe und operative Vorschläge zurückschlagen. Kein Anarchist und keine Anarchistin würde die positive Funktion des Staates zugeben, um nicht respektlos zu sein. Daraus ergibt sich die logische Schlussfolgerung, dass diese Funktion, wenn sie nicht positiv ist, negativ sein muss, d.h. sie muss jemandem schaden, um jemand anderem zu nützen. Aber der Staat ist nicht (nur) die Idee des Staates, er ist auch das „Ding Staat“, und dieses „Ding“ besteht aus dem Polizisten und dem Polizeigebäude, dem Minister und dem Ministerium (auch dem Gebäude, in dem das Ministerium seinen Sitz hat), dem Priester und der Kirche (auch dem Ort, an dem der Kult des Betrugs und der Lüge stattfindet), dem Banker und der Bank, dem Spekulanten und seinem Büro, bis hin zum einzelnen Spion und seiner mehr oder weniger komfortablen Vorstadtwohnung. Der Staat ist dieses artikulierte Ding, oder er ist nichts: eine eitle Abstraktion, ein theoretisches Modell, das man nicht angreifen und besiegen kann. Natürlich ist der Staat auch in uns und in anderen. Es ist also auch eine Idee. Aber da er eine Idee ist, ist er den physischen Orten und Körpern, die ihn verwirklichen, untergeordnet. Ein Angriff auf die Idee des Staates (auch auf die, die wir in uns tragen, oft ohne uns dessen bewusst zu sein) ist nur möglich, wenn wir gleichzeitig seine historische Materialisierung physisch und zerstörerisch angreifen, d.h. seine Präsenz vor uns in Fleisch und Blut und in Ziegeln und Beton. Aber wie soll man angreifen? Die Zeiten sind hart. Die Menschen verteidigen sich und treffen Vorsichtsmaßnahmen. Auch die Wahl der Angriffsmittel ist einem ähnlichen Missverständnis zum Opfer gefallen. Wir können (und müssen) mit Ideen angreifen, indem wir Kritik gegen Kritik, Logik gegen Logik, Analyse gegen Analyse ausspielen. Aber das wäre eine nutzlose Übung, wenn sie isoliert durchgeführt würde, losgelöst von der direkten Intervention in die Dinge und Menschen des Staates (und natürlich des Kapitals). Wie schon gesagt, greift man nicht nur mit Ideen an, sondern auch mit Waffen. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Sich auf ein ideologisches Gewissen zu beschränken, trägt dazu bei, den Feind mit Elementen zu versorgen. Deshalb muss die theoretische Vertiefung parallel und gleichzeitig mit dem praktischen Angriff erfolgen. Mehr. Gerade beim Angriff wird die Theorie zur Praxis und die Praxis nimmt ihre theoretischen Grundlagen auf. Wenn man sich auf die Theorie beschränkt, bleibt man im Bereich des Idealismus, einer typischen bourgeoisen Philosophie, die seit Hunderten von Jahren die Kassen der herrschenden Klasse und auch die Lager der Vernichter von rechts oder links gefüttert hat. Egal, ob sich dieser Idealismus manchmal als (historischer) Materialismus tarnte, es war immer noch der alte menschenverschlingende Idealismus. Ein libertärer Materialismus muss notwendigerweise die Trennung zwischen Idee und Tatsache überwinden. Wenn der Feind identifiziert ist, muss er getroffen werden, und zwar richtig. Nicht so sehr den optimalen Bewertungen seiner Zerstörung, den Bewertungen des Angreifers, sondern der allgemeinen Situation, die einen nicht zu vernachlässigenden Teil der gegnerischen Verteidigung und Möglichkeiten zur Überwindung und Erhöhung der Gefahr darstellt. Wenn man sie angreift, muss man das tun, indem man einen Teil ihrer Struktur zerstört und damit das Funktionieren des Ganzen erschwert. All dies läuft für sich betrachtet Gefahr, unbedeutend zu bleiben. Das heißt, es gelingt nicht, sie in etwas Reales umzuwandeln. Damit dieser Wandel stattfinden kann, muss der Angriff mit einer kritischen Vertiefung der Ideen des Feindes einhergehen, also jener Ideen, die Teil seines repressiven und unterdrückerischen Handelns (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) sind. Aber diese gegenseitige Umwandlung von praktischer Aktion in theoretische Aktion und von Theorie in Praxis kann nicht als etwas künstlich Aufgesetztes stattfinden. Zum Beispiel im Sinne von jemandem, der, nachdem er eine Aktion durchgeführt hat, seine gute Tat mit einem Bekennerschreiben darauf druckt. Die Ideen des Feindes werden auf diese Weise nicht kritisiert und auch nicht vertieft. Sie kristallisieren sich im ideologischen Prozess heraus und werden als massiver Gegensatz zu den Ideen des Angreifers gesehen, die ebenfalls in etwas massiv Ideologisches verwandelt werden. Ich glaube, nur wenige Dinge sind mir so verhasst wie diese Art der Vorgehensweise. Gibt es sonst noch etwas zu tun? Der Ort, an dem die Theorie in die Praxis umgesetzt wird, und umgekehrt, ist der Ort des Projekts. Es ist das Projekt in seiner Gesamtheit, das praktische Aktionen und Kritik an den Ideen des Feindes anders sinnvoll macht. Daraus folgt, dass die Arbeit des Revolutionärs im Wesentlichen die Ausarbeitung und Verwirklichung eines Projekts ist. Aber bevor wir wissen, was ein revolutionäres Projekt sein kann, müssen wir uns darüber einig sein, was der Revolutionär und die Revolutionärin besitzen müssen, um an der Ausarbeitung ihres Projekts zu arbeiten. Zuerst der Mut. Nicht der triviale der physischen Konfrontation oder des Angriffs auf den feindlichen Schützengraben, sondern der schwierigere der eigenen Ideen. Wenn man auf eine bestimmte Art und Weise denkt, wenn man eine bestimmte Einschätzung der Dinge und Menschen, der Welt und ihrer Angelegenheiten hat, muss man den Mut haben, den ganzen Weg zu gehen, ohne Kompromisse, ohne halbe Sachen, ohne Pietismus, ohne Illusionen. Auf halbem Weg stehen zu bleiben ist kriminell oder, wenn man so will, völlig normal. Aber der Revolutionär und die Revolutionärin sind keine „normalen“ Menschen. Sie müssen darüber hinausgehen, über das Normale, aber auch über das Außergewöhnliche, das die aristokratische Art ist, Vielfalt zu betrachten. Mehr als gut, aber auch mehr als böse, würden manche sagen. Sie können nicht darauf warten, dass andere tun, was getan werden muss. Sie können nicht an andere delegieren, was ihr Gewissen ihnen vorschreibt zu tun. Sie können nicht friedlich akzeptieren, dass an anderen Orten andere Menschen wie sie selbst, die zitternd und begierig darauf sind, diejenigen zu zerstören, die uns unterdrücken, die Dinge tun, die sie selbst tun könnten, wenn sie nur wollten, wenn sie aus der Erstarrung und dem Betrug, dem Geschwätz und dem Missverständnis herauskämen. Also müssen sie arbeiten, und zwar hart arbeiten. Arbeit, um sich mit den nötigen Mitteln auszustatten, mit denen sie ihre Überzeugungen angemessen begründen können. Und hier kommt der zweite Punkt: die Beständigkeit. Die Kraft, weiterzumachen, auszuharren, durchzuhalten, auch wenn andere entmutigt werden und alles schwierig erscheint. Es gibt keine Möglichkeit, die Mittel zu beschaffen, die man braucht, wenn man nicht beständig an seiner Arbeit arbeitet. Der Revolutionär und die Revolutionärin brauchen kulturelle Mittel, d.h. Analysen, Basiswissen und institutionelle Vertiefung. Selbst Studien, die weit von der revolutionären Praxis entfernt scheinen, sind für das Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) unverzichtbar. Die Sprachen, die Ökonomie, die Philosophie, die Mathematik, die Naturwissenschaften, die Chemie, die Sozialwissenschaften, und so weiter. All dieses Wissen sollte jedoch nicht als Spezialgebiet betrachtet werden, aber auch nicht als dilettantische Übungen eines tänzelnden Geistes, der rechts und links kneift, wissbegierig, aber ständig unwissend ist, weil er keine Methode besitzt, die es ihm ermöglicht zu lernen. Und dann die Techniken: richtig zu schreiben (und zwar so, dass es für den Zweck, den man erreichen will, geeignet ist); vor anderen zu sprechen (mit allen Techniken des Sprechens, die nicht einfach und von großer Bedeutung sind); zu lernen (was auch eine Technik ist und auch als solche gelernt werden sollte, um das Lernen zu erleichtern und nicht als Spezialisierung an sich); das Erinnern (das verbessert werden kann und nicht immer der mehr oder weniger natürlichen Veranlagung überlassen werden muss, die wir von Kindheit an mitbringen); das Manipulieren von Gegenständen, d.h. der Gebrauch der Hände (den viele für ein mysteriöses Geschenk der Natur halten, der aber stattdessen eine Technik ist, die erlernt und perfektioniert werden kann); und andere. Die Suche nach Mitteln ist eine Arbeit, die nie endet. Ihre Verfeinerung, wie auch ihre Ausweitung auf verschiedene Bereiche, ist das ständige Bestreben der Revolutionäre. Eine dritte Sache bleibt: Kreativität. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Mittel, die aufgebaut werden, nicht produktiv wären und in der Spezialisierung als Selbstzweck untergehen würden, wenn sie nicht sofort oder nach einer gewissen Zeit neue Erfahrungen hervorbringen würden, die das Individuum tiefgreifend verändern, und aus denen sich ohne Unterbrechung Veränderungen in den Mitteln selbst und in den Möglichkeiten ihrer Nutzung ergeben. Hier lässt sich die Kraft der Kreativität, d.h. die Frucht früherer Bemühungen, begreifen. Logische Prozesse bleiben zurück, werden zu einer Hintergrundtatsache, zu einem vernachlässigbaren Element, während ein neues, völlig anderes Element auftaucht: die Intuition. Das Problem wird jetzt anders gesehen. Nicht mehr wie früher. Unzählige Verbindungen und Vergleiche, Schlussfolgerungen und Ableitungen finden statt, ohne dass wir es merken. Die Gesamtheit der Mittel, die wir in Besitz genommen haben, schwingt und wird lebendig. Erinnerungen und neue Erkenntnisse, alte unverstandene Dinge, die jetzt klar werden, Ideen und Spannungen. Eine unglaubliche Mischung, die selbst eine schöpferische Tatsache ist und die sofort der Disziplin der Methode, der Beherrschung von Techniken unterworfen werden muss, damit sie etwas hervorbringen kann, das zwar begrenzt ist, aber sofort wahrnehmbar und nutzbar ist. Leider besteht das Schicksal der Kreativität darin, dass ihr immenses anfängliches explosives Potenzial (das in Ermangelung der oben erwähnten grundlegenden Mittel zu einer armseligen Sache wird) später in die Grenzen der Technik im engeren Sinne zurückgeführt werden muss, zu Wort, zu Seite, zu Figur, zu Klang, zu Form, zu Objekt werden muss. Andernfalls bleibt es außerhalb des Rahmens dieses kleinen kommunikativen Gefängnisses verlassen und verstreut im Meer der Unermesslichkeit. Und schließlich noch eine letzte Sache: die Materialität. Die Fähigkeit, die materielle, reale Grundlage dessen, was uns umgibt, zu erfassen. Zum Beispiel die Fähigkeit zu begreifen, dass man geeignete Mittel für die Aktion braucht, um zu agieren, was keine einfache Sache ist. Die Frage der Mittel scheint sehr klar zu sein, aber sie führt zu Missverständnissen. Nehmen wir den Fall des Geldes. Es besteht kein Zweifel, dass wir ohne Geld nicht die Dinge tun können, die wir tun wollen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Revolutionäre den Staat nicht um Geld bitten können, um Projekte zu bauen, die darauf abzielen, den Staat selbst zu zerstören. Sie können nicht aus einem ethischen Grund und dann aus einem logischen Grund (der Staat würde sie ihm nicht geben) darum bitten. Sie können auch nicht ernsthaft glauben, dass sie mit kleinen (und in der Regel bescheidenen) persönlichen Abonnements all die Dinge tun können, die sie tun wollen (und für notwendig erachten). Sie können auch nicht endlos über den Geldmangel jammern oder sich damit abfinden, dass aufgrund des Geldmangels einige Dinge, die getan werden sollten, nicht getan werden können. Sie können auch nicht lange die Position von jemandem einnehmen, der kein Geld hat, sich aber damit abfinden, dass sie keins haben und sich nicht an den gemeinsamen Anstrengungen beteiligen, indem sie darauf warten, dass andere an ihrer Stelle tun, was getan werden muss. Natürlich ist es klar, dass Gefährtinnen und Gefährten, die kein Geld haben, nicht verpflichtet sind, etwas zu bezahlen, was sie sich nicht leisten können, aber ist es wirklich wahr, dass sie alles getan haben, was sie tun konnten, um das Geld zu bekommen? Oder gibt es nur einen Weg, um an das Geld zu kommen: darum betteln gehen, indem man von den Bossen ausgebeutet wird? Ich glaube nicht. Innerhalb der Variationsbreite einer möglichen Lebensweise polarisieren persönliche Neigungen und kulturelle Aneignungen zwei grenzwertige Verhaltensweisen, die sowohl einschränkend als auch bestrafend sind. Auf der einen Seite derjenige, der das theoretische Moment bevorzugt, auf der anderen Seite derjenige, der sich dem praktischen Moment verschreibt. Fast nie sind diese beiden Polarisationen in ihrem „reinen Zustand“, aber sie sind oft genug charakterisiert, um zu Hindernissen zu werden. Die großartigen Möglichkeiten, die die theoretische Vertiefung den Revolutionären zur Verfügung stellt, bleiben toter Buchstabe, ja, sie werden zu einem Element des Widerspruchs und des Hindernisses, wenn sie bis ins Unendliche ausgereizt werden. Es gibt Menschen, die können nicht mehr tun, als theoretisch über das Leben nachzudenken. Man muss kein Literat oder Gelehrter sein (für diese Leute wäre das schon fast normal), aber man kann auch ein beliebiger Proletarier sein, ein Ausgestoßener, der auf der Straße aufgewachsen ist, indem er sich geprügelt hat. Diese Suche nach der auflösenden Hypothese durch die Subtilität des Denkens verwandelt sich in eine desorganisierte Angst, in einen stürmischen Wunsch zu verstehen, der unweigerlich in pure Verwirrung umschlägt und die Vorrangstellung des Gehirns, die man um jeden Preis aufrechterhalten möchte, herabsetzt. Diese Gereiztheit reduziert die kritische Möglichkeit, die eigenen Ideen zu ordnen, sie erweitert die kreativen Möglichkeiten des Einzelnen, aber nur in einem reinen Zustand, man könnte sagen in der Wildnis, und liefert Bilder und Urteile, die absolut frei von einer Organisationsmethode sind, die sie nutzbar machen könnte. Das Subjekt lebt in einer Art Trance, isst schlecht, hat ein schlechtes Verhältnis zu seinem eigenen Körper und lebt schlecht mit anderen zusammen. Es wird leicht misstrauisch, wenn es nur darauf bedacht ist, verstanden zu werden, und häuft deshalb immer mehr einen Wust von widersprüchlichen Argumenten an, ohne einen roten Faden zu finden. Die Lösung, um aus dem Labyrinth herauszukommen, wäre eine Aktion. Aber um eine Aktion zu sein, muss sie nach dem von uns untersuchten Polarisierungsmodell zunächst dem Bereich des Gehirns, der Logik und des Denkens unterworfen werden. Auf diese Weise wird die Aktion getötet oder aufgeschoben oder schlecht erlebt, weil sie nicht verstanden wird, weil sie nicht zum Primat des Denkens zurückgebracht wird. Auf der anderen Seite die Beständigkeit des Tuns, die Entfaltung des eigenen Lebens in den zu erledigenden Dingen. Heute, morgen. Tag für Tag. Vielleicht wartet man auf einen bestimmten Tag, der dem endlosen Aufschieben ein Ende setzt. Aber in der Zwischenzeit keine oder fast keine Suche nach einem Moment des Nachdenkens, der nicht ausschließlich mit den zu erledigenden Dingen zu tun hat. Das Primat des Handelns (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen) tötet genauso wie das Primat des Denkens. In der Aktion an sich gibt es keine Überwindung des widersprüchlichen Moments des Individuums. Für die Revolutionäre ist die Lage noch schlimmer. Die klassischen Höflichkeiten, die der Einzelne entwickelt, um sich von der Nützlichkeit und Vollständigkeit der Aktion, die sie tun wollen, zu überzeugen, reichen für die Revolutionäre nicht aus. Das einzige Mittel, auf das sie zurückgreifen können, ist der Aufschub auf eine bessere Zeit, in der es nicht mehr notwendig ist, sich ausschließlich dem Tun zu widmen, sondern auch dem Denken. Aber wie soll man denken können, wenn man nicht die Mittel dazu hat? Ist das Denken eine automatische Aktivität des Menschen, wenn er aufhört zu agieren? Sicherlich nicht. Genauso wenig ist das Tun eine automatische Aktivität des Menschen, wenn er aufhört zu denken. Wenn die Revolutionäre also bestimmte Dinge besitzen, wie Mut, Beständigkeit, Kreativität und Materialität, können sie die Mittel nutzen, die sie besitzen, und mit diesen ihr Projekt aufbauen. Dabei geht es sowohl um die analytischen als auch um die praktischen Aspekte. Wieder einmal taucht eine Spaltung auf, die, um beseitigt zu werden, bis zum Kern, d.h. in ihrer wahren Dimension als Gemeinplatz der herrschenden Logik, vertieft werden muss. Ein Projekt ist eine Analyse (politisch, sozial, wirtschaftlich, philosophisch usw.), aber es ist auch ein organisatorischer Vorschlag. Kein Projekt kann nur den einen oder den anderen dieser Aspekte haben. Jede Analyse erhält einen anderen Blickwinkel und eine andere Entwicklung, wenn sie in einen organisatorischen Vorschlag eingebettet ist und nicht in einen anderen. Umgekehrt wird ein Organisationsvorschlag nur dann fundiert, wenn er durch eine geeignete Analyse unterstützt wird. Die Revolutionäre, die nicht in der Lage sind, die Analyse und das organisatorische Element ihres Projekts zu meistern, werden immer den Ereignissen ausgeliefert sein und immer erst nach den Dingen ankommen, nie vorher. Das Ziel des Projekts ist es, zu sehen, um vorauszusehen. Das Projekt ist eine Prothese, wie jede andere intellektuelle Ausarbeitung des Menschen, um die Aktion zu erlauben, um sie zu ermöglichen, nicht um sie im sinnlosen Gerangel der Improvisation zunichte zu machen, sie ist aber nicht die „Ursache“ der Aktion. Das Projekt ist, wenn es richtig verstanden wird, die Aktion selbst, während die Aktion selbst das Projekt ist, insofern sie es verbessert, bereichert und verändert. Das Nichtverstehen dieser grundlegenden Prämissen revolutionärer Arbeit führt oft zu Verwirrung und Frustration. Viele Gefährtinnen und Gefährten, die an Interventionen festhalten, die wir als reflexiv bezeichnen können, erleiden oft Rückschläge, die der Demotivation und Entmutigung ähneln. Eine äußere Tatsache (fast immer Repression) gibt den Anstoß für eine Intervention. Wenn das nicht mehr der Fall ist, hat die Intervention keine Daseinsberechtigung mehr. Daher die (frustrierende) Erkenntnis, dass man gezwungen ist, dorthin zurückzukehren, wo man vorher war. Man hat den Eindruck, dass man versucht, einen Berg mit einem Löffel abzutragen. Die Menschen erinnern sich nicht, sie vergessen schnell. Die Aggregation findet nicht statt. Es sind fast immer ein paar. Fast immer die üblichen. Bis zum Aufkommen des nächsten äußeren Reizes überleben die Wechselfälle des Gefährten, der nur noch reflexartig zu agieren weiß, die oft von radikaler Ablehnung bis zur Verschlossenheit in sich selbst, von empörter Stummheit bis zu Fantasien der Zerstörung der Welt (einschließlich der Menschen) reichen. Stattdessen bleiben viele andere Gefährtinnen und Gefährten an das gebunden, was wir als Routine-Interventionen bezeichnen können, d.h. an literarische (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher) oder vollversammlungsbezogene (Kongresse, Tagungen, Debatten, Vollversammlungen) Anlässe. Auch hier lässt die menschliche Tragödie nicht lange auf sich warten. Meistens geht es nicht so sehr um persönliche Frustration (die es auch gibt und die wir sehen können), sondern um die Verwandlung des Gefährten in einen Kongressbürokraten oder in einen Redakteur mehr oder weniger lesenswerter Zeitungen, der versucht, seine eigene propositionale Inkonsistenz zu verbergen, indem er den Ereignissen nachgeht, um sie im kritischen Licht seines eigenen Standpunkts zu erklären. Wie wir sehen können, ist die Tragödie immer die gleiche. Das Projekt ist daher notwendigerweise propositional. Es ist das Element, das die Affinität abschließt und zusammenschweißt. Das beginnt mit der Bekanntschaft zwischen den verschiedenen Gefährtinnen und Gefährten, die Teil der Affinitätsgruppe sind, und blüht im Projektboden, wo es wächst und Früchte trägt. Da das Projekt proaktiv ist, kann es nicht anders, als die Initiative zu ergreifen. Erstens, die Initiative der operativen Art: Dinge, die auf eine bestimmte Art und Weise getan werden müssen. Dann die Initiative in organisatorischer Hinsicht: Wie kann man diese Dinge tun? Vielen ist nicht klar, dass die Dinge, die zu tun sind (Klassengegensätze), nicht ein für alle Mal kodifiziert sind, sondern dass sie im Laufe der Zeit und im Zuge der sozialen Beziehungen unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Das bringt es mit sich, dass theoretische Bewertungen der Dinge, die getan werden müssen, notwendig sind. Die Tatsache, dass einige dieser Dinge länger bestehen, als ob sie unbeweglich wären, bedeutet nicht, dass sie unbeweglich sind. Dass es zum Beispiel notwendig ist, sich zu organisieren, um den Klassenfeind zu schlagen, impliziert als Notwendigkeit eine Beständigkeit in der Zeit. Organisatorische Mittel und Wege kristallisieren sich heraus. Und in gewisser Hinsicht ist es gut, dass das so ist. Es ist nicht nötig, jedes Mal alles neu zu erfinden, wenn man sich neu organisiert, vielleicht nachdem man unter den Schlägen der Repression gelitten hat. Das bedeutet aber nicht, dass diese „Wiederaufnahme“ zwangsläufig die Merkmale der absoluten Wiederholbarkeit aufweisen muss. Frühere Modelle können kritisiert werden, auch wenn sie letztlich gültig bleiben und daher einen nicht zu vernachlässigenden Ausgangspunkt darstellen können. In dieser Angelegenheit fühlt man sich oft im Fadenkreuz der Kritik, auch der uninformierten und vorgefassten Kritik, und man möchte um jeden Preis den Vorwurf der Unbeugsamkeit26 vermeiden, der wie eine positive Bewertung klingt, aber auch ein bemerkenswertes Element der Anprangerung der Unfähigkeit enthält, die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes zu verstehen. Daher besteht die Möglichkeit, alte Organisationsmodelle zu nutzen, sofern sie einer radikalen Kritik unterzogen werden. Aber was könnte diese Kritik sein? Vor allem eines: die Anprangerung der Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit zentralisierter und organisierter Strukturen, die Anprangerung der Delegationsmentalität, die Anprangerung des Mythos des Quantitativen, die Anprangerung des Mythos des Symbolischen und Grandiosen, die Anprangerung des Mythos der Nutzung großer Medien usw. Wie wir sehen können, sind dies Kritiken, die die andere Seite des revolutionären Himmels zeigen, den anarchistischen und libertären Aspekt. Die Ablehnung von zentralisierten Strukturen, Leitungsorganigrammen, Delegation, Quantität, Symbolik, Informationseffekten usw. bedeutet, dass man sich voll und ganz auf die anarchistische Methodik einlässt. Und ein anarchistischer Vorschlag erfordert einige Vorüberlegungen. Am Anfang, vor allem für diejenigen, die nicht zutiefst von der Notwendigkeit und Gültigkeit dieser Methode überzeugt sind, mag sie weniger effektiv erscheinen (und ist es in mancher Hinsicht auch). Die Ergebnisse sind bescheidener, weniger offensichtlich, sie haben den Anschein von Zerstreuung und lassen sich nicht auf ein einheitliches Projekt zurückführen. Sie sind pulverisierte und diffuse Ergebnisse, d.h. sie leiten sich von minimalen Zielen ab, die nicht unmittelbar auf einen zentralen Feind zurückzuführen sind, zumindest nicht so, wie es in den beschreibenden Ikonographien, die von der Macht selbst erstellt werden, erscheint. Oft hat die Macht ein Interesse daran, die peripheren Verästelungen ihrer selbst und der Strukturen, die sie regieren, unter positiven Aspekten darzustellen, als ob diese Verästelungen lebensnotwendige soziale Funktionen erfüllten. Stattdessen versteckt sie sich sehr gut und sehr leicht, da wir nicht in der Lage sind, die Verbindungen, die Beziehungen zwischen diesen peripheren Strukturen und der Repression oder der Konsensbildung anzuprangern. Daraus ergibt sich die große Aufgabe der Revolutionäre, die durch ihr Auftreten auch mit einer anfänglichen Unverständlichkeit ihrer Aktionen rechnen müssen, und damit auch mit dem Bedürfnis nach Aufklärung. Und hier liegt eine weitere Falle. Diese Klarstellungen in ideologische Begriffe zu übersetzen, bedeutet, die genauen Bedingungen der Konzentration, der Zentralität, in Diffusion und Peripherie wiederzugeben. Die anarchistische Methode kann niemals durch einen ideologischen Filter erklärt werden. Als dies geschah, wurde unsere Methode einfach mit Praktiken und Projekten konfrontiert, die sehr wenig libertäres hatten. Von der Denunziation/Anprangung der Delegation als schädliche und autoritäre Praxis (dieser zweite Aspekt mag für Gefährtinnen und Gefährten, die nicht schon immer Anarchistinnen und Anarchisten waren, weniger verständlich klingen) führt zur Vertiefung von Aggregationsprozessen. Das heißt, sie führt zu der Möglichkeit, eine indirekte Aggregation auf der Grundlage von Affinität und Informalität aufzubauen, also eine Form der organisatorischen Referenz, die nicht durch organigrammatische Grundlagen bedingt ist. Getrennte Gruppen, die durch Affinität und eine gemeinsame Methodologie miteinander verbunden sind, nicht durch hierarchische Beziehungen. Gemeinsame Ziele, gemeinsame, aber indirekte Entscheidungen, die alle durch die Objektivität gemeinsamer Entscheidungen, gemeinsamer Analysen und gemeinsamer Ziele angestrebt werden. Jeder macht sein eigenes Ding und hat nicht das Bedürfnis, direkte aggregative Beziehungen vorzuschlagen, die früher oder später in der Konstruktion von hierarchischen Organigrammen enden (auch wenn sie horizontal sind, da sie behaupten, innerhalb der anarchischen Methode zu bleiben) und deren schönes Ergebnis ist, dass sie von jedem aufkommenden repressiven Wind zerstört werden. Es ist der Mythos des Quantitativen, der fallen muss. Der Mythos der Zahl, die den Feind beeindruckt, der Mythos der „Kräfte“, die ins Feld gebracht werden sollen, der Mythos der „Befreiungsarmee“ und andere solche Dinge. So werden alte Dinge, fast ohne es zu wollen, in neue verwandelt. Die Modelle der Vergangenheit: Ziele und Praktiken, werden von innen heraus revolutioniert. Im Vordergrund steht zweifelsohne das endgültige Ende der politischen Methode, der Anspruch, ideologische Modelle neu zu präsentieren, der subversiven Praktiken aufgezwungen werden sollen. Im Übrigen ist es die Welt als Ganzes, die das politische Modell ablehnt, wenn man es richtig betrachtet. Das „Ende“ des Politischen ist eine alltägliche Angelegenheit. Die traditionellen politischen Strukturen mit ihren starken Konnotationen sind dabei, zu zerfallen. Die Parteien der Linken passen sich denen der Mitte an und die Parteien der Rechten drängen immer weiter in die Mitte, um nicht isoliert zu werden. Dieser Zusammenbruch des politischen Gerüsts geht mit einem tiefgreifenden Wandel der ökonomischen und sozialen Strukturen einher. Für diejenigen, die sich mit dem subversiven Potenzial der breiten Masse auseinandersetzen müssen, ergeben sich neue Anforderungen. Die Mythen der Vergangenheit, auch die des „kontrollierten Klassenkampfes“, sind vorbei. Die große Masse der Ausgebeuteten ist in Mechanismen hineingesogen worden, die mit den scharfen, aber oberflächlichen politischen Ideologien von gestern kollidieren. Aus diesem Grund haben sich die linken Parteien den Positionen der Mitte angenähert, was im Wesentlichen einer Nullung der diskriminierenden Politik und einer möglichen Verwaltung des Konsenses aus eigener Kraft entspricht, wenn auch nur aus administrativer Sicht. Es sind die Dinge, die getan werden müssen, die sehr kurzfristigen Programme, die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, die die Diskriminierungen in den Mittelpunkt stellen. Die idealen (und damit ideologische) politische Projekte sind untergegangen. Niemand (oder fast niemand) ist bereit, für eine kommunistische Gesellschaft zu kämpfen, sondern lässt sich wieder einmal in Strukturen reglementieren, die vorgeben, seine unmittelbaren Interessen zu schützen. Deshalb haben die politischen Kämpfe und Einsätze auf kommunaler Ebene gegenüber den breiteren politischen Strukturen, den nationalen und supranationalen Parlamenten, an Bedeutung gewonnen. Der Niedergang des Politikers ist auf diesen Ebenen kein Element, das auf eine „anarchistische“ Wende in der Gesellschaft hinweisen könnte, die sich ihrer eigenen Vorrangstellung bewusst geworden ist und sich den Versuchen einer indirekten politischen Steuerung widersetzt. Nichts von alledem. Es geht um tiefgreifende Veränderungen in der modernen Struktur des Kapitals, die auch international vereinheitlicht wird, gerade wegen der immer stärkeren Verflechtung, die jetzt zwischen verschiedenen peripheren Realitäten besteht. Diese Veränderungen führen wiederum dazu, dass eine einvernehmliche Kontrolle durch die politischen Mythen der Vergangenheit nicht mehr möglich ist und dass man zu zeitgemäßeren Methoden der Kontrolle übergeht. So seltsam es auch klingen mag, aber die Krise des Politischen als allgemeines Phänomen zieht zwangsläufig eine Krise der hierarchischen Beziehungen, der Delegation usw. nach sich, d.h. all jener Beziehungen, die dazu tendieren, die realen Bedingungen des Klassengegensatzes in die ideologische Dimension zu verdrängen. Das kann nicht lange ohne Folgen bleiben, auch für die Fähigkeit vieler Menschen zu verstehen, dass der Kampf nicht länger durch die Mythen des Politischen gehen kann, sondern in die konkrete Dimension der unmittelbaren Vernichtung des Feindes eintreten muss. Es gibt auch diejenigen, die nicht verstehen wollen, was die Aufgabe der Revolutionäre ist, und angesichts der oben dargestellten sozialen Veränderungen der sanften Gegenposition den Vorzug geben, die neue Herrschaft durch passiven Widerstand zu behindern. Das ist meiner Meinung nach ein Missverständnis, das auf der Tatsache beruht, dass moderne Macht, gerade weil sie freizügiger ist und mehr auf Konsens beruht, als weniger „stark“ angesehen wird als die Macht der Vergangenheit, die auf absoluter Hierarchie und Zentralisierung beruht. Das ist ein Fehler wie jeder andere, und er rührt daher, dass in jedem von uns die Reste einer Parallele verbleiben: die Kraft, die die modernen Herrschaftsstrukturen Stück für Stück abbauen. Eine schwache, aber effiziente Macht ist vielleicht eine effektivere Macht als eine starke, aber grobe Macht. Ersteres dringt in das psychologische Gewebe der Gesellschaft ein, bis ins Individuum, und bezieht es mit ein; letzteres bleibt äußerlich, beißend, baut aber letztendlich nur Gefängnismauern, die früher oder später überwunden werden können. Die Vielfalt der Aspekte des Projekts gibt der Arbeit der Revolutionäre eine Perspektive, die ebenfalls vielfältig ist. Kein möglicher Tätigkeitsbereich kann a priori ausgeschlossen werden. Aus demselben Grund kann es auch keine privilegierten Handlungsfelder geben, die dem Einzelnen „sympathisch“ sind. Ich kenne Gefährtinnen und Gefährten, die sich nicht zu bestimmten Interventionsfeldern hingezogen fühlen – zum Beispiel zum nationalen Befreiungskampf – oder zu bestimmten revolutionären Praktiken, wie zum Beispiel zu spezifischen Minderheitenaktivitäten. Die Einwände gegen die Ablehnung eines bestimmten Einsatzbereichs sind vielfältig, aber sie führen alle auf die (irrige) Vorstellung zurück, dass jeder das tun muss, was ihm die größtmögliche Befriedigung bringt. Diese Idee ist nicht deshalb falsch, weil es nicht richtig ist, dass eine der Quellen für die Aktion persönliche Freude und Befriedigung ist, sondern weil das Streben nach dieser individuellen Motivation ein anderes, umfassenderes und sinnvolleres Streben ausschließen kann, nämlich das, das auf der Gesamtheit der Intervention beruht. Vorurteile gegen bestimmte Praktiken oder Theorien zu haben, bedeutet, sich – allein aus „Angst“ – hinter der fast immer illusorischen Tatsache zu verschanzen, dass wir diese Praktiken und Theorien nicht mögen. Aber jede vorgefasste Ablehnung beruht immer auf einem Mangel an Wissen über das, was man ablehnt, auf wenig oder keiner Bereitschaft, sich der Sache zu nähern, die man ablehnt. Die Zufriedenheit und Freude von heute werden so zum ultimativen Ziel gemacht, in ihrer Unmittelbarkeit verschließen sie unsere Perspektiven für morgen. Unbewusst werden wir ängstlich und rechthaberisch, nachtragend gegenüber denen, die es schaffen, diese Hindernisse zu überwinden, misstrauisch gegenüber allen, die sich uns nähern, unzufrieden, unglücklich. Die einzige akzeptable Grenze ist die unserer (begrenzten) Möglichkeiten. Aber auch diese Grenze lässt sich immer an der konkreten Tatsache erkennen und nicht als a priori existierend vermuten. Ich bin immer von der (offensichtlich absurden, aber real existierenden) Hypothese ausgegangen, dass ich grenzenlos bin, dass ich immense Möglichkeiten und Fähigkeiten habe. Dann übernahm die Praxis, die tägliche Praxis, die Aufgabe, mir die objektiven Grenzen meiner selbst und der Dinge, die ich tun wollte, aufzuzeigen. Aber diese Grenzen haben mich nicht von vornherein aufgehalten, sondern haben sich erst im Nachhinein als unausweichliche Hindernisse erwiesen. Kein noch so unglaubliches oder gigantisches Unterfangen hat mich aufgehalten, bevor ich es begonnen habe. Erst später, im Laufe der damit verbundenen Praktiken, kam die Bescheidenheit meiner Mittel und Fähigkeiten zum Vorschein, aber selbst mit ihrer unüberwindlichen Präsenz konnte sie mich nicht davon abhalten, Teilergebnisse zu erzielen, die dann das einzig menschlich Erreichbare sind. Aber auch das ist ein Problem der Mentalität, d.h. der Art und Weise, wie wir die Dinge sehen. Wir halten uns oft zu sehr an das unmittelbar Wahrnehmbare, an den sozialistischen Realismus des Viertels, der Stadt, der Nation usw. Man ist ein Internationalist, wenn es ums Reden geht, aber wenn es um konkrete Fakten geht, bevorzugt man das, was am besten bekannt ist. Auf diese Weise verschließt man sich gegenüber der Außenwelt und dem Inneren. Man lehnt echte internationale Beziehungen ab, die von gegenseitigem Verständnis, der Überwindung von Barrieren (einschließlich Sprachbarrieren), von Zusammenarbeit und gegenseitigem Austausch geprägt sind. Aber man lehnt auch spezifische lokale Beziehungen ab, mit ihren eigenen Merkmalen, inneren Widersprüchen, Mythen und Schwierigkeiten. Das Komische daran ist, dass die Ersteren im Namen der Letzteren und die Letzteren im Namen der Ersteren abgelehnt werden. Das Gleiche gilt für die spezifischen, vorbereitenden Aktivitäten, die darauf abzielen, revolutionäre Mittel zu finden. Auch hier ist die Delegation an andere Gefährtinnen und Gefährten etwas, das oft von vornherein entschieden wird. Sie basiert auf Bedenken und Ängsten, die, wenn sie richtig untersucht werden, nicht viel zu sagen haben. Die Professionalität, die anderswo zur Schau gestellt wird, hat in der anarchistischen Methodologie keinen Platz, aber auch nicht die a priori Ablehnung oder die vorgefasste Schließung. Das Gleiche gilt für das Verlangen nach Erfahrungen um ihrer selbst willen, die Dringlichkeit des Tuns, die persönliche Befriedigung, den Nervenkitzel. Die beiden Extreme berühren und durchdringen sich gegenseitig. Das Projekt räumt diese Probleme aus dem Weg, weil es die Dinge in ihrer Gesamtheit sieht. Aus demselben Grund ist die Arbeit der Revolutionäre zwangsläufig mit dem Projekt verbunden, sie identifiziert sich mit ihnen, sie kann sich nicht auf Teilaspekte beschränken. Ein Teilprojekt seinerseits ist kein revolutionäres Projekt, es kann ein ausgezeichnetes Arbeitsprojekt sein, es kann Gefährtinnen und Gefährten und Ressourcen sogar für lange Zeiträume binden, aber früher oder später wird es bestraft, wenn es mit der Realität des Klassenkampfes konfrontiert wird. Redaktionelle Anmerkungen Ich berichte über die Zeitungen und Zeitschriften, in denen einige der hier veröffentlichten Artikel zuerst erschienen sind. Angesichts der Häufigkeit und Heterogenität der manchmal verwendeten Pseudonyme werden diese nicht angegeben. Aus demselben Grund werden Fälle von nicht unterzeichneten Artikeln nicht gemeldet. Die Tatsache, dass sie hier ohne weiteren Hinweis wiedergegeben werden, bedeutet, dass sie alle von mir geschrieben wurden. Alle veröffentlichten Artikel und Aufsätze wurden überarbeitet und aktualisiert. Esclusi e inclusi, ein Text mit dem Titel Per un’analisi di un periodo di superamento dalle illusioni post-industriali alle illusioni post-rivoluzionarie, beim Treffen „Anarchismo e progetto insurrezionale“, welches in Mailand am 13.10.1985 gehalten und präsentiert wurde, veröffentlicht in Atti del Convegno „Anarchismo e progetto insurrezionale“, Seconda Ed. Catania 1993, S. 41-51 und 58-62. Es existiert eine Übersetzung ins Englische unter den Titel: From Riot to Insurrection, London 1988, S. 13-37. Die Veränderung der Welt der Arbeit und der Schule, unter dem Titel: „Scuola e società post-industriale“, in „Anarchismo“ Nr. 56, März 1987, S. 6-19. veröffentlicht. „Perdita del linguaggio“, auf „Provocazione“ Nr. 25, August 1990, S. 8-9. veröffentlicht. „Perdita della cultura“, auf „Provocazione“ Nr. 26, Februar 1991, S. 9. veröffentlicht. „La tecnologia buona“, auf „Provocazione“ Nr. 24, Juni 1990, S. 11. veröffentlicht. „La ‘fine’ della crisi“, auf“Anarchismo” Nr. 57, Juni 1987, S. 1-6. veröffentlicht. Affinität, unter den Titel „Affinità e organizzazione informale“ in „Anarchismo“ Nr. 45, März 1985, S. 12-14. veröffentlicht. Informelle Organisation, unter den Titel „Organizzazione di sintesi e organizzazione informale“ in „Anarchismo“ Nr. 47. Juni 1985, S. 24-25. veröffentlicht. Das revolutionäre Pojekt, unter den Titel: „Il lavoro del rivoluzionario“ in „Anarchismo“ Nr. 59, Januar 1988, S. 45-52. veröffentlicht.

1A.d.Ü., Insurrektion, Insurrektionalismus und insurrektionalistisch sind Synonym zu Aufstand, Aufständischen Anarchismus, aufständisch.

2A.d.Ü., als Element der Trennung verstanden.

3No podréis pararnos. La lucha anarquista revolucionaria en Italia, erschien das erste Mal 2005, herausgegeben von Editorial Klinamen und Ediciones Conspiración, hier als PDF zum Lesen auf Spanisch und hier auf Englisch.

4A.d.Ü., die Titel der Texte wurden genauso aus dem Original übernommen, da die Titel auf Spanisch und Italienisch aufgezählt werden, es handelt sich daher nicht um einen Fehler.

5A.d.Ü., ein Ereignis was nicht bestimmt ist geschehen zu müssen.

6A.d.Ü., als Rekuperation, wieder einmal, ist die Wiedererlangung, Zurückgewinnung von etwas (eine Idee) oder jemandem zu verstehen. Normalerweise ist dies als ein Akt zu verstehen, wo das rekuperierte seiner ursprünglichen Idee entleert wird, es wird daher neutralisiert und seiner Ontologie beraubt.

7A.d.Ü., hier handelt es sich um die Handlung der Rekuperation.

8A.d.Ü., Nuclei bedeutet auf Italienisch Kern, wird aber sehr oft als Zelle übersetzt oder verstanden, was aber falsch ist.

9A.d.Ü., wie ein Monolith, für die Ewigkeit.

10A.d.Ü., gemeint ist damit die sogenannte Strömung des Synthetischen Anarchismus der versucht alle anarchistischen Strömungen in einer anarchistischen Organisation zu vereinen. Vertreter dieser Idee war vor allem der russische Anarchist Volin, eigentlich Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum und Sebastian Fauré in den 1920er.

11Im Originialtext: camaraderie d´elité

12A.d.Ü., Cobas ist eine italienische Gewerkschaft/Syndikat

13A.d.Ü., unseres Wissens nach wurde dieses Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt, der Originaltitel lautet Les illusions du progrès. Paris 1908, auf engl. The illusions of progress. University of California Press, Berkeley 1969.

14A.d.Ü., als Saint-Simonismus wird eine „frühe sozialistische“ Strömung in Frankreich aus dem 19. Jahrhundert bezeicht.

15A.d.Ü., als „Kathedralen in der Wüste“ werden in Italien gescheiterte öffentliche Bauprojekte der 1960er Jahre bezeichnet. Der Ausdruck macht auf eine persistente Praxis der öffentlichen Verwaltung große Bauprojekte ohne Sinn zu bauen aufmerksam, wie eine Kathedrale in der Wüste, zu der nie ihre Anhänger gehen werden.

16A.d.Ü., hier wird Bezug auf Sklerose genommen, dass es stückchenweise beschädigt und zerstört wird.

17A.d.Ü., im Sinne des, zu Aktionen zu übergehen.

18A.d.Ü., als ein entgegengesetzter Prozess zur Entlohnung.

19A.d.Ü., im Sinne des Erwerbs an Waren um den Profit zu steigern.

20A.d.Ü., hier ist die Rede von einer sozialistischen Strömung in Frankreich.

21A.d.Ü., leblosen.

22A.d.Ü., man kann es nicht rekuperieren.

23A.d.Ü., hier handelt es sich um eine Zweideutigkeit – lingua auf Italienisch heißt sowohl Zunge als auch Sprache.

24A.d.Ü., der Schnitt bezieht sich auf die Form des Ausdrucks.

25A.d.Ü., Ion Iliescu war ein Politiker aus Rumänien, der zuerst Karriere in der Kommunistischen Partei machte und nach dem Zerfall des Sozialismus in Rumänien sich der Sozialdemokratie anschloss.

26A.d.Ü., als irriducibilismo wird jene Haltung der Unbeugsamen-Unbeugsamkeit gemeint, wo Mitglieder bewaffneter Gruppen in den Jahren von 1970 bis heutzutage sich nicht von ihrer Geschichte, ihren Taten und ihrer Haltung distanziert und verraten haben. Hier handelt es sich auch um Menschen, die nie ihre Kampfgefährten und -gefährtinnen verraten haben.

Italien. DER EINZIGE BEGEHBARE PFAD. Text in Solidarität mit Alfredo Cospito

Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns

Italien. DER EINZIGE BEGEHBARE PFAD. Text in Solidarität mit Alfredo Cospito

Am 22. Oktober 2022 veröffentlicht.

Seit dem 5. Mai ist unser Gefährte Alfredo Cospito im Rahmen des 41bis-Regimes inhaftiert. Diese Maßnahme wurde nach monatelanger Zensur des Schriftverkehrs und nach der repressiven Operation Sibilla vom November 2021 angeordnet, für die er einen Haftbefehl erhalten hat. Hinter dieser repressiven Verschärfung von Alfredos Haftbedingungen steht der klare Wille des Staates, einen Gefährten mundtot zu machen, der in diesen Jahren der Haft mit Artikeln und Reden viel zur anarchistischen Debatte beigetragen hat.

Das 41bis ist ein hartes Gefängnisregime, das darauf abzielt, den Gefangenen zu isolieren, zum Schweigen zu bringen und zu vernichten, um ihn dazu zu bringen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Es wurde Ende der 1980er Jahre eingeführt und kam zunächst in Ausnahmefällen bei Aufständen oder schwerwiegenden Notsituationen in Gefängnissen zur Anwendung. Im Jahr 1992, nach dem Massaker von Capaci, wurde sie auf Mafiahäftlinge ausgedehnt. Seit 2002 wird sie auch auf Personen angewandt, die wegen Terrorismus und Subversion verurteilt wurden, und dient somit als Instrument der politischen Repression. Derzeit befinden sich auch einige Gefangene, die der kommunistischen Organisation BR-PCC angehören, unter dieser Haftbedingungen. Ursprünglich als vorübergehende Inhaftierung gedacht, ist diese Ausnahmeregelung von Notfall zu Notfall zur Norm geworden. Dieser Mechanismus ist seit der Ausrufung der so genannten Pandemie für den größten Teil der Bevölkerung bereits zum täglichen Brot geworden. Es ist inzwischen selbstverständlich: Wenn eine Notfallmaßnahme einmal eingeführt ist, gibt es kein Zurück mehr.

Die Überstellung von Alfredo nach 41bis sowie die jüngsten Verurteilungen von Juan, 28 Jahre alt, wegen eines Sprengstoffanschlags auf eine Parteizentrale der Lega Nord, und Anna, die zusammen mit Alfredo wegen politischen Massakers verurteilt wurde, sind eine echte und richtige Warnung des Staates: Wer anarchistische und revolutionäre Praktiken und Ideen verbreitet, wird lebendig begraben. Die anti-anarchistischen Aktionen der letzten Jahre sind auch ein Beispiel für die repressive Verschärfung, die wir gerade erleben. Angesichts dieser Situation können wir uns nicht darauf beschränken, die Schläge des Staates so gut wie möglich zu ertragen und auf bessere Zeiten zu warten.

Es ist dringend notwendig, die Grundlagen für eine konkrete internationale revolutionäre Solidarität zu schaffen.

Die einzigen Antikörper gegen die Katastrophe, in die uns der Staat und die Bosse Tag für Tag führen, sind Propaganda und Aktionen, die es verstehen, an die Wurzel zu gehen und den innersten Sinn unseres Kampfes zum Ausdruck zu bringen: die Zerstörung des Bestehenden ohne jegliche Vermittlung.

ALFREDO RAUS AUS DEM 41BIS. FREIHEIHT FÜR ALLE!

TOD DEM STAAT, ES LEBE DIE ANARCHIE!

Anarchist*innen

Die Dringlichkeit erfordert Entschlossenheit: Holen wir Alfredo Cospito aus der Isolationshaft raus. Worte des Gefährten Francisco Solar

Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns

Die Dringlichkeit erfordert Entschlossenheit: Holen wir Alfredo Cospito aus der Isolationshaft raus. Worte des Gefährten Francisco Solar

Am 23. Oktober 2022 veröffentlicht.

Der Hungerstreik als Mittel des Kampfes ist das letzte Mittel, das dem Gefangenen zur Verfügung steht, um gegen das erstickende Leben im Gefängnis zu kämpfen. Es handelt sich um eine extreme Maßnahme, bei der der Körper als letzter Schützengraben des Kampfes eingesetzt wird. Die Dringlichkeit bestimmt die Entscheidung, einen solchen Kampf zu führen. Diese Dringlichkeit ist heute zweifellos in der Situation des Gefährten Alfredo Cóspito gegeben, den die Macht in einer wahnsinnigen Isolationshaft zum Schweigen zu bringen versucht.

Sie empfanden seine Aktionen als harte Schläge, die, wenn sie wiederholt und vervielfacht würden, die auferlegte Ordnung in Schwierigkeiten bringen würden.

Sie sahen in seinen Schriften und Vorschlägen wichtige Beiträge zu aufständischen Ideen und Praktiken, die eine Gefahr für jeden Ausdruck von Autorität darstellen.

Und sie haben nicht Unrecht.

Aus diesen Gründen haben sie beschlossen, 41bis (A.d.Ü., der Paragraf für Isolationshaft in Italien) auf Alfredo anzuwenden. Angesichts dieser Angriffe haben wir keine andere Wahl, als mit Stärke und Entschlossenheit zu reagieren, wobei wir uns darüber im Klaren sind, dass dies ein Kampf für Alfredo und für alle von uns ist, die sich gegen die Macht stellen. Wir verstehen die Bedeutung dieses Kampfes und sehen ihn als eine Gelegenheit, die Beziehungen und die Komplizenschaft in einem Internationalismus der Aktion zu stärken.

Dies ist nicht der Zeitpunkt für Reflexion oder Debatten. Es ist eine Zeit des Krieges, des gewaltsamen Aufbruchs, der Belebung und Stärkung der revolutionären Solidarität, die zu unserem praktischen Arsenal gehört, das wir zu nutzen wissen.

Nutzen wir unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit, um das Beste aus dem zu machen, was wir haben, und knacken wir diese staatsbürgerliche Normalität mit durchschlagenden Schlägen, die die Gefahr einer anarchischen Solidarität aufzeigen.

Lassen wir die Opferdiskurse beiseite und greifen wir die Macht an, wo immer sie ist, denn das ist die einzige Möglichkeit, Alfredo aus der Isolationshaft zu befreien und 41bis ein Ende zu setzen. Und je energischer diese Angriffe sind, desto größer wird ihre Wirkung sein, und daher wird ihre Fähigkeit, aufzutreten und aufzubrechen, zunehmen, was sicherlich die Ausdrucksformen der anarchischen Solidarität stärken wird.

Holen wir Alfredo Cospito aus der Isolationshaft!
Beenden wir den 41 bis!
Es lebe die Anarchie!

Fracisco Solar
Gefängnis La Gonzalina – Rancagua
Oktober 2022

Verhindern wir den Mord an Alfredo Cospito, der seit dem 20. Oktober im Hungerstreik ist.

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Verhindern wir den Mord an Alfredo Cospito, der seit dem 20. Oktober im Hungerstreik ist.

Aufruf zur internationalen Mobilisierung

Am 20. Oktober versuchte der Anarchist Alfredo Cospito während einer Anhörung vor dem Überwachungsgericht in Sassari eine ausführliche Prozesserklärung zu verlesen, in der er ankündigte, dass er gegen das 41bis-Haftregime, dem er unterworfen ist und gegen die lebenslange Haftstrafe, in den Hungerstreik getreten sei. Ein Kampf, den Alfredo bis zu seinem eigenen Tod nicht zu unterbrechen gedenkt. Der Gefährte, der seit dem 5. Mai auf der Grundlage eines von der damaligen Justizministerin Marta Cartabia unterzeichneten Dekrets im 41bis inhaftiert ist, befindet sich derzeit im Gefängnis von Bancali auf Sardinien.

Er ist ein Anarchist, der immer an vorderster Front gekämpft hat und nie bereit war, Kompromisse einzugehen oder aufzugeben. Er ist ein Gefährte, der seit Ende der 1980er Jahre kämpft, einer Zeit, in der er als „Totalverweigerer“ (wegen der Verweigerung des Wehrdienstes) inhaftiert war. Er hat sich zu den Knieschüssen gegen den Ansaldo Nucleare CEO Roberto Adinolfi, nach seiner Verhaftung im Jahr 2012 und im Zuge des darauf folgenden Prozesses, bekannt. Die Aktion wurde vom „Olga Kern/Informelle Anarchistische Föderation – Internationale Revolutionäre Front“ am 7. Mai desselben Jahres in Genua verübt.

Alfredo hat sich stets für die Verteidigung der von Repression betroffenen Gefährten in allen Teilen der Welt eingesetzt. Sein Kampf betrifft objektiv alle Gefangene, unter denen wir besonders an die drei Militante der „Roten Brigaden für den Aufbau der Kämpfenden Kommunistischen Partei“ (BR-PCC) erinnern, die seit über 17 Jahren in 41bis eingesperrt sind (Nadia Lioce, Roberto Morandi, Marco Mezzasalma). Im Jahr 2009 nahm sich die Genossin Diana Blefari aus der gleichen Organisation das Leben, nachdem sie diesem harten Gefängnisregime unterzogen wurde.

Alfredo war zehn Jahre lang ununterbrochen inhaftiert, bis zu seiner Verlegung in die Abteilung 41bis im Hochsicherheitstrakt. Im Jahr 2016 war er bei der „Operation Scripta Manent“ mitbeschuldigt und wurde wegen subversiver Vereinigung zu terroristischen Zwecken und mehrerer Sprengstoffanschläge angeklagt. Nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs im Juli dieses Jahres wurde die selbige Verurteilung von Alfredo und Anna Beniamino als „politischer Massenmord“ neu eingestuft, wobei die einzige dafür vorhergesehene Strafe lebenslange Haft ist. Der italienische Staat, der schon immer faschistische Massenmörder geschützt hat, will nun zwei Anarchisten wegen eines Anschlags, bei dem es weder Tote noch Verletzte gab, wegen Massenmords verurteilen.

Alfredo trägt seit Jahren mit Texten, redaktionellen Projekten und Vorschlägen zur internationalen anarchistischen Debatte bei. Aus diesem Grund wurde er wiederholt der Zensur unterworfen und mit einem Verbot der Kommunikation mit der Außenwelt sanktioniert. Er wurde wegen der Veröffentlichung des revolutionären anarchistischen Blattes „KNO3“ und der letzten Ausgabe von „Croce Nera Anarchica“ verurteilt und derzeit wird gegen ihn wegen der Veröffentlichung der anarchistischen Zeitung „Vetriolo“ ermittelt. Nach diesen Maßnahmen wurde Alfredo im Mai in das 41bis verlegt und anschließend vom Gefängnis in Terni in das Gefängnis Bancali in Sassari gebracht. Auf diese Weise wird er von jedem Kontakt mit der Außenwelt ferngehalten.

Das 41bis dient dazu, den Gefangenen vollständig von der Außenwelt zu isolieren. Die Maßnahme wird für vier Jahre verhängt, aber der einzige Ausweg besteht darin, Buße zu tun und mit den Repressionskräften zusammenzuarbeiten. Mit anderen Worten: 41bis ist Folter, da es darauf abzielt, Leiden hervorzurufen, um Geständnisse oder Aussagen zu erzwingen.

Dieses Haftregime sieht einen einstündigen Besuch pro Monat mit einer Glaswand vor, unter elektronischer Überwachung und mit Audio- und Videoaufzeichnung. Nur wenn die Familienangehörigen keine Möglichkeit haben, zum Besuch zu kommen, besteht als Alternative zum Gefängnisbesuch die Möglichkeit eines monatlichen 10-minütigen Telefonats, für das sich die Familienangehörigen des Gefangenen jedoch auf eine Polizeistation oder in ein Gefängnis begeben müssen. Darüber hinaus gibt es nur eine Stunde Luft- und eine Stunde Sozialzeit (Luftzeit heißt in diesem Sinne in einem unüberdachten zellengroßen Zementblock im Kreis laufen zu dürfen – Anm.d.Ü.) innerhalb der Sektion, die in Gruppen von mindestens zwei und höchstens vier Gefangenen stattfinden: Die Gruppeneinteilung wird direkt von den Büros der Bürokraten in Rom beschlossen und dauert mehrere Monate.

Das 41bis ist ein Vernichtungsgefängnis, da es darauf abzielt, durch die Technik des sensorischen Entzugs körperliche und geistige Schäden zu verursachen; sie ist ein politisches und soziales Todesurteil, das darauf abzielt, jeden Kontakt zur Außenwelt abzubrechen. Die für Alfredo vorgesehene Behandlung erinnert an die von Benito Mussolinis zugeschriebenen Worte über Gramsci: Dieses Gehirn muss zwanzig Jahre lang am Funktionieren gehindert werden.

Ein Beispiel für das schwarze Loch, in dem man landet, wenn man das 41bis betritt, ist das, was am 20. Oktober während der Anhörung vor dem Überwachungsgericht in Sassari geschah. Bei dieser Anhörung wurden die solidarischen Menschen am Betreten des Gerichtssaals gehindert, der Gefährte wurde per Videokonferenz aus dem Gefängnis zugeschaltet, wie es die 41bis-Regeln vorsehen, und als er versuchte, seine Erklärung zu verlesen, wurde seine Stimme durch Drücken des Stummschalt-Knopfes abgeschnitten. Die Erklärung wurde von den Richtern unter Verschluss gestellt; falls die Anwälte sie verbreiten sollten, riskieren sie eine schwere Haftstrafe.

Die Geschichte des Gefährten Alfredo Cospito ist mit einem zunehmend düsteren, repressiven Klima im Lande verwoben. Auch außerhalb der anarchistischen Bewegung beobachten wir eine zunehmend repressive Unterdrückung von Arbeitern, Studenten und sozialen Bewegungen. Der auffälligste Fall: In diesem Sommer leitete die Staatsanwaltschaft von Piacenza ein Ermittlungsverfahren gegen Gewerkschafter/Syndikalisten ein und beschuldigte sie der „Erpressung“, weil sie durch einen „radikalen“ Kampf (Streikposten und Straßenblockaden) Lohnerhöhungen von den Bossen forderten.

Wir wollen, dass auch im Ausland verstanden wird, dass der repressive Kurs, den der italienische Staat einschlägt, jeden persönlich betrifft, da ein Präzedenzfall dieser Größenordnung im Herzen Europas der Vorbote weiterer repressiver Sprünge auch in anderen Breitengraden sein könnte. All dies geschieht, während sich die sozialen Krisen und die internationalen militärischen Krisen von Tag zu Tag verschärfen. Wir wissen, dass dies die idealen Bedingungen für autoritäres Handeln von Regierungen sind. Wir haben ein paar Wochen Zeit, um das Leben von Alfredo Cospito zu retten, seine Ermordung zu verhindern, aber vor allem, um ein Zeichen des Gegenangriffs auf die Geschehnisse zu setzen. Wir machen den Staat für das Leben und die Gesundheit unserer Gefährten verantwortlich. Lasst uns weltweit mobilisieren, lasst uns Druck auf den italienischen Staat ausüben, damit Alfredo aus dem 41bis rauskommt.

Gefährten und Gefährtinnen
25. Oktober 2022