Titel: Ein nicht-Europäischer Anarchismus
Datum: 2007
Bemerkungen: Übersetzung von „A Non-European Anarchism“ erschien 2007 in englisch auf https://web.archive.org/web/20080503193224/illvox.org/2007/06/23/a-non-european-anarchism/.
Quelle: Entnommen aus der Broschüre "Ortung eines indigenen Anarchismus und Ein nicht-Europäischer Anarchismus", Juni 2021, o.O., S. 15-29.
Die Geschichte der Menschen, die nicht die Geschichtsbücher geschrieben haben, die keine Imperien errichtet haben und die nicht danach strebten, über andere zu herrschen, ist unsere Geschichte. Bis zu einem gewissen Grad liegt es in der Natur dieser Zeiten, dass jede*r von uns dazu beitragen muss, diese Geschichte zu erzählen, über die Spalten und Schatten, in die die «Gewinner*innen» nicht eingedrungen sind und in denen wir leben, über sie sowohl zu schreiben, als auch zu sprechen und zu lernen. Diese Geschichte des Überlebens, des bloßen Zurechtkommens, ist die Geschichte des Lebens der großen (wie in über 90%) Mehrheit der Menschen im Laufe der Zeit, über die gesamte moderne Zivilisation hinweg. Überleben ist die einzige Möglichkeit, wenn Teilhabe das bedeutet, was sie heute tut.
Während dieser Text Europa als ultimativen Ausdruck der Erfolge anführt, die unseren Verlust widerspiegeln, ist es nicht ausschließlich Europas Vermächtnis. Ähnliche (wenn nicht genauso großartige) Geschichten von Invasion, Kolonisierung und Völkermord können von anderen Kulturen erzählt werden. Der Unterschied ist, dass sie nicht die Erb*innen des heutigen Weltsystems sind. Europa ist es.
Militarismus, Kapitalismus, Staatskunst und ihre Folgen in Form von Rassismus, Völkermord und Totalem Krieg können alle vor die Tür Europas gesetzt werden. Das heißt nicht, dass es nicht auch Europäer*innen gibt, die sich dieser Tradition, dieser Praxis widersetzen, aber wenn die Welt ein Problem hat, oder eine Reihe von Problemen, dann lässt es sich auf die Ursprünge zurückführen. Es reicht nicht aus, Beispiele für diese Probleme an anderen Orten auszusuchen, um den Folgen der Herkunft zu entgehen. In einem alternativen Universum ist es möglich, dass wir über die Tyrannei des Osmanischen Reiches fluchen könnten.
Es besteht die Notwendigkeit, in dieser Zeit eine antiautoritäre Tendenz zu verkünden, die sowohl ihre Ursprünge respektiert als auch gegen sie kämpft. Eine anti-statische, anti-ökonomische Position, die kulturelle Werte über wissenschaftlichen Determinismus und die Aufrechterhaltung des Imperiums stellt. Eine Position, die Vielfalt über jede einheitliche Antwort auf das politische und soziale Leben stellt. Es ist an der Zeit, die Realitäten unserer kolonialen Geschichte, unserer Beziehungen zu Land und unserer Politik mit den Schlussfolgerungen ihrer Rebell*innen und mit unseren Ältesten zu verbinden. Von den Ir*innen bis zu den Makah, von den Kurd*innen bis zu den Mbuti, von den urbanen Afroamerikaner*innen bis zu den sesshaften Roma kann eine Geschichte außerhalb der Westlichen Zivilisation erzählt werden. Ein nicht-Europäischer Anarchismus ist die Politik dieser Geschichte, und steht im Kontext des Widerstands gegen sie.
Europa ist aus einer Vielzahl von Gründen ein ungewöhnlicher Kontinent. Nicht zuletzt deshalb, weil außerhalb des Kontinents ebenso viele Menschen leben wie innerhalb seiner Begrenzungen. Die Geschichte, zumindest wie sie in Nordamerika gelehrt wird, interessiert sich hauptsächlich für die Folgen und Entwicklungen, die auf dem Kontinent in den letzten zwei Jahrtausenden stattgefunden haben. Diese Geschichte, wenn sie mit der Geschichte aller anderen Kontinente zusammen verglichen würde, wäre sie in den Köpfen und der Kultur der USA und Kanadas immer noch vollkommen dominant. Es ist sicher, den Mainstream der Nordamerikanischen Kultur als Europäisch zu bezeichnen. Du kannst auch die größte Landmasse Ozeaniens als Europäisch betrachten, was zeigt, dass es eine ausgeprägte Tendenz Europas ist, sich in die ganze Welt zu exportieren.
Dieses expansionistische Phänomen hat einen historischen Kontext, den es wert ist, zu untersuchen. Europa ist nicht der Ort, an dem der Aufstieg der Zivilisation stattfand. Sie scheint im Tal zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat, Mesopotamien, begonnen zu haben. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Gesellschaften blühten in diesem Tal über 3000 Jahre hinweg. Die bekanntesten dieser Gesellschaften sind die sumerische, babylonische, hethitische und phönizische Gesellschaften. Sie sind am besten bekannt für die Technik, die sie den zukünftigen Gesellschaften zur Verfügung stellten, darunter die Mythologie (Sumer), der Kodex von Hammurabi (Babylon), Eisen (Hethiter*innen) und das Alphabet (Phönizier*innen). Etwa zur gleichen Zeit entstand rund um den Nil eine riesige und lebendige Gesellschaft, die Ägypten genannt wurde. Diese afrikanische Gesellschaft existierte für mehrere tausend Jahre in der einen oder anderen Form und kündigte die moderne Regierung an. Diese beiden Regionen bilden zusammen mit China den größten Teil unseres Verständnisses der antiken Gesellschaft.