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Sechs Texte aus Italien und aus Chile zum Kampf von Alfredo Cospito gegen die Isolationshaft Namens 41bis

Hier sechs Texte aus Italien und aus Chile zum Kampf von Alfredo Cospito gegen die Isolationshaft Namens 41bis. Es finden sich unter anderem Texte von Mónica Caballero und weiteren eingesperrten Gefährtinnen und Gefährten die gerade auch im Knast sitzen.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Anarchist*innen und Subversive fasten in Solidarität mit dem Gefährten Alfredo Cospito!

1. Februar 2023

104 Tage nach Beginn des Hungerstreiks.
ANARCHISTISCHE UND SUBVERSIVE GEFANGENE AUS CHILE BEGINNEN IN SOLIDARITÄT MIT ALFREDO COSPITO ZU FASTEN
Seit dem 31. Januar.

Für Alfredo Cospito:

Ein lauter Schrei des Krieges!

Ein Aufruf zur internationalistischen Solidarität!

Eine klare Aufforderung zur Aktion!

Im Rahmen der Mobilisierung für den Hungerstreik des italienischen anarchistischen Gefährten Alfredo Cospito, der seit 104 Tagen andauert, beginnen die anarchistischen und subversiven Gefangenen im Gonzalina-Rancagua-Gefängnis heute, am 31. Januar, ein solidarisches Fasten als minimale Geste der Komplizenschaft angesichts des transzendentalen und entschlossenen Kampfes, den der Gefährte führt, um die Isolation zu beenden, der der italienische Staat ihn unterworfen hat, und gegen die lebenslange Haftstrafe, zu der er kürzlich verurteilt wurde.

Die Situation ist von äußerster Dringlichkeit und es gibt keinen Platz für Momente des Abwartens und Nachdenkens, die nur Apathie und Untätigkeit verstärken.

Es geht auch nicht darum, passiv zuzusehen, wie der italienische Staat Alfredo sterben lässt, in einer der deutlichsten Demonstrationen autoritärer Brutalität.

Wollen wir auf den Tod unseres Gefährten warten, bevor wir beschließen zu handeln?

Dieses Fasten ist auch ein Aufruf an das antiautoritäre Bewusstsein auf der ganzen Welt und sein konsequentes Handeln (A.d.Ü., im Sinne von Aktionen).

Während dieser umfassenden Mobilisierung haben wir gesehen, wie wichtig jede subversive Geste außerhalb der Grenzen derer ist, die ihn heute in diesem ruchlosen Regime festhalten, und haben die Wirksamkeit internationalistischer Solidarität mit kämpferischem Charakter unter Beweis gestellt.

Jetzt müssen wir unsere ganze Vorstellungskraft einsetzen, unsere auf Konfrontation ausgerichteten Affinitätsbeziehungen mit Leben füllen und auf unsere Erfahrungen zurückgreifen, denn nur so können wir die aufständische Komplizenschaft aktivieren, um zu versuchen, Alfredo aus dem verhängnisvollen 41bis herauszuholen.

Morgen könnte es zu spät sein, deshalb ist es wichtig, sofort zu handeln und den Kampf selbst in die Hand zu nehmen, indem wir uns in diesem Kampf, der nicht warten kann, voll engagieren.

In diesem Sinne ist der laufende Kampf nicht nur für Alfredo entscheidend, sondern auch für uns alle, die wir uns gegen den Knast und die Welt, die ihn braucht, zur Wehr setzen, denn das, was auf unseren Gefährten angewandt wird, wird sich schnell auf jeden ausweiten und exportieren lassen, der rebelliert und sich der etablierten Ordnung entgegenstellt.

Deshalb verzichten wir nicht auf klare und konkrete Demonstrationen, um alle unsere Gefährt*innen auf der ganzen Welt aus den Gefängnissen zu holen, die jahrzehntelang in nazifaschistischen Regimen der Gefangenschaft läutern mussten, die versuchen, die rebellische menschliche Dimension jedes Aufständischen, der sich angesichts dieser Realität der Unterdrückung und des Elends auflehnt, zu entwürdigen.

Der Schlüssel, um Alfredo aus der Isolation zu holen, liegt heute sicherlich nicht in unseren Händen, aber wir werden nicht aufgeben, unseren Teil dazu beizutragen, dass dies so bald wie möglich geschieht.

Was aber von uns abhängt, ist unsere Entscheidung, uns aktiv am Kampf zu beteiligen, indem wir denen, die ihn foltern, das Gefühl geben, dass sie nicht sicher sind, solange sie den Gefährten in diesem schändlichen Regime halten.

Für die Ausweitung der kämpferischen Solidarität im Puls der aufständischen Komplizenschaft mit dem Gefährten Alfredo Cóspito!
Holen wir Alfredo raus aus dem 41bis!
Solange es Elend gibt, wird es Rebellion geben!
Bis auch die letzte Bastion der Knastgesellschaft zerstört ist!
Lasst die Gefängnisse explodieren!
Lang lebe die Anarchie!
Revolutionäre antiautoritäre Gefangene aller Richtungen raus aus dem Knast jetzt!!!

Marcelo Villarroel Sepúlveda.
Juan Aliste Vega.
Joaquín García Chancks.
Francisco Solar Domínguez.

Knast-Unternehmen La Gonzalina-Rancagua
Vom chilenischen Staat besetztes Territorium.
31. Januar 2023
104 Tage nach Beginn des Hungerstreiks des Gefährten.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Italien. Die Revisionsverhandlung von 41bis gegen Alfredo wird vorgezogen: 24. FEBRUAR

3. Februar 2023

Ursprünglich war die Anhörung zur Überprüfung von 41bis gegen Alfredo für den 20. April 2023 angesetzt, aber auf Druck des Hungerstreiks wurde sie auf den 7. März 2023 vorverlegt.

Angesichts der wachsenden politischen Krise in Italien aufgrund des Hungerstreiks des Gefährten und der Vervielfachung der internationalen Solidaritätsaktionen wurde der Termin auf den 24. Februar 2023 verschoben.

Bei dieser Anhörung soll erneut diskutiert werden, ob es angemessen ist, Alfredo Cospito in dieser extremen Isolation zu halten. Der Gefährte aus dem Knast hat versichert, dass er den Hungerstreik nicht aufgeben wird, bis er aus diesem Betonfriedhof entlassen wird.

Solidarität mit dem Hungerstreik gegen 41bis!

Um die Ermordung von Alfredo zu verhindern!


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Über den jüngsten Rausch der Massenmedien in Italien über die angebliche Zusammenarbeit von Alfredo Cospito mit der Mafia

3. Februar 2023

Anmerkung von refractario: Der jüngste Schachzug des italienischen Staates angesichts des Hungerstreiks von Alfredo war, über die Verbindungen zwischen der Mafia und Anarchist*innen zu sprechen. In den Schlagzeilen und Berichten wurde versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die verschiedenen Mafias die Gefährt*innen und Alfredo selbst als „nützliche Idioten“ benutzen. Der Rausch ist massiv und systematisch und hat auch in der politischen Klasse Italiens zu Kontroversen geführt. Giovanni Donzelli, ein Abgeordneter der extremen Rechten (Regierungspartei in Italien), hat Abhörbänder zwischen Alfredo und Mafia-Gefangenen durchsickern lassen, in denen letztere ihn in seinem Kampf ermutigen. Die Situation wurde von Donzelli genutzt, um die Abgeordneten anzugreifen, die sich für eine Änderung des 41bis-Regimes oder für die Entlassung von Alfredo eingesetzt haben, und sie zu beschuldigen, Komplizen der Mafia zu sein. Die Opposition ihrerseits wirft Donzelli vor, Zugang zu vertraulichen Informationen zu haben und diese zu veröffentlichen. Weit entfernt vom Kannibalismus der politischen Klasse, verdeutlicht dieser Text einen wichtigen Punkt. Wir Anarchist*innen haben nichts mit Mafia, kriminellen Organisationen oder Gangs zu tun… wir wollen die Macht nicht verwalten, sondern sie zerstören.

Wenn ich sehe, dass sie im Fernsehen versuchen zu manipulieren, indem sie sagen, dass Alfredo Beziehungen zu den Mafiosi hat, denke ich, dass sie ihn nicht kennen, sonst hätten sie Angst, dass alle zu Anarchisten werden [lacht]“.

Flavio Rossi Albertini, Anwalt von A. Cospito.

Ihr seid nicht in der Lage, euch einen Menschen, eine Bewegung und Individuen außerhalb eurer Logik vorzustellen. Und selbst ohne es zu ahnen, lügt ihr absichtlich. Ihr baut Sandburgen, indem ihr versucht, Polizeikarten (A.d.Ü., im Sinne von Verbidnungen) zwischen Cospito und der Mafia zu erstellen. Stimmt, für euch ist es bequem, Cospito in die Mafia einzuordnen, denn im Gegensatz zur Anarchie (Cospitos einziger Ideologie) wisst ihr, wie man mit der Mafia umgeht, ihr wisst, wie man schweigt, sich verbeugt und abstoßend ist. Bei der Mafia wisst ihr, wie man die eiserne Faust einsetzt, nachdem ihr mit Küssen und staatsmafiösen Verhandlungen geschwiegen habt. Bei der Mafia wisst ihr, wie ihr das Wort Chaos mit dem Wort Sieg überdecken könnt, wenn es um die Verhaftung eines Capos geht, während die Mafia weiter macht.

Cospito ist, wie alle Anarchist*innen, einschließlich dieses Autors, kann nicht in euren Schemata der Macht eingeordnet werden, sei es die Mafia oder der Staat, denn was wir zerstören wollen, ist genau der Staat, der Kapitalismus, der Kolonialismus und die Mafia. Erinnert euch daran, dass der wirkliche Kampf gegen die Mafia besteht, wenn die hierarchischen und sozialen Herrschaftssysteme, die sie kennzeichnen, abgelehnt werden. Und der Staat kann aufgrund seiner Grundlagen nicht und hat vielleicht nicht einmal ein Interesse daran, ein Phänomen, die Mafia, zu zerstören, die ihre eigene Macht ausübt, genauso wie der Staat seine eigene ausübt.

Wenn man den Kampf gegen 41bis und den ergastolo ostativo als unveränderliches und festes Prinzip für alle voraussetzt, muss man auch bekräftigen, dass dies kein Geschenk an die Mafiosi ist, sondern ein Schlachtruf gegen alle diese Machtsysteme. Ihr solltet wissen, dass Totò Riina sagte: „Kriege gegen den Staat, um sich mit dem Staat zu versöhnen,

Wir Anarchist*innen sagen: Krieg gegen den Staat führen, um diesen zu zerstören.

Schaut der Realität ins Gesicht, liebe Regierung und lieber Donzelli, wisst, dass wir Anarchist*innen keine Mafiosi sind, und genau deshalb haben wir mehr Angst vor dem Staat.

Ihr seid nicht in der Lage, euch einen Menschen, eine Bewegung und Individuen außerhalb eurer Logik vorzustellen. Und auch ohne es zu ahnen, lügt ihr absichtlich. Ihr baut Sandburgen, indem ihr versucht, polizeiliche Verbindungen zwischen Cospito und der Mafia zu erstellen. Stimmt, für euch ist es bequem, Cospito in die Mafia einzuordnen, denn im Gegensatz zur Anarchie (Cospitos einzige Ideologie) wisst ihr, wie man mit der Mafia umgeht, mit der Mafia wisst ihr, wie man schweigt, sich verbeugt und abstoßend ist. Bei der Mafia wisst ihr, wie man die eiserne Faust einsetzt, nachdem ihr mit Küssen und staatsmafiösen Verhandlungen geschwiegen habt. Bei der Mafia wisst ihr, wie ihr das Wort Chaos mit dem Wort Sieg überdecken könnt, wenn es um die Verhaftung eines Capos geht, während die Mafia weiter macht.

Cospito ist, wie alle Anarchist*innen, einschließlich dieses Autors, außerhalb der Schemata der Macht, sei es Mafia oder Staat, denn was wir zerstören wollen, ist genau der Staat, der Kapitalismus, der Kolonialismus und die Mafia. Erinnert euch daran, dass der wirkliche Kampf gegen die Mafia besteht, wenn die hierarchischen und sozialen Herrschaftssysteme, die sie kennzeichnen, abgelehnt werden. Und der Staat kann aufgrund seiner Fundamente nicht und hat vielleicht nicht einmal ein Interesse daran, ein Phänomen, wie die Mafia, zu zerstören, die ihre eigene Macht ausübt, genauso wie der Staat seine eigene ausübt.

Wenn man den Kampf gegen 41bis und den ergastolo ostativo als unveränderliches und festes Prinzip für alle voraussetzt, muss man auch bekräftigen, dass dies kein Geschenk an die Mafiosi ist, sondern ein Schlachtruf gegen all diese Machtsysteme. Ihr solltet wissen, dass Totò Riina (bekannter italienischer Mafioso und Mitglied der sizilianischen Cosa Nostra) sagte: „Führe Krieg gegen den Staat, um dich mit dem Staat zu versöhnen.“

Wir Anarchist*innen sagen: Führe Krieg gegen den Staat, um den Staat zu zerstören.

Schaut der Realität ins Gesicht, liebe Regierung und lieber Donzelli, wisst, dass wir Anarchist*innen keine Mafiosi sind, und genau deshalb hat der Staat mehr Angst vor uns.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Dringende Worte im Angesicht einer verlöschenden Flamme. Geschrieben von Monica Caballero über den Hungerstreik von Alfredo Cospito

3. Februar 2023

Ich hatte das Vergnügen, die Worte von Gefährt*innen aus verschiedenen Gebieten zu lesen, die sich mit dem Hungerstreik von Alfredo Cospito solidarisiert haben, um aus dem Folterregime von 41bis herauszukommen. In diesen Ländern hat auch eine Gruppe subversiver, anarchistischer, antiautoritärer, antispeziesistischer und nihilistischer Gefangener unsere bedingungslose Solidarität mit dem Gefährten bekundet. Die Verbrüderung mit einem so wertvollen Gefährten wie Alfredo, und noch dazu in dem schwierigen Moment, den er gerade durchlebt, ist eine Notwendigkeit für diejenigen von uns, die sich als Verweigerer und Antagonist*innen des aktuellen, von der Autorität regierten Lebens positionieren. Solidaritätsbekundungen aus dem Gefängnis an gleichgesinnte Gefährt*innen sind nie zu viel.

Wenn ich während meiner Gefangenschaft Worte der Solidarität von einer Gefährtin oder einem Gefährten erhalten habe, habe ich sie immer als etwas sehr Wertvolles geschätzt und gehütet. Aber in diesem Moment braucht der Gefährte Alfredo Cospito das Worte in Taten umgewandelt werden, um alle anzugreifen, zu zwingen, zu unterwandern, zu manipulieren, zu drohen, etc. die die Macht haben, seine Gefängnissituation zu ändern und/oder die das 41bis-Regime unterstützen.

Alfredos Situation ist nicht mehr beunruhigend, sondern dringend. Die Sache ist ganz einfach: Wenn es uns nicht gelingt, Cospitos Forderung durchzusetzen, wird er sterben, und es bleiben nicht mehr allzu viele Tage, wenn er seinen Hungerstreik fortsetzt.

Die Entscheidung zu treffen und eine Mobilisierung wie einen Hungerstreik durchzuführen, ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Dein Kampf findet in verschiedenen Szenarien statt: Auf der einen Seite hast du ein ganzes repressives und juristisches System mit verschiedenen Instrumenten, die versuchen, dich davon abzuhalten, den Streik zu beenden, auf der anderen Seite ist da dein eigener Überlebensinstinkt, dein eigener Körper!

Der Körper im Hungerstreik wird sich manifestieren, damit du ihn füttern kannst.

Nach dem, was ich erlebt und bei anderen gesehen habe, sind die ersten körperlichen Anzeichen eines Hungerstreiks Kopfschmerzen, Schwindel, Müdigkeit, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und ein schrecklicher Appetit, der dich an nichts anderes denken lässt. In meinem Fall habe ich nach 15 bis 20 Tagen Fasten aufgehört, Hunger zu verspüren; ich habe von Gefährt*innen gehört, die ihren Hunger etwa am 90sten Tag verloren haben. Ab der zweiten oder dritten Fastenwoche wird der Streikende von lästigen Krämpfen begleitet, die sich im ganzen Körper ausbreiten und Schmerzen verursachen, dazu kommt die Müdigkeit, die jede tägliche Aktivität, wie zum Beispiel das Baden, zu einem Kraftakt macht. Und dann ist da noch die Kälte. Egal, wie sehr sich der Streikende warm einpackt, er oder sie fühlt sich immer mehr oder weniger kalt.

Auch wenn es bei einem Hungerstreik anekdotisch erscheinen mag, ist der Hunger nicht das lästigste und akuteste Gefühl. Nach meiner Erfahrung und nach dem, was ich erfahren habe, ist es der Schmerz der Krämpfe und der Kälte, der im Vordergrund steht.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass es relevante Faktoren gibt, um den Ablauf eines Hungerstreiks zu verstehen, wie z.B., dass jeder Körper auf eine bestimmte Art und Weise funktioniert und die Art und Weise, wie der Hungerstreik durchgeführt wird, ebenfalls unterschiedlich ist, z.B. ob Zucker oder Trinksalze konsumiert werden und auch die Haftbedingungen, unter denen der Hungerstreik durchgeführt wird. In jedem Gefängnis (zumindest im Westen) gibt es Hungerstreikprotokolle, die oft nicht eingehalten werden.

Unabhängig davon, in welcher Form und unter welchen Bedingungen ein Hungerstreik durchgeführt oder erlebt wird, handelt es sich um eine Selbstaufopferung, die nicht ewig andauern kann, denn der Körper hat nur begrenzte Reserven und in Alfredos Fall sind diese bald erschöpft.

Die Flamme, die Alfredo ist, wird Tag für Tag ausgelöscht. Er wird nicht aufgeben, er wird es nicht bereuen. ……

Möge aus den Worten eine Tat werden!

Aktive Solidarität mit allen anarchistischen Gefangenen!!! ¡¡¡¡

Für das Ende des 41bis

Tod dem Staat und lang lebe die Anarchie!

Mónica Caballero Sepúlveda

Anarchistische Gefangene.


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

INTERNATIONALER AUFRUF ZUR MOBILISIERUNG VOR DEN ITALIENISCHEN BOTSCHAFTEN IN SOLIDARITÄT MIT ALFREDO COSPITO UND DEM ENDE DES 41BIS-REGIMES

3. Februar 2023

Mehr als 100 Tage nach Beginn des Hungerstreiks von Alfredo Cospito rufen wir alle affinen Individuen, Gruppen, Organisationen und Kollektive auf, zu einer Mobilisierung vor den italienischen Botschaften in ihren Ländern aufzurufen, um Druck auf den italienischen Staat und Alfredos Henker auszuüben.

Der Gefährte stirbt, weil der Staat will, dass er stirbt. Dies ist nicht nur ein „humanitäres“ Problem, der Kampf des Gefährten ist ein Aufruf zu internationalen revolutionären Aktionen. Gleichgültigkeit und Passivität werden niemals unsere Verbündeten sein; Solidarität schon.

Wie es in einem Brief mit einer Kugel an die italienische Zeitung „Il Terreno“ gut ausgedrückt wurde: „Wenn Alfredo Cospito stirbt, sind alle Richter ein Ziel“. Lassen wir den italienischen Staat wissen, dass wir sein schlimmster Feind sein werden, wenn Alfredo stirbt.

Die Gefährt*innen aus Chile und Kolumbien werden diesen Freitag, den 3. Februar, vor ihren Botschaften präsent sein. Wir hoffen, dass sich diese Initiative weiter verbreiten wird.

AUFRUF, ORGANISIEREN UND HANDELN!
FÜR DIE ZERSTÖRUNG ALLER GEFÄNGNISSE!
FÜR DAS ENDE DES 4BIS REGIMES!
ES LEBE DIE SCHWARZE INTERNATIONALE!


Gefunden auf publicación refractario, die Übersetzung ist von uns.

Italien. Aktuelles zur gesundheitlichen Situation von Alfredo aus dem Opera-Knast (01.02.23)

3. Februar 2023

Da der von der Verteidigung in Mailand benannte Arzt noch nicht die Erlaubnis hat, Opera zu betreten, haben wir nur die Eindrücke des Mailänder Anwalts, der Alfredo auf Bitten von Alfredos Anwalt, Flavio Rossi Albertini, im Opera-Knast besucht hat und die letzten Worte von Angelica Milia, der Ärztin, die ihn in Bancali besuchte, aus einem Telefoninterview mit Luigi Manconi, das in La Stampa veröffentlicht wurde (die Arbeit des DAP ist nach hinten losgegangen1: Vor Onda d’Urto war das einzige Radio, das Angelica jeden Donnerstag interviewte. Jetzt gibt es mehrere Medien, einschließlich des Mainstreams)

Worte von Angelica Milia „(…) Ich glaube, dass er nur noch wenige Tage zu leben hat, aber ich sage nicht, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht (…) Man kann auf den ersten Blick erkennen, wie sehr sein Gesundheitszustand beeinträchtigt ist; es ist das allgemeine körperliche Erscheinungsbild, das vor jedem chemischen oder Labortest betrachtet werden sollte: ein Mensch, der abgemagert, erschöpft, blass, mit unsicherer Haltung ist, der gezwungen ist, einen Rollstuhl zu benutzen (…).

Der Sturz in der Dusche „ist die unvermeidliche Folge eines allgemeinen Bildes von dramatischer Schwäche (…) Jeder Organismus reagiert anders, daher wäre jede Vorhersage hypothetisch. Was ich befürchte, ist ein Ungleichgewicht der Ionen im Plasma, im Verhältnis zu Kalium, Natrium, Chlor und anderen, das zu schweren Herzrhythmusstörungen führen kann, die lebensbedrohlich sein können. Eine weitere ernsthafte Gefahr sind Infektionen, äußerlich oder innerlich, aufgrund des verminderten Gamma-Globulins und der weißen Blutkörperchen. Auch weil seine Haut so dünn ist, dass sie weniger Schutz gegen mögliche Infektionen bietet: entweder durch Kontakt oder durch körperlichen Verfall, wie z.B. eine Atrophie der Magenschleimhaut oder eine orale Mykose, die ich bereits behandeln musste.

Der Besuch des Anwalts dauerte lange, was Flavio für ein gutes Zeichen hält. „Er hält sich unglaublich gut, sowohl körperlich als auch geistig, was Kraft und Überzeugung angeht.“

Gestern, am 31. Januar, hieß es in der Presse des Regimes, er führe Gespräche mit der Mafia: „a comminciato a fare intelligenza“… Welcher engstirnige und verdrehte Geist kann auch nur vermuten, dass eine Person wie Alfredo kriminelle Beziehungen zur Mafia haben könnte!

Vor seiner Verlegung beschwerte sich Alfredo bei den Ärzten des Bancali: „Warum verlegen sie nur mich, wenn es hier in 41bis Gefangene mit viel schlechterem Gesundheitszustand gibt, die in diesem Gefängnis nicht geheilt werden können? Ich möchte nicht privilegiert behandelt werden, nur weil ich das Schweigen der Medien, das diese Fälle immer umgibt, durchbrochen habe.“

In Bancali gibt es keine Fachärzte (auch keine Geriater, in einem Gefängnis, in dem die meisten Häftlinge älter sind und seit 20 bis 30 Jahren in 41bis sind), so dass angesischts jedes gesundheitlicher Problem eines Häftlings, dieser verlegt werden muss. Um in ein Krankenhaus verlegt zu werden, muss er/sie außerdem die Genehmigung des Strafvollzugsaufsichtsrichters einholen. Wenn du also schnell handeln willst, muss das Gefängnis als eine unmittelbare Lebensgefahr erklärt werden.

Flavio ist der Meinung, dass er mit dieser Verlegung, die er bereits einige Tage zuvor beantragt hatte und die abgelehnt wurde, weil er der Meinung war, dass er sich „in optimaler Verfassung“ befand, das schlechte Image vermeiden wollte, das ein möglicher Tod in Bancali nach der Verweigerung der Verlegung geben würde, insbesondere angesichts der Medienaufmerksamkeit, die er in der letzten Zeit erhielt.

Gespräch mit dem Anwalt aus ondarossa.info
von lucharcontrael41bis.noblogs.org

1A.d.Ü., die DAP Dipartimento dell’amministrazione penitenziaria ist die Behörde der Knastverwaltung in Italien.

Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Hier ein weiterer wichtiger anarchistischer Text den wir nicht ohne Grund ausgegraben haben. Im Text ist immer wieder die Rede über die ‚Angry Brigade‘, hier eine Broschüre dazu die wir vor längerem übersetzten.


Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Originaltitel:
Su alcune vecchie questioni d‘attualità fra gli anarchici, e non solo
Erschien 2003 in Italien
Der Text wurde im Sommer 2009 aus dem Italienischen ins
Deutsche übersetzt und nun für diese Brochüre überarbeitet.

Die Einleitung und die Anmerkungen wurden der niederländischen Ausgabe dieses Textes beigefügt und hier übersetzt und übernommen.


Einleitung

Es gibt Fragen, die schon seit Jahrhunderten die Geschichte der Revolte begleiten. Es sind Fragen, die stets zurückkommen werden, die in schwierigen Momenten an unserer Tür klopfen und sich gewaltsam Zutritt verschaffen… um plötzlich unsere Absichten völlig in Frage zu stellen. Es sind Fragen, die nur selten in geschriebenen Worten Niederschlag gefunden haben. Wir werden oft mit ihnen konfrontiert, sei es durch Diskussionen mit Kameraden, durch das Wühlen in unseren Köpfen oder durch das Kennenlernen von Erfahrungen aus anderen Gegenden und anderen Zeiten.

Eine dieser Fragen ist das alte Problem der revolutionären Avantgarden, der Selbstrepräsentation von diesen, als wären sie das radikalste Sprachrohr der Ausgebeuteten, und der Spezialisierung, die es unmöglich macht, mit allen Mitteln zu agieren, die uns zur Verfügung stehen. Ausgehend von diesem Problem werden wir auch mit konkreteren und praktischeren Überlegungen konfrontiert. Welche Rolle spielen Bekennerschreiben? Welche Beweggründe verstecken sich hinter bestimmten Methoden zu bestimmten Momenten?

Ausgehend vom Italienischen Kontext versucht dieser Text ein paar dieser Probleme anzugehen. Es geht hierbei nicht um die x-te Kritik an Organisationen und Gruppen, die uns sehr fern sind, sondern um eine Kritik dicht bei uns, um Anarchisten, die offenbar immer öfters die Entscheidung treffen, einige alte Kadaver wieder auszugraben. Diese Kritik richtet sich gewiss an die informelle anarchistische Föderation (FAI), in deren Namen sich verschiedene Gruppen in den vergangenen Jahren zu Anschlägen und Briefbomben bekannten, auch wenn dieser Text noch vor der Reihe von Brandbriefen an Europäische Institutionen geschrieben wurde, die gegen Ende des Jahres 2003 für Aufruhr sorgte. Die Situation der Bewegung in Italien liegt uns nah am Herzen, doch wir denken dennoch, dass es hier bedeutende Unterschiede zu anderen Ländern in Europa (und sonstwo) gibt. Dieser Text kommt daher aus einer spezifischen Situation und einer Kritik hervor, die darin gewachsen ist, wodurch er automatisch auch seine Grenzen kennt. Dennoch greift er Fragen auf, die alle etwas angehen. Und nicht nur diejenigen, die sich mit ein paar sonderbaren Versuchen konfrontiert sahen, die beabsichtigten, zu einer alternativen anarchistischen bewaffneten Organisation zu gelangen, während sie mit Begriffen und Konzepten von dem spielten, was Insurrektionismus genannt wird (ein Wort das wir lieber loswerden, anstatt uns zueignen wollen, denn wir sehen keinen Sinn darin, eine reichhaltige und breite Kampfperspektive auf irgendeine Ideologie und ihre Rethorik zu reduzieren).

Es gibt ein paar grundlegende Ideen, die für eine sinnvolle Diskussion über diese Fragen unentbehrlich sind. Ansonsten verwässert diese unvermeidlich zu einem quantitativen Gebot in scheinbarer Radikalität, die oft mehr aus Worten als aus wirklichem Engagement besteht. Ausserdem ist es schwierig, solche Diskussionen losgelöst von anderen Fragen zu führen, wie beispielsweise die Rolle der Propaganda, die Bedeutung von informeller Organisation, die Frage der Methoden. Auch hier verbergen sich die Grenzen dieses Textes und gleichzeitig die Öffnungen, um an Hand dieses Textes sinnvolle Diskussionen zu führen.

Der Aufstand ist für uns unbestreitbar ein soziales Ereignis. Sowohl der Aufstand wie die aufständische Methode sind ziemlich spezifische Konzepte, denen nicht einfach so irgendeine Auslegungen nach Geschmack und Moment gegeben werden kann. Eine solche linguistische Verwässerung trägt bloss zur Verwirrung bei, welche sehr praktische Folgen nach sich zieht. Der Aufstand ist der Prozess, wobei der Klassenantagonismus immer deutlicher an die Oberfläche tritt, bis zu dem Punkt, wo er seine ersten spezifischen Auslöser oder Ziele zurücklässt, alle sozialen Rollen auf den Kopf stellt und den Weg für etwas völlig anderes öffnet. Die aufständische Methode ist also unter anderem die Entscheidung, sich an Kämpfen mit beschränkten Zielen zu beteiligen, die sich durch ihre Wahl des Angriffs und der Selbstorganisation auszeichnen, wobei der Bruch mit der Normalität, das Anwachsen der Solidarität und der Kampferfahrungen, die die revoltierenden Ausgebeuteten und Unterdrückten anwenden – und nicht die vielleicht auch nicht erreichten quantitativen Resultate – der Einsatz und der „Gewinn“ sind. Es ist ein qualitativer Sprung nach vorne, die resolute Erkennung des Klassenfeindes und der Macht in ihren konkreten Strukturen.

Wie wir weiter oben bereits sagten, halten wir es für wichtig, die wahre Bedeutung der Wörter und Konzepte nicht zu verdrehen oder auszuhöhlen. Die aufständische Methode ist eine Methode neben vielen anderen, und vor allem gibt es die ganze subversive Dynamik, worin sich die verschiedenen Methoden gegenseitig nähren und stimulieren. Mit anderen Worten, indem wir das Wort „Aufstand“ in den Mund nehmen, haben wir nicht alles gesagt. An der Basis des sozialen Krieges, und somit von dessen aufständischen Äusserungen, steht die individuelle Revolte. Diese individuelle Revolte kann nach ihrer sozialen Bedeutung suchen und versuchen auf den Wogen der sozialen Konflikte schwimmen zu lernen. Andererseits kann sie auch selbst weiterwachsen und sich ausbreiten, ihre eigenen Ausdrücke suchen, ohne dass sie deswegen aufhört, Teil des sozialen Krieges auszumachen. Als revoltierendes Individuum neben anderen revoltierenden Individuen, die ihre Wege zur Subversion je nach Geschmack und Möglichkeiten wählen.

Darüber hinaus soll der soziale Aspekt des Aufstandes nicht als quantitative Angelegenheit interpretiert werden. Als Individuum oder als kleine Gruppe von Individuen zu handeln bedeutet nicht, isoliert zu handeln und ebenso wenig bedeutet eine handelnde Masse, dass ein aufständischer Prozess in Gang gesetzt wird. Es ist vielmehr die Dynamik des Konfliktes, die sozial ist und diese Welt der Autorität und Ausbeutung in Frage stellt und angreift.

Subversion ist nicht die quantitative Summe der Anzahl Schläge, die wir dem Feind zusetzen. Sie ist nicht eine Frage des Masses an „ät“ der Mittel, die verwendet wurden. Subversion liegt gerade in dem in Frage Stellen der gesamten Gesellschaft, dem auf den Kopf Stellen ihrer Ordnung und der konsequenten Verweigerung der Rollen, die uns auferlegt werden. Unter den Mitteln, die wir dafür verwenden braucht keine Hierarchie angebracht zu werden. Es geht schlicht darum, alles was uns zur Verfügung steht zu vermischen und im richtigen Moment anzuwenden. Bedeutet dies, dass Worte alleine ausreichen? Nein, ebenso wenig wie es bedeutet, dass Waffen alleine ausreichen. Bedeutet dies, dass wir gewisse Mittel nur gebrauchen können, wenn „die Masse“ sie als positiv anerkennt? Nein, ebensowenig wie es bedeutet, dass wir nicht darüber nachdenken können, welche Mittel in welchem Moment am geschicktesten sind. Um darüber nachzudenken, können wir ein paar Sachen im Hinterkopf behalten. Wie beispielsweise die soziale Verbreitbarkeit von bestimmten Methoden. Technische Spitzenleistungen nehmen nur allzu oft den Platz einer subversiven Intelligenz ein. Auch Kreativität ist sozial und sicher keine rein technische Angelegenheit. Die Wahl unserer Ziele ist ebenso wenig belanglos. Wenn wir die Macht als Winterpalast betrachten, den es einzunehmen gilt, wenn wir die Macht als eine Zentralität betrachten, dann folgt daraus logischerweise, dass wir nur im Parlament einen wirklichen Feind erkennen. Wenn wir die Macht hingegen als etwas sehen, dass überall verstreut in Strukturen und Personen Form annimmt, dann öffnet sich ein ganzes Spektrum von einfachen und breitgefächerten Angriffen. Dann spricht die Aktion von unserer Überzeugung, nämlich, dass die Macht ein soziales Verhältnis ist, das überall in Frage gestellt werden kann.

Diese Fragen sollen immer im Umlauf bleiben. Es ist wichtig, dass wir uns selbst nicht von ihnen abschirmen weil sie zu lästig sind. Diese Diskussionen können unsere Praktik und unsere Ideen nur schärfen, mit dem Schleifstein der Kritik und der Lehren, die wir aus Erfahrungen von anderen Kameraden ziehen.


Anmerkung des Übersetzers (Sommer 2009):

Die Verwendung des Wortes Kameraden als Übersetzung von compagni aus dem Italienischen ist eine (Wieder)Aneignung. Eine Erinnerung daran, dass dieses Wort auch im deutschsprachigen Raum einmal im (nicht-rechten) populären Sinne gebräuchlich war. Im Bezug auf die Freiheit wie sie im anarchistischen Diskurs gebraucht wird. Nicht im Sinne der Ideologien aus der Ecke der Buden, der autonomen Nazis, des braunen Miefs der Kameradschaften, die es erfolgreich schafften, diesen Begriff nach Rechts zu ziehen und zu vereinnahmen (bzw. aus der Ecke der Bundeswehr/Bundesheer und Soldaten sowie anderer staatlicher Institutionen).

Ich machte mir hier Gedanken über verschiedene Ausdrucksweisen die zur Zeit in Gebrauch sind, bisher aber keine zufriedenstellend; Genossen, Gefährten, Kumpanen, Kumpel. Auch diese sind holprig bzw. von der Kommunistischen/Linken Diskussion vereinnahmt oder geprägt. Warum also nicht aufs Ganze gehen und den ursprünglichen Begriff (wieder) in unsere Hände nehmen?!

Es wäre interessant darüber mit anderen Kameraden/ Genossen/ Gefährten/ Kumpanen/ Kumpel zu diskutieren.


Über einige alte, aber aktuelle Fragen unter Anarchisten, und nicht nur…

Ich bin gewiss nicht gewaltlos. Trotzdem kann ich diejenigen verstehen, die Gewalt so sehr verabscheuen, dass sie sie aus ihrem Leben verbannen wollen; diejenigen, die niemals töten würden, niemals Gewalt anwenden würden, um sich Gehör zu verschaffen, diejenigen, die es aufgrund ihres Charakters und ihrer persönlichen Haltung vorziehen, keinen Gebrauch von ihr zu machen. Ich kann all dies jedoch nur verstehen, wenn es sich um eine individuelle und sukzessive Entscheidung handelt. Wenn die Gewaltlosigkeit als Kampfmethode präsentiert wird, wenn sie als zu befolgender Weg vorgeschlagen wird, wenn die individuelle Ethik zu einer Moral und einem kollektiven Projekt wird, dann erscheint mir dies wahrlich als Schwachsinn, der einzig zur Rechtfertigung von Untätigkeit nützt. Dann wird sie zum Hindernis für jene, die rebellieren und zu einem absoluten Wert, der den Schwachen auferlegt wird, um den Mächtigen zu ermöglichen, sich bequemer zurückzulehnen. Am Rande des Abgrunds, mit immer rutschigerem Boden unter den Füssen und unter Feindesbeschuss, kann die Einladung, ausschliesslich gute Manieren zu gebrauchen, nur derart aussehen. Mach doch was du willst, aber spar dir die Predigten.

Dies gesagt, bin ich auch kein Fanatiker der Gewalt. Ich mag diejenigen nicht, die mit ihrer Kühnheit in diesem Bereich prahlen. Ich rechtfertige ihre Verteidigung nicht als Ziel an sich. Ich verachte diejenigen, die sie als alleinige Lösung betrachten. Ich betrachte sie als Notwendigkeit im Kampf gegen die Herrschaft, und nichts weiter. Wie Malatesta glaube auch ich nicht an „stille Untergänge“. Ich glaube nicht, dass sich der Stahlbeton, mit dem die Macht unsere Existenz bedeckt hat, durch das Erblühen der Blumen der Freiheit auflösen wird, die durch Verbreitung unserer Ideen liebevoll gepflanzt wurden.

Eben weil ich nicht gewaltlos bin, kann ich die moralistische Verdammung von Gewaltakten nicht ausstehen. Deren Heuchelei verursacht Übelkeit in mir. Aber eben weil ich kein Fanatiker der Gewalt bin, kann ich die unkritische Verherrlichung solcher Akte ebensowenig ausstehen. Deren Dummheit geht mir wirklich auf die Nerven.

Kürzlich sind einige Angriffe, die von unbekannten Kameraden erst gegen das Polizeipräsidium von Genua und dann gegen das spanische Gefängnisregime begangen wurden <1> in den Vordergrund getreten. Die hysterische Reaktion der Medien war ebenso vorhersehbar wie die Reaktion der Polizei. Aber wie ist die Reaktion der Kameraden? Abgesehen von den üblichen Trotteln, die der Suche nach den verborgenen Beweggründen verfallen, ist Stille die häufigste Reaktion. Eine notwendige Stille, um eine Trennung zwischen Fürsprechern und Gegnern zu vermeiden, welche bloss den polizeilichen Ermittlungen zunutze kommen würde. Doch schon für zu lange Zeit begrenzt sich diese Stille nicht nur auf die Tage nach den Angriffen und erstreckt sich weit darüber hinaus. Es ist nicht mehr Stille im Angesicht des Feindes, der gerne wissen würde, es ist Stille unter Kameraden, die sich gerne verstehen würden. Von der Anwesenheit einer minimalen Form von Solidarität ist man zur Abwesenheit jeglicher kritischen Diskussion gelangt. Aber warum sollten Taten, welcherart auch immer sie sind, keiner kritischen Reflexion unterzogen werden? Warum sollte eine hypothetische Auseinandersetzung über solche Fragen als Hindernis betrachtet werden, als wäre es etwas, das darauf abzielt, ähnliche Aktionen zu verhindern? Warum könnte es stattdessen nicht eine Stütze sein, eine Methode um die Bedeutung dessen, was man tun will, zu klären, um die Taten zu stärken und zu verbessern?

Ich für meinen Teil habe mich entschieden, die kürzlichen Ereignisse als Ausgangspunkt nehmend, diesen Text zu schreiben und zu verbreiten. Seine anonyme Form gründet nicht in der Angst davor, Verantwortung für meine Worte zu übernehmen, sondern ist bloss ein Mittel, um mich in den Augen der Repression nicht von anderen Kameraden zu unterscheiden.

Bekennerschreiben ja, Bekennerschreiben nein

Soweit ich weiss (ich bin kein Experte auf dem Gebiet, daher könnte ich mich auch irren) müssen wir ins Russland des Jahres 1878 zurückgehen, um das erste Bekennerschreiben zum Angriff einer revolutionären Organisation aufzufinden. Es handelt sich um eine Broschüre namens Smert‘ za smert‘ (ein Tod für einen Tod), welche nach dem Mord am General Mezencov, dem Kopf der russischen Geheimpolizei, von der Gruppe Narodnaja Volja <2> (Volkswille) verbreitet wurde. 13 Tage nach dem Mord wurde die Bekennerbroschüre einer Tageszeitung von St. Petersburg zugestellt. An den darauffolgenden Tagen gelangen viele weitere Kopien an zahlreiche Regierungsfunktionäre in anderen Städten. Zu dieser Zeit erregte die Aktion grosses Aufsehen und es mangelte – natürlich – nicht an der Kritik von denjenigen, die dachten, dass die Anwendung solcher Mittel das wichtigere Werkzeug, die Propagierung der Idee einer Massenrevolte, weder ersetzen noch flankieren könne.

Seit damals hat sich diese Szene hunderte Male wiederholt. Selbstverständlich verändern sich die Details von Mal zu Mal, aber die Substanz bleibt dieselbe. Man könnte fast sagen, dass die Erfahrung dieser russischen Revolutionäre zu einer Art Archetyp wurde, zu einem Originalmodell, dessen nachfolgende Erscheinungsformen in Wahrheit nichts anderes als Herleitungen oder Imitationen sind. Die einzige Veränderung innerhalb dieses Schemas haben jene Anarchisten herbeigeführt, die es nie für nötig hielten, sich zu den eigenen Angriffsaktionen gegen die Macht politisch zu bekennen. Tatsächlich trat die russische Gruppe „Volkswille“, obwohl sie „Militante“ mit verschiedensten Ideen versammelte, als zentralisierte Avantgarde hervor. Wie sich eine Militante in ihren Memoiren erinnert, wurde im Innern dieser Organisation diskutiert, ob das zu befolgende Programm sein soll, «die Regierung zu zwingen, dem Volk zu erlauben seinen Willen frei und ohne Hindernisse auszudrücken und das politische und ökonomische Leben wieder aufzubauen… oder ob die Organisation zuerst versuchen sollte, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen, um dann von oben eine Verfassung zu erlassen, die zum Vorteil des Volkes wäre».

Unter solchen Voraussetzungen kann man ihr Bedürfnis sich zu bekennen und den Massen, die sie emporzuheben gedachten, und dem Feind, als dessen Gegenstück sie sich betrachteten die Gründe für ihre Aktion mitzuteilen gut verstehen. Schliesslich wollte sich diese Gruppe ans Volk wenden (wenn auch beinahe all ihre Mitglieder aus der wohlhabenderen Klasse kamen) und musste in dessen Namen mit der verfassungsgebenden Macht verhandeln, bis dahin, dass sie dem Thronfolger des Zaren einen Brief zuschickten, indem sie ihm Rat erteilten, welcher Politik er folgen sollte.

Aber wenn man weder irgendjemanden repräsentieren, noch sich als jemandes Gegenstück hinstellen will, wieso dann Communiqués verbeiten? Wenn man denkt, dass der Akt des Angriffs gegen die Macht in jedem Fall die soziale Revolution in Aussicht haben muss, und nicht deren Parodie in Form des bewaffneten Kampfes gegen den Staat sein kann, was kann dann das Ziel einer spezifischen bewaffneten Organisation sein?

Es scheint mir nicht, dass sich die Anarchisten in Vergangenheit durch den Gebrauch von Bekennerschreiben unterschieden haben. Diejenigen Anarchisten, die sich durch individuelle Taten aufopferten, wie Bresci <3> und Caserio <4> taten es aus offensichtlichen Gründen nicht. Jene Kameraden, die beabsichtigten eine kontinuierlichere Aktivität zu entwickeln, wie Ravachol <5> oder Henry <6>, taten es genausowenig, wie die Kameraden, die sich mit anderen zur bewaffneten Aktion zusammentaten: Weder Di Giovanni <7> tat es, noch Durruti <8> oder Ascaso <9>. Und die Gründe dafür mussten wohl ziemlich ersichtlich gewesen sein. Mit dem Verlangen nach einer Revolution, die von der Basis ausgeht und dieser weder aufgezwungen wird, noch von oben herab lanciert wird, haben es all diese Anarchisten als zweckmäßig erachtet, im Schatten zu handeln, indem sie versuchten, sich von allem fernzuhalten, was sie ins Rampenlicht bringen könnte. Sie zogen es vor, die Gründe für ihre Aktionen von der Basis auskommen zu lassen, sodass es die Bewegung selbst war, die sie ausdrückte, anstatt einen Vorteil aus dem ausgelösten Wirbel zu ziehen, um sie von oben herab zu verbreiten, als eine offizielle Nachricht derer, die revoltiert hatten, an jene, die es nicht taten. Wenn die Bedeutung einer Aktion durch den sozialen Kontext nicht ersichtlich war, lässt sie sich in Flugblättern, Zeitungen, Revues und innerhalb der theoretischen Debatte, die von der Bewegung als Gesmatheit entwickelt wurde finden, und nicht im Communiqué einer einzelnen Organisation. Ich mache ein Beispiel: Wenn die Bewegung fähig ist, ihre theoretische Kritik am Gefängnis auszudrücken und jemand zur praktischen Kritik übergeht, dann besteht keine Notwendigkeit ein Communiqué zu schreiben, worin die Gründe dafür erklärt werden. Die Gründe seiner Geste sind bereits klar und verständlich. Wenn jemand ein Bekennerschreiben veröffentlichen will, dann nur, weil er sich selbst zur Schau stellen und die eigene Identität durchsetzen will. Der Angriff auf das Polizeipräsidium von Genua zum Beispiel, war so aussagekräftig (was die Wahl des Ziels und des Momentes angeht), dass alle Worte überflüssig wurden. Warum wurde ein Communiqué in Umlauf gebracht, dass nichts als Banalitäten aussagte?

Es stimmt, dass der Fall der Angry Brigade <10> eine Art Ausnahme darstellt, die noch immer ein Thema für Anarchisten ist, die sich für ihre Aktionen bekennen. Nicht durch Zufall scheint eben diese Erfahrung für viele Kameraden, die heute die Macht angreifen, eine Art Vorbild darzustellen. Und dennoch scheint mir das Beispiel nicht wiederholbar zu sein, es sei denn, man wolle sich in ein Nachahmeverhalten stürzen. Einerseits ist es unmöglich, ausser Acht zu lassen, dass die Angry Brigade in einem historischen Kontext eingefügt war, in welchem sie heranreifte (Anfangs der 70er Jahre). Zu einer Zeit, als viele stalinistische Gruppen entsetzliche ideologische Schinken aussäten, um ihr eigenes politisches Projekt zu propagieren und sich anschickten die Dimension des bewaffneten Angriffs zu dominieren, scheint es mir nicht unsinnig, dass sich so mancher Anarchist absondern wollte, um das Risiko nicht einzugehen, ungewollt Wasser auf die Mühlen Anderer zu gießen. Von der Wahl des Namens und jener mancher Ziele, bis hin zum Stil ihrer Communiqués schien sich alles tendenziell vom politischen Zerfall zu unterscheiden, der sie umgab. Aber, die ganze stalinistische Ideologie einmal überholt, welche Bedeutung kommt der Entscheidung zu, sich als Anarchist zu kennzeichnen; welchen Sinn hat es, diese Selbstrepräsentation fortzuführen? In Ländern wie Spanien vielleicht, wo alle Aktionen, einschliesslich der anonymen, regelmässig der ETA <11> zugeschrieben werden, aber sicher nicht hier in Italien. Tatsächlich haben Angriffsaktionen seit Jahren keine Communiqués hervorgebracht, ausser hin und wieder mal etwas kurzes und einfaches, dass die Verwendung jeglicher identitären Kennzeichnung ablehnte. Es sollte überflüssig sein, die Gründe dafür darzulegen: eine Aktion kann nur allen gehören, wenn sie sich niemand selbst zuschreibt. Von dem Moment an, wo man sich mit einer Identität bekennt, entsteht eine Trennung zwischen jenen, die sie ausführten und allen anderen. Darüber hinaus sollte es auch nicht nötig sein, an die Gefahren zu erinnern, die jedem Bekennerschreiben beiwohnen. Es ist gefährlich es zu übergeben, es zu verschicken, und vor allem ist es gefährlich, es zu schreiben, denn je mehr man schreibt, desto mehr Hinweise gibt man der Polizei (eine alles andere als hypothetische Gefahr, angesichts dessen, dass es zumindest ein negativer Präzedenzfall <12> existiert, der anarchistische Kameraden getroffen hat). Ein anonymer Angriff erlaubt niemandem hervorzutreten und vereinfacht nicht die repressive Arbeit der Polizei.

Wenn die Gründe, die zur Anonymität raten, nun mehr als einmal ausformuliert wurden, wurden es jene, die davon abraten hingegen nicht. Seit einigen Jahren haben sich die Dinge verändert, ohne dass es zu einer Diskussion kam, die ermöglicht hätte, die Gründe einer solchen Veränderung zu verstehen (deshalb erscheinen sie verdunkelt und eher an emotionale Reaktionen gebunden, als an bestimmte Ziele). Jedenfalls ist es heute ziemlich schwierig eine Aktion zu finden, die nicht von einem schönen offiziellen Communiqué begleitet wird, mit seinen Slogans und Unterschriften im Anhang. Und weshalb? Stille… Findet man sich auf diese Weise nicht im Avantgardismus wieder? Das Risiko ist so offensichtlich, dass es unter eben diesen Autoren von Bekennerschreiben diejenigen gibt, die selbst proklamieren, gegen jeglichen Avantgardismus zu sein, in der Hoffnung, dass es ausreicht, dies zu sagen, damit es auch so ist. Aber «sich entschuldigen ist, sich anzuschuldigen». Es ist die verwendete Methode selbst, die avantgardistisch ist und manchmal sogar die deutlich verkündeten Inhalte (wie in dem quälenden Communiqué der ARA <13> nach dem Angriff auf dem Palazzo Marino). Es ist von geringer Bedeutung, ob die Slogans nun zum sozialen Krieg, anstatt zur Diktatur des Proletariats aufrufen. Egal, ob die Unterschriften immer wieder wechseln. Das zeigt nur, dass die anarchistischen „Avantgardisten“ im Vergleich zu den stalinistischen flexibler sind, doch nichts desto trotz verspüren sie das Bedürfnis, sich vom Rest der Bewegung zu unterscheiden.

Es reicht nicht den Ausgangspunkt der Angry Brigade anzunehmen, um das Problem zu lösen. Ich weiss sehr wohl, dass die Angry Brigade bekräftigte: «Wir sind nicht in der Position zu sagen, ob eine Person ein Mitglied der Brigade ist oder nicht. Alles was wir sagen ist: Die Brigade ist überall. Ohne irgendein Zentralkommitee und ohne Hierarchie zur Einteilung unsere Mitglieder können wir die Unbekannten nur durch deren Aktionen als Freunde erkennen». Ich weiss auch, dass sich ihre Teilnehmer nicht als Organisation oder als einzelne Gruppe betrachteten, sondern als «ein gegen den Staat und seine Institutionen gerichteter Ausdruck von Wut und Unzufriedenheit vieler Leuten im ganzen Land. In diesem Sinn ist die Angry Brigade stets gegenwärtig (der Mann und die Frau, die neben dir sitzen)». Aber all dies zeugt nur von den guten Absichten dieser Kameraden, von ihrer Sorge darüber, sich nicht als Avantgarde hinzustellen, aber es zeigt nicht, ob sie mit ihrem Vorhaben tatsächlich Erfolg hatten. Eine Signatur, die ein Symbol für die verbreitete Wut sein soll, hat keine Bedeutung. Damit sich jeder darin wiedererkennen kann, müssen die Aktionen und die Worte, die die Aktionen erklären, von jedem verstanden und geteilt werden. Man kann nicht eine allgemeine kollektive Identität anbieten und verlangen, dass jeder seine konkrete Individualität verleugnet. Dies kann man nur tun, wenn die verwirklichten Aktionen und die ausgesprochenen Worte auf einem solch minimalen Niveau bleiben, das es Abweichungen soweit wie möglich begrenzt: Sehr simple und exemplarische Aktionen begleitet von maximalistischen Slogans. All das – vorausgesetzt, dass es die Mühe wert wäre – kann nur über kurze Zeit funktionieren, infolge derer sich andere Faktoren einschalten, die Teil jedes Steigerungsprozesses sind und die Fortführung des Experimentes unmöglich machen: Es gibt jene, die zu mächtigeren Mitteln übergehen wollen, die ausgewähltere Ziele treffen wollen, die präzisiere Konzepte zum Ausdruck bringen wollen… Selbst die ALF, die doch aus einer Motivation heraus kämpft, die im Grunde ziemlich simpel und eindeutig ist (die Tierbefreiung), wies die ersten negativen Abweichungen auf, sobald sie eine gewisse Ausbreitung erlangte. Müde von der Verworrenheit des Projektes, vom Minimalismus der Ziele und der Deklarationen der Wortführer, bildeten sich andere Tierschützergruppen. Nicht der einzige, aber der schlimmste Aspekt ist, dass sich all diese Gruppen gezwungen sahen, sich selbst einen neuen Namen zu geben, um zu vermeiden, in den selben Topf geworfen zu werden. Denn das Mittel des Bekennerschreibens ist, mit aller Schädlichkeit, die dies mit sich bringt, ein streng politisches. Solange alle in der Anonymität verbleiben, kann man tun was man will, ohne sich mit anderen zu verwickeln oder auf deren Rücken zu reiten. Nicht aber, wenn jemand aus dem Wasser steigt; dann zwingt dieser auch die Anderen aufzutauchen, um nicht als schlichte Heereskolonnen wahrgenommen zu werden. Dieser Mechanismus der Identifikation/Assimilation kann nur durch Anonymität, Diversität der Mittel und Fantasie in der Wahl der Ziele vermieden werden, anderfalls (wie viele Vorsichtsmassnahmen man auch treffen mag) können die Medien niemals daran gehindert werden, diesen Mechanismus (noch viel stärker, als durch die Communiqués, die man eben diesen sendet) in Gang zu setzen.

Ich wiederhole, mit dem Gesagten denke ich nicht, dass man die guten Absichten dieser Kameraden bezweifeln kann. Dennoch sind sie meiner Meinung nach Opfer eines Irrtums: Zu denken, dass eine Methode anarchistisch wird, in den Händen desjenigen, der sie anwendet. Dem ist nicht so. Eine spezifische Organisation mit ihrem Kennzeichen und ihren Communiqués ist avantgardistisch – jenseits der einzelnen Personen, die Teil davon sind. Worin liegt der Sinn, den Bullen direkt ein Bekennerschreiben zukommen zu lassen? Worin liegt der Sinn, zu erklären, was nicht erklärt zu werden braucht? Abseits vom revolutionären Mythos hat das alles nur für einen Avantgardisten einen Sinn, der sich selbst im Bezug auf die Gesamtheit der Bewegung als etwas anderes und besseres sieht.

Welche Ziele?

Die avantgardistische Logik ist steif; wenn man sie sich einmal angeeignet hat, wendet man sie überall an. Es genügt an die Wahl der Ziele zu denken, an die deprimierende Entwicklung, die sie im Laufe der Jahre von anonym fallenden Hochspannungsmasten zu einer – mit beigelegtem Brief – ans Fernsehen gesendet Briefbombe gebracht hat. Im ersteren Fall wollen sie den Feind sabotieren und das Funktionieren seines Systems durch das Ausserkraftsetzen einer peripheren Struktur blockieren. Es handelt sich um eine praktische Angriffshandlung, die vielleicht etwas aufwendig zu realisieren ist, aber niemanden in Gefahr bringt. Im zweiten Fall will man bloss zum Gesprächsthema werden, Werbung für das eigene Unternehmen machen, und darum wenden sie sich direkt an die Türen des RAI [Italineischer Nationalfernsehsender]… Es ist eine rein symbolische Aktion, um vieles leichter zu realisieren, und wenn man einen unglücklichen Arbeiter der Post oder des Fernsehens in Gefahr bringt… wen kümmert das schon. Es scheint, dass nicht nur die Jesuiten denken, dass das Ziel die Mittel rechtfertigt, sondern auch gewisse Anarchisten. Und in Bezug auf Briefbomben…

Ich war ungerecht. Ich sagte, dass diejenigen, die sie verschickten nur von sich reden machen wollten. Ich vergass hinzuzufügen, dass sie, neben der Selbstbefriedigung, auch wollten, dass über etwas anderes gesprochen wird. Zum Beispiel über die Haftbedingungen einiger Anarchisten und Rebellen in Spanien. Auch die russischen revolutionären Sozialisten von 1878 teilten eine ähnliche Sorge. In einem ihrer berühmten Dokumente schrieben sie: «Wenn die Presse die Gefangenen nicht verteidigt, dann werden werden wir das tun».Heute sind es die Gruppen der 5C <14>. Anarchisten, nicht revolutionäre Sozialisten. Anarchisten wie May Piqueray, der 1921 eine Paketbombe an den amerikanischen Botschafter in Paris sandte, um gegen die Stille zu protestieren, die um die Inhaftierung von Sacco und Vanzetti vorherrschte. Die Aktion war von grossem Erfolg gekrönt, da die von der amerikanischen Regierung begangene Misshandlung endlich öffentlich bekannt wurde und einen Kampf lancierte, der Mühe hatte, ins Rollen zu kommen.

Aber nachdem man sich dieser Ähnlichkeit zwischen Gegenwart und Vergangenheit Bewusst wurde, muss man Scheuklappen aufhaben, um nicht auch die riesigen Unterschiede zu erkennen. Die russischen Sozialisten töteten den Chef der Geheimpolizei infolge des Todes von einem ihrer Kameraden im Knast: Ein Tod für einen Tod eben. Der französische Anarchist tötete den höchsten Vertreter der amerikanischen Regierung in Frankreich, um die Niederträchtigkeit der amerikanischen Justiz öffentlich zu machen. Die Anarchisten der 5C übergeben ihre Geschenke heute an niemand geringeres, als an die Angestellten von RAI, oder an die Sekretäre der spanischen Reisebüros. Der Unterschied müsste ins Auge springen. Gewiss, diejenigen, die materiell für das Gefängnisregime Verantwortlich sind, welches den Häftlingen aufgezwungen wird, sind weit entfernt und wahrscheinlich zu gut geschützt, um erreichbar zu sein, während die Interessen des spanischen Staates hingegen überall sind und deshalb angegriffen werden können. Aber werden diese Interessen etwa von Angestellten verkörpert, die in Reisebüros arbeiten? Und warum beharrt man darauf, einen medialen Effekt zu suchen, als ob man die Tatsache ignorieren könnte, dass die grossen Kommunikationsmittel die Worte der Rebellen nur dann verstärken, wenn sie deren Bedeutung verzerren können? Und wieso nicht in Betracht ziehen, dass solche Aktionen diese Verzerrungsoperationen nur allzu einfach machen? Durch das Versenden von Briefbomben nach links und rechts bringt man sie zweifellos dazu, über die inhaftierten Kameraden in Spanien zu sprechen, jeder wird über sie sprechen, aber auf welche Weise? Natürlich in der Weise, die von den Medien auferlegt wird, die sich beeilen werden, jene Idee zu bestärken, die in vielen Köpfen verwurzelt ist: dass diese Gefangenen, wenn sie solch skrupellose Verfechter an ihrer Seite haben, letzten Endes das harte Regime auch verdienen.

Das Problem ist, dass jene, die denken, dass sie weiter vorne stehen und radikaler sind als die Anderen, dies aus einem bestimmten Grund tun. In diesen Fällen liegt der Grund im Gebrauch von gewissen Instrumenten: diejenigen, die reden, schwatzen bloß, diejenigen, die bewaffnet angreifen, agieren. All diese perfekten bewaffneten Kämpfer haben sich in ihre Instrumente verliebt. Sie lieben sie so sehr, dass die Waffen aufhören, solche zu sein. Sie werden zum Selbstzweck, sie werden zum Daseinsgrund. Sie wählen nicht die für den Zweck am besten geeigneten Mittel, sie verwandeln das Mittel zum Zweck an sich. Wenn ich eine Fliege an der Mauer totschlagen will, dann verwende ich eine zusammengerollte Zeitung, wenn ich eine Maus töten will, dann verwende ich einen Stock, wenn ich einen Menschen töten will, dann verwende ich einen Revolver, wenn ich ein Gebäude zerstören will, dann verwende ich Dynamit. Je nach dem was ich tun will, wähle ich von all den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen jenes, das ich für das passendste erachte. Der bewaffnete Kämpfer nicht. Er überlegt nicht so. Er möchte ausschliesslich sein bevorzugtes Instrument verwenden, jenes, das ihm am meisten Befriedigung verschafft, jenes, das ihn sich radikaler fühlen läßt, jenes, das es ihm erlaubt, sich in seinem Medienruhm zu aalen, und er verwendet es unabhängig vom Ziel, dass er sich vornahm: er schiesst auf Fliegen, rattert mit dem Maschinengewehr auf die Maus, dynamitisiert den Menschen und falls er es könnte, würde er eine Atombombe verwenden, um das Gebäude in die Luft zu jagen. Für den bewaffneten Kämpfer besteht die Radikalität eines Kampfes nicht aus seiner Verbreitung und Tiefe, aus seiner Kapazität den sozialen Frieden in Frage zu stellen. Für den bewaffneten Kämpfer ist Radikalität schlicht eine Frage der Feuerkraft: eine Kaliber 22 Pistole ist nicht so radikal wie eine 38er, welche weniger radikal ist wie eine Kalaschnikov, die wiederum weniger radikal ist wie der Plastiksprengstoff. Und aus diesem Grund, nach Ruhm dürstend und durch seine eigene technizistische Vergötterung stumpfsinnig gemacht, verschickt er Briefbomben an einfache Angestellte, um das FIES Gefängnisregime zu bekämpfen. Er macht das, weil es die einzige Sache ist, die er zu tun weiss; die Technik begleitet die Intelligenz nicht, sondern ersetzt sie, und somit hält er nicht inne, um sich für einen Augenblick zu fragen, ob die Mittel für das Ziel angebracht sind, das er erreichen will. Was die Skrupel betrifft, so hat er aus dem einfachen Grund keine, da in seinem Kopf alles in Schwarz und Weiss aufgeteilt ist, ohne Farbschattierungen. Auf der einen Seite ist der Staat, auf der anderen sind die Anarchisten. Es gibt niemanden in der Mitte. Wenn man nicht Anarchist ist, gehört man zum Staat und ist somit ein Feind. Die Ausgebeuteten sind ebenso verantwortlich für die Bedingungen, welche sie hinnehmen, wie die Ausbeuter, die ihnen diese aufzwingen: Sie sind alle Feinde, darum scheiss auf sie.

Eigenartigerweise gewinnt diese typisch militaristische Logik unter einigen anarchistischen Kameraden an Boden, bei welchen es nicht an jenen mangelt, die sogar die palästinensischen Kamikazeaktionen unterstützen. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass solche Stufen der Niederträchtigkeit selbst den russischen Revolutionären am Ende des 19ten Jahrhunderts fern lagen: avantgardistische Autoritäre ja, aber mit einer strikten Ethik, dazu bereit, einen Ausbeuter zu töten, aber ohne ein Haar eines einzigen Ausgebeuteten zu krümmen. Und wenn dem bei den Autoritären eine solche Aufmerksamkeit zukam, dann stell dir erst die Anarchisten vor! Es mangelt nicht an Beispielen was dies betrifft: sogar Schicchi, der für seine harte Sprache bekannt ist, war fähig, dorthin zurückzukehren, wo er eine Bombe hinterliess, um sie zu entschärfen, als er realisierte, dass irgendein unbeteiligter Passant verwundet werden könnte.

Aber das Bild des Anarchisten aus der Vergangenheit, der perfekte Gentleman, ist zu gutmenschlich und wenig befriedigend für gewisse Anarchisten von Heute. Anarchisten, die ihrem Leben nur dann einen Sinn geben können, wenn sie fühlen, dass sie von öffentlicher Missbilligung getroffen werden. Je mehr etwas verurteilt wird, desto mehr fühlen sie sich davon angezogen. Je mehr die Zeitungen und Richter die Anarchisten als skrupellose Leute bezeichnen, desto mehr strengen sie sich an, diese Rolle zu erfüllen. Jeglicher eigenen Perspektive beraubt, lassen sie sich von ihren Feinden sagen, was sie sind und was sie zu tun haben.

Eine weitere Konsequenz dieser Ereignisse ist die völlige Verdunkelung der Bedeutung des Begriffes „aufständisch“, der heute zunehmends als Synonym für „gewalttätig“ verwendet wird, oder für die blosse Tatsache, sich dem Dialog mit den Institutionen zu entziehen. Aufständische sind jene Anarchisten, die Bomben legen, Aufständische sind jene Anarchisten, die Scheiben einschlagen, Aufständische sind jene Anarchisten, die sich mit der Polizei konfrontieren, Aufständische sind jene Anarchisten, die Demonstrationen von politischen Parteien bekämpfen, und so weiter. Nicht ein Wort über die Ideen. In gewisser Weise wiederholt sich genau das, was am Anfang des Jahrhunderts mit dem Adjektiv „individualistisch“ geschah. Zu einem gegebenen Moment gelangte man zur Überzeugung, dass all jene Individualisten seien, die Akte individueller Gewalt unterstützen. Der Begriff wurde mehr oder weniger überall und oft und gerne Unsinnig verwendet. Wer hielt in der Hektik der Ereignisse schon inne, um die Verwirrung, die sich verbreitete klarzustellen? Die Anwendung von individueller Gewalt ist nicht im geringsten eine typische Eigenheit des Individualismus. Es gab auch pazifistische individualistische Anarchisten (sowie Tucker <15>) oder gewaltlose (sowie Mackkay <16>). Und vielleicht war auch Galleani <17> ein Individualist? Und doch unterstützte er individuellen Aktionen… wie es auch Malatesta unter bestimmten Umständen tat. Und auch an Kommunisten, die individuelle Taten befürworten mangelt es nicht. Leider verfestigte sich die Verwirrung so sehr, dass es sogar diejenigen gab, die sich selbst Individualisten nannten, obwohl sie es nicht im Geringsten waren (wie es Schicchi beim Pisa-Prozess tat). Missverständnisse, Unverständnisse… Es geht bestimmt nicht darum, zu einer solchen Verwirrung beizutragen. Dass die Medien das tun, ist ziemlich offensichtlich und nachvollziehbar. Aber warum sollten wir es auch tun?

Der Aufstand ist ein soziales Ereignis. Er ist nicht eine Herausforderung zur einen Schlacht gegen den Staat, von denjenigen in die Wege geleitet, die glauben, dass die Massen nur Schafe sind, die darauf warten, geschoren zu werden. Der Gebrauch von Gewalt ist in einem aufständischen Projekt unvermeidbar und notwendig, während des aufständischen Momentes genauso wie auch davor (denn der soziale Aspekt des Aufstandes kann niemals zur Rechtfertigung einer Wartehaltung dienen). Daher ist es auch jetzt so. Doch diese Gewalt kann sich nicht vom Rest des Projektes loslösen, sie kann nicht dessen Platz einnehmen. Es ist die Gewalt, die dem Projekte als Instrument zur Verfügung steht und nicht das Projekt, das der Gewalt als Vorwand zur Vergfügung steht. Wer denkt, dass ein Aufstand nicht möglich sei, wer das Vertrauen in die Möglichkeit verloren hat (oder niemals hatte), dass die Ausgebeuteten rebellieren werden, der sollte sich über die Distanz bewusst werden, die ihn von jeglicher aufständischen Perspektive trennt. Wenn er seinen privaten Krieg gegen die Macht führen will, denn zu dem ist es geworden, dann soll er dies nur tun, aber ohne es als sozialen Krieg auszugeben. Wenn er mit seinen Aktionen in die Geschichte eingehen will, um der reinen Selbstbeweihräucherung wegen, dann soll er es sich unter den Scheinwerfern der Medien nur bequem machen, aber ohne vorzugeben, den Rest der Bewegung hinter sich zu haben.

Es versteht sich von selbst, dass jeder frei ist, das zu tun, was er will. Für diejenigen, die denken, oberhalb jeglicher Kritik zu stehen und somit nur gelobt, verstanden und nachgeahmt werden zu können, ohne dass sie es jemals für nötig hielten, die Gründe für ihre Methoden darzulegen, gilt das viel weniger.

Der Text erschien am 15. Februer 2003
auf Italienisch auf der Webseite Anarcotico
Originaltitel: Su alcune vecchie questioni d‘attualità fra gli anarchici, e non solo
Autor: anonym


Anmerkungen

1 – Am 12. September 2002 explodieren zwei selbstgebaute Sprengsätze bei einem Polizeikommissariat in Genua. Die Fensterscheiben des Kommissariats zerbersten. Die Aktion wird in einem Communiqué mit Brigade 20. Juli [Der Tag an dem Carlo Guiliani in Genua ermordet wurde] unterzeichnet. Am 13. Dezember 2002 empfängt die Iberia-Geschäftsstelle [Spanische Flugzeuggesellschaft] in Rom eine (als Buch getarnte) Packetbombe. An den folgenden Tagen erhalten auch die Iberai-Geschäftsstellen in Milano und Fiumicino Paketbomben. Auch das RAI [Italienischer Nationalfernsehsender] empfängt ein solches Packet. Die 5C [Cellule contre il capitale, il carcere, i carcerieri e le loro celle] bekennt sich zu den Packetbomben. Am 16. Juni 2003 bekennt sich die 5C zu einem weiteren Bombenanschlag gegen das Spanische Cervantes-Institut in Rom.

2 – Naradnja Vola [Volkswille] – Diese russische Revolutionäre Organisation wurde 1879 gegründet und versammelte Militante mit unterschiedlichen Ideen, die sich den Kampf gegen die Autokratie zum zentralen Ziel machten. Die Organisation war zentralisiert und operierte im Schatten. In mehr als 50 Städten gab es Abteilungen der Naradnja Volja. Obwohl sie effektiv nie mehr als 500 Leute waren, haben sich viele tausend Leute an der Organisation beteiligt. Die Organisation teilte verschiedene Zeitungen aus, während sich die Entscheidung für Anschläge mit der Zeit zu verbreiten begann. Sie planten sieben Anschläge gegen den Zar Alexander II (der siebente glückte). Nach diesem Anschlag macht die Regierung  aus Angst vor einem Aufstand einige demokratische Zugeständnisse. Da dieser jedoch ausblieb, schlug die Repression zu und die Organisation fiel auseinander.

3 – Gaetano Bresci (1869 – 1901) – Schon mit jungen Jahren arbeitet Bresci in der Italienischen Textilindustrie.Von diesem Moment an suchte er Kontakte innerhalb des anarchistischem Milieues von Prato. Er landete zwei mal im Gefängnis. Das zweite mal wird ihm Amnestie gewährt und er beschliesst 1896 in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Er lässt sich in New York nieder. 1898 bricht in Milano aufgrund von Preiserhöhungen eine Revolte aus. Der General Bava Beccaris lässt die Soldaten mit Kanonen auf die Massen schiessen und entfesselt nach der Niederschlagung der Revolte eine blutige Repression. Anschliessend an diese Ereignissen wird der General Beccaris vom König Umberto I mit einem Orden ausgezeichnet. In diesem Moment beschliesst Bresci zur Rache überzugehen. Er kehrt nach Italien zurück und tötet den König Umberto I am 29. Juli 1900 mit drei Revolverschüssen. Er wird festgenommen und am 29. August in Milano zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Santo Stefano verurteilt. Am 22. Mai 1901 wird er in seiner Zelle aufgehängt vorgefunden, mit grosser Wahrscheinlichkeit wurde er ermordet.

4 – Sante Geronimo Caserio (1873 – 1894) – Caserio wird in eine Bauernfamilie geboren. Als er zehn jahre alt war, stirbt sein Vater an der zu einseitigen Maisernährung. Er wollte seiner Mutter und seinen Brüdern und Schwestern nicht länger zur Last fallen und zog nach Milano, wo er Bäckerslehrling wird. Sehr schnell geriet er in Kontakt mit den anarchistischen Milieues. Er stellte selbst einen kleinen anarchistischen Kreis auf die Beine, „A Pè“ [frei übersetzt „auf nackten Füssen“, auf die Armut verweisend]. Ab einem gewissen Punkt gerät er in das Visier der Polizei und ist gezwungen zu flüchten, zuerst in die Schweiz und dann nach Frankreich. Während einer öffentlichen Zeremonie in Lyon am 24. Juni 1894 tötete er den Französischen Präsidenten Carnot. Er bohrte seinen Dolch mit rot-schwarzem Griff in das Herz des Präsidenten. Er versuchte nicht zu flüchten, sondern begann um den Zeremoniewagen zu laufen und «lang lebe die Anarchie» zu rufen. Am 2. und 3. August 1894 wird er verurteilt, am 16. August wird er auf der Guillotine umgebracht. Kurz vor seiner Exekution rief er: «Habt Mut Freunde! Es lebe die Anarchie!». Während seines Prozesses zeigte er keine Reue, bat nicht um Gnade und weigerte sich, die Namen seiner Komplizen preiszugeben.

5 – François Claudius Koëningstein alias Ravachol (1859 – 1892) – Ravachol erlebte eine schwere Kindheit. Schon mit acht Jahren irrt er durch die dunklen Gässchen der Gesellschaft. Er arbeitet, um Mutter, Schwester, Bruder und Neffen zu unterhalten, während er Sonntags in Saint-Etienne Akkordeon spielt. Sehr bald eignet sich Ravachol anarchistische Ideen an. Am 1. Mai 1891 findet in Fourmies eine Demonstration für den Achtstundentag statt. Es brechen Ausschreitungen aus und die Polizei schiesst auf die Demonstranten. Neun Demonstranten (Männer, Frauen und Kinder) werden getötet. Am selben Tag findet in Clichy eine Demonstration statt, woran sich auch die Anarchisten beteiligen. Es kommt zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nach einer kurzen Schiesserei, wobei einige Beamte getroffen wurden, werden drei Anarchisten ins Kommisariat von Clichy abgeführt. Dort wurden sie verhört und geschlagen. Es folgt ein Prozess: Decamps wird zu 5 Jahren und Dardare zu 3 Jahren verurteilt, Léveillé wird freigesprochen. Bulot, der öffentliche Ankläger forderte die Todesstrafe. Ravachol (flüchtig mit einer Anklage für Verleumdung) und einige andere Kameraden entscheiden sich ein paar Anschläge zu organisieren. Am 7. März 1892 misslingt ein Anschlag auf das Komissariat von Clichy. Am 11. März 1892 explodiert das Haus des Rechtsanwaltes Benoit (Vorsitzender des Assisenhofes, der sich um die Sache von Clichy kümmert). Am 27. März ist das Haus des öffentliche Anklägers Bulot an der Reihe. Am 30. März wird Ravachol nach einem Anschlag auf das Bourgeoisierestaurant Véry in Paris verhaftet. Erst wird er zu lebenslanger Haft verurteilt, doch in einem zweiten Prozess bekommt er die Todesstrafe. Am 11. Juli 1892 wird er mit der Guillotine getötet.

6 – Émile Henry (1872 – 1894) – Nach der Kommune von Paris 1871 muss die Familie von Henry nach Spanien flüchten, um der Todesstrafe zu entkommen. Dort werden Émile und sein Brude geborden. Nach dem Waffenstillstand von 1882 kehrten sie nach Frankreich zurück. Henry schloss mit Glanz sein Studium als Buchhalter ab. Erst vom Sozialismus angezogen, kehrt er sich um 1891 von dieser Strömung ab. « Ich hielt zu viel von der Freiheit, hatte zu viel Respekt für individuelle Initiativen, zu viel Abneigung für Konformismus, um mir ein Nümmerchen für die geordnete Armee des vierten Staates zu ziehen. » Henry kam in Kontakt mit den anarchistischen und individualistischen Milieues um die Jahrhundertwende. Am 8. November 1892 platzierte er eine Bombe beim Büro des Minenunternehmens Carmaux. Der Hausmeister des Gebäudes findet sie und bringt sie ins Polizeikommisariat in der Rue des Bons Enfants. Dort explodiert die Bombe. Fünf Polizisten sterben und ein sechster erleidet an einem Herzanfall. Am 12. Februar 1894 betritt er um 9 Uhr Morgens das bourgeoise Café Terminus in Paris. Er wirft einen metallenen Kessel voller Sprengstoff in die Luft und die Bombe explodiert. Zwanzig Menschen werden verwundet und einer stirbt anschliessend aufgrund seiner Verletzungen. Das Café selbst ist eine Ruine. Am 21. Mai 1894 wird Henry (zu dieser Zeit 21 Jahre alt) auf der Guillotine umgebracht.

7 – Severino Di Giovanni (1901 – 1931) – Di Giovanni wird in Italien geboren. Seine Rebellion begann mit sehr jungen Jahren. 1921 schloss er sich der anarchistischen Bewegung an. Als Mussolini 1922 an die Macht kam, entschied er sich nach Argentinien zu ziehen. Dort brachte er ab 1925 die italienischsprachige Zeitschrift Culmine heraus, womit er nicht nur agitierte, sondern auch Verbindungen zwischen verschiedenen anarchistischen Gruppen in der Region und der ganzen Welt schloss. Di Giovanni propagierte die Notwendigkeit vom Gebrauch revolutionärer Gewalt. Er verübt verschiedene Bombenanschläge und plante Überfälle, um das Herausbringen von Büchern und von Culmine zu finanzieren. Er beteiligte sich auch an der Solidaritätsbewegung gegen die Exekution von Sacco und Vanzetti. Bei einige Aktionen fielen Tote, worauf ihn ein Teil der anarchistischen Bewegung abschrieb. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei wird Di Giovanni verhaftet. 24 Stunden später, am 1. Februar 1931 wird er hingerichtet.
Siehe Severino Di Giovanni, Elephant Editions, London

8 – Buenaventura Durruti (1896 – 1936) – Durruti wird in Spanien in eine Arbeiterfamilie geboren. Ab 1913 arbeitet er an der Drehbank und schliesst sich der Metallarbeitergewerkschaft an. Ein Jahr später wird er als Eisenbahnarbeiter eingestellt. 1917 ruft die UGT (allgemeine Arbeitergewerkschaft) zu einem Generalstreik auf. Die spanische Regierung setzt die Armee ein, um den Streik zu brechen. 500 Arbeiter werden getötet oder verwundet, 2000 Streikende werden ins Gefängnis gesperrt. Durruti nahm an dem Streik als junger Saboteur und Brandstifter aktiv teil. Die Gewerkschaft brach jegliche Verbindung mit ihm und anderen Kameraden ab, worauf sie herausgeworfen werden. Er wird gesucht und flüchtet nach Frankreich bis er 1920 nach Barcelona zurückkehrt. Zusammen mit García Oliver, Francisco Ascaso und anderen Anarchisten gründen sie die Gruppe Los Solidarios, die unteranderem Vergeltungsmassnahmen gegen Bosse und Angriffe auf Banken organisierten. Erfolgslos versuchen Leute dieser Gruppe den spanischen König Alphonso XIII zu töten. 1923 wird der Kardinal von Saragossa Juan Soldevilla y Romero getötet, als Antwort auf den Mord an dem Kameraden Salvador Seguí.  Los Solidarios waren hierbei beteiligt. Durruti und Oliver tauchen in Argentinien unter, wo er zusammen mit anderen Kameraden unteranderem verschiedene Banken überfällt um die anarchistische Bewegung zu finanzieren. Durruti kehrt nach Barcelona zurück und schliesst sich der CNT (anarcho-syndikalistische Gewerkschaft) und der FAI (Iberische anarchistische Föderation) an. Während der spanischen Revolution spielte er eine wichtige Rolle, was die Koordination des Kampfes gegen General Franco betrifft. Im Novamber 1936 lässt sich Durruti dafür überzeugen, Madrid zu befreien. Durruti stirbt im Verlaufe dieses Gefechts an einer Kugel. Es ist noch immer nicht klar wie er getötet wurde, vielleicht von Stalinisten, durch einen technischen Defekt, durch eine verirrte Kugel…
Für Durrutis Beteiligung an der spanischen Revolution siehe Miguel Amorós, Durruti dans le labyrinthe, Encyclopédie des Nuisances, Paris, 2006.

9- Franciso Ascaso Budría (1901 – 1936) – Als Bäcker und Kelner schloss sich Ascaso der spanischen FAI (Iberische anarchistische Föderation) und einer ihrer bewaffneten Gruppen, Los Justicieros, an. 1922 ging er nach Barcelona und zusammen mit unteranderem Buenaventura Durruti und García Oliver formte er die Gruppe Los Solidarios (siehe Anmerkung 8). 1923 flüchtete er zusammen mit Durruti nach Südamerika, wo sie zusammen in der anarchistischen Bewegung aktiv waren und unter anderem Banküberfälle durchführten. Als er nach Frankreich zurückkehrt, wird er (zusammen mit den anderen) angeschuldigt, einen Mordversuch am  König Alphonso XIII geplant zu haben. Mangels Beweisen wird er freigesprochen und aus dem Land verwiesen. Ascaso bleibt weiterhin klandestin in Frankreich. 1931 kehrt er nach Spanien zurück und organisiert die Gruppe Nosotros (anarchistische Gruppe am Rande der FAI). Die ersten fünf Jahre der Zweiten Spanischen Republik werden von anarchistischen Aufständen gezeichnet, woran er sich aktiv beteiligt. 1932 wird er verhaftet und erst nach Bata, dann auf die kanarischen Inseln deportiert. Kurz darauf taucht er in Sevilla wieder auf, wo er erneut verhaftet wird. Während der ersten Tagen des Kampfes in Barcelona (bei der Atarazanakaserne) nach dem Misslungenen Coup von Franco wird er niedergeschossen.

10 – The Angry Brigade – Zwischen 1970 und 1972 wird eine ganze Reihe von bewaffneten Angriffen in Grossbritanien mit diesem Namen Unterzeichnet. Die Angriffe richteten sich vorallem gegen Banken, Botschaften und die Häuser von konservativen Parlamentsleuten. Nur einmal gerieten Personen durch einen Angriff der Angry Brigade ans Licht. Am 6. Dezember 1972 werden vier Kameraden zu 10 Jahren Haft für ihre Beteiligung an der Angry Brigade verurteilt.

11 – ETA Euskadi Ta Askatasuna [Baskenland und Freiheit] – Eine 1959 gegründete bewaffnete Gruppierung. Mit revolutionär marxistischen Ideen vermischt mit Baskischem Nationalismus gingen sie den Kampf gegen das Franco-Regime an. 1974 teilte sich die ETA entzwei: die militärische ETA und die politisch-militärische ETA. Die Spaltung hat underanderem, aber bestimmt nicht ausschliesslich, mit durch Anschläge getroffenen Zielen und Methoden, die angewendet wurden, um Geld zu beschaffen zu tun. 1982 löst sich die politisch-militärische ETA auf, während sich die militärische ETA immer mehr auf ausschliesslich nationalistisches Terrain begiebt.

12 – Am 25 April 1997 explodiert beim Palazzo Marino in Milano eine Bombe. Der Haupteingang wurde beschädigt und einige Fenster entglast. Die Presse und das Gericht sprechen von Versuchtem Todschlag. Die Azione Revoluzionaria Anarchica [revolutionäre anarchistische Aktion] bekennt sich zur Verantwortung. In den folgenden Tagen zirkuliert ein unscharfes Foto mit einem Bild von einer Überwachungskamera, die die Umgebung um das Lokal der kommunistischen Radiostation Radio Populare filmt. Auf dem Foto ist eine „Postfrau“ zu sehen, die ein Brief deponiert, worin sich zum Anschlag bekannt wird. Es wird eine Belohnung von 10 Millionen Liren für denjenigen ausgeschrieben, der die Frau erkennen kann. Am 29. Juni 1997 wird die Anarchistin Patrizia Cadeddu verhaftet und angeschuldigt diese „Postfrau“ zu sein. Ihr Prozess folgte ein Jahr später.

13 – ARA, siehe Anmerkung 12

14 – 5C – Unter dem Namen Cinque C, „Contro il Capitale, il Carcere, i Carcerieri e le loro Celle“ [Gegen das Kapital, das Gefängnis, die Wärter und ihre Zellen] werden im Dezember 2002 und Juni 2003 in Italien verschiedene Aktionen unteranderem bei Spanischen Zielen gegen das FIES-Isolationsregime durchgeführt (Briefbomben und Sprengstoffanschläge).

15 – Benjamin Tucker (1854 – 1939) – Tucker war durch seine Beiträge als Herausgeber und Schreiber einer der bekanntesten Amerikanischen Träger des individualistischen Anarchismus. Er brachte unter anderem die anarchistische Zeitschrift „Liberty“ heraus, worin verschiedene individualistische Denker zu Wort kamen, des weiteren übersetzte er die englischsprachige Ausgabe von „Was ist Eigentum“ von Proudhon und „Der Einzige und sein Eigentum“ von Max Stirner. Schliesslich kommt es zu einem Bruch zwischen dem von Stirner inspirierten Individualismus und der alten Garde von Jusnaturalisten unter Einfluss von Lysander Spooner. Beide Tendenzen waren sich darüber einig, Autorität, Gesetzgebung und die Vorstellung eines „Gesellschaftsvertrages“ zu verwerfen. Sie unterschieden sich in diesem Sinne, dass die Jusnaturalisten ein Leben ohne zwang als ein natürliches individuelles Recht betrachten, während beim individualistischen Anarchismus von Stirner die Entscheidung für den Individualismus eher pragmatisch ist, als die beste Art und Weise gegenüber sich selbst und der Gesellschaft zu stehen.

16 – John Henry Mackay (1864 – 1933) – als Anhänger von Stirner schrieb dieser individualistische Anarchist den Roman „Die Anarchisten“, welchem Ende des 19. Jahrhunderts ein grosser Einfluss zukam.

17 – Luigi Galleani (1861 – 1931) – Während seines Rechtsstudiums in Turin (das er nicht abschloss) kam Galleani in Kontakt mit anarchistischen Ideen. Er widmete sich der anarchistischen Propaganda und muss nach Frankreich flüchten. Auch dort wird er ausgewiesen. Er landete in der Schweiz wo er erneut für seine Angitation ausgewiesen wird. Zurück in Italien wird er für Verschwörung zu 5 Jahren Haft verurteilt. 1900 brach er aus dem Gefängnis Pantelleria aus und flüchtete nach Egypten, Londen und schliesslich in die Vereinigten Staaten. Etwas später wird er schon wieder für  Aufstand und Anstiftung zur Gewalt nach Kanada ausgewiesen (wo er erneut deportiert wird). Zurück in den Vereinigten Staaten wurde er bekannt als ein Verteidiger der „Propaganda der Tat“. Er gab die italienischsprachige Zeitschrift Cronaca Sovversiva (Subversive Chronik) heraus. 1918, nach 15 Jahren publikation, wird die Zeitschrift durch den Sedition Act verboten. Die Cronaca Sovversiva umfasst neben Darlegungen von anarchistischen Ideen auch oft eine Liste mit Adressen und detaillierten Beziehungen der Kapitalisten, Geschäftsleute, Streikbrecher,… Viele Anarchisten umgaben Galleani, darunter Nicola Sacco und Cartolomeo Vanzetti, die 1927 hingerichtet werden. Die Gruppe machte viel propaganda durch die Cronaca und besonders bekannt wurden sie durch die Herausgabe von La Salute è in voi! [Gesundheit sitzt in dir], eine Anleitung zum Herstellen von Bomben. Ab 1914 folgen die Anschläge in den Vereinigten Staaten in einem rasenden Tempo aufeinander. Duzende Bombenanschläge gegen die Polizei, Richter, Gerichte, Geschäftsleute, Gefängnisse,… 1917 zieht die Gruppe nach Mexiko um sich an der langerwarteten Revolution zu beteiligen. Desillusioniert kehren sie Ende 1917 in die USA zurück, um ihre Agitation fortzusetzen. Es folgen erneut verschiedene Bombenanschläge. Aufgrund des Mangels an konkreten Beweisen greift die amarikanische Regierung zum Anarchist Act, der die Deportation von Anarchisten und Subversiven ermöglicht. Ende April 1919 werden ungefähr 30 Briefbomben an verschiedene Politiker, Richter und Bankiers verschickt. Die Meisten Packete wurden im voraus entdeckt. Ein Dienstmädchen des Senator Hardwick (ein Unterstützer des Anarchist Act) verlor beide Hände als sie das Packet öffnete. Die Bombenanschläge gehen unvermindert weiter, die Antwort waren jene hunderte von Deportationen, die später als Palmer Raids bekannt wurden. 1919 wird auch Galleani nach Italien abgeschoben, wo er auf eine Insel vor der Küste verbannt wird. Als Mussolini an die Macht kam wird Galleani unter permanente Überwachung gestellt. Galleani stirbt 1931 mit 70 Jahren an einem Herzanfall.

Neuigkeiten zu Alfredo Cospito, zwei Kurzartikel

Neuigkeiten zu Alfredo Cospito, zwei Kurzartikel (per Mail erhalten)

Heute, am 19.12.2022 kam die Antwort auf die von Alfredo Cospito beim Aufsichtsgericht eingerichtete Beschwerde.

Die Anhörung fand am 1. Dezember in Rom statt. Das Ergebnis der Antwort ist negativ (ausgefallen, A.d.Ü.), d.h. die Möglichkeit einer Herabstufung von Alfredo aus der 41bis-Regelung wird abgelehnt. Alfredo wird mindestens für die nächsten vier Jahre im 41bis verbleiben; in dieser Zeit kann die Fortführung oder Nichtanwendung der 41bis-Regelung auf Alfredo erneut geprüft werden. Die Gründe für die Ablehnung sind noch nicht bekannt und werden mit der Bekanntgabe des Urteils bekannt gegeben.

Heute befindet sich Alfredo im 60sten Tag seines Hungerstreikes. Im Moment wissen wir nicht, welche Absichten er bezüglich der Fortsetzung des Streiks hat, aber wir wissen, dass wir ihn weiterhin in seinem Kampf unterstützen werden, egal welche Entscheidung er trifft, und dass unabhängig von Alfredo´s Situation, der Kampf gegen das Gefängnis und die kapitalistische Gesellschaft, die es ernährt, weitergeht. Trotz der ungünstigen Nachrichten dürfen wir uns nicht entmutigen lassen, wir haben nie Hoffnung auf Gerechtigkeit gehabt, jetzt ist es mehr denn je notwendig, für die Freilassung von Alfredo und allen Geiseln des Staates zu kämpfen. An der Seite von Alfredo, für den anarchistischen und zerstörerischen Konflikt.

Tod dem Staat und es lebe die Anarchie!


Neuigkeiten von Alfredo Cospito

Alfredo ist in guter Verfassung, sehr klarsichtig und hat mit einer Ablehnung durch das Aufsichtsgericht in Rom gerechnet. Er verzweifelt nicht daran, dass er in seinem Kampf noch Erfolg haben wird. Auf jeden Fall lässt er verlauten, dass er beabsichtigt, bis zum Tod zu kämpfen. Da die Aussicht auf lebenslange Haft mit dem Urteil des Turiner Berufungsgerichts vom 5. Dezember vorerst abgewendet – oder zumindest aufgeschoben – ist, bekräftigt Alfredo, dass er seinen Hungerstreik erst beenden wird, wenn er aus 41bis deklassiert wird.

Er ist sich der Mobilisierung durch Nachrichtenberichte bewusst, wenn Aktionen und Initiativen dieses Ausmaß an Berichterstattung in den Medien des Regimes erreichen. Die Zeitungen hingegen erreichen ihn mit herausgeschnittenen Seiten, die in den letzten Wochen immer häufiger geworden sind. Derzeit scheinen einige Briefe, Telegramme und Postkarten durchzukommen, anders als in den Monaten vor seinem Kampf, als alles, was an ihn geschrieben wurde, beschlagnahmt wurde. Insbesondere bei Telegrammen, die anscheinend am häufigsten durch die Maschen der Zensur fallen, ist es wichtig, daran zu denken, dass diese individuell sein und den Namen und die Adresse des Absenders enthalten müssen.

Hier noch einmal die Adresse:

Alfredo Cospito
C. C. “G. Bacchiddu”
strada provinciale 56 n. 4
Località Bancali
07100 Sassari

John Zerzan, Die Katastrophe des Postmodernismus

Original aus Anarchist Library, die Übersetzung ist von uns.

In einem kurzen Moment der Erleuchtung hatten wir quasi die perfekte Einleitung, doch aufgrund alltäglicher Umstände ging der Faden des Gedankens für die Einleitung dieses Textes verloren. Wir fragten uns selbst und alle die wir kennen, wie und unter welchen Prämissen die Postmoderne definiert werden kann. So viele Ausgangspunkte und doch lassen sie alle was aus. Die Postmoderne erfasst künstlerische, architektonische, ästhetische, philosophische und weitere Fragen auf, die miteinander verknüpft sind, doch es nicht sein müssen. Nicht ohne Grund wird behauptet dass das erste Postmoderne literarische Werk Lewis Carroll´s „Alice im Wunderland“ sei. Oder das erste welches sehr starke Elemente der Postmoderne in sich tragen würde. Der ständige Wandel und Nicht-Sinn der Sprache und des Bildes, der Bruch mit allen Gesetzen der Natur, usw., nicht mehr die Geschehnisse sind von Bedeutung, sondern die Schilderung der Bilder, der Symbole, das Bild erzählt nur noch. Daher, ähnlich wie im Falle des Faschismus, handelt es sich hier um einen Begriff der von sich aus viele Merkmale vorweißt, die sich auch untereinander widersprechen, jedes Mal wenn man es zu festhalten denkt, entgleitet es aus den Händen wie nasse Seife. Dies ist nicht nur ein typischer Merkmal der Postmoderne, sondern sie besteht auf ihr undefinierbares Sein, im ontologischen Sinne sozusagen.

Aber welcher ist ihr Ursprung, welches ist der Grund für diese philosophische Schule die an sich nur Müll ist? Die so viele Diskurse und Debatten vereinnahmt und dominiert, wobei in den meisten Fällen ist dies vielen nicht mal bewusst, dass es so ist. Die Postmoderne ist eine Ideologie der Niederlage. Viele ihrer Apologeten waren ehemalige Marxisten oder Kommunisten, die eines Tages aufgewacht sind, so gegen Ende er 1970er und feststellten dass was sie jahrelang verteidigt hatten, wir reden hier über die UdSSR, auf Terror, Gulags, Massenerschießungen, etc, also eigentlich nichts was mit der Grundidee des Kommunismus was gemein hat, aufgebaut wurde. Nicht wenige von ihnen, allesamt aus Frankreich, kamen aus sogenannten Gruppen der Ultra-Gauche, wie Socialisme o Barbarie, wie Lyotard und Castoriadis, wobei letzter einen anderen ZigZag-Kurs einschlug. Die Überwindung des Kapitalismus würde also eine noch viel grausamere Gesellschaft hervorbringen, jene die sich aber auf die philosophischen Schulen der Vernunft, der Aufklärung, die sogenannten Meta-Erzählungen usw. stützte, die die Welt des Metaphysischen, von Gott und durch Gott, hinter sich lassen würde, die Industrialisierung würde dies sogar noch richtig schnell beschleunigen.

Da der Kapitalismus nicht mehr zu zerstören galt, wendete man sich anderen Fragen die der Herrschaft des Kapitals nicht nur in die Hände spielten, sondern dieser eine neue Legitimation gab. Der Mensch hatte nun endlich, vorausgesetzt man lebt in den entwickeltesten kapitalistischen Staaten auf dieser Welt, alle Möglichkeiten, dank der Technologien, sich komplett neu zu definieren, denn da die Probleme des Menschen, oder Subjektes, nicht mehr die objektive Realität ist, also die Schilderung, sondern nur die Bildes dieser, oder das Subjekt, musste dieser sich wie Haufen von Legosteinen zerlegen – dekonstruieren – und das werden was er wollte, wenn man auch meistens vergisst, dass der Kapitalismus die entfremdeten Voraussetzung dieser neuen Zusammensetzung definiert.

Wenn wir daher an die Ideologie, die in sich durch mehrere Ideologien manifestiert, denn sie vereinnahmt ja viele, der Postmoderne denken, stellen wir uns ein Werkzeug vor, welches keins ist, welches nicht dazu dient, wozu es gedacht worden ist, wie ein Dreikantschlüssel der von sich selbst behauptet, er sei keiner, er liest sich selbst anders, aber der dazu gut ist um Pflanzen mit verdampften Wasser zu begießen, um ihr Dasein als eine Farbe im umgedrehten Regenbogen der Sinne erleuchten wird, der aber in Wirklichkeit für Spielen gedacht war. Alles wird nur noch auf die verinnerlichten Vorstellungen reduziert, da es keine objektiven Wahrheiten mehr gibt, kann jeder für sich seine eigene erschaffen, es gibt kein richtig oder falsch (Kategorien die wir im moralischen Sinne wie sie meistens verwendet werden ablehnen) mehr, sondern nur noch eine unendliche Anzahl an Schilderungen/Erzählungen die alle denselben Wert haben. Also eine Welt der falschen Konfrontation, der falschen Kritiker und Kritikerinnen und des ewigen sozialen Friedens des Kapitals, welches auf Bergen toter Menschen und der Vernichtung des Lebens auf diesem Planeten aufgebaut ist. Wir verwenden hier absichtlich den Begriff des Falschen, weil in diesem Fall wollen wir den Schleier einer Konfrontation, die keine ist, enthüllen. Wenn wir sagen, dass wir gegen Staat, Kapital und Patriarchat sind, machen wir dies nicht weil wir der Meinung sind, sie wären falsch, im Sinne es handelt sich hier um was böses, was in diesem Sinne eine moralische Haltung wäre, sondern wir sind gegen alle drei aufgrund ihrer historischen Entwicklung und der Imperative die sie inne halten müssen.

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern.“ Marx, Thesen über Feuerbach

Dies sagte Marx sehr treffend in seinen „Thesen über Feuerbach“, die Postmoderne tut gar nichts davon, ihre Interpretation der Welt ist genauso falsch wie ihr angeblicher Versuch sie zu ändern. Sie hat die Aufgabe das Undefinierbare, denn für sie gibt es keine allgemeine Realität mehr, in tausend Puzzleteile auseinanderzunehmen um daraus nichts zu machen. Alles ist nicht mehr, was es scheint und was nicht mehr ist, scheint was zu sein. Wir stehen vor einer Achterbahn die gleichzeitig eine Mischung von geistiger Akrobatik und Jonglieren ist, die aber nicht die Absicht hat irgendwas sein zu wollen bzw. was zu ändern. Die Postmoderne will die Welt nicht verändern und ihre Interpretation, also die der unendlichen vielen Realitäten, ist nur ein Labyrinth aus dem kein Entrinnen ist. Wörter meinen nicht, was sie bedeuten, nichts ist mehr, weil mehr ist nichts, die Waffen der Kritik sind nutzlos und waren es noch nie so sehr. Im Allgemeinen kann mit aller Sicherheit gesagt werden, dass es sich hier um eine Ideologie der Konterrevolution handelt, da sie ihren Ursprung in der Niederlage hat, fast all ihre Apologeten haben der Idee einer klassenlosen Gesellschaft und einer sozialen Revolution den Rücken zu gewandt, die Postmoderne hat für sich erkannt, dass es kein Entrinnen aus dem jetzt gibt, dass jeder Versuch die Welt des Kapitals zu zerstören nur eine noch schlimmere Welt hervorbringen wird. Wo klar ist, dass die Welt des Kapitals nur Tod und Zerstörung hervorbringt. Und doch empfinden viele die Postmoderne als ein Instrument der Befreiung, zumindest der individuellen im Sinne der Bourgeoisie. Als das einzige Instrument/Werkzeug um diese zeitgenössische Epoche zu verstehen. Desto komplexer, undurchsichtiger, atomisierter, als desto mehr sich aus dem Kapitalismus heraus die sozialen Imperative entwickeln, die dieser verschärft, desto freier wird der Mensch sein, so die Postmoderne, erst wenn wir ein Teil der flüssigen Gesellschaft (Zygmunt Baumann) sind, desto freier werden wir sein. Erst der Blick vor dem Abgrund lässt einen weiten Blick ins Nichts zu. Im Sinne der Postmoderne kann die Freiheit nur noch als die Perversion der Freiheit im Sinne der Bourgeoisie im Kapitalismus sein, wir sind nur noch frei, um ausgebeutet zu werden. Aber all dies spielt keine Rolle mehr, weil wir dank des Postmodernismus sein können, wer wir wollen. Mit diesem Text fangen wir mit einer Reihe an Texten an, die sich in Form der Kritik mit dem Postmodernismus auseinandersetzen und logischerweise angreifen. Wir leben in einer Gesellschaft, die in Klassen aufgeteilt ist, sowie die herrschende Klasse alles tun wird um dies zu verewigen, lässt sich leicht erkennen, dass das Verhältnis zwischen diesen nur unversöhnlich ist, die Zerstörung des Kapitals wird von praktischer Natur sein.

Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ Karl Marx, Thesen über Feuerbach

Soligruppe für Gefangene

PS: danke an alle die nur mit so guten Ratschlägen und Tipps für diese Einleitung geholfen haben.


John Zerzan, Die Katastrophe des Postmodernismus

Madonna, „Are We Having Fun Yet?“, Boulevardzeitungen, Milli Vanilli, virtuelle Realität, „shop ‚till you drop“, PeeWee’s Big Adventure, New Age/Computer-“Empowerment“, Mega-Malls, Talking Heads, Comic-Filme, „grüner“ Konsum. Eine Anhäufung des entschieden Oberflächlichen und Zynischen. Toyota-Werbung: „Neue Werte: Sparen, Fürsorge – all das Zeug“; Details-Magazin: „Style Matters“; „Warum warum fragen? Probier’s mal mit Bud Dry“; endloses Fernsehen, das sich darüber lustig macht. Inkohärenz, Fragmentierung, Relativismus – bis hin zur Demontage (A.d.Ü., zerlegen) des Begriffs der Bedeutung selbst (weil die Rationalität so schlecht war?); Umarmung des Marginalen, während man ignoriert, wie leicht Marginales in Mode kommt. „Der Tod des Subjekts1“ und „die Krise der Repräsentation“.

Die Postmoderne. Ursprünglich ein Thema innerhalb der Ästhetik, hat sie laut Ernesto Laclau „immer weitere Bereiche“ kolonisiert, „bis sie zum neuen Horizont unserer kulturellen, philosophischen und politischen Erfahrung geworden ist.“ „Die wachsende Überzeugung“, so Richard Kearney, „dass die menschliche Kultur, wie wir sie kannten… nun ihr Ende erreicht“. Sie ist, vor allem in den USA, der Schnittpunkt zwischen poststrukturalistischer Philosophie und einer weitaus umfassenderen gesellschaftlichen Situation: sowohl ein spezialisiertes Ethos als auch, was noch viel wichtiger ist, die Ankunft dessen, was die moderne Industriegesellschaft angekündigt hat. Postmoderne ist Zeitgenossenschaft, ein Morast aufgeschobener Lösungen auf allen Ebenen, mit Mehrdeutigkeit, der Weigerung, über Ursprung oder Ende nachzudenken, sowie der Verweigerung oppositioneller Ansätze, der „neue Realismus“. Da sie nichts bedeutet und nirgendwohin führt, ist pm [die Postmoderne] ein umgekehrter Millenarismus, eine zusammenlaufende Frucht des technologischen „Lebens“-Systems des universellen Kapitals. Es ist kein Zufall, dass die Carnegie-Mellon-Universität, die in den 80er Jahren als erste vorschrieb, dass alle Studenten mit Computern ausgestattet sein müssen, „den ersten poststrukturalistischen Studienplan der Nation“ einführt.

Konsumnarzissmus und ein kosmisches „Wo ist der Unterschied?“ markieren das Ende der Philosophie als solcher und das Entstehen einer Landschaft, so Kroker und Cook, „des Zerfalls und Verfalls vor dem Hintergrund von Parodie, Kitsch und Burnout“. Henry Kariel kommt zu dem Schluss, dass „es für die Postmodernen einfach zu spät ist, sich der Dynamik der Industriegesellschaft zu widersetzen.“ Oberfläche, Neuheit, Kontingenz – es gibt keine Gründe für die Kritik an unserer Krise. Wenn der repräsentative Postmodernist sich gegen zusammenfassbare Schlussfolgerungen wehrt, zugunsten eines angeblichen Pluralismus und einer Offenheit der Perspektive, dann ist es auch vernünftig (wenn man dieses Wort verwenden darf), vorauszusagen, dass wir nicht mehr wissen, wie wir es sagen sollen, wenn wir in einer völlig neuen Kultur leben.

Das Primat der Sprache & das Ende des Subjekts

Was das systematische Denken betrifft, so ist die zunehmende Beschäftigung mit der Sprache ein Schlüsselfaktor, der das pm-Klima der Verengung und des Rückzugs erklärt. Der so genannte „Abstieg in die Sprache“ oder die „linguistische Wende“ hat die postmoderne und poststrukturalistische Annahme hervorgebracht, dass die Sprache die menschliche Welt konstituiert und die menschliche Welt die ganze Welt konstituiert. Während des größten Teils dieses Jahrhunderts rückte die Sprache in der Philosophie in den Mittelpunkt, und zwar bei so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Wittgenstein, Quine, Heidegger und Gadamer, während die wachsende Aufmerksamkeit für die Kommunikationstheorie, die Linguistik, die Kybernetik und die Computersprachen einen ähnlichen Schwerpunkt über mehrere Jahrzehnte hinweg in Wissenschaft und Technik erkennen lässt. Diese sehr ausgeprägte Hinwendung zur Sprache selbst wurde von Foucault als „entscheidender Sprung zu einer völlig neuen Form des Denkens“ gewürdigt. Weniger positiv lässt sie sich zumindest teilweise mit dem Pessimismus nach dem Abklingen des oppositionellen Moments der 60er Jahre erklären. Die 70er Jahre waren Zeuge eines beunruhigenden Rückzugs in das, was Edward Said das „Labyrinth der Textualität“ nannte, im Gegensatz zu den bisweilen aufrührerischen intellektuellen Aktivitäten der vorangegangenen Periode.

Vielleicht ist es nicht paradox, dass „der Fetisch des Textuellen“, wie Ben Agger urteilte, „in einem Zeitalter lockt, in dem die Intellektuellen ihrer Worte beraubt sind“. Die Sprache wird mehr und mehr entwertet, sie verliert an Bedeutung, vor allem im öffentlichen Gebrauch. Man kann sich nicht einmal mehr auf Worte verlassen, und das ist Teil einer größeren Anti-Theorie-Strömung, hinter der eine viel größere Niederlage steht als in den 60er Jahren: die des gesamten Zuges der aufklärerischen Rationalität. Wir haben uns auf die Sprache als vermeintlich solide und transparente Dienerin der Vernunft verlassen, und wo hat sie uns hingebracht? Auschwitz, Hiroshima, massenhaftes psychisches Elend, drohende Zerstörung des Planeten, um nur einige zu nennen. Das ist die Postmoderne mit ihren scheinbar bizarren und fragmentarischen Wendungen und Verdrehungen. Edith Wyschograds Saints and Postmodernism (1990) bezeugt nicht nur die Allgegenwärtigkeit des pm-“Ansatzes“ – es gibt offenbar keine Bereiche, die sich ihm entziehen -, sondern kommentiert auch die neue Richtung treffend: „Die Postmoderne als ‚philosophischer‘ und ‚literarischer‘ Diskursstil kann sich nicht einfach auf die Techniken der Vernunft berufen, die ihrerseits Instrumente der Theorie sind, sondern muss neue und notwendigerweise geheimnisvolle Mittel erfinden, um die Vernunftheorien zu untergraben.“

Der unmittelbare Vorläufer des Postmodernismus/Poststrukturalismus, der in den 50er Jahren und in weiten Teilen der 60er Jahre herrschte, war um die zentrale Bedeutung herum organisiert, die er dem sprachlichen Modell beimaß. Der Strukturalismus ging von der Prämisse aus, dass die Sprache unser einziges Mittel ist, um Zugang zur Welt der Objekte und Erfahrungen zu erhalten, und dass sich die Bedeutung ausschließlich aus dem Spiel der Unterschiede innerhalb der kulturellen Zeichensysteme ergibt. Levi-Strauss beispielsweise vertrat die Ansicht, dass der Schlüssel zur Anthropologie in der Aufdeckung unbewusster sozialer Gesetze (z. B. derjenigen, die Ehebeziehungen und Verwandtschaft regeln) liegt, die wie die Sprache strukturiert sind. Es war der Schweizer Linguist Saussure, der in einem für die Postmoderne sehr einflussreichen Ansatz betonte, dass die Bedeutung nicht in der Beziehung zwischen einer Äußerung und dem, worauf sie sich bezieht, liegt, sondern in der Beziehung der Zeichen zueinander. Dieser Saussur’sche Glaube an die geschlossene, selbstreferentielle Natur der Sprache impliziert, dass alles in der Sprache determiniert ist, was dazu führt, dass so kuriose Begriffe wie Entfremdung, Ideologie, Unterdrückung usw. über Bord geworfen werden und dass Sprache und Bewusstsein praktisch dasselbe sind.

Auf diesem Weg, der die Sichtweise der Sprache als äußeres Mittel des Bewusstseins ablehnt, erscheint der ebenfalls sehr einflussreiche Neo-Freudianer Jacques Lacan. Für Lacan ist nicht nur das Bewusstsein durch und durch von der Sprache durchdrungen und ohne eigene Existenz außerhalb der Sprache, auch das „Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert“.

Schon frühere Denker, vor allem Nietzsche und Heidegger, hatten angedeutet, dass eine andere Sprache oder ein verändertes Verhältnis zur Sprache neue und wichtige Einsichten bringen könnte. Mit der linguistischen Wende der neueren Zeit gerät sogar das Konzept eines denkenden Individuums als Grundlage der Erkenntnis ins Wanken. Saussure entdeckte, dass „die Sprache nicht eine Funktion des sprechenden Subjekts ist“, wobei das Primat der Sprache denjenigen verdrängt, der ihr eine Stimme verleiht. Roland Barthes, dessen Laufbahn die strukturalistische und die poststrukturalistische Periode verbindet, entschied: „Es ist die Sprache, die spricht, nicht der Autor“, was mit Althussers Feststellung einhergeht, dass die Geschichte „ein Prozess ohne Subjekt“ ist.

Wenn das Subjekt als eine wesentliche Funktion der Sprache betrachtet wird, rückt ihre erstickende Vermittlung und die der symbolischen Ordnung im Allgemeinen ganz oben auf die Tagesordnung. So versucht die Postmoderne, das, was jenseits der Sprache liegt, zu kommunizieren, „das Undarstellbare darzustellen“. Angesichts des radikalen Zweifels an der Verfügbarkeit eines Referenzpunktes in der Welt außerhalb der Sprache verschwindet das Reale aus der Betrachtung. Jacques Derrida, die Schlüsselfigur des postmodernen Ethos, geht davon aus, dass die Verbindung zwischen Worten und der Welt willkürlich ist. Die Objektwelt spielt für ihn keine Rolle. Die Erschöpfung der Moderne und der Aufstieg der Postmoderne bevor ich mich Derrida zuwende, noch ein paar Bemerkungen zu den Vorläufern und dem allgemeinen Kulturwandel. Die Postmoderne wirft Fragen zu Kommunikation und Bedeutung auf, so dass beispielsweise die Kategorie des Ästhetischen problematisch wird. In der Moderne mit ihrem sonnigeren Glauben an die Repräsentation versprachen Kunst und Literatur zumindest eine Vision der Erfüllung oder des Verstehens. Bis zum Ende der Moderne galt die „Hochkultur“ als Hort moralischer und geistiger Weisheit. Jetzt scheint es keinen solchen Glauben mehr zu geben, und die Allgegenwart der Frage nach der Sprache verrät vielleicht die Leere, die durch das Versagen anderer Kandidaten für vielversprechende Ausgangspunkte der menschlichen Vorstellungskraft entstanden ist. In den 60er Jahren scheint die Moderne das Ende ihrer Entwicklung erreicht zu haben, der strenge Kanon ihrer Malerei (z.B. Rothko, Reinhardt) weicht der unkritischen Übernahme der kommerziellen Sprache der Konsumkultur durch die Pop Art. Die Postmoderne, nicht nur in der Kunst, ist die Moderne ohne die Hoffnungen und Träume, die die Moderne erträglich machten.

In der bildenden Kunst ist eine weit verbreitete „Fast Food“-Tendenz zu beobachten, die in Richtung leicht konsumierbarer Unterhaltung geht. Howard Fox stellt fest, dass „Theatralität vielleicht die einzige durchdringende Eigenschaft der postmodernen Kunst ist“. Eine Dekadenz oder Erschöpfung der Entwicklung ist auch in den dunklen Gemälden eines Eric Fischl zu erkennen, in denen oft eine Art von Horror unter der Oberfläche zu lauern scheint. Diese Eigenschaft verbindet Fischl, den amerikanischen pm-Maler schlechthin, mit dem ebenso düsteren Twin Peaks und der pm-Fernsehfigur schlechthin, David Lynch. Seit Warhol ist das Bild selbstbewusst eine mechanisch reproduzierbare Ware, und das ist der eigentliche Grund für die Tiefenlosigkeit und den gemeinsamen Ton der Unheimlichkeit und Vorahnung.

Der oft zitierte Eklektizismus der postmodernen Kunst ist eine willkürliche Wiederverwertung von Fragmenten aus allen Bereichen, insbesondere aus der Vergangenheit, die oft die Form von Parodie und Kitsch annimmt. Demoralisiert, derealisiert, dehistorisiert: Kunst, die sich selbst nicht mehr ernst nehmen kann. Das Bild verweist nicht mehr in erster Linie auf ein „Original“, das irgendwo in der „realen“ Welt angesiedelt ist; es verweist zunehmend nur noch auf andere Bilder. Auf diese Weise spiegelt es wider, wie verloren wir in der immer stärker vermittelten Welt des technologischen Kapitalismus sind, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben.

Der Begriff Postmoderne wurde erstmals in den 70er Jahren auf die Architektur angewandt. Christopher Jencks schrieb von einem planungsfeindlichen, pluralistischen Ansatz, von der Aufgabe des Traums der Moderne von der reinen Form zugunsten des Hörens auf „die vielfältigen Sprachen der Menschen“. Ehrlicher sind Robert Venturis Lobgesang auf Las Vegas und Piers Goughs Eingeständnis, dass die pm-Architektur sich nicht mehr um die Menschen kümmert als die modernistische Architektur. Die Bögen und Säulen, die über die modernistischen Kästen gelegt werden, sind eine dünne Fassade der Verspieltheit und Individualität, die die anonymen Konzentrationen von Reichtum und Macht darunter kaum verändert.

Die Autoren der Postmoderne stellen die Grundlagen der Literatur in Frage, anstatt weiterhin die Illusion einer äußeren Welt zu schaffen. Der Roman lenkt seine Aufmerksamkeit auf sich selbst; Donald Barthelme zum Beispiel schreibt Geschichten, die den Leser immer wieder daran zu erinnern scheinen, dass sie Kunstwerke sind. Indem sie gegen die Aussage, den Blickwinkel und andere Darstellungsmuster protestiert, zeigt die pm-Literatur ihr Unbehagen gegenüber den Formen, die kulturelle Produkte zähmen und domestizieren. In dem Maße, in dem die Welt künstlicher wird und die Bedeutung immer weniger unserer Kontrolle unterliegt, möchte der neue Ansatz lieber die Illusion aufdecken, selbst um den Preis, nichts mehr zu sagen. Hier wie anderswo kämpft die Kunst gegen sich selbst, ihr früherer Anspruch, uns zu helfen, die Welt zu verstehen, verflüchtigt sich, während sogar das Konzept der Vorstellungskraft an Kraft verliert.

Für manche ist der Verlust der Erzählstimme oder des Blickwinkels gleichbedeutend mit dem Verlust unserer Fähigkeit, uns historisch zu verorten. Für Postmodernisten ist dieser Verlust eine Art Befreiung. Raymond Federman zum Beispiel schwärmt von der kommenden Fiktion, die „scheinbar bedeutungslos sein wird … absichtlich unlogisch, irrational, unrealistisch, unzusammenhängend und inkohärent“.

Die Phantastik, die seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch ist, ist eine gängige Form der Postmoderne und erinnert daran, dass das Phantastische die Zivilisation mit genau den Kräften konfrontiert, die sie für ihr Überleben unterdrücken muss. Aber es ist eine Phantastik, die – parallel zur Dekonstruktion und zum hohen Grad an Zynismus und Resignation in der Gesellschaft – nicht so sehr an sich selbst glaubt, dass sie etwas versteht oder mitteilt. Pm-Autoren scheinen in den Falten der Sprache zu ersticken und vermitteln kaum mehr als ihre ironische Haltung gegenüber den Wahrheits- und Sinnansprüchen der traditionellen Literatur. Typisch ist vielleicht Laurie Moores Roman Like Life von 1990, dessen Titel und Inhalt einen Rückzug aus dem Leben und eine Umkehrung des amerikanischen Traums offenbaren, in dem es nur noch schlimmer werden kann.

Die Feier der Ohnmacht

Die Postmoderne untergräbt zwei der wichtigsten Grundsätze des Humanismus der Aufklärung: die Macht der Sprache, die Welt zu formen, und die Macht des Bewusstseins, ein Selbst zu formen. So entsteht die postmoderne Leere, die allgemeine Vorstellung, dass die Sehnsucht nach Emanzipation und Freiheit, die die humanistischen Prinzipien der Subjektivität versprechen, nicht befriedigt werden kann. Die Postmoderne betrachtet das Selbst als eine sprachliche Konvention; wie William Burroughs es ausdrückte: „Dein ‚Ich‘ ist ein völlig illusorisches Konzept.“

Es ist offensichtlich, dass das gefeierte Ideal der Individualität seit langem unter Druck steht. Der Kapitalismus hat in der Tat Karriere damit gemacht, das Individuum zu feiern und es gleichzeitig zu zerstören. Und die Werke von Marx und Freud haben viel dazu beigetragen, den weitgehend fehlgeleiteten und naiven Glauben an ein souveränes, rationales kantianisches Selbst, das für die Realität zuständig ist, zu entlarven, wobei ihre neueren strukturalistischen Interpreten, Althusser und Lacan, dazu beigetragen und diese Bemühungen aktualisiert haben. Doch diesmal ist der Druck so groß, dass der Begriff „Individuum“ obsolet geworden ist und durch den Begriff „Subjekt“ ersetzt wurde, der immer auch den Aspekt des Unterworfenseins einschließt (wie z. B. in der älteren Formulierung „ein Untertan des Königs“). Selbst einige radikale Libertäre, wie die Gruppe Interrogations in Frankreich, stimmen in den Chor der Postmodernen ein und lehnen das Individuum als Wertkriterium ab, da diese Kategorie durch Ideologie und Geschichte entwertet wurde.

So zeigt die pm, dass die Autonomie weitgehend ein Mythos ist und die hochgehaltenen Ideale der Herrschaft und des Willens ebenfalls fehlgeleitet sind. Doch wenn uns hiermit ein neuer und ernsthafter Versuch der Entmystifizierung von Autorität versprochen wird, der sich hinter dem Deckmantel einer bourgeoisen humanistischen „Freiheit“ verbirgt, erhalten wir in Wirklichkeit eine Auflösung des Subjekts, die so radikal ist, dass es ohnmächtig, ja sogar inexistent wird, als irgendeine Art von Akteur überhaupt. Wer oder was bleibt übrig, um eine Befreiung zu erreichen, oder ist das nur ein weiterer Wunschtraum? Die postmoderne Haltung will beides: den denkenden Menschen „ausradieren“, während die Existenz ihrer eigenen Kritik von diskreditierten Ideen wie der Subjektivität abhängt. Fred Dallmayr, der die weit verbreitete Anziehungskraft des zeitgenössischen Antihumanismus anerkennt, warnt davor, dass die ersten Opfer die Reflexion und der Sinn für Werte sind. Die Behauptung, wir seien in erster Linie Instanzen der Sprache, beraubt uns offensichtlich unserer Fähigkeit, das Ganze zu erfassen, und das in einer Zeit, in der wir genau das dringend brauchen. Kein Wunder, dass die pm für einige in der Praxis lediglich auf einen Liberalismus ohne Subjekt hinausläuft, während Feministinnen, die versuchen, eine authentische und autonome weibliche Identität zu definieren oder zurückzufordern, wahrscheinlich ebenfalls nicht überzeugt wären.

Das postmoderne Subjekt, das, was vermutlich von der Subjekthaftigkeit übrig geblieben ist, scheint vor allem die vom und für das technologische Kapital konstruierte Persönlichkeit zu sein, die der marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton als „verstreutes, dezentriertes Netzwerk libidinöser Bindungen, entleert von ethischer Substanz und psychischer Innerlichkeit, die ephemere Funktion dieses oder jenes Konsumakts, Medienerlebnisses, sexueller Beziehung, Trends oder Mode“ beschreibt. Wenn Eagletons Definition des heutigen Nicht-Subjekts, wie sie von der pm verkündet wird, ihrem Standpunkt untreu ist, ist es schwer zu erkennen, wo er Gründe für eine Distanzierung von seiner vernichtenden Zusammenfassung findet. Mit der Postmoderne löst sich sogar die Entfremdung auf, denn es gibt kein Subjekt mehr, das entfremdet werden könnte! Die zeitgenössische Zersplitterung und Ohnmacht könnte kaum vollständiger verkündet, die vorhandene Wut und Unzufriedenheit nicht gründlicher ignoriert werden.

Derrida, Dekonstruktion und Différance2

Genug des Hintergrunds und der allgemeinen Charakterzüge für den Moment. Der einflussreichste spezifische postmoderne Ansatz ist der von Jacques Derrida, der seit den 60er Jahren als Dekonstruktion bekannt ist. Mit Postmoderne in der Philosophie sind vor allem die Schriften von Derrida gemeint, und diese früheste und extremste Sichtweise hat weit über die Philosophie hinaus Resonanz in der Populärkultur und ihren Gepflogenheiten gefunden.

Sicherlich hat die „linguistische Wende“ mit der Entstehung von Derrida zu tun, was David Wood dazu veranlasste, die Dekonstruktion als „eine absolut unvermeidliche Bewegung in der heutigen Philosophie“ zu bezeichnen, da das Denken sein unausweichliches Dilemma als geschriebene Sprache verhandelt. Dass Sprache nicht unschuldig oder neutral ist, sondern eine beträchtliche Anzahl von Voraussetzungen mit sich bringt, hat er in seiner Laufbahn herausgearbeitet und dabei die seiner Meinung nach grundlegend widersprüchliche Natur des menschlichen Diskurses offengelegt. Der „Unvollständigkeitssatz“ des Mathematikers Kurt Gödel besagt, dass jedes formale System entweder konsistent oder vollständig sein kann, aber nicht beides. In ähnlicher Weise behauptet Derrida, dass sich die Sprache ständig gegen sich selbst wendet, so dass wir bei genauer Analyse weder sagen können, was wir meinen, noch meinen, was wir sagen. Aber wie die Semiologen vor ihm schlägt Derrida gleichzeitig vor, dass eine dekonstruktive Methode den ideologischen Inhalt aller Texte entmystifizieren und alle menschlichen Aktivitäten als wesentliche Texte interpretieren könnte. Die grundlegende Widersprüchlichkeit und Verschleierungsstrategie, die der Metaphysik der Sprache im weitesten Sinne innewohnt, könnte aufgedeckt werden und eine intimere Art von Wissen hervorbringen.

Was diesem letztgenannten Anspruch mit seinem von Derrida immer wieder angedeuteten politischen Versprechen entgegenwirkt, ist genau der Inhalt der Dekonstruktion: Sie sieht die Sprache als eine sich ständig bewegende, unabhängige Kraft, die eine Stabilisierung des Sinns oder eine eindeutige Kommunikation, wie oben erwähnt, nicht zulässt. Diesen intern erzeugten Fluss nannte er „différance“, und das ist es, was die Idee der Bedeutung selbst zum Einsturz bringt, zusammen mit der selbstreferentiellen Natur der Sprache, die, wie bereits erwähnt, besagt, dass es keinen Raum außerhalb der Sprache gibt, kein „da draußen“, in dem Bedeutung überhaupt existieren könnte. Intention und Subjekt werden überwältigt, und was sich offenbart, sind keine „inneren Wahrheiten“, sondern eine endlose Vermehrung möglicher Bedeutungen, die durch die différance, das Prinzip, das die Sprache charakterisiert, erzeugt werden. Die Bedeutung innerhalb der Sprache wird auch durch Derridas Beharren darauf, dass Sprache metaphorisch ist und daher keine direkte Wahrheit vermitteln kann, schwer fassbar gemacht – ein von Nietzsche übernommener Begriff, der die Unterscheidung zwischen Philosophie und Literatur aufhebt. All diese Einsichten tragen vermutlich zum kühnen und subversiven Charakter der Dekonstruktion bei, aber sie provozieren sicherlich auch einige grundlegende Fragen. Wenn der Sinn unbestimmt ist, warum sind dann Derridas Argumente und Begriffe nicht auch unbestimmt, nicht festlegbar? Er hat seinen Kritikern zum Beispiel geantwortet, dass sie sich über seine Bedeutung im Unklaren sind, während seine „Bedeutung“ darin besteht, dass es keine klare, definierbare Bedeutung geben kann. Und obwohl sein gesamtes Projekt in einem wichtigen Sinne darauf abzielt, die Ansprüche aller Systeme auf irgendeine Art von transzendenter Wahrheit zu untergraben, erhebt er die différance in den transzendenten Status eines jeden philosophischen ersten Prinzips.

Für Derrida war es die Aufwertung der Sprache gegenüber der Schrift, die das gesamte westliche Denken dazu gebracht hat, den Niedergang zu übersehen, den die Sprache selbst der Philosophie bereitet. Durch die Privilegierung des gesprochenen Wortes wird ein falscher Sinn für Unmittelbarkeit erzeugt, die ungültige Vorstellung, dass beim Sprechen die Sache selbst präsent ist und die Repräsentation überwunden wird. Aber das gesprochene Wort ist nicht „authentischer“ als das geschriebene Wort, und es ist keineswegs immun gegen das eingebaute Versagen der Sprache, die (repräsentativen) Güter genau oder definitiv zu liefern. Es ist der unangebrachte Wunsch nach Präsenz, der die westliche Metaphysik charakterisiert, ein unreflektierter Wunsch nach dem Erfolg der Repräsentation. Es ist wichtig festzuhalten, dass Derrida, weil er die Möglichkeit einer unvermittelten Existenz ablehnt, zwar die Wirksamkeit der Repräsentation angreift, nicht aber die Kategorie selbst. Er macht sich über das Spiel lustig, spielt es aber trotzdem. Die différance (später einfach „Differenz“) geht aufgrund der Unverfügbarkeit von Wahrheit oder Bedeutung in Gleichgültigkeit über und schließt sich dem Zynismus im Allgemeinen an.

Schon früh diskutierte Derrida die Fehltritte der Philosophie im Bereich der Präsenz, indem er sich auf Husserls gequälte Suche nach ihr bezog. Als nächstes entwickelte er seine Theorie der „Grammatologie“, in der er der Schrift den ihr gebührenden Vorrang gegenüber der phonozentrischen3 oder sprachbetonten Ausrichtung des Westens zurückgab. Dies geschah vor allem durch die Kritik an wichtigen Persönlichkeiten, die die Sünde des Phonozentrismus begangen hatten, darunter Rousseau, Heidegger, Saussure und Levi-Strauss, wobei nicht zu übersehen ist, dass er den drei Letztgenannten viel zu verdanken hat.

Als ob er sich an die offensichtlichen Implikationen seines dekonstruktiven Ansatzes erinnern würde, weichen Derridas Schriften in den 70er Jahren von den früheren, recht geradlinigen philosophischen Diskussionen ab. Glas (1974) ist ein Mischmasch aus Hegel und Gent, in dem das Argument durch freie Assoziation und schlechte Wortspiele ersetzt wird. Auch wenn Glas selbst seine größten Bewunderer verblüfft, so entspricht es doch dem Grundsatz der unvermeidlichen Mehrdeutigkeit der Sprache und dem Willen, die Anmaßungen eines geordneten Diskurses zu unterlaufen. Spurs (1978) ist eine buchfüllende Studie über Nietzsche, die ihren Schwerpunkt letztlich nicht in Nietzsches Veröffentlichungen, sondern in einer handschriftlichen Notiz am Rande eines seiner Notizbücher findet: „Ich habe meinen Regenschirm vergessen.“ Es gibt unendliche, unentscheidbare Möglichkeiten, was diese gekritzelte Bemerkung bedeutet oder bedeutet – wenn überhaupt. Damit will Derrida natürlich andeuten, dass das Gleiche für alles gilt, was Nietzsche geschrieben hat. Der Platz für das Denken liegt nach der Dekonstruktion eindeutig (äh, sagen wir unklar) beim Relativen, beim Fragmentarischen, beim Marginalen.

Der Sinn ist gewiss nicht etwas, das man festhalten kann, wenn es ihn überhaupt gibt. In seinem Kommentar zu Platons Phaedrus geht der Meister der De-Komposition so weit zu behaupten, dass „wie jeder Text [es] nicht anders sein konnte, als mit allen Wörtern, die das System der griechischen Sprache ausmachten, verbunden zu sein, zumindest auf eine virtuelle, dynamische, laterale Weise“.

Damit verbunden ist Derridas Ablehnung von binären Gegensätzen wie wörtlich/metaphorisch, ernst/spielerisch, tief/oberflächlich, Natur/Kultur, ad infinitum. Er betrachtet diese als grundlegende begriffliche Hierarchien, die hauptsächlich durch die Sprache selbst eingeschmuggelt werden und die die Illusion einer Definition oder Orientierung vermitteln. Er behauptet weiter, dass die dekonstruktive Arbeit der Umkehrung dieser Paarungen, die eine der beiden gegenüber der anderen aufwerten, zu einer politischen und sozialen Umkehrung der tatsächlichen, nicht-begrifflichen Hierarchien führt. Die automatische Ablehnung aller binären Oppositionen ist jedoch selbst eine metaphysische Behauptung; sie umgeht in der Tat Politik und Geschichte, weil sie in den Gegensätzen, wie ungenau sie auch sein mögen, nichts anderes als eine sprachliche Realität sehen will. Indem sie jeden Binarismus auflöst, zielt die Dekonstruktion darauf ab, „die Differenz ohne Opposition zu denken“. Was in geringerer Dosierung als heilsamer Ansatz erscheint, als Skepsis gegenüber sauberen Entweder-Oder-Charakterisierungen, geht über in das sehr fragwürdige Rezept der Ablehnung jeglicher Eindeutigkeit. Zu sagen, dass es keine Ja- oder Nein-Position geben kann, ist gleichbedeutend mit einer Lähmung des Relativismus, in der die „Ohnmacht“ zum aufgewerteten Partner der „Opposition“ wird.

Vielleicht ist der Fall von Paul De Man, der Derridas bahnbrechende dekonstruktive Positionen erweitert und vertieft hat (und ihn nach Meinung vieler sogar übertrifft), aufschlussreich. Kurz nach dem Tod von De Man im Jahr 1985 wurde entdeckt, dass er als junger Mann im besetzten Belgien mehrere antisemitische, pro-nationalsozialistische Zeitungsartikel geschrieben hatte. Der Status dieses brillanten Dekonstrukteurs aus Yale, und für einige sogar der moralische und philosophische Wert der Dekonstruktion selbst, wurden durch diese sensationelle Enthüllung in Frage gestellt. De Man hatte wie Derrida „die Doppelzüngigkeit, die Verwirrung, die Unwahrheit, die wir im Gebrauch der Sprache für selbstverständlich halten“ betont. Passend dazu, wenn auch meiner Meinung nach zu seinem Nachteil, war Derridas gequälter Kommentar zu De Mans kollaborativer Zeit: „Wie können wir urteilen, wer das Recht hat zu sagen?“ Ein schäbiges Zeugnis für die Dekonstruktion, die in irgendeiner Weise als ein Moment des Antiautoritären betrachtet wird.

Derrida verkündete, dass die Dekonstruktion „die Subversion jedes Reiches anstiftet“. In der Tat ist sie im sicheren akademischen Bereich geblieben, indem sie immer raffiniertere textliche Komplikationen erfand, um sich selbst im Geschäft zu halten und eine Reflexion über ihre eigene politische Situation zu vermeiden. Einer von Derridas zentralsten Begriffen, die Verbreitung, beschreibt die Sprache unter dem Prinzip der Differenz nicht so sehr als eine reiche Ernte von Bedeutungen, sondern als eine Art endlosen Verlust und Verschütten, wobei die Bedeutung überall auftaucht und praktisch gleichzeitig verdunstet. Dieser unaufhörliche und unbefriedigende Fluss der Sprache ist eine treffende Parallele zum Herzen des Konsumkapitals und seiner endlosen Zirkulation von Nicht-Bedeutung. Derrida verewigt und universalisiert so unbewusst das beherrschte Leben, indem er die menschliche Kommunikation zu seinem Abbild macht. Das „jedes Reich“, das er durch die Dekonstruktion unterminiert sehen würde, wird stattdessen erweitert und für absolut gehalten.

Derrida repräsentiert sowohl die weitgereiste französische Tradition der explication de texte4 als auch eine Reaktion auf die gallische Verehrung der kartesianisch-klassizistischen Sprache mit ihren Idealen der Klarheit und Ausgewogenheit. Die Dekonstruktion entstand auch gewissermaßen als Teil des ursprünglichen Elements der Beinahe-Revolution von 1968, nämlich der Studentenrevolte gegen das erstarrte französische Hochschulwesen. Einige ihrer Schlüsselbegriffe (z.B. die Verbreitung) sind Blanchots Heidegger-Lektüre entlehnt, was eine bedeutende Originalität des Derride’schen Denkens nicht leugnen soll. Präsenz und Repräsentation stellen sich ständig gegenseitig in Frage und offenbaren das zugrunde liegende System als unendlich zerklüftet, und das ist an sich schon ein wichtiger Beitrag.

Unglücklicherweise scheint die Umwandlung der Metaphysik in eine Frage der Schrift, in der sich die Bedeutungen praktisch selbst wählen und somit ein Diskurs (und somit eine Handlungsweise) nicht als besser als eine andere bewiesen werden kann, nicht sehr radikal. Die Dekonstruktion wird heute von den Leitern englischer Fakultäten, von Berufsverbänden und anderen angesehenen Gremien begrüßt, weil sie die Frage der Repräsentation selbst so wenig aufwirft. Derridas Dekonstruktion der Philosophie räumt ein, dass sie genau das Konzept intakt lassen muss, dessen fehlende Grundlage sie entlarvt. Während er die Vorstellung einer sprachunabhängigen Realität für unhaltbar hält, verspricht die Dekonstruktion auch keine Befreiung aus dem berühmten „Gefängnis der Sprache“. Das Wesen der Sprache, das Primat des Symbolischen, wird nicht wirklich angegangen, sondern als ebenso unausweichlich wie unzureichend zur Erfüllung gezeigt. Kein Ausweg; wie Derrida erklärte: „Es geht nicht darum, sich in eine repressionsfreie neue Ordnung zu entlassen (es gibt keine).“

Die Krise der Repräsentation

Wenn der Beitrag der Dekonstruktion vor allem darin besteht, unsere Gewissheit über die Realität zu untergraben, dann vergisst sie, dass die Realität – Werbung und Massenkultur, um nur zwei oberflächliche Beispiele zu nennen – dies bereits erreicht hat. Diese durch und durch postmoderne Sichtweise ist Ausdruck der Bewegung des Denkens von der Dekadenz zu seiner elegischen oder post-gedanklichen Phase oder, wie John Fekete es zusammenfasste, „eine tiefgreifende Krise des westlichen Geistes, ein tiefgreifender Verlust der Nerven“.

Die heutige Überfrachtung mit Repräsentation dient dazu, die radikale Verarmung des Lebens in der technologischen Klassengesellschaft zu unterstreichen – Technologie ist Entbehrung. Die klassische Theorie der Repräsentation ging davon aus, dass Bedeutung oder Wahrheit den Repräsentationen, die sie vermitteln, vorausgehen und diese vorschreiben. Aber wir leben heute in einer postmodernen Kultur, in der das Bild weniger der Ausdruck eines individuellen Subjekts als vielmehr die Ware einer anonymen Konsumtechnologie geworden ist. Das Leben im Informationszeitalter wird immer mehr durch die Manipulation von Zeichen, Symbolen, Marketing- und Testdaten usw. kontrolliert. Unsere Zeit, sagt Derrida, ist „eine Zeit ohne Natur“.

Alle Formulierungen der Postmoderne stimmen darin überein, eine Krise der Repräsentation zu erkennen. Wie bereits erwähnt, begann Derrida mit einer Infragestellung des Wesens des philosophischen Projekts selbst, das auf Repräsentation beruht, und warf einige unbeantwortbare Fragen über die Beziehung zwischen Repräsentation und Denken auf. Die Dekonstruktion untergräbt die erkenntnistheoretischen Ansprüche der Repräsentation, indem sie zeigt, dass beispielsweise die Sprache für die Aufgabe der Repräsentation unzureichend ist. Aber diese Untergrabung vermeidet es, sich mit der repressiven Natur ihres Gegenstandes auseinanderzusetzen, indem sie wiederum darauf besteht, dass reine Präsenz, ein Raum jenseits der Repräsentation, nur ein utopischer Traum sein kann. Es kann keinen unvermittelten Kontakt oder keine Kommunikation geben, sondern nur Zeichen und Repräsentationen; die Dekonstruktion ist eine Suche nach Präsenz und Erfüllung, die unendlich und notwendigerweise aufgeschoben wird.

Jacques Lacan, der die gleiche Resignation wie Derrida teilt, enthüllt zumindest mehr über das bösartige Wesen der Repräsentation. In Erweiterung von Freud stellte er fest, dass das Subjekt durch den Eintritt in die symbolische Ordnung, nämlich in die Sprache, sowohl konstituiert als auch entfremdet wird. Während er die Möglichkeit einer Rückkehr zu einem vorsprachlichen Zustand, in dem das gebrochene Versprechen der Präsenz eingelöst werden könnte, verneinte, konnte er zumindest den zentralen, lähmenden Schlag erkennen, der in der Unterwerfung des freien Begehrens unter die symbolische Welt besteht, in der Auslieferung der Einzigartigkeit an die Sprache. Lacan bezeichnete die jouissance als unaussprechlich, weil sie sich nur außerhalb der Sprache ereignen kann: jenes Glück, das der Wunsch nach einer Welt ohne den Bruch des Geldes oder der Schrift, einer Gesellschaft ohne Repräsentation ist.

Die Unfähigkeit, symbolischen Sinn zu generieren, ist, etwas ironisch, ein Grundproblem der Postmoderne. Sie spielt ihre Position an der Grenze zwischen dem, was repräsentiert werden kann, und dem, was nicht repräsentiert werden kann, aus, eine (bestenfalls) halbherzige Lösung, die sich weigert, die Repräsentation zu verweigern. (Anstatt die Argumente für die Sichtweise des Symbolischen als repressiv und entfremdend zu liefern, wird der Leser auf die ersten fünf Aufsätze meines Buches Elements of Refusal [Left Bank Books, 1988] verwiesen, die sich mit Zeit, Sprache, Zahl, Kunst und Landwirtschaft als kulturellen Entfremdungen aufgrund von Symbolisierung befassen.) Inzwischen verliert ein entfremdetes und erschöpftes Publikum das Interesse am vermeintlichen Trost der Kultur, und mit der Vertiefung und Verdichtung der Vermittlung kommt die Entdeckung, dass dies vielleicht schon immer der Sinn der Kultur war. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass die Postmoderne die Reflexion über die Ursprünge der Repräsentation nicht anerkennt, da sie auf der Unmöglichkeit einer unvermittelten Existenz beharrt.

Als Antwort auf die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit der Prä-Zivilisation sagt die Postmoderne, dass die Kultur so grundlegend für die menschliche Existenz geworden ist, dass es keine Möglichkeit gibt, unter sie hinabzusteigen. Das erinnert natürlich an Freud, der das Wesen der Zivilisation als Unterdrückung von Freiheit und Ganzheit erkannte, der aber entschied, dass Arbeit und Kultur wichtiger seien. Freud war zumindest ehrlich genug, den Widerspruch oder die Unversöhnlichkeit zuzugeben, die mit der Entscheidung für die lähmende Natur der Zivilisation einhergeht, während die Postmodernisten dies nicht tun.

Floyd Merrell stellte fest, dass „ein Schlüssel, vielleicht der Hauptschlüssel zum Derrida’schen Denken“ Derridas Entscheidung war, die Frage nach den Ursprüngen nicht zu stellen. Während Derrida also in seinem gesamten Werk auf eine Komplizenschaft zwischen den Grundannahmen des westlichen Denkens und den Gewalttaten und Unterdrückungen hinweist, die die westliche Zivilisation geprägt haben, hat er zentral und sehr einflussreich alle Vorstellungen von Ursprüngen abgelehnt. Schließlich ist das kausale Denken eines der Objekte der Verachtung der Postmodernen. „Natur“ ist eine Illusion, was könnte also „unnatürlich“ bedeuten? Anstelle des wunderbaren „Unter dem Pflaster ist der Strand“ der Situationisten haben wir Foucaults berühmte Zurückweisung des gesamten Begriffs der „repressiven Hypothese“ in Die Ordnung der Dinge. Freud gab uns ein Verständnis von Kultur als verkümmernd und Neurosen erzeugend; die pm sagt uns, dass Kultur alles ist, was wir jemals haben können, und dass ihre Grundlagen, wenn es sie gibt, für unser Verständnis nicht zugänglich sind. Die Postmoderne ist offenbar das, was uns bleibt, wenn der Modernisierungsprozess abgeschlossen und die Natur für immer verschwunden ist.

Nicht nur, dass die pm an Becketts Bemerkung in Endgame anknüpft: „Es gibt keine Natur mehr“, sondern sie leugnet auch, dass es jemals einen erkennbaren Raum außerhalb von Sprache und Kultur gegeben hat. Die „Natur“, so Derrida im Gespräch mit Rousseau, „hat nie existiert“. Auch hier wird die Entfremdung ausgeschlossen; dieser Begriff impliziert notwendigerweise eine Idee von Authentizität, die die Postmoderne für unverständlich hält. In diesem Sinne zitiert Derrida „den Verlust dessen, was nie stattgefunden hat, einer Selbstpräsenz, die nie gegeben war, sondern nur erträumt wurde…“. Trotz der Grenzen des Strukturalismus zeugt Levi-Strauss‘ Zugehörigkeitsgefühl zu Rousseau andererseits von seiner Suche nach Ursprüngen. Indem er sich weigerte, die Befreiung auszuschließen, sei es in Bezug auf die Anfänge oder die Ziele, hörte Levi-Strauss nie auf, sich nach einer „intakten“ Gesellschaft zu sehnen, einer nicht zerbrochenen Welt, in der die Unmittelbarkeit noch nicht gebrochen war. Dafür stellt Derrida, freilich pejorativ, Rousseau als Utopisten und Levi-Strauss als Anarchisten dar und warnt vor einem „weiteren Schritt zu einer Art ursprünglicher Anarchie“, der nur eine gefährliche Illusion wäre.

Die wirkliche Gefahr besteht darin, die Entfremdung und Beherrschung, die die Natur vollständig zu überwinden drohen, nicht auf der grundlegendsten Ebene in Frage zu stellen – das, was vom Natürlichen in der Welt und in uns selbst übrig geblieben ist. Marcuse erkannte, dass „die Erinnerung an die Befriedigung am Ursprung allen Denkens steht, und der Impuls, die vergangene Befriedigung zurückzuerobern, ist die verborgene Antriebskraft des Denkprozesses“. Mit der Frage nach den Ursprüngen ist auch die Frage nach der Entstehung der Abstraktion, ja der philosophischen Begrifflichkeit überhaupt verbunden, und Marcuse kam bei seiner Suche nach dem, was einen Seinszustand ohne Unterdrückung ausmachen würde, nahe an eine Auseinandersetzung mit der Kultur selbst. Er konnte sich des Eindrucks nie ganz erwehren, „dass die Menschheit etwas Wesentliches vergessen hat“. Ähnlich ist der kurze Ausspruch von Novalis: „Philosophie ist Heimweh“. Im Vergleich dazu haben Kroker und Cook unbestreitbar recht, wenn sie schlussfolgern, dass „die postmoderne Kultur ein Vergessen ist, ein Vergessen der Ursprünge und Ziele“.

Barthes, Foucault und Lyotard

Wenn wir uns anderen poststrukturalistischen/postmodernen Persönlichkeiten zuwenden, verdient Roland Barthes, der zu Beginn seiner Karriere ein wichtiger strukturalistischer Denker war, Erwähnung. Sein Werk Writing Degree Zero drückte die Hoffnung aus, dass Sprache auf utopische Weise verwendet werden kann und dass es in der Kultur kontrollierende Codes gibt, die gebrochen werden können. Anfang der 70er Jahre schloss er sich jedoch Derrida an, der die Sprache als einen metaphorischen Sumpf ansah, dessen Metaphorizität nicht erkannt wird. Die Philosophie wird von ihrer eigenen Sprache verwirrt, und die Sprache im Allgemeinen kann nicht beanspruchen, das zu beherrschen, was sie bespricht. Mit Das Reich der Zeichen (1970) hatte Barthes bereits auf jede kritische, analytische Absicht verzichtet. Dieses Buch, das angeblich von Japan handelt, wird vorgelegt, „ohne den Anspruch zu erheben, irgendeine Realität abzubilden oder zu analysieren“. Verschiedene Fragmente befassen sich mit so unterschiedlichen kulturellen Formen wie Haiku und Spielautomaten, als Teile einer Art anti-utopischen Landschaft, in der die Formen keine Bedeutung haben und alles nur Oberfläche ist. Das Reich der Zeichen kann als das erste vollständig postmoderne Werk bezeichnet werden, und Mitte der 70er Jahre trug die Vorstellung des Autors vom Vergnügen am Text die gleiche Derride’sche Geringschätzung für den Glauben an die Gültigkeit des öffentlichen Diskurses weiter. Das Schreiben war zum Selbstzweck geworden, eine rein persönliche Ästhetik zur obersten Maxime. Vor seinem Tod im Jahr 1980 hatte Barthes ausdrücklich „jede intellektuelle Art des Schreibens“ angeprangert, insbesondere alles, was den Beigeschmack des Politischen hatte. In seinem letzten Werk, Barthes by Barthes, betrachtete der Hedonismus der Worte, der einem realen Dandytum entsprach, Konzepte nicht nach ihrer Gültigkeit oder Ungültigkeit, sondern nur nach ihrer Wirksamkeit als Taktik des Schreibens.

1985 forderte AIDS den bekanntesten Einfluss auf die Postmoderne, Michel Foucault. Seine weitreichenden historischen Studien (z. B. über Wahnsinn, Strafvollzug und Sexualität) machten ihn sehr bekannt und lassen bereits Unterschiede zwischen Foucault und dem relativ abstrakten und ahistorischen Derrida erkennen. Der Strukturalismus hatte, wie bereits erwähnt, das Individuum aus weitgehend linguistischen Gründen stark abgewertet, während Foucault „den Menschen (als) eine erst kürzlich gemachte Erfindung, eine noch keine zwei Jahrhunderte alte Figur, eine einfache Falte in unserem Wissen, die bald verschwinden wird“, charakterisierte. Sein Schwerpunkt liegt darin, den „Menschen“ als das zu entlarven, was als Objekt dargestellt und hervorgebracht wird, nämlich als eine virtuelle Erfindung der modernen Humanwissenschaften. Trotz seines eigenwilligen Stils waren Foucaults Werke weitaus populärer als die von Horkheimer und Adorno (z. B. Die Dialektik der Aufklärung) und Erving Goffman, die ebenfalls die versteckte Agenda der bourgeoisen Rationalität aufdeckten. Er wies auf die „individualisierende“ Taktik hin, die in den Schlüsselinstitutionen des frühen 19. Jahrhunderts am Werk war (Familie, Arbeit, Medizin, Psychiatrie, Bildung), und machte deren normalisierende, disziplinierende Rolle innerhalb der entstehenden kapitalistischen Moderne deutlich, da das „Individuum“ von und für die herrschende Ordnung geschaffen wird.

Foucault, typisch pm, lehnt das ursprüngliche Denken und die Vorstellung ab, dass es eine „Realität“ hinter oder unter dem vorherrschenden Diskurs einer Epoche gibt. Ebenso ist das Subjekt eine Täuschung, die im Wesentlichen durch den Diskurs geschaffen wird, ein „Ich“, das aus den herrschenden Sprachgebräuchen hervorgeht. Und so werden seine detaillierten historischen Erzählungen, die als „Archäologien“ des Wissens bezeichnet werden, anstelle von theoretischen Übersichten angeboten, als ob sie keine ideologischen oder philosophischen Annahmen enthielten. Für Foucault gibt es keine Grundlagen des Sozialen, die außerhalb der Kontexte verschiedener Epochen, oder Episteme, wie er sie nannte, zu begreifen wären; die Grundlagen ändern sich von einer Episteme zur anderen. Der vorherrschende Diskurs, der seine Subjekte konstituiert, bildet sich scheinbar von selbst. Dies ist ein wenig hilfreicher Ansatz für die Geschichte, der vor allem daraus resultiert, dass Foucault sich nicht auf soziale Gruppen bezieht, sondern sich ganz auf Gedankensysteme konzentriert. Ein weiteres Problem ergibt sich aus seiner Auffassung, dass die Episteme eines Zeitalters nicht von denen erkannt werden kann, die in ihr arbeiten. Wenn das Bewusstsein genau das ist, was sich nach Foucaults eigener Darstellung seines Relativismus nicht bewusst ist oder nicht weiß, wie es in früheren Epistemen ausgesehen hätte, dann ist Foucaults eigenes erhöhtes, umfassendes Bewusstsein unmöglich. Diese Schwierigkeit wird am Ende von Die Archäologie des Wissens (1972) eingeräumt, bleibt aber unbeantwortet, ein ziemlich krasses und offensichtliches Problem.

Das Dilemma der Postmoderne ist folgendes: Wie kann der Status und die Gültigkeit ihrer theoretischen Ansätze festgestellt werden, wenn weder Wahrheit noch Grundlagen des Wissens zugelassen werden? Wenn wir die Möglichkeit rationaler Grundlagen oder Standards ausschließen, auf welcher Grundlage können wir dann operieren? Wie können wir verstehen, was die Gesellschaft ist, die wir bekämpfen, geschweige denn, dass wir ein solches Verständnis teilen? Foucaults Beharren auf einem nietzscheanischen Perspektivismus übersetzt sich in den irreduziblen Pluralismus der Interpretation. Er relativierte Wissen und Wahrheit jedoch nur insoweit, als diese Begriffe an andere Denksysteme als sein eigenes gebunden sind. Auf diesen Punkt angesprochen, gab Foucault zu, dass er nicht in der Lage sei, seine eigenen Meinungen rational zu begründen. So behauptet der liberale Habermas, dass postmoderne Denker wie Foucault, Deleuze und Lyotard „neokonservativ“ seien, weil sie keine konsistente Argumentation für die eine oder andere gesellschaftliche Richtung bieten. Das Bekenntnis zum Relativismus (oder „Pluralismus“) bedeutet auch, dass es nichts gibt, was die Perspektive einer gesellschaftlichen Tendenz daran hindert, das Recht zu beanspruchen, eine andere zu dominieren, da es keine Möglichkeit gibt, Standards festzulegen.

Das Thema Macht war in der Tat ein zentrales Thema für Foucault, und die Art und Weise, wie er es behandelte, ist aufschlussreich. Er schrieb, dass die bedeutenden Institutionen der modernen Gesellschaft durch eine Kontrollintentionalität vereint sind, ein „karzerales Kontinuum“, das das logische Finale des Kapitalismus zum Ausdruck bringt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Aber die Macht selbst, so stellte er fest, ist ein Netz oder Feld von Beziehungen, in dem die Subjekte sowohl als Produkte als auch als Akteure der Macht konstituiert sind. Alles ist also Teil der Macht, und deshalb ist es sinnlos, eine „grundlegende“, unterdrückerische Macht zu suchen, die man bekämpfen kann. Die moderne Macht ist heimtückisch und „kommt von überall her“. Wie Gott ist sie überall und nirgends zugleich.

Foucault findet keinen Strand unter den Pflastersteinen, überhaupt keine „natürliche“ Ordnung. Es gibt nur die Gewissheit aufeinanderfolgender Machtregime, denen man irgendwie widerstehen muss. Aber Foucaults charakteristische Abneigung gegen den gesamten Begriff des menschlichen Subjekts macht es ziemlich schwierig zu erkennen, woher ein solcher Widerstand kommen könnte, ungeachtet seiner Ansicht, dass es keinen Widerstand gegen die Macht gibt, der nicht eine Variante der Macht selbst ist. Was den letztgenannten Punkt betrifft, so geriet Foucault bei der Betrachtung des Verhältnisses von Macht und Wissen in eine weitere Sackgasse. Er kam zu dem Schluss, dass sie untrennbar und allgegenwärtig miteinander verbunden sind und sich direkt gegenseitig bedingen. Die Schwierigkeiten, angesichts dieses Zusammenhangs weiterhin etwas Substantielles zu sagen, veranlassten Foucault schließlich, eine Theorie der Macht aufzugeben. Der damit verbundene Determinismus führte zum einen dazu, dass sein politisches Engagement immer geringer wurde. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum der Foucaultismus von den Medien stark gefördert wurde, während z.B. die Situationisten verdrängt wurden.

Castoriadis bezeichnete Foucaults Ideen zur Macht und zum Widerstand gegen sie einmal mit den Worten: „Leiste Widerstand, wenn es dir Spaß macht – aber ohne Strategie, denn dann wärst du nicht mehr proletarisch, sondern Macht“. Foucaults eigener Aktivismus hatte versucht, den empirizistischen Traum eines theorie- und ideologiefreien Ansatzes zu verkörpern, den des „spezifischen Intellektuellen“, der an bestimmten, lokalen Kämpfen teilnimmt. Diese Taktik sieht vor, dass die Theorie nur konkret eingesetzt wird, als Ad-hoc-„Werkzeugkasten“-Methoden für spezifische Kampagnen. Trotz der guten Absichten verweigert die Beschränkung der Theorie auf diskrete, verderbliche instrumentelle „Werkzeuge“ nicht nur einen expliziten Überblick über die Gesellschaft, sondern akzeptiert auch die allgemeine Arbeitsteilung, die den Kern von Entfremdung und Herrschaft bildet. Der Wunsch, Unterschiede, lokales Wissen und dergleichen zu respektieren, verweigert eine reduktive, totalitär anmutende Überbewertung der Theorie, sondern akzeptiert nur die Atomisierung des Spätkapitalismus mit seiner Aufsplitterung des Lebens in enge Spezialgebiete, die die Provinz so vieler Experten sind. Wenn „wir zwischen der Arroganz, das Ganze zu überblicken, und der Scheu, die Teile zu inspizieren, gefangen sind“, wie Rebecca Comay es treffend formulierte, wie kann dann die zweite Alternative (die von Foucault) einen Fortschritt gegenüber dem liberalen Reformismus im Allgemeinen darstellen? Diese Frage erscheint besonders relevant, wenn man sich daran erinnert, wie sehr Foucaults ganzes Unternehmen darauf abzielte, uns von den Illusionen der humanistischen Reformer in der Geschichte zu befreien. Der „spezifische Intellektuelle“ entpuppt sich in der Tat als ein weiterer Experte, ein weiterer Liberaler, der eher die Spezifika als die Wurzeln der Probleme angreift. Und wenn man sich den Inhalt seines Aktivismus anschaut, der sich hauptsächlich auf den Bereich der Strafrechtsreform bezog, ist die Ausrichtung fast zu lau, um überhaupt als liberal bezeichnet werden zu können. In den 80er Jahren „versuchte er, unter der Ägide seines Lehrstuhls am College de France Historiker, Juristen, Richter, Psychiater und Ärzte zu versammeln, die sich mit Recht und Strafe befassen“, so Keith Gandal. Alle Polizisten. „Meine Arbeit über die historische Relativität der Gefängnisform“, so Foucault, „war eine Anregung, über andere Formen der Bestrafung nachzudenken“. Offensichtlich akzeptierte er die Legitimität dieser Gesellschaft und der Bestrafung; nicht weniger überraschend war seine daraus resultierende Ablehnung der Anarchisten als infantil in ihren Hoffnungen für die Zukunft und ihrem Glauben an das menschliche Potenzial.

Die Werke von Jean-Francois Lyotard sind in hohem Maße widersprüchlich – was an sich schon ein Merkmal von der pm ist -, bringen aber auch ein zentrales postmodernes Thema zum Ausdruck: dass die Gesellschaft nicht als Ganzes verstanden werden kann und soll. Lyotard ist ein Paradebeispiel für antitotalisierendes Denken, und zwar so sehr, dass er die Postmoderne als „Ungläubigkeit gegenüber Metanarrativen“ oder Übersichten zusammenfasst. Die Idee, dass es sowohl ungesund als auch unmöglich ist, das Ganze zu begreifen, ist Teil einer enormen Reaktion in Frankreich seit den 60er Jahren gegen marxistische und kommunistische Einflüsse. Während Lyotard vor allem die marxistische Tradition ins Visier nimmt, die im politischen und intellektuellen Leben Frankreichs einst so stark war, geht er noch weiter und lehnt die Gesellschaftstheorie in ihrer Gesamtheit ab. So ist er zum Beispiel zu der Überzeugung gelangt, dass jedes Konzept der Entfremdung – die Vorstellung, dass eine ursprüngliche Einheit, Ganzheit oder Unschuld durch die Fragmentierung und Gleichgültigkeit des Kapitalismus zerbrochen wird – letztlich ein totalitärer Versuch ist, die Gesellschaft zwangsweise zu vereinheitlichen. Bezeichnenderweise denunziert seine Libidinöse Ökonomie Mitte der 70er Jahre die Theorie als Terror.

Man könnte sagen, dass diese extreme Reaktion außerhalb einer von der marxistischen Linken dominierten Kultur unwahrscheinlich wäre, aber ein anderer Blick sagt uns, dass sie perfekt zur allgemeinen, desillusionierten postmodernen Situation passt. Lyotards pauschale Ablehnung der postkantianischen Aufklärungswerte verkörpert schließlich die Erkenntnis, dass die rationale Kritik, zumindest in Form der selbstbewussten Werte und Überzeugungen der kantischen, hegelianischen und marxistischen Metanarrative, durch die düstere historische Realität entlarvt wurde. Lyotard zufolge bedeutet die pm-Ära, dass alle tröstlichen Mythen von intellektueller Meisterschaft und Wahrheit am Ende sind und durch eine Pluralität von „Sprachspielen“ ersetzt werden, dem Wittgensteinschen Begriff der „Wahrheit“, die vorläufig geteilt wird und ohne jegliche erkenntnistheoretische Berechtigung oder philosophische Grundlage zirkuliert. Sprachspiele sind eine pragmatische, lokalisierte, vorläufige Grundlage für Wissen; im Gegensatz zu den umfassenden Ansichten der Theorie oder der historischen Interpretation hängt ihr Gebrauchswert von der Zustimmung der Teilnehmer ab. Lyotards Ideal ist also eine Vielzahl von „kleinen Erzählungen/Narrationen“ anstelle des „inhärenten Dogmatismus“ von Metanarrativen oder großen Ideen. Leider muss sich ein solcher pragmatischer Ansatz mit den Dingen, wie sie sind, arrangieren und ist praktisch per definitionem vom vorherrschenden Konsens abhängig. Daher ist Lyotards Ansatz nur von begrenztem Wert, wenn es darum geht, einen Bruch mit den alltäglichen Normen herbeizuführen. Obwohl sein gesunder, antiautoritärer Skeptizismus die Totalisierung als unterdrückend oder zwanghaft ansieht, übersieht er, dass der Foucaultsche Relativismus der Sprachspiele mit ihren frei vereinbarten Bedeutungen dazu neigt, alles für gleich gültig zu halten. Wie Gerard Raulet feststellte, gehorcht die daraus resultierende Verweigerung des Überblicks eher der bestehenden Logik der Homogenität, als dass sie einen Hort der Heterogenität darstellt.

Den Fortschritt verdächtig zu finden, ist natürlich die Voraussetzung für jeden kritischen Ansatz, aber die Suche nach Heterogenität muss das Bewusstsein für ihr Verschwinden und die Suche nach den Gründen für ihr Verschwinden einschließen. Das postmoderne Denken verhält sich im Allgemeinen so, als wüsste es nicht, dass Arbeitsteilung und Kommodifizierung5 die Grundlage für kulturelle oder soziale Heterogenität beseitigen. Die Postmoderne versucht zu bewahren, was es praktisch nicht gibt, und lehnt ein breiteres Denken ab, das notwendig ist, um mit der verarmten Realität umzugehen. In diesem Bereich ist es von Interesse, das Verhältnis zwischen pm und Technologie zu betrachten, das für Lyotard von entscheidender Bedeutung ist.

Adorno fand den Weg des zeitgenössischen Totalitarismus durch das aufklärerische Ideal des Triumphs über die Natur, auch bekannt als instrumentelle Vernunft, vorbereitet. Lyotard sieht die Fragmentierung des Wissens als wesentlich für den Kampf gegen die Herrschaft an, was den notwendigen Überblick verwehrt, um zu sehen, dass die Isolation, die das fragmentierte Wissen darstellt, im Gegenteil die soziale Bestimmung und den Zweck dieser Isolation vergisst. Die gefeierte „Heterogenität“ ist nicht viel mehr als die zersplitternde Wirkung einer übermächtigen Totalität, die er lieber ignorieren würde. Nirgendwo wird die Kritik mehr verworfen als in Lyotards postmodernem Positivismus, der auf der Akzeptanz einer technischen Rationalität beruht, die auf Kritik verzichtet. Es überrascht nicht, dass Lyotard im Zeitalter der Zersetzung von Bedeutung und des Verzichts auf den Blick auf das, was das Ensemble der bloßen „Fakten“ wirklich ausmacht, die Computerisierung der Gesellschaft begrüßt. Ähnlich wie der Nietzscheaner Foucault glaubt Lyotard, dass die Macht mehr und mehr zum Kriterium der Wahrheit wird. Er findet seinen Gefährten in dem postmodernen Pragmatiker Richard Rorty, der ebenfalls die moderne Technologie begrüßt und den hegemonialen Werten der heutigen Industriegesellschaft tief verbunden ist.

1985 organisierte Lyotard eine spektakuläre Hightech-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou, in der die künstlichen Realitäten und Mikrocomputerarbeiten von Künstlern wie Myron Krueger gezeigt wurden. Bei der Eröffnung erklärten die Verantwortlichen: „Wir wollten darauf hinweisen, dass sich die Welt nicht in Richtung größerer Klarheit und Einfachheit entwickelt, sondern in Richtung eines neuen Grades an Komplexität, in dem sich der Einzelne zwar sehr verloren fühlen mag, in dem er aber tatsächlich freier werden kann.“ Offensichtlich sind Übersichten erlaubt, wenn sie mit den Plänen unserer Meister für uns und für die Natur übereinstimmen. Aber der spezifischere Punkt liegt in der „Immaterialität“, dem Titel der Ausstellung und einem Begriff von Lyotard, den er mit der Erosion der Identität, dem Zerfall der stabilen Barrieren zwischen dem Selbst und einer Welt, die durch unsere Einbindung in labyrinthische technologische und soziale Systeme entsteht, in Verbindung bringt. Es versteht sich von selbst, dass er diesen Zustand gutheißt und beispielsweise das „pluralisierende“ Potenzial der neuen Kommunikationstechnologien feiert – einer Technologie, die das Leben ent-sinnlicht, die Erfahrung verflacht und die natürliche Welt auslöscht. Lyotard schreibt: „Alle Menschen haben ein Recht auf Wissenschaft“, als hätte er auch nur die geringste Ahnung, was Wissenschaft bedeutet. Er schreibt den „freien Zugang der Öffentlichkeit zu den Speichern und Datenbanken“ vor. Eine entsetzliche Sicht der Befreiung, die ein wenig eingefangen wird durch: „Datenbanken sind die Enzyklopädie von morgen; sie sind die ‚Natur‘ für postmoderne Männer und Frauen.“

Frank Lentricchia bezeichnete Derridas dekonstruktivistisches Projekt als „eine elegante, gebieterische Übersicht, die in der Philosophiegeschichte nur von Hegel übertroffen wird.“ Es ist eine offensichtliche Ironie, dass die Postmodernisten eine allgemeine Theorie benötigen, um ihre Behauptung zu untermauern, warum es keine allgemeinen Theorien oder Metanarrative geben kann und soll. Sartre, die Gestalttheoretiker und der gesunde Menschenverstand sagen uns, dass das, was pm als „totalisierende Vernunft“ abtut, in Wirklichkeit der Wahrnehmung selbst inhärent ist: Man sieht in der Regel ein Ganzes und keine diskreten Fragmente. Eine weitere Ironie liegt in Charles Altieris Beobachtung über Lyotard, „dass dieser Denker, der sich der Gefahren von Meistererzählungen so sehr bewusst ist, dennoch der Autorität der verallgemeinerten Abstraktion völlig verpflichtet bleibt.“ Pm verkündet eine anti-generalistische Tendenz, aber seine Vertreter, Lyotard vielleicht ganz besonders, behalten ein sehr hohes Abstraktionsniveau bei, wenn sie über Kultur, Modernität und andere derartige Themen diskutieren, die natürlich bereits große Verallgemeinerungen sind.

„Eine befreite Menschheit“, schrieb Adorno, „wäre keineswegs eine Totalität“. Nichtsdestotrotz haben wir es gegenwärtig mit einer sozialen Welt zu tun, die eine ist und die sich mit aller Rache totalisiert. Die Postmoderne mit ihrer gefeierten Fragmentierung und Heterogenität mag sich dafür entscheiden, die Totalität zu vergessen, aber die Totalität wird uns nicht vergessen.

Deleuze, Guattari und Baudrillard

Die „Schizo-Politik“ von Gilles Deleuze ergibt sich zumindest teilweise aus der vorherrschenden Verweigerung eines Überblicks, eines Ausgangspunkts. Die auch als „Nomadologie“ bezeichnete Methode von Deleuze, die sich des „rhizomatischen Schreibens“ bedient, setzt sich für die Deterritorialisierung und Entschlüsselung von Herrschaftsstrukturen ein, durch die sich der Kapitalismus durch seine eigene Dynamik selbst ablöst. Mit seinem zeitweiligen Partner Felix Guattari, mit dem er eine Spezialisierung auf die Psychoanalyse teilt, hofft er, die schizophrene Tendenz des Systems bis zur Erschütterung verschärft zu sehen. Deleuze scheint die absurdistische Überzeugung von Yoshimoto Takai, dass der Konsum eine neue Form des Widerstands darstellt, zu teilen oder ihr zumindest sehr nahe zu kommen.

Diese Art der Verleugnung der Totalität durch die radikale Strategie, sie dazu zu bringen, sich ihrer selbst zu entledigen, erinnert auch an den ohnmächtigen pm-Stil der gegensätzlichen Repräsentation: Bedeutungen dringen nicht zu einem Zentrum vor, sie repräsentieren nicht etwas, das außerhalb ihrer Reichweite liegt. „Denken ohne zu repräsentieren“, so beschreibt Charles Scott den Ansatz von Deleuze. Die Schizo-Politik zelebriert Oberflächen und Diskontinuitäten; die Nomadologie ist das Gegenteil von Geschichte.

Deleuze verkörpert auch das postmoderne Thema des „Todes des Subjekts“, in seinem und Guattaris bekanntestem Werk, Anti-Ödipus, und in der Folge. Die „Wunschmaschinen“, die durch die Kopplung menschlicher und nicht-menschlicher Teile ohne Unterscheidung zwischen ihnen entstehen, versuchen, den Menschen als Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie zu ersetzen. Der Illusion eines individuellen Subjekts in der Gesellschaft stellt Deleuze ein Subjekt entgegen, das nicht einmal mehr als anthropozentrisch erkennbar ist. Man kann sich trotz seiner vermeintlich radikalen Intention des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich der Entfremdung hingibt, ja sich in Entfremdung und Dekadenz suhlt.

In den frühen 70er Jahren legte Jean Baudrillard in seinem Le miroir de la production (Spiegel der Produktion) (1972) die bourgeoisen Grundlagen des Marxismus offen, insbesondere seine Verehrung von Produktion und Arbeit. Dieser Beitrag beschleunigte den Niedergang des Marxismus und der Kommunistischen Partei in Frankreich, die nach der reaktionären Rolle, die die Linke bei den Umwälzungen des Mai ’68 gespielt hatte, bereits in Schieflage geraten war. Seitdem ist Baudrillard jedoch zu einem Vertreter der dunkelsten Tendenzen der Postmoderne geworden und hat sich vor allem in Amerika zu einem Popstar für die Ultraverdrossenen entwickelt, der für seine völlig desillusionierten Ansichten über die heutige Welt berühmt ist. Abgesehen von der unglücklichen Resonanz zwischen der fast halluzinatorischen Morbidität Baudrillards und einer in Auflösung begriffenen Kultur ist es auch wahr, dass er (zusammen mit Lyotard) durch den Raum, den er nach dem Ableben relativ tiefgründiger Denker wie Barthes und Foucault in den 80er Jahren ausfüllen sollte, vergrößert worden ist.

Derridas dekonstruktive Beschreibung der Unmöglichkeit eines Referenten außerhalb der Repräsentation wird für Baudrillard zu einer negativen Metaphysik, in der die Realität durch den Kapitalismus in Simulationen verwandelt wird, die keinen Rückhalt haben. Die Kultur des Kapitals wird als über ihre Risse und Widersprüche hinausgehend betrachtet, bis hin zu einem Ort der Selbstgenügsamkeit, der sich wie eine eher science-fictionhafte Darstellung von Adornos total administrierter Gesellschaft liest. Und es kann keinen Widerstand, kein „Zurück“ geben, zum Teil deshalb, weil die Alternative jene Nostalgie nach dem Natürlichen, nach den Ursprüngen wäre, die von der Postmoderne so vehement ausgeschlossen wird.

„Das Reale ist das, wovon man eine gleichwertige Reproduktion geben kann. Die Natur ist so weit hinter sich gelassen worden, dass die Kultur die Materialität bestimmt, genauer gesagt, die mediale Simulation die Realität prägt.“ „Das Simulakrum (A.d.Ü., Scheinbild) ist niemals das, was die Wahrheit verbirgt – es ist die Wahrheit, die verbirgt, dass es keine gibt. Das Simulakrum ist wahr.“ Debords „Gesellschaft des Spektakels“ – aber in einem Stadium der Implosion des Selbst, des Handelns und der Geschichte in die Leere der Simulationen, so dass das Spektakel nur noch sich selbst dient.

Es liegt auf der Hand, dass in unserem „Informationszeitalter“ die elektronischen Medientechnologien immer dominanter geworden sind, aber die Übertreibung von Baudrillards dunkler Vision ist ebenso offensichtlich. Die Betonung der Macht der Bilder darf nicht die zugrundeliegenden materiellen Determinanten und Ziele, nämlich Profit und Expansion, verschleiern. Die Behauptung, dass die Macht der Medien heute bedeutet, dass das Reale nicht mehr existiert, ist mit seiner Behauptung verwandt, dass die Macht „nirgendwo mehr zu finden ist“; und beide Behauptungen sind falsch. Die berauschende Rhetorik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die wesentlichen Informationen des Informationszeitalters mit den harten Realitäten von Effizienz, Buchhaltung, Produktivität und dergleichen befassen. Die Produktion ist nicht durch die Simulation ersetzt worden, es sei denn, man kann sagen, dass der Planet durch bloße Bilder verwüstet wird, was nicht heißen soll, dass eine fortschreitende Akzeptanz des Künstlichen die Erosion dessen, was vom Natürlichen übrig geblieben ist, nicht erheblich unterstützt.

Baudrillard behauptet, dass der Unterschied zwischen Realität und Repräsentation zusammengebrochen ist und uns in einer „Hyperrealität“ zurücklässt, die immer und nur ein Simulakrum ist. Seltsamerweise scheint er die Unvermeidbarkeit dieser Entwicklung nicht nur anzuerkennen, sondern sie sogar zu feiern. Das Kulturelle im weitesten Sinne hat ein qualitativ neues Stadium erreicht, in dem der eigentliche Bereich der Bedeutung und der Signifikation verschwunden ist. Wir leben im „Zeitalter der folgenlosen Ereignisse“, in dem das „Reale“ nur noch als formale Kategorie überlebt, und das, so meint er, wird begrüßt. „Warum sollten wir denken, dass die Menschen ihr tägliches Leben verleugnen wollen, um nach einer Alternative zu suchen? Im Gegenteil, sie wollen daraus ein Schicksal machen … die Monotonie durch eine noch größere Monotonie ratifizieren.“ Wenn es einen „Widerstand“ geben sollte, dann ist sein Rezept dafür ähnlich wie das von Deleuze, der die Gesellschaft zu mehr Schizophrenie anregen würde. Das heißt, er besteht ganz und gar in dem, was das System gewährt: „Ihr wollt, dass wir konsumieren – o.k., lasst uns immer mehr konsumieren, und zwar alles Mögliche; zu jedem sinnlosen und absurden Zweck.“ Das ist die radikale Strategie, die er „Hyperkonformität“ nennt.

An vielen Stellen lässt sich nur erahnen, auf welche Phänomene sich Baudrillards Übertreibung bezieht, wenn überhaupt. Die Bewegung der Konsumgesellschaft in Richtung Uniformität und Zerstreuung wird vielleicht an einer Stelle angedeutet… aber warum sollte man sich die Mühe machen, wenn die Behauptungen nur allzu oft kosmisch überhöht und lächerlich erscheinen. Dieser extremste Theoretiker der Postmoderne, der inzwischen selbst zu einem der meistverkauften Kulturgüter geworden ist, hat von der „unheilvollen Leere des gesamten Diskurses“ gesprochen, anscheinend ohne zu wissen, dass er damit auf seine eigene Leere verweist.

Japan mag nicht als „Hyperrealität“ gelten, aber es ist erwähnenswert, dass seine Kultur noch entfremdeter und postmoderner zu sein scheint als die der USA. Nach dem Urteil von Masao Miyoshi „sind die Auflösung und der Untergang der modernen Subjektivität, von denen Barthes, Foucault und viele andere sprechen, in Japan schon seit langem zu beobachten, wo die Intellektuellen chronisch über die Abwesenheit des Selbst beklagen“. Eine Flut von weitgehend spezialisierten Informationen, die von Experten aller Art bereitgestellt werden, unterstreicht das japanische High-Tech-Konsumethos, in dem die Unbestimmtheit der Bedeutung und eine hohe Wertschätzung der ständigen Neuheit Hand in Hand gehen. Yoshimoto Takai ist vielleicht der produktivste Kulturkritiker des Landes; irgendwie erscheint es vielen nicht seltsam, dass er auch ein männliches Fotomodell ist, das die Tugenden und Werte des Einkaufens preist.

Yasuo Tanakas äußerst populäres Somehow, Crystal (1980) war wohl das japanische Kulturphänomen der 80er Jahre, denn dieser leere, unverschämt konsumorientierte Roman, der von Markennamen nur so strotzt (ähnlich wie Bret Easton Ellis‘ American Psycho von 1991), dominierte das Jahrzehnt. Doch mehr noch als die Oberflächlichkeit ist es der Zynismus, der den vollen Anbruch der Postmoderne in Japan zu kennzeichnen scheint: Wie sonst ist es zu erklären, dass die prägnantesten Analysen von der pm – Now is the Meta-Mass Age, zum Beispiel – von der Parco Corporation, dem trendigsten Marketing- und Einzelhandelsunternehmen des Landes, veröffentlicht werden. Shigesatu Itoi ist ein Top-Medienstar mit einer eigenen Fernsehsendung, zahlreichen Veröffentlichungen und ständigen Auftritten in Zeitschriften. Die Grundlage für den Ruhm dieses Idols? Ganz einfach, weil er eine Reihe von hochmodernen (auffälligen, fragmentierten usw.) Werbespots für Seibu, Japans größte und innovativste Kaufhauskette, geschrieben hat. Wo der Kapitalismus in seiner fortschrittlichsten, postmodernen Form existiert, wird Wissen genauso konsumiert, wie man Kleidung kauft. „Bedeutung“ ist passé, irrelevant; Stil und Aussehen sind alles.

Wir sind schnell an einem traurigen und leeren Ort angelangt, den der Geist der Postmoderne nur zu gut verkörpert. „Niemals zuvor in einer Zivilisation schienen die großen metaphysischen Fragen, die grundlegenden Fragen nach dem Sein und dem Sinn des Lebens, so weit entfernt und sinnlos“, urteilt Frederic Jameson. Peter Sloterdijk stellt fest, dass „die Unzufriedenheit in der Kultur eine neue Qualität angenommen hat: Sie erscheint als universeller, diffuser Zynismus“. Die Erosion des Sinns, vorangetrieben durch verstärkte Verdinglichung und Fragmentierung, lässt den Zyniker überall auftauchen. Psychologisch „ein Borderline-Melancholiker“, ist er nun „eine Massenfigur“.

Die postmoderne Kapitulation vor Perspektivismus und Dekadenz neigt dazu, die Gegenwart nicht als entfremdet zu betrachten – sicherlich ein altmodisches Konzept -, sondern eher als normal und sogar angenehm. Robert Rauschenberg: „Leute, die Dinge wie Seifenschalen, Spiegel oder Colaflaschen hässlich finden, tun mir wirklich leid, denn sie sind den ganzen Tag von solchen Dingen umgeben, und das muss sie unglücklich machen.“ Nicht nur, dass „alles Kultur ist“, die Kultur der Ware, ist beleidigend; es ist auch die Bestätigung dessen, was ist, durch die Weigerung, qualitative Unterscheidungen und Urteile zu treffen. Wenn die Postmoderne uns zumindest den Gefallen tut, unbewusst die Zersetzung und sogar die Verderbtheit einer kulturellen Welt zu registrieren, die die gegenwärtige erschreckende Verarmung des Lebens begleitet und unterstützt, dann ist das vielleicht ihr einziger „Beitrag“.

Wir sind uns alle der Möglichkeit bewusst, dass wir bis zu ihrer und unserer Selbstzerstörung eine Welt ertragen müssen, die auf fatale Weise unscharf ist. „Offensichtlich löst sich die Kultur nicht auf, nur weil die Menschen entfremdet sind“, schrieb John Murphy und fügte hinzu: „Es muss jedoch eine seltsame Art von Gesellschaft erfunden werden, damit die Entfremdung als normativ angesehen wird.“

Wo bleiben unterdessen Vitalität, Verweigerung, die Möglichkeit, eine nicht verstümmelte Welt zu schaffen? Barthes proklamierte einen nietzscheanischen „Hedonismus des Diskurses“; Lyotard riet: „Lasst uns Heiden sein.“ Welch wilde Barbaren! Natürlich ist ihr wirkliches Material leer und entmutigt, eine durch und durch relativierte akademische Sterilität. Die Postmoderne lässt uns hoffnungslos in einem unendlichen Einkaufszentrum zurück, ohne lebendige Kritik, nirgendwo.


1A.d.Ü., auf Englisch bedeutet subject „Subjekt“ aber auch „Untertan“.

2A.d.Ü., Différance stammt aus dem französischen Verb différer, was gleichzeitig bedeutet was zu zurückstellen/verschrieben und auch anders sein. Es handelt sich hier um einen Neologismus von Derrida. Auf Französisch Unterschied ist différence.

3A.d.Ü., Phonozentrismus ist der Glaube, dass Laute und Sprache der geschriebenen Sprache von Natur aus überlegen oder primärer sind als sie.

4A.d.Ü., Die explication de texte, oft auch als explication française bezeichnet, ist eine Methode zur Analyse literarischer Texte.

5A.d.Ü., zur Ware werdend, Verdinglichung.

[Griechenland] Giannis Michailidis – Ein Brief aus der Spezial-Zelle im Krankenhaus von Lamia

quelle: indymedia athen Da die Anthropozentrik der Mehrheit unserer Gesellschaft die oben genannten geistigen Eigenschaften ausschließlich dem Menschen zuschreibt, wird man mir wahrscheinlich Anthropomorphismus vorwerfen (Sie werden mir erzählen, was man Ihnen alles vorgeworfen hat, hat Sie das gestört?). Allerdings schreibe ich den Skorpionen keine Eigenschaften zu, die sich nicht aus ihrem Verhalten ableiten lassen, […]