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Anarchismus, Nationalismus, Krieg und Frieden
Einige Überlegungen zu Anarchismus, Nationalismus, Krieg und Frieden, angeregt durch die jüngsten Ereignisse.
1. „Die wahre Ursache, der Auslöser, der Urheber dieses Krieges ist also kein bestimmter Staat, sondern alle Staaten, die eine imperialistische Politik verfolgen und versuchen, ihre Territorien zu erweitern: Deutschland, England, Frankreich, Österreich-Ungarn, Russland, Belgien und Japan; jeder für sich und alle zusammen sind seine Ursache.“ – Herman Gorter, „Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie“ (1914)1.
Imperialismus ist nicht einfach das „schlechte Verhalten“ von Nationalstaaten wie den USA oder Russland. Er ist die Logik einer in Nationalstaaten aufgeteilten Welt innerhalb der Wettbewerbslogik des globalen Kapitalismus. Als konkurrierende Zonen der Akkumulation (A.d.Ü., oder auch Akkumulationszonen) werden die Nationalstaaten im Kampf um Ressourcen und Macht unweigerlich in einen gewaltsamen Wettbewerb miteinander verwickelt, unabhängig davon, ob sie von Falken oder Tauben geführt werden.
2. Nationalismus beruht auf dem Anspruch einer bestimmten Bevölkerung mit einer gemeinsamen nationalen Identität auf ein bestimmtes Gebiet: Der Nationalstaat beansprucht die Souveränität über das Gebiet innerhalb seiner Grenzen. Der historische Anspruch auf das Territorium wurde oft mit Gewalt, also durch militärische Eroberung, durchgesetzt. Das Recht einer Gruppe von Menschen ( Staatsbürger, Nationale), einen besonderen Anspruch auf ein Gebiet zu erheben, ist gleichzeitig das Recht, „Fremde“, Ausländern, Einwanderer auszuschließen. Nationalismus ist also eine Behauptung von Eigentumsrechten. Der Nationalismus untermauert die Vorstellung, dass die Arbeiterklasse auf der Grundlage einer gemeinsamen Identität eine klassenübergreifende „Gemeinschaft“ mit den Eliten bildet und gemeinsame Interessen mit ihnen teilt.
„Kein Volk erhielt seinen Platz auf der Erde zugesprochen nach Maßgabe rechtmäßiger Besitzansprüche von einer überirdischen Instanz, […] Das Recht auf nationale Autonomie und staatliche Souveränität ist nur ein anderer Name für das Unrecht, Leute zu schikanieren, auszuweisen, abzuschieben mit der Begründung, daß sie den falschen Paß oder die falsche Geburtsurkunde besäßen, und dieses Unrecht ist keine Verfälschung der Nationalstaatsidee, sondern ihr – bisweilen durch die Toleranz einsichtiger Menschen freilich gemildertes – Wesen. [….] Der Rechtsanspruch von Menschen, Völkern, Nationen auf ein Stück Erde ist nur ein anderer Name für den Anspruch, andere von diesem Stück Erde zu vertreiben. In jeder feierlichen Proklamation des Existenzrechts eines Volkes steckt die Drohung, das Existenzrecht diesem oder einem anderen Volk zu entziehen.“ – Wolfgang Pohrt, „Über die radikale Linke und die nationale Befreiung“ (1982).2
3. Im Namen der „nationalen Befreiung“, des „Nationalismus der Unterdrückten“ oder des „Antiimperialismus“ unterstützt die Linke am Ende den imperialistischen Krieg, sie unterstützt das organisierte und gegenseitige Abschlachten verschiedener Nationalitäten der Arbeiterklasse unter „ihren“ Flaggen. Das schimärenhafte Ideal der „nationalen Befreiung“ hat in der Geschichte nur zur Entstehung korrupter, bürokratischer Regime geführt, die schließlich die Arbeiterschaft unterdrücken, sobald sie die Maschinerie des kapitalistischen Staates unter Kontrolle haben. Die Politik des Nationalismus kann die Vorherrschaft des Kapitals über den Planeten in keiner Weise in Frage stellen. Nationalistische Kämpfe führen allenfalls zu einer Neuordnung der Machtverhältnisse zwischen den Nationalstaaten, zu einer Umschichtung der Reihen.
„Die Arbeiterklasse sollte nicht über ihre Rechte, sondern über ihr Klasseninteresse sprechen. Von einem Recht auf nationale „Selbstbestimmung“ zu sprechen (als ob eine geografische Gruppierung antagonistischer Klassen ein „Selbst“ sein kann!) ist so, als würde man sagen, dass Arbeiter ein „Recht“ haben, Sklaven zu sein, wenn sie wollen, oder ein „Recht“, sich mit einem Hammer auf den Kopf zu schlagen, wenn sie wollen. Jeder, der das „Recht“ auf etwas unterstützt, das gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist, trägt in Wirklichkeit dazu bei, es zu befürworten, egal wie geschwollen er sich ausdrückt.“ – Subversion #16, „Die revolutionäre Alternative zur linken Politik“ (1995).3
4. Kann Nationalismus als Grundlage für den Klassenkampf dienen? Beachte Paul Matticks Worte: „Entgegen früheren Erwartungen konnte der Nationalismus weder für sozialistische Ziele genutzt werden, noch war er eine erfolgreiche Strategie, um den Untergang des Kapitalismus zu beschleunigen. Im Gegenteil: Der Nationalismus zerstörte den Sozialismus, indem er ihn für nationalistische Ziele nutzte.“ – Paul Mattick, „Nationalismus oder Sozialismus“ (1959)4.
5. Nationale Unterdrückung wird es so lange geben, wie es Nationalstaaten gibt – die anarchistische Lösung für das Problem der nationalen Unterdrückung ist die sozialrevolutionäre Auflösung der Nationalstaaten, nicht der Rückzug der Arbeiter hinter konkurrierende Nationalismen. Die anarchistischen Revolutionen in der Ukraine und in Spanien haben die historische Möglichkeit der Entnationalisierung und der Selbstverwaltung von Territorien durch die Arbeiter gezeigt.
6. „Was wirst du tun, wenn Amerika in den Krieg zieht? […] Ich persönlich habe weder Freude noch Interesse daran, in irgendeinen Krieg zu ziehen; aber sich gegen den Krieg auszusprechen, erscheint mir albern und nutzlos. Man muss ihm materielle Kräfte entgegensetzen, nicht bloße Verhaltensweisen, und jeder, der sich nicht an der Gestaltung dieser Kräfte beteiligt, ist auch nicht gegen den Krieg, so sehr er das auch beteuern mag. Die Frage selbst legt den Gedanken nahe, dass man sich für den Frieden und gegen den Krieg einsetzen soll, aber ich bin genauso gegen den kapitalistischen Frieden wie gegen den kapitalistischen Krieg. Ich habe auch keine Wahl zwischen den beiden Situationen; ich kann nur dazu beitragen, einem System ein Ende zu setzen, das seine Existenz durch die Tendenz zum Wechsel zwischen Krieg und Frieden sichern muss.“ – Paul Mattick, „Was wirst du tun, wenn Amerika in den Krieg zieht?“ (1935)5
Beispiele für praktische Aktivitäten, die Anarchistinnen und Anarchisten gegen den Krieg unternehmen können, sind der Kampf gegen kriegsbefürwortende Propaganda, Arbeitskämpfe, Sabotage, Unterstützung von Flüchtlingen, gegenseitige Hilfe und der Kampf gegen das System der Einwanderungskontrollen, das Menschen daran hindert, Kriegsgebiete zu verlassen und sich dort niederzulassen, wo sie wollen, und sie stattdessen dazu zwingt, sich auf Menschenhändler zu verlassen. Anarchistinnen und Anarchisten sind gegen den Krieg, aber wir sind nicht für den Frieden. Die Bedingungen des kapitalistischen Friedens mit all den Widersprüchen, die sie mit sich bringen, führen zu kapitalistischen Kriegen. Wir lehnen „Militarismus oder Frieden“ als eine falsche Wahl ab. Angesichts der Realität des Krieges setzen wir uns für die Abschaffung des Systems ein, das den Krieg produziert. Die globale Wahl ist heute wie vor hundert Jahren nur Sozialismus oder Barbarei.
1A.d.Ü., auch hier zu lesen, Imperialismus, der Weltkrieg und die Sozialdemokratie
2A.d.Ü., auch hier zu lesen, Linksradikalismus und nationaler Befreiungskampf
3A.d.Ü., hier die komplette Ausgabe, auf Englisch, Subversion #16 und hier der erwähnte Artikel The revolutionary alternative to left-wing politics
4A.d.Ü., hier auf Deutsch, Paul Mattick, Nationalismus oder Sozialismus
5A.d.Ü., hier auf Englisch, Paul Mattick, What will I do when America goes to War?