April
2020
Zwei Funkmasten erleuchten die nächtliche
Ausgangssperre
Während die Hälfte der Weltbevölkerung sich freiwillig oder
erzwungenermaßen zuhause einsperrte, schwang sich ein Anarchist aus
Besançon auf sein Fahrrad um sich zum Mont Poupet im Jura zu
begeben. Am Gipfel seiner steilen Abhänge entfachte Boris in der
Nacht des 10. April zwei große Funkmasten mit den Flammen der
Subversion: die den vier [französischen] Mobilfunkanbietern
gehörten, aber auch der Polizei und der Gendarmerie, was etwa 100
000 Euro Schäden hinterließ.
Nachdem sie ihn mittels einer vor Ort gefundenen DNA-Spur
identifizierten, wurde der Gefährte im Gefängnis von Nancy
inhaftiert und im April 2021 zu vier Jahren Knast verurteilt, davon
zwei auf Bewährung. In einem im Knast verfassten öffentlichen Brief
verteidigte er seine Handlungen mit dem Willen, sich mittels der
direkten Aktion gegen die wachsende Digitalisierung unseres Lebens,
sowie die ganze Kontrolle, die Umweltzerstörungen und die sozialen
Verheerungen, die diese mit sich bringt, zur Wehr zu setzen.
Unglücklicherweise, während er auf seinen Berufungsprozess wartete,
wurde der Gefährte im August in einem Zellenbrand schwer verletzt,
dessen Ursprung und die Eile der Schließer ihn ersticken zu lassen
bis heute noch nicht geklärt sind, und wo Ermittlungen bis heute
nicht abgeschlossen sind. Seit nun mehr als eineinhalb Jahren ist
Boris also mit der medizinischen Macht konfrontiert.
August 2021-Juli 2022
Die medizinische Macht am Werk
Während er
von der Station für schwere Brandverletzungen im Krankenhaus von
Metz an die
Reha- und schließlich die
Palliativstation des Krankenhauses von Besançon
weitergereicht
wurde, war
Boris regelmäßig mit den Feindlichkeiten der hohen
Tiere
im
Weißkittel
konfrontiert, so offensichtlich war es für sie, dass ein nunmehr vom
Hals abwärts gelähmter Anarchist und Ex-Knacki nicht den geringsten
selbstständigen Willen, welche Behandlung er gerne hätte, zum
Ausdruck bringen könne. So konnte Boris seinen
erbitterten Willen zu überleben nur
protestierend und indem er Briefe schreiben ließ
hörbar machen
und so ein Minimum an aktiver Behandlung durchsetzen.
Er hatte auch lange gegen die Weigerung des Krankenhauses kämpfen
müssen, ihm seine Patientenakte zu übergeben, oder dass
ihm nahestehende Personen,
die keine Familienangehörigen sind, mit den Ärzten über seine
Situation sprechen können.
In
Reaktion darauf
entschied Madame Elisabeth Batit, die
in der Palliativstation für Boris zuständige Ärztin,
im Juni 2022,
einen weiteren Schritt zu tun in ihrer Unternehmung,
den Gefährten als Individuum zu zerstören: sie machte
bei der Staatsanwaltschaft von Besançon Meldung, um ein Prozedere
der „juristischen Unterschutzstellung“ in Gang zu bringen,
unter
dem Vorwand ihn vor seinen eigenen Entscheidungen „schützen“ zu
wollen! Eine
Vormundschaftsrichterin folgte anschließend ihren Empfehlungen und
ernannte einen Familienverein, die UDAF, als juristische
Bevollmächtigte zum Schutz Volljähriger (MJPM),
die
die gesamte Post, die Konten und zukünftigen Einkünfte (wie
beispielsweise das Sozialgeld für erwachsene Behinderte) des
Gefährten verwalten
soll.
August
2022
Solidarität und Besuchsverbot
Außerhalb
des Krankenhauses ließ daraufhin die Verbreitung eines Aufrufs gegen
die Schikanen der juristischen und ärztlichen Autoritäten gegen
Boris nicht lange auf sich warten, was sich ab August durch
mehrere dem gewidmete Solidaritätsaktionen
konkretisierte: farbenfrohe
Besuche an
den
Mauern der Büroräume der UDAF in Poitiers und Caen; Brandangriffe
auf Ladestationen für E-Autos und auf ein Fahrzeug von Scopelec
in
Toulouse; Glasbruch bei einer Bank oder beim Sitz des Knastbauers
Eiffage in
derselben Stadt; Brandstiftung an einem 5G-Funkmast in Barcelona und
einer Bullenkarre in Cochabamba (Bolivien)…
Vor
Ort, in Besançon, während wütende
Flyer auf den Besucher- und Personalparkplätzen des Krankenhauses
verteilt wurden,
entschied sein Direktor über eine drastische Maßnahme gegen den
Gefährten: ein
Besuchsverbot für jeden nichtfamiliären Besuch für Boris
ab dem 19. August 2022 auf
unbestimmte Zeit,
solange die Bullen
nicht die Urheber des Flugblatts,
das
zur Solidarität mit dem Gefährten aufrief,
identifiziert haben. Dieses
mehr oder weniger allgemeine Besuchsverbot wurde
kraft der Befugnisse
der internen Polizei der Einrichtung offiziell ausgesprochen, mit
der Begründung,
dass „[Boris]
regelmäßig von Freunden besucht wird, die möglicherweise mit der
Bewegung in Verbindung stehen, die Urheberin des Flugblatts
ist“.
Eine Maßnahme, die das Krankenhaus streng durchsetzen ließ und
dabei so weit ging, dass Besucher,
die vor den verschlossenen Türen der Palliativstation protestierten,
in der der Gefährte untergebracht
war, mithilfe
von Wachen hinausgeworfen wurden. Mitten
in
diesem
Hitzesommer war Boris neben seinen körperlichen Schwierigkeiten
nunmehr mit vier verschiedenen Verfahren
konfrontiert: Berufungsprozess in Nancy für den Angriff auf zwei
Funkmasten (immer noch angesichts seines Gesundheitszustands auf
unbestimmte Zeit verschoben), (weiterhin)
offene Ermittlungen in Nancy infolge des Zellenbrands, Einspruch in
Besançon gegen seine Entmündigung durch die UDAF… und nun ein
Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht um das Besuchsverbot für die
Gesamtheit aller nahestehenden
Personen
aufzuheben!
Diese
Episode wird schließlich zwei Wochen später enden,
zum großen Missfallen der Uniklinik von Besançon, die vor dem
Gericht am 5. September noch einen letzten Schachzug gewagt hatte…
indem sie den unwürdigen Vorschlag vorbrachte, dass die Personen mit
Besuchsverbot Besuche
doch
übers Telefon durchführen könnten (trotz der Querschnittslähmung
und dem Luftröhrenschnitt des Gefährten). An
jenem Tag hat man nicht nur erfahren, dass die berüchtigte Elisabeth
Batit – Chefärztin, die Boris an den Staatsanwalt versnitcht
und
sich seinen Anträgen in den Weg gestellt hatte
– sich für einen Monat krank gemeldet hatte, weil sie sich von der
anarchistischen Prosa „bedroht“
fühlte, sondern auch dass ein neuer Flyer desselben Kalibers vor dem
Krankenhaus verteilt worden war, noch ehe die Entscheidung des
Gerichts bekannt geworden war. Entscheidung, die sich am Ende des
Tages als für den Gefährten vorteilhaft herausstellte:
„die
Entscheidung des Uniklinikdirektors von
Besançon, die Besuche des Antragstellers auf die Mitglieder seiner
Familie zu beschränken, muss, unter den derartigen Umständen, als
eine gewichtige und offensichtich illegale Einschränkung der Rechte,
der Würde und des Privatlebens von M. X angesehen werden, dessen
Isolation sich aufgrund seiner Erkrankung davon stark verstärkt
sieht“…
Was
die
polizeiliche Seite
bezüglich dieses Flugblatts
betrifft, gegen den das Krankenhaus Anzeige wegen „Verleumdung“
erstattet hatte,
wollen wir präzisieren, dass die Situation von Boris drei Tage nach
der Wiederaufnahme der Besuche
auf der Tagesordnung eines Hygiene-
und Sicherheitskomitees des
Krankenhauses stand, um „die
Entlassung des Patienten in Betracht zu ziehen“;
dass zwei Gewerkschafter-Hobbybullen,
die bei der Uniklinik arbeiten (einer von Sud-Santé und einer der
CGT/NPA [Sud-Santé, CGT: zwei linke französische
Gewerkschaften, NPA: Nouveau Parti Anticapitaliste,
antikapitalistische Partei]),
Parallelermittlungen in den anarchistischen Milieus von Besançon
führten
und ein bisschen überall herumfragten,
wer den
Flyer
geschrieben und verteilt haben könnte, unter dem Vorwand, dass sie
von der vorgebrachten Kritik, die gegen ihre noble Institution
vorgebracht worden
war,
„traumatisiert“
worden
seien; dass der Kommunikationsservice des Krankenhauses sich für das
Gerichtsurteil kleinlich rächte,
indem er drei Wochen später den Journalist:innen von
L‘Est républicain einen
weinerlichen
Abriss
der Geschehnisse
zukommen ließ, was diesen
eine
halbe Seite wert war mit dem Titel „Die
Freunde
eines Ex-Häftlings von Nancy im Krieg mit der Uniklinik von
Besançon“,
in dem man nebenbei erfährt, dass „die
Angelegenheit inzwischen in den Händen der Präfektur vom Doubs und
der regionalen Gesundheitsbehörde
liegt“.
Und
endlich, Anfang Januar 2023, wurden ein anarchistischer Gefährte und
eine Gefährtin aufgrund
des
Vorwurfs
der „Diffamierung
mittels Flugblatt“
(immer noch dasselbe)
ins Kommissariat von Besançon bestellt: sie haben sich hinbegeben,
nichts ausgesagt, und bisher folgte nichts aus diesem x-ten Versuch
der Autoritäten Druck auszuüben.
Januar
2023
Im Readapationszentrum
Infolge
der warmen
Solidarität, die sich infolge der Agitation vor Ort gezeigt hat, und
insbesondere infolge der Entschlossenheit von Boris den ärztlichen
Autoritäten nicht nachzugeben, hat die Situation ab Herbst letztlich
angefangen sich zu entspannen. Im Oktober hat der Gefährte endlich
(nach mehr als acht Monaten) seine Patientenakte in Papierform und
auf sein Zimmer erhalten. Mitte Dezember hat er endlich seine
Verlegung in eine neue Gesundheitseinrichtung genehmigt
bekommen,
weit weg von der Palliativstation von Besançon, wo sie versucht
hatten ihn zu begraben und wo er niemals hätte sein dürfen, dieses
Mal in einem anderen Département von Franche-Comté. In diesem
Readaptionszentrum für neurologische Tetraplegie hat er zum ersten
Mal seit anderthalb Jahren duschen können,
wird er versorgt mit Krankengymnastik für die Atmung und die
Aufrichtung, arbeitet
ein Ergotherapeut daran einen Rollstuhl an seine Bedürfnisse
anzupassen… und eine Entlassung aus dem krankenhäuslichen
Rahmen zeichnet
sich ab.
Außerdem wurde bei einer Anhörung zu den Modalitäten der
„juristischen Unterschutzstellung“ von Boris, die von einer
Vormundschaftsrichterin
erlassen worden war, die UDAF, die alle Konten und die Post des
Gefährten verwaltet hatte, in Erwartung einer gründlichen
Anhörung im März entlassen.
Nun
wo Boris konkret damit beginnen kann eine Rückkehr gen Straße und
Sonne, weit weg vom Bett und den
Apparaten,
an
die
er
schon viel zu lange unter den Neonröhren eines Krankenhauszimmers
gefesselt
ist,
ins Auge zu fassen, stellt sich die Frage nach finanzieller
Unterstützung.
Der unmittelbare Bedarf, der mit ihm und der medizinischen Truppe des
Readapationszentrums besprochen worden ist, ist der Kauf eines
maßgeschneiderten und auf seine Bedürfnisse ausgerichteten,
aufrichtenden elektrischen Rollstuhls, den
er mit einer unter seinem Kinn platzierten Kugel selbst bedienen
kann, ebenso wie andere, in ihre
Struktur integrierte smarte
Befehle (wie das Öffnen von Türen). Neben
der momentanen Readaptionsbehandlung in der neuen Einrichtung, die
eine Entlassung des Gefährten unter sechs Monaten vorsieht,
neben den technisch-administrativen Kämpfen mit der Staatsbürokratie
um an Finanzierungen zu kommen, ist es klar, dass man trotzdem eine
beachtliche Summe auftreiben muss. Das Ziel ist, dass Boris dank
eines derartigen maßgeschneiderten elektrischen Rollstuhls
Selbstständigkeit mit der größtmöglichen Mobilität
wiedererlangt.
„Ein Rollstuhl für Boris“
In
Besançon und in Paris werden sich gerade verschiedene Initiativen
ausgedacht um Fonds zu sammeln und an der Operation „Ein Rollstuhl
für Boris“ teilzunehmen. Jedes antiautoritäre Individuum und
Kollektiv, das selbst auf dezentralisierte Art und Weise ein Konzert,
ein Soliessen, ein Kartenturnier,
eine Diskussion oder andere Festivitäten organisieren möchte um
einen Beitrag zu dieser Operation beizutragen ist natürlich
willkommen!
Der
Gefährte hat sich mit zwei Orten koordiniert um die Kohle zu
sammeln. Sie kann entweder per Scheck oder Überweisung geschickt
werden (schreibt
an
retourausoleil@riseup.net), oder an
folgenden Orten
hinterlassen werden:
Bibliothèque
Libertad – 19 rue Burnouf – 75019 Paris
Librairie
Autodidacte – 5 rue Marulaz – 25000 Besançon
Im
Laufe all dieser Prüfungen
hat Boris nie aufgehört mit den Mitteln zu kämpfen, die ihm zur
Verfügung standen, während er weiterhin seine anarchistischen Ideen
verteidigt. Nach 11 Monaten Knast, 18 Monaten schwerer
Hospitalisierung und 3 Verfahren
am
Hals
(für die Funkmasten, den
Brand im Knast, die Entmündigung) ist ein kleines
Licht am Ende des Tunnels sichtbar: damit er wieder
mit
uns den Mond anheulen
kann, helfen wir dem Gefährten sich diesen Superrollstuhl zu gönnen…
Solidarische
Anarchisten und Komplizen von Boris
März 2023