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Ob Gefängnis oder Krankenhaus, nieder mit jeder Herrschaft!

[Nach einem ersten zusammenfassenden Statement über die aktuelle Situation von Boris, die am 28. Juli erschien – Die ärztlichen und juristischen Autoritäten stürzen sich auf Boris –, ist gerade ein weiterer Text erschienen, der etwas spezifischer auf die ärztliche Herrschaft eingeht, mit der der Gefährte konfrontiert ist…]

Der anarchistische Kamerad Boris war seit September 2020 für die Sabotage an zwei 5G-Mobilfunkmasten [1] während des ersten Lockdowns im Gefängnis von Nanvy-Maxéville inhaftiert gewesen. Er war bereits seit fast einem Jahr in Haft gewesen, als am Morgen des 7. August 2021 ein Brand in seiner Zelle ausbrach. Boris wurde daraufhin im Krankenhaus von Metz hospitalisiert, anschließend im Reha-Zentrum des Krankenhauses von Besançon. Momentan ist er auf der Palliativstation desselben Krankenhauses.

Meine erste Sorge wird es sein, die Gesundheit wiederherzustellen, zu bewahren oder zu fördern (in kursiv Auszüge aus dem hippokratischen Eid)

Seit Beginn seiner Hospitalisierung, und trotz der Rückfälle, verbessert sich der allgemeine Gesundheitszustand von Boris zusehends. Das hat die „Ärzteschaft“ des Krankenhauses von Besançon nicht daran gehindert zu entscheiden, dass es die Mühe nicht wert sei ihn im Fall einer erneuten Sepsis zu reanimieren, sowie jede therapeutische Behandlung einzustellen, die ihm eine Heilungschance verschaffen würde, und ihn in die Sterbeanstalt, was die Palliativstation nun mal ist, zu stecken. Seine aktuelle „Ärztin“, Elisabeth Batit, hat seinen Gesundheitszustand „evaluiert“ und hat entschieden, dass er „wenig Heilungschancen“ hätte, trotz des Umstands, dass seine positiven Entwicklungen dies unaufhörlich dementieren. Irren sich etwa die Ärzte? Viel schlimmer. Die Ärzte stützen sich, um ihre Diagnosen zu erstellen, auf Bilder, Untersuchungen, Analysen, ohne jemals sein klinisches Bild zu berücksichtigen, das sich von dem, was die Apparate sagen, stark unterscheidet. Das mechanisierte Bild hat mehr diagnostischen Wert als das reale Bild. Da es also die Maschinen sagen, ist Boris „unheilbar“ und deshalb lohnt es die Mühe nicht seinen Zustand zu verbessern!

Ich werde mein Wissen nicht gegen die Gesetze der Menschlichḱeit einsetzen

Außerdem blockiert Batit systematisch und absichtlich jede Überstellung an eine andere ärztliche Struktur, wo er bessere Heilungschancen hätte. Sie tritt damit eines der grundlegenden Prinzipien des „Berufsethos“ und der Ethik, an die die Ärzte so gerne erinnern, mit Füßen, das des Nicht-Schaden-Zufügens, jenes Schadens, den ein Arzt absichtlich und freiwillig seinem Patienten zufügt. Da, wo die Gesundheit von Boris nicht oder kaum mit Problemen zu kämpfen hat, verpasst man ihm eine Ausnahmemaßnahme, die den vollständigen Verlust der Freiheit in seinem Leben im Hinblick auf das Treffen von Entscheidungen zur Folge hat. Und umgekehrt, da wo er mit gewichtigen Schwierigkeiten zu kämpfen hat (fast vollständige Lähmung der Gliedmaßen), da leugnet man diese, indem man ihn in eine gewöhnliche Umgebung versetzt: was man ihm in seinem Zustand empfiehlt, ist eine Hospitalisierung zuhause (!)

Ich werde jede Person respektieren, ihre Autonomie und ihren Willen, ohne jegliche Diskriminierung bezüglich ihres Zustandes oder ihrer Überzeugungen. Ich werde nichts unternehmen, das meine Kompetenzen überschreitet.

Kein Staat hat jemals die Existenz politischer Gegner anerkannt, die seine Existenz selbst infragestellen und bekämpfen. Es handelte sich um „Banditen“, „Feinde der Nation“, häufig um „psychiatrische Fälle“, mit dem Ziel den politischen Diskurs und die Aktion zu unterdrücken und zu diskreditieren. Die polizeiliche und juristische Macht hat bereits etliche Male probiert die Sabotageakte von Boris zu entpolitisieren, indem sie versuchten ihn als pyromanischen Psychopathen darzustellen. Auf seiner Seite hat Boris sich immer politisch zur direkten Aktion und der Propaganda durch die Tat selbst bekannt, wie seine Aktionen gegen die Technologie in den Händen des Staates und des Kapitals, die in der allgemeinen Erfassung, der konstanten Überwachung und der Verwandlung unserer Körper und unseres Lebens in Ware resultieren. Das, was die juristische Macht nicht erreicht hat, hat nun die ärztliche in die Hand genommen. Elisabeth Batit hat dem Staatsanwalt von Besançon eine Meldung gemacht, in der sie eine „juristische Unterschutzstellung“ [2] beantragte. Schöne Worte (als ob die Justiz des Staates „beschützen“ könnte), die eine schmutzige Realität verbergen: jene der Infantilisierung einer erwachsenen Person, die fortan dieselben Rechte und Handlungsspielräume wie ein Kind hat. Eine soziale Zurückstufung, die für die Personen vorgesehen ist, die nicht der sozialen, gesundheitlichen oder geistigen Norm, wie sie vom Staat im Dienste des Kapitals definiert wird, entsprechen. Diese elitäre, selektive, geradezu eugenische Politik stützt sich dabei wesentlich auf die Ärzteschaft, die nicht zögert, diese mit ihrem „wissenschaftlichen Wissen“ zu legitimieren. Abkömmlinge der kollaborierenden Ärzte, die den Puls der gefolterten Personen maßen, um den Henkern zu sagen, ob sie weitermachen konnten, haben Elisabeth Batit und Thomas Carbonnel, der psychiatrische „Experte“, entschieden, dass Boris „beinflussbar“ sei (ist das ein medizinischer Begriff?), der Vorwand für die „juristische Unterschutzstellung“. Im kollektiven Vorstellungsvermögen ist eine entmündigte Person viel zu oft eine „beschränkte“ Person. Boris eine Entmündigungsmaßnahme aufzuerlegen enthüllt ein klares politisches Ziel: seine Worte nicht nur zu „psychologisieren“, gar zu „psychiatrisieren“, sondern diese auch zu diskreditieren und zu entpolitisieren, unter dem Vorwand, dass er nicht mehr alle seine geistigen Fähigkeiten besäße. Für uns anarchistische Freund.innen und Kamerad.innen, die sich die Zeit nehmen stundenlang mit ihm zu diskutieren, ist es klar, dass er nicht nur alle seine intellektuellen Fähigkeiten noch besitzt, sondern er beweist außerdem bei jedem Besuch, dass sein Gedächtnis funktioniert, dass er sich seinen Geschmack für die Kritik an der sozialen und politischen Welt bewahrt hat, und im weiteren Sinne dieses Kämpferische, das Ausdruck eines offensichtlichen Lebenswillens ist. Da der hippokratische Eid für Batit hohle Worte sind und sinnentleert, erinnern wir sie an den Untergang, der ihr vollkommen entspricht:

Ich soll entehrt und verachtet sein, wenn ich dagegen verstoße

Batit, das ist bereits der Fall! Wir rufen zur solidarischen Aktion mit Boris auf, mit den Mitteln, die jeder und jede für angemessen hält.

ERHOBENEN HAUPTES
FLAMMENDEN HERZENS
SOLIDARITÄT MIT BORIS

Anarchistische Kamerad.innen

Indymedia Lille, 13. August 2022

[1] Die beiden am 10. April 2020 auf dem Mont Poupet angezündeten Antennen während des ersten Lockdowns waren keine 5G-Antennen, sondern 4G-Masten von Enedis, der Gendarmerie, der Polizei und der vier Mobilfunkanbieter (SFR/Bouygues & Orange/Free) [Anm. von Sans Nom]

[2] In Deutschland entspräche das Wohl der Anordnung einer „rechtlichen Betreuung“. [Anm. d. Übs.]

BESANÇON (FRANKREICH) : DIE MEDIZINISCHEN UND JURISTISCHEN MÄCHTE VERFOLGEN BORIS WEITER.

Im April 2020 hat unser Freund und Gefährte Boris Funkmasten von vier Telefonanbietern sowie Bullen und Gendamerie am “Mont Poupet” (Jura) in Brand gesteckt. Er wurde durch eine DNA-Spur an einem Flaschendeckel identifiziert, und im September 2020 in das Gefängnis von Nancy eingesperrt; im April 2021 wurde er dann zu vier Jahren Knast verurteilt, zwei davon auf Bewährung. In einem von ihm aus dem Knast veröffentlichtem Brief1 verteidigt er laut und deutlich seine Taten motiviert durch sein Verlangen, sich der wachsenden Digitalisierung unserer Leben – mit all der Kontrolle, und der Verwüstung der Umwelt und der gesellschaftlichen Verhältnisse die sie mit sich bringt – durch die direkte Aktion zu widersetzen. Im August 2021 wurde Boris durch ein Feuer in der Zelle schwer verletzt und befindet sich deswegen seitdem in der Gewalt der medizinischen Autoritäten. Aus juristischer Sicht wurde seine Gefangenschaft im darauf folgendem September, am angesetzten Tag der Berufung, beigelegt, während der Prozess selbst (auf unbestimmte Zeit) verschoben wurde. Zur selben Zeit wurde eine Ermittlung, die immernoch läuft, einer Richterin aus Nancy übergeben, um die Ursache des Brandes der Zelle zu klären und um die Zeit zu ermitteln, die sich die Wärter liessen, um unseren Gefährten in seiner Zelle ersticken zu lassen.

Da Boris sich einige Monate im künstlichem Koma und semi-bewussten Zuständen befand, konnte er damals keine eigenen Entscheidungen treffen. Es ist natürlich vorgekommen, dass die Ärzte sich mehrmals in den Diagnosen irrten, aber immer mit unerschütterlichen Selbstvertrauen. Anfang März 2022 wurde Boris von der Station für schwere Verbrennungen des Metz-Krankenhauses in die Intensivstation des Uni-Klinikums von Besançon verlegt. In dieser wurde im April entschieden ihn loszuwerden, indem er in eine andere Station verlegt wurde, die eigentlich für seinen Gesundheitszustand nicht geeignet ist, und ohne dass seine Meinung über diese Entscheidung in Betracht gezogen worden wäre. Diese schwerwiegende Entscheidung, die konkret das Ausbleiben einer angemessenen Versorgung zur Folge hat, wurde hauptsächlich dadurch gerechtfertigt, dass keine Besserung seines Gesundheitszustandes festzustellen gewesen wäre; diese Einschätzung wurde auf der Basis von schrecklichen statistischen Kriterien getroffen. Diese Kriterien beziehen offensichtlich nicht das spezifische Individuum mit ein, auf das sie auf so absolute, sachliche und allgemeingültige Art und Weise angewendet werden. Selbst wenn dieses Individuum seinen unbändigen Willen weiterzuleben und um Besserung zu kämpfen ausdrückt. Unter dem Vorwand seiner aktuellen Quadriplegie und obwohl er im Stande ist zu sprechen, bei klarem Bewusstsein und kämpferisch ist, haben die Ärzte entschieden, ihn nicht wiederzubeleben, falls eine neue ernsthafte Infektion auftreten würde. Nur dadurch, dass u.a schriftlich protestiert wurde, wurden die Ärzte dazu gezwungen, seinen Willen zu überleben zu berücksichtigen und ihm ein Minimum an aktiver Behandlung zu zugestehen.

Selbstverständlich ist das Ganze mit der Zeit für die Krankenhaus-Autoritäten inakzeptabel geworden. Ein anarchistischer ex-Häftling, der es wagt das medizinische Dogma in Frage zu stellen, der sich weigert deren tödliche Diagnosen ohne zu mucken hinzunehmen, kann wohl nicht bei klarem Verstand sein! Gemäss der Bosse in Weisskitteln soll er notwendigerweise zu “beeinflussbar” (aufgrund seiner anti-autoritären Ideen?) sein. Dazu versucht Boris unnachgiebig Zugang zu seinen medizinischen Akten zu bekommen, trotz all den Hindernissen, die ihm die Krankenhausverwaltung bis jetzt stellt, um ihm diesen Zugang zu verwehren. Ausserdem verlangt er, dass zusätzlich zu seiner Familie ihm nahestehende Personen über seine Situation mit der Ärztin diskutieren können; diese Forderungen brachten das Fass der Autoritäten zum überlaufen.

Und so hat am 8. Juni 2022 Frau Elisabeth Batit, Ärztin des Uni-Klinikums von Besançon und beauftragt mit Boris Fall, bewaffnet mit der Macht die ihre Funktion ihr zuspricht und die sie um jeden Preis durchsetzen möchte, entschieden; in ihrem Unterfangen den Gefährten als Individuum zu brechen, einen Schritt weiter zu gehen. Ohne sein Wissen und in einer gerichtlichen Ausschreibung, die sie zusammen mit der Sozialarbeiterin des Klinikums unterzeichnet hat und an das öffentliche Büro der Staatsanwaltschaft von Besançon schickte (jenem Staatsanwalt, der zuvor schon mit den Ermittlungen zu den brennenden Antennen betraut wurde), stiess sie einen “Unterschutzstellungsverfahren” an, angeblich um ihn vor seinen eigenen Entscheidungen zu “schützen”. Wie könnte es nur besser laufen, für den eifrigen Staatsanwalt, welcher direkt am selben Tag befohlen hat, einen psychiatrischen Experten zu Boris zu schicken, um zu verordnen, dass unser Gefährte zusätzlich zu seiner Lähmung auch noch “unfähig” wäre “selbst für seine Interessen zu sorgen”. So ist am 14. Juni der Folterer des Geistes, Thomas Carbonnel, – kein anderer als der Vizedirektor der lokalen Psychiatrie und welcher von dem Staatsanwalt extra auf seiner kleinen offiziellen Liste ausgewählt wurde – unangekündigt in Boris Zimmer erschienen, um letztendlich zu empfehlen, ihn unter “verstärkte Beistandschaft” zu stellen.

Daraufhin hat eine Jugendrichterin aus Vesoul, die seit einigen Wochen beim Gericht von Besançon als “Richterin für Vormundschaften” tätig ist, in einem vorläufigem Eilverfahren einen Notfall-Beschluss, bezeichnet als “gerichtliche Pflegeschaft”, gegen unseren Gefährten ausgesprochen. Diese Massnahme wird eventuell bei einer Gerichtssitzung, die innherhalb eines Jahres stattfinden muss, verschärft werden. Dies könnte dazu führen, dass er für einige Jahre unter Beistand- oder Vormundschaft gestellt wird. Aus der muffigen Dunkelheit ihres Büros, ohne irgendjemanden zu warnen, selbst die betroffene Person nicht, entschied die Richterin Marie-Lee Avena am 8. Juni, dass Boris “übermässige Handlungen ausführen” könnte und ernannte in Folge dessen einen gesetzlichen Bevollmächtigen: die UDAF 25 (Union Familiale du Doubs), die ab diesem Moment die Kontrolle über all seine Post, seine Konten und seine zukünftigen Ressourcen (wie zum Beispiel den Zuschuss für behinderte Erwachsene) übernommen hat.

Die UDAF wurde durch ein Familiengesetz des Vichy-Regimes gegründet und im Jahre 1945 reformiert. Sie setzt sich aus dutzenden religiösen und sekulaeren Verbänden zusammen, die einen der Grundpfleiler des Patriarchats vertreten: die Familie. Es ist eine der Hauptorganisationen, auf welche der Staat sich stützt, um die Autonomie von einer Million Menschen, die unter Vormundschaft oder Beistandschaft gestellt werden, zu zermalmen. Zwischen 1968 und 2007 geschah dies u.a mit der Begründung von “Verschwendertum, Unenthaltsamkeit oder Müssiggang”, ….

An der UDAF 25 nehmen, zusätzlich zu einer Hunderschaft von Mitarbeiter*innen, natürlich auch Leute teil, die nach immer mehr Macht streben, wie zum Beispiel die neue Präsidentin, Karima Rochdi, ehemalige Stellvertreterin des Bürgermeisters von Besançon (Mitglied der Macron Partei, LREM). Sie, die jetzt mit eisernen Faust über die notwendigen administrativen Schritte, zu denen der Gefährte verpflichtet ist um aus dem Krankenhaus zu kommen, bestimmen will, ist dieselbe Person, die u.a ständig gegen die ZAD von Vaites in Besançon gehetzt hat und die Gegner der Betonierung der alten Schrebergärten dieses Viertels als Pack “extremistischer Ökologen” beschimpfte. Ausserdem: der neue Generaldirektor von der UDAF 25, Thierry Pilot, der insbesondere mit den “Massnahmen zum gerichtlichen Schutz von Erwachsenen” beauftragt ist, die gerade unserem Gefährten auferlegt werden, hat einen grossen Teil seiner Karriere als Manager bei einem der grössten Ausbeuter von behinderten Personen in Doubs absolviert; früher ADAPEI genannt, jetzt Stiftung Pluriel. Ihr Verwaltungsrat setzt sich u.a aus dem Oberarzt der Abteilung in der Boris sich noch befindet, einem Repräsentanten des Innenministeriums und dazu noch der ehemaligen Direktorin der Strafvollzugsbehörden von den Regionen Doubs und Jura zusammen…

Die Ausbeutung und die Bevormundung und Disziplinierung von Menschen, die als “labil” oder “von der Norm abweichend” bezeichnet werden, ist ein staatlich subventioniertes Geschäft und ein gut etabliertes Räderwerk, welches durch eine ganze Clique von Autoritätsfiguren und von paternalistischen “guten” Absichten am Laufen gehalten wird.

Seit Jahren verteidigt Boris anarchistische Ideen gegen die Macht in all ihren Formen, und wieder einmal zahlt er dafür einen hohen Preis. Für die Demokratie, die uns immer mehr als einzig möglichen Horizont unter dem Paradigma der technologischen Freiheit verkauft wird, ist das Pathologisieren von sogenannten “anormalen” oder zu widerspenstigen Verhaltensweisen ein Mittel, um diese zu neutralisieren und ihre eigene Hegemonie durchzusetzen. Sei es durch die brutalste Repression oder durch Zwangsbevormundungsversuche gegen diejenigen, die sich nicht den bestehenden Verhältnissen fügen. Und warum sollte es auch anders laufen gegen einen Anarchisten oder all diejenigen, die aus der Reihe tanzen, wenn diese Lakaien für die Misere, die sie tagtäglich säen, wenigstensnicht eins ausgewischt kriegen?

 

Noch dazu geht es auch darum, gegen die stattfindende Entmündigung unser aller zu kämpfen,

Lebhafte Solidarität mit Boris, auf die Art und Weise, die jede*r als geeignet betrachtet…

 

Solidarische Anarchist*innen und Kompliz*innen von Boris

28 Juli 2022

1“Wieso ich die zwei Antennen vom Mont Poupet abgefackelt habe”

Ursprünge: Sechs Essays gegen die Zivilisation

Primitivismus. Was ist das überhaupt? Und was zur Hölle meinen diese ganzen Spinner, die sich anti-civ-Anarchist*innen nennen? Das Buch Ursprünge, das sechs Essays des Anarchisten John Zerzan versammelt, könnte immerhin einige Aspekte dieser Fragen beantworten. Ob Patriarchat, Landwirtschaft, Sprache, Zahl, Zeit oder Städte, an all dem hat John Zerzan etwas auszusetzen. Ein Spinner eben. Oder vielleicht doch nicht? Wer dieses Buch gelesen hat, ist zumindest in der Lage sich darüber sein*ihr eigenes Bild zu machen. Und dann gibt es da ja noch ganz viele andere Anarchist*innen, die ebenfalls etwas an dieser Zivilisation auszusetzen haben. Greta Thunberg jedenfalls findet, dieses Buch sollte verboten werden, und Ewgeniy Kasakow ist von seiner theoretischen Armut überzeugt. Aber wer würde schon auf die Meinungen dieser beider Randgestalten etwas geben? Und wenn man schonmal die Datei eines Buches kostenlos im Internet ergattern kann, dann schlägt man doch erst recht zu, oder nicht?

Stimmen zum Buch

Antiaufklärerische Positionen und offen zur Schau gestellter Antikommunismus: Dieses Buch zeigt die theoretische Armut moderner anarchistischer Positionen auf, die, indem sie die Lehren des Marxismus verwerfen, glauben den Verlauf der Geschichte in die eigenen Hände nehmen zu können. Wer jedoch nicht die nötige Disziplin aufzubringen vermag, sich in die Reihen der Partei einzureihen und den ihm zugedachten Platz in der Geschichte einzunehmen, der wird schließlich auf Seiten der Verlierer stehen.
– Ewgeniy Kasakow

Man erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst, wenn man statt auf Investitionen in erneuerbare Energien und grüne Technologien auf die chaotische Zerstörung der Zivilisation setzt und in Worten und Taten die technologische Grundlage unseres zukünftigen Überlebens untergräbt. Dieses Buch gehört verboten.
– Greta Thunberg

Inhalt

Vorwort
Patriarchat, Zivilisation und die Ursprünge des Gender
Landwirtschaft
Sprache: Ursprung und Bedeutung
Zahl: Ihr Ursprung und ihre Evolution
Das Unbehagen der Zeit
Alleine Zusammen: Die Stadt und ihre Gefangenen
Quellen und Editorische Anmerkungen
Weiterlesen

Vorwort der*des Herausgeber*in

Wer einmal jenseits der Bildschirmrealität einen Blick auf diese Welterhaschen konnte, und sei es auch nur für einen winzigen Moment, die*der kann sich kaum der Erkenntnis erwehren, dass die techno-industrielle Zivilisation, die unser Leben so fest mit ihrem eisernen Griff umklammert, nichts als todbringende Sklaverei für ihre Subjekte bedeutet. Während viele sich ob dieser Erkenntnis in die medial produzierte, digitale Scheinwelt flüchten, um sich von ihr abzulenken und sie schließlich wenigstens für eine kleine Weile wieder zu vergessen, entschließen sich einige wenige, den Kampf gegen diese Zivilisation aufzunehmen. Wo aber der Feind so durchdringend, so allumfassend, so übermächtig zu sein scheint, wo trotz zahlreicher identifizierter möglicher Angriffspunkte die Herrschaft des Feindes so total zu sein scheint, dass diese für sich genommen kaum geeignet scheinen, ihr nennenswerten Schaden zuzufügen, da stellt sich manch eine*r die Frage nach den Ursprüngen dieser Herrschaft. Wie konnte es der Herrschaft gelingen, sich dermaßen zu verfestigen? Wo nahm diese Entwicklung ihren Anfang? Wie haben vielleicht auch die Subjekte der Herrschaft dazu beigetragen, dass diese Entwicklung stattfinden konnte und wie lässt es sich vermeiden, heute, wo diese Entwicklung zwar nicht abgeschlossen, aber doch erheblich vorangeschritten ist, die gleichen Fehler zu begehen? Von den Antworten auf diese Fragen erhofft man sich dabei sowohl ein feineres Verständnis über die bis heute erhaltenen Funktionsmechanismen der Herrschaft zu erlangen, als auch bislang unerkannte und über die Jahrhunderte und Jahrtausende vielleicht in Vergessenheit geratenen Mechanismen zu entdecken, die der Herrschaft dabei helfen, sich zu reproduzieren.

Dieses Buch versammelt sechs Essays des in den USA lebenden Anarchisten John Zerzan, die allesamt spannende Perspektiven auf diese Frage nach den Ursprüngen von Zivilisation und Herrschaft werfen. Obwohl schon viele Jahre alt, wurde die Mehrzahl dieser Texte erst kürzlich ins Deutsche übersetzt. Mitunter mag das daran liegen, dass gerade sogenannte primitivistische Positionen wie sie unter anderem von John Zerzan vertreten werden, im hiesigen Kontext auf eine gewisse Abneigung
stoßen. Tatsächlich stehe ich einigen in dieser Tradition stehenden Ansichten selbst kritisch gegenüber. Kollapsistische Vorstellungen etwa, die nicht nur von einem unweigerlich bevorstehenden Zusammenbruch ausgehen, sondern in genau jenem Zusammenbruch auch automatisch die Chance zur Verwirklichung von nichtzivilisatorischen Lebensweisen wittern – und dabei andere Szenarien vernachlässigen, wie etwa eine ebenso wahrscheinliche globale Reorganisation der Herrschaftsbeziehungen –, scheinen mir nicht nur realitätsfern, sondern zugleich auch ein wirksamer Passivitätstreiber zu sein. Darauf zu warten, dass diese Zivilisation zusammenbricht, das erscheint mir wenig erstrebenswert. Ebensowenig taugt mir die utopische Vorstellung einer Rückkehr zu einer bestimmten, vorzivilisatorischen Lebensweise, denn auch wenn ich zweifelslos jene Lebensweise(n) der heutigen, standardisierten, sterilen, langweiligen und vor allem auf Ausbeutung und Herrschaft gründenden Lebensweise jederzeit vorziehen würde, so habe ich doch erhebliche Zweifel, dass es eine Rückkehr dorthin, wo auch immer man das verorten mag, geben kann. In einer verfallenen oder, was ich erstrebenswerter finde, zerstörten Trümmerlandschaft dieser Zivilisation wären wir einerseits mit einer tiefgreifend beschädigten Biosphäre konfrontiert, die uns sicherlich nicht jenen Überfluss zu bieten vermag, den sie einst intakt ihren Bewohner*innen aus grauer Vorzeit zu bieten vermochte, andererseits würden wir vermutlich durchaus Überreste der einstigen Zivilisation vorfinden, die sich mit etwas Kreativität und einer gesunden Vorsicht in unsere Lebensweisen integrieren ließen. [1]

Tatsächlich scheint mir die Überhöhung von durchaus vielfältigen Lebensweisen als Jäger*innen-/Sammler*innengemeinschaften zu einer Utopie vor allem Ausdruck davon zu sein, dass noch immer einem einzigen Bruchmoment, einer Revolution, als jenes singuläre Ereignis, das fortan ein Leben in Freiheit begründen müsse, nachgeeifert wird. Nach dieser Revolution … ja dann …, so fiebern jene diesem Ereignis entgegen, die selbst jedes Vertrauen in sich selbst und die eigenen Beziehungen aufgegeben haben, die sich nicht vorstellen können, hier und jetzt ein anderes Verhältnis zu der Welt einzunehmen, die sie so sehr verabscheuen. Aber wenn das so undenkbar ist, wie sollte dann jener revolutionäre Bruchmoment zustande kommen, in den so viel Hoffnung gesetzt wird? Wie käme es, dass selbst wenn ein solcher Moment aus irgendeinem Grund eintritt, die Energie der Menschen automatisch darauf gerichtet wäre, jene Verhältnisse zu begründen, die man sich selbst mit Müh und Not und in jahrzehntelanger Ausarbeitung vorzustellen vermag? Weder gibt es einen Weltgeist, der in solchen Bruchmomenten über die Menschen kommt, um ihnen den rechten Weg zu weisen, noch wäre irgendein Zustand, der das Prädikat Freiheit auch nur erahnen ließe, das unweigerliche Resultat eines solchen, revolutionären Bruchmoments, wie ein Blick auf die Revolutionen der Geschichte beweist. Die Revolution durch einen Kollaps zu ersetzen vermag da nur wenig Abhilfe zu schaffen. Wer nicht bereit ist, sein Schicksal hier und jetzt in die eigenen Hände zu nehmen, die*der braucht sich nicht wundern, wenn am Ende nichts bleibt als ein paar hübsche Theorien, die sich als untauglich herausstellen werden. Auch wenn John Zerzan anderswo einiges in diese Richtung schreibt, klingen kollapsistische Vorstellungen in den hier versammelten Texten höchstens am Rande an, weshalb das hier auch nicht in aller Ausführlichkeit kritisiert werden soll.

Bleibt die Frage Warum hier nur die Analysen von John Zerzan zusammengestellt wurden, warum nicht ergänzt durch eigene Analysen, die Analysen anderer Autor*innen, usw.? Ist es ein rein akademisches Interesse, das mit dieser Textsammlung verfolgt werden soll? Soll diese Textsammlung zu einer bestimmten Denkschule beitragen? Nichts wäre langweiliger als das. Ich denke vielmehr, dass die hier versammelten Texte auf ihre Weise an einigen der Grundfesten der Zivilisation rütteln und auch wenn es sich bei ihnen beinahe ausschließlich um Analysen handelt und gewissermaßen eine (aufständische) Perspektive fehlt, so denke ich doch, dass diese Textsammlung auch jenseits der heiligen Hallen der Akademie wertvolle Inspirationen liefern kann. Auf der Suche nach einer aufständischen Perspektive haben ganz verschiedene Individuen und Gruppen einige der hier formulierten Analysen (wenngleich nicht unbedingt genau diese) in den letzten Jahrzehnten weitergebracht, vertieft, diskutiert und dabei auch ganz unterschiedliche Praxen entwickelt. Daher habe ich am Ende dieses Buches auf einige, aus meiner Sicht besonders spannende, dieser Vertiefungen hingewiesen.

[1] Um das an dieser Stelle unmissverständlich klarzustellen: Ich denke nicht, dass Technologie etwas neutrales wäre, was sich ohne weiteres zu völlig anderen Zwecken, als sie einst entworfen wurde, nutzen lassen würde. Vielmehr glaube ich, dass eben auch die Überreste einer technologischen Welt auf grundsätzlich ähnliche Art und Weise genutzt werden können, wie auch natürlich in der Biospäre existente Dinge. Eine Wiederbelebung der technologischen Maschinerie jedoch würde meiner Meinung nach unweigerlich zu den selben Herrschaftsbeziehungen führen – inklusive ihres kolonialen und die Umwelt zerstörenden Charakters –, die
diese einst hervorgebracht hat und von denen sie selbst in ihrem Sinne optimiert wurde.

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Das Buch kursiert seit einigen Monaten in gedruckter Form. Einige letzte Exemplare können noch per E-Mail an schwarzerpfeil@riseup.net bestellt werden. Ansonsten wirst du vielleicht in der anarchistischen Bücherdealerei deines Vertrauens fündig.

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Beiß die Hand, die dich füttert, es ist die selbe, die dir die Kehle zudrückt!

Ein Aufruf zur Rebellion gegen die Teuerung des Lebens, die Zerstörung der Umwelt und das technoindustrielle System, das uns in Geiselhaft nimmt.

Seit Monaten haben uns Politik und Medien darauf eingestimmt, haben versucht uns zu verängstigen, haben kaum eine erdenkliche Maßnahme zur Bevormundung von uns, die wir von ihnen regiert werden, gescheut – wir sollen von nun an kalt duschen, in unseren beengten Wohnungen frieren oder uns mit dem Waschlappen waschen, wenn es nach dem Willen der Damen und Herren Politiker geht –, nun ist es soweit. Es fließt kein russisches Gas mehr durch die Pipeline Nord Stream 1, vermelden die Medien. Putin habe Deutschland das Gas abgedreht. Die konkreten Konsequenzen sind bislang kaum abzusehen, aber das seit Wochen und Monaten in den Medien diskutierte Szenario von Energiepreisexplosionen und daraus resultierender, allgemeiner Verelendung und Winter-, ebenso wie sozialer Kälte erscheint nicht gänzlich an den Haaren herbeigezogen. Das Klima in Deutschland wird rauer, politisch ebenso wie sozial.

Während sich die Regierung beeilt, ein sogenanntes “Entlastungspaket” zu schnüren, mit dem weniger diejenigen, denen angesichts der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen buchstäblich der Boden unter den Füßen weggerissen wird, entlastet, als vielmehr befriedet, das heißt eine Weile besänftigt werden sollen, so lange, bis der Politik die Lage oportun erscheint, sie fallen zu lassen, bläst die politische Opposition zum Protest. Und da die herrschende Politik in Deutschland eher dem linken politischen Flügel verbunden ist, sind es besonders die rechtspopulistischen Demagogen, die sich erhoffen, die Unterstützung der Massen zu erlangen. Aber was haben sie anzubieten? Die hohlen Phrasen, dass es die “Ausländer” seien, die dem deutschen Michel auf der Tasche liegen würden und deren Verpflegung oder gar Hofierung – nun, wer diesen Quatsch ernsthaft glauben will, der möge sich mal in eines der zahlreichen Flüchtlingslager begeben und sich ein eigenes Bild der Lage machen, um wieder auf dem Boden der Realität anzukommen – dazu führen würde, dass der brave deutsche Steuerzahler1 ärmer und ärmer wird, wer hat sie eigentlich noch nicht als unhaltbare und lächerliche Lügen durchschaut? Auch dass jene schuld wären, die nicht arbeiten gehen, die vielleicht, ja hoffentlich (!) sogar hier und dort einmal unsere Sklaventreiber um einen Teil ihrer Gewinne aus unserer Arbeit bringen, indem sie sich einfach nehmen, was sie brauchen, ohne zu bezahlen, ist im Grunde eine alte Leier. Sicher, in unserer Sklavenmoral als gehorsame, brave, genügsame und vor allem fleißige Arbeiter*innen, mögen jene, die sich auf die faule Haut legen, ebenso wie jene, die sich mit dem einen oder anderen kleinen Diebstahl von der Tafel unserer Ausbeuter*innen, ja ganz gewiss jene, die sich gelegentlich einmal (versehentlich oder aus Ignoranz) an unserem eigenen mickrigen Lohn für unser Sklavendasein vergehen, mit Verachtung betrachtet. Aber ist das nicht geheuchelt? Wer von uns zieht seine Arbeit wirklich dem Müßiggang vor, wenn er*sie die Wahl dazu hat? Und wen hat es nicht schon einmal in den Fingern gejuckt, sich wenigstens dieses eine Mal die gerechte Portion vom Kuchen einfach zu nehmen, anstatt noch um die letzten Krümel zu betteln? Und wer das nicht von sich sagen kann, der ist vermutlich Teil des Problems. Aber außer jenen allzu billigen Feindbildern, die uns höchstens davon ablenken werden, etwas wirksames gegen die miserablen Verhältnisse unseres Daseins zu unternehmen, was haben uns die Demagogen von Rechts sonst anzubieten? Nichts. Sie sind der gleiche Schlag an Politikern, die uns bevormunden, enteignen und ausbeuten wollen und werden, wie jene, die sich heute auf den Regierungssitzen ihre Ärsche wund sitzen.

Aber was wäre die Lösung? Diese Frage erfordert eine weitere Betrachtung des Problems, eine die weit über die unmittelbaren Belange einer Energieknappheit hinaus geht. Aber wenn wir nicht nur den nächsten Winter überleben wollen und uns dabei zudem weiter von der Gunst irgendwelcher Politiker und Ausbeuter abhängig machen, sondern wenn wir danach streben wollen uns ein für alle Mal von den Fesseln zu befreien, die uns zu einem würdelosen Dasein als Sklaven, die sich gemäß den Interessen der Herrschenden herumschubsen lassen müssen, verdammen, dann müssen wir uns die Zeit nehmen, das Ausmaß unserer Enteignung und Unterwerfung zu begreifen.

Wir haben uns hier in den letzten Jahrzehnten vor allem darin geübt, wegzusehen. Weil man uns Glauben gemacht hat, wir würden zu den Gewinnern des technoindustriellen Systems gehören. Weil wir einer der vielen Lügen aufgesessen sind, die uns eingeredet haben, wir wären etwas Besseres und es wären nicht unseresgleichen, die da in den entlegenen Peripherien der Welt gemetzelt und buchstäblich ausgehungert werden. Weil uns das Hinsehen depressiv gemacht hat und wir gedacht haben, wir könnten ohnehin nichts daran ändern. Vielleicht auch nur, weil wir vollauf damit beschäftigt waren, unsere Kredite abzubezahlen, mit denen wir uns den Einheitstraum eines Eigenheims erfüllt haben. Die Gründe mögen vielfältig sein und natürlich gilt das Gesagte nicht für alle. Natürlich hat es immer auch jene gegeben, die sich selbst in den versklavten und gemetzelten Menschenmassen wiedererkannt haben und die ihr Möglichstes unternommen haben, diese Grausamkeiten aufrichtig zu bekämpfen. Es geht mir auch weniger um einen moralischen Fingerzeig, sondern um etwas anderes. Fakt ist: Wir sind nicht anders als diese Menschen, wir hatten nur das Glück, in den letzten Jahren von den allzu grausamen Gemetzel verschont zu bleiben. Verschont deshalb, weil die Mächtigen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft unsere Komplizenschaft damit erkauft haben, dass sie uns ein paar Kanten Brot von ihrer reich gedeckten Tafel hingeworfen haben. Wie dumm und kurzsichtig wir doch gewesen sind.

Vielleicht hätte die Gaspipeline Nord Stream 1 schon sehr viel früher lahm gelegt werden sollen. Nicht von einem Despoten, der diese als politisches und wirtschaftliches Druckmittel gebraucht, sondern von uns selbst. In Solidarität mit jenen, die durch die Förderung von Gas und Öl aus ihrer Heimat vertrieben, deren Umwelt vergiftet und die bei der Arbeit auf den Gas- und Ölfeldern von den reichen Ölunternehmen regelrecht verheizt werden und die davon kaum mehr als Krankheit und Tod haben. Vielleicht … Aber es ist anders gekommen, warum einer nicht eingetretenen Vergangenheit nachtrauern?

Aber nun, wo das Gas nicht mehr fließt, was nun? Die politischen Eliten werden uns erzählen, dass Gas und Öl, ja dass Energie im Allgemeinen alternativlos wäre. Vielleicht werden sie die angespannte Situation des Energiemarkts dazu nutzen, noch sehr viel mehr dieser rotierenden Ungetüme namens “Windräder” in unsere Landschaften zu pflanzen oder in mehr von diesen schwarzen Wüsten namens “Photovoltaik” zu investieren. Vielleicht werden sie neue Atomkraftwerke bauen. Vielleicht werden sie das als einen Vorwand nutzen, offiziell in einen Krieg einzutreten, von dem sie längst Kriegspartei sind. Aber was haben wir von all dem? Wir sind doch stets nur diejenigen, auf deren Rücken diese  Machtprojekte ausgetragen werden sollen. Was haben wir davon, dass so ein Vögel-mordendes Ungetüm unsere Landschaft verschandelt? Sind wir es etwa, die die Gewinne einstreichen? Was haben wir davon, dass riesige Flächen mit Solarpanelen zugepflastert werden, auf denen nichts mehr wächst und gedeiht? Was haben wir davon, dass eine tickende atomare Zeitbombe in unserer Nachbarschaft steht und sowohl Luft, als auch Wasser verpestet? Es sind die selben Unternehmen, die selben steinreichen Bonzen, die zuvor Geld mit dem Gas (und Öl), das aus Russland und von anderswo auf der Welt zu uns kam, gescheffelt haben, die auch von all diesen neuen Energieprojekten profitieren.

Aber wir brauchen doch Strom und mit irgendetwas müssen wir ja heizen, oder etwa nicht? Sicher. Aber wozu brauchen wir eigentlich Strom? Um uns nach einem ermüdenden Arbeitstag vor die Glotze oder irgendeines der moderneren Unterhaltungselektronikgeräte zu begeben und dort unser Hirn zu entlüften, bis es an der Zeit ist schlafen zu gehen? Um  irgendwo zwischen Internet und Smartphonebildschirm heruzudödeln, auf der Suche nach einer Ablenkung dafür, dass unser Leben tatsächlich so langweilig geworden ist, wie wir vielleicht einmal befürchtet hatten? Und sicher gibt es auch nützliche(re) Geräte, die mit Strom versorgt werden wollen. Aber sind wir je auf die Idee gekommen, die eigentlich geringfügige Menge an Strom, die dafür nötig ist, einfach selbst zu produzieren? Jede*r für sich, oder gemeinsam mit den eigenen Nachbarn? Ohne Windräder und Photovoltaikanlagen, die uns von der Industrie abhängig und uns zu Komplizen bei der neokolonialen Förderung von Rohstoffen machen? Gewiss braucht es kein riesiges Stromnetz, um das bisschen Strom zu erzeugen, das nicht unserer Ablenkung von einem aufregenderen Leben dient. Ein Leben in dem wir selbst hinter den Bildschirmen hervorkommen und der Welt da draußen, ebenso wie einander unvermittelt in die Augen blicken. Das bundesweite und europäische Stromnetz, es dient vielmehr der Industrie, die die darüber transportierte Energie nutzt, um einen Haufen Müll zu produzieren, den keiner braucht und dabei zudem mutwillig unsere Umwelt zu vergiften oder anderweitig zu zerstören. Gewiss, was ich vorschlage ist eine gänzlich andere Lebensweise, als jene der technoindustriellen Zivilisation, aber was hält uns eigentlich davon ab, sämtliche Belange unseres Lebens selbst in die Hand zu nehmen? … Und was ist die Alternative?

Die Alternative wird uns von der Politik gepredigt: Haltet die Füße still, tut was wir sagen und vertraut darauf, dass wir schon alles richten werden. Aber dieser Alternative misstraut ihr doch, sonst wärt ihr schließlich nicht hier auf der Straße. Ihr wisst, dass euch von der Politik die Kehle zugedrückt wird, weiter und weiter und weiter, bis ihr schließlich ebenso ersticken werdet, wie eure Brüder und Schwestern in den entlegenen Regionen dieser Welt, in den Rohstoffminen, auf den Öl- und Gasfeldern und den Ghettos und Lagern, in die man sie gesperrt hat, weil man sie dort nicht mehr brauchte.

Und ihr liegt richtig: Die Politik will euch mit ihren Versprechungen und “Entlastungspaketen” ganz billig abspeisen, damit ihr jetzt nicht rebelliert. Dabei gibt es doch eine sehr viel naheliegendere Lösung für Preissteigerungen von Lebensmitteln und Energie: Warum nicht die Supermärkte plündern, in denen sich einige eine goldene Nase verdienen, weil wir essen müssen. Warum nicht Holz, Gas, Öl- und was man sonst noch zum Heizen benötigen mag, ebenfalls von denen stehlen, die es in Vorbereitung auf militärische Operationen im Ausland oder auch bei der Niederschlagung rebellierender Bevölkerungen im Inland horten? Warum nicht einfach mal die Stromrechnung nicht bezahlen, Stromzähler sabotieren, abgestellten Strom selbst wieder anstellen und nicht zuletzt auch für sich selbst oder gemeinsam mit den eigenen Nachbar*innen eigene Lösungen der Stromerzeugung schaffen, die unabhängig sind, von den großen, wie kleineren Energiekonzernen, die sich selbst an unserem Überleben noch bereichern wollen? Und sollte all das nicht genügen, wäre es dann nicht besser, jene wohlstandsgenährten und bio-gefütterten Politikerschweine zu verspeisen, als uns gegen jene zu richten, die ebenso wie wir unter dem System von Ausbeutung und Unterdrückung leiden, dem eben diese Politiker vorstehen? Gesünder wäre es allemal.

Es liegt in unserer Hand, was als nächstes passiert …

Eine Anarchistin, die ihre Entscheidung bereits getroffen hat.

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Bezmotivny – Eine Zeitung ohne Motiv, internationalistisch, anarchistisch

Der Name der Zeitschrift erinnert an die Bezmotivny-Anarchisten, die im Russland des frühen 19. Jahrhunderts den Angriff gegen die Bourgeoisie wählten, um den sozialen Frieden zu brechen und den Angriff auf den Staat zu radikalisieren. Den meisten erschien ein gewaltsamer Angriff damals als unprovoziert; das ist auch heute noch so. Das Ziel unserer Zeitung ist es vielmehr, die Momente eines andauernden Krieges zu sammeln, nicht der Resignation zu verfallen und dazu beizutragen, einen Grund aufzuzeigen, der existiert und immer existiert hat.

 

 Bezmotivny – Eine Zeitung ohne Motiv, internationalistisch, anarchistisch

Vorwort zur deutschsprachigen Sonderausgabe

Eineinhalb Jahre nach der ersten Ausgabe dieses Projekts (Nummer 0) haben wir uns entschlossen, uns als Gefährten und Gefährtinnen zusammenzutun, um mit diesem aus Italien stammenden Zeitungsprojekt, der anarchistischen Debatte einen internationalen Anstoß zu geben.

Was ihr hier in den Händen haltet, ist keine reine Übersetzung einer der verschiedenen Ausgaben von Bezmotivny, sondern eine Sonderausgabe, die keine Regelmäßigkeit in Sinn und keine Redaktion. Wir haben keine Ahnung, was passieren wird und was uns erwartet; um ehrlich zu sein, sind wir nicht einmal daran interessiert, es zu wissen. Was wir aber wissen ist, wer wir sind. Wir sind Gleichgesinnte, die sich frei und informell zusammengeschlossen haben, um dem von den italienischen Gefährten und Gefährtinnen initiierten Projekt Kontinuität, Schwung und internationale Reichweite zu verleihen. Wir hielten es für eine gute Idee, einen ersten Schritt zur Internationalisierung einer Zeitung zu machen, die wir nicht als Zeitung, sondern als ein Instrument für Anarchist:innen betrachten, das zur revolutionären Debatte und Propaganda beiträgt. Jede:r kann einen Beitrag leisten, unabhängig davon, ob er oder sie sich auf freiem Fuß befindet, der eigenen Freiheit beraubt ist oder fliehen musste. Wir laden daher Anarchist:innen aus aller Welt ein, dieser Reise eine Stimme und Seele zu verleihen. Indem man Beiträge an die italienische Redaktion einschickt, Übersetzungen macht oder die Texte verbreitet, die in dem vorliegenden Format veröffentlicht wurden oder es könnten auch Ausgaben in mehreren Sprachen entstehen. Jede und jeder auf eigene Weise, entsprechend der freien revolutionären Initiative. Wir hoffen, dass dieses Projekt wächst, dass es die Sprachbarrieren überwindet, dass es die Seelen der mutigen Minderheiten und deren rebellisches Bewusstsein, die im Krieg sind gegen das Bestehende, entflammt. So wie wir hoffen, dass die Saat der Revolte weiterhin ohne Gnade keimt und unseren Feind:innen keinen Aufschub gewährt.

Wir verstehen die anarchistischen und subversiven Druckmedien als eine Waffe, die uns zur Verfügung steht, um unsere Kritik gegen diese berüchtigte Welt, die uns umgibt, zu propagieren. Durch die gedruckten Seiten werden die Bedingungen geschaffen, um die Ideen, die Worte und die Taten zu verbreiten und die widerspenstigen Köpfe zu erschüttern. Es liegt dann am Einzelnen, „die im Kopf erarbeitete und im Herzen bebende Theorie in die Tat umzusetzen“, wobei stets zu bedenken ist, dass Worte und Taten untrennbar miteinander verbunden sind. Um es klar zu sagen: Wir werden sicherlich Repression erfahren, wir werden sicherlich unterdrückt. Der Staat und seine Repression werden uns wahrscheinlich daran hindern wollen weiterzumachen, indem sie uns den Boden unter den Füßen wegziehen, aber wie wir zur Genüge wissen, ist das Leben kurz und es gibt schlimmeres! Für jedes unterdrückte Projekt, für jede gefesselte Hand, für jede zerbrochene Seele wird es immer jemanden geben, der das Werkzeug vom Boden aufhebt. Sei es ein Stift, ein Hammer oder eine Pistole. Diese Ausgabe enthält Übersetzungen einiger Beiträge, die in den ersten zehn Ausgaben der Zweiwochenschrift „Bezmotivny“ in italienischer Sprache erschienen sind und die wir aus individueller Sicht, für besonders interessant halten. Einige Artikel wurden mit der Absicht ausgewählt bestimmte Analysen und Inhalte, die wir als fehlend erachteten, in die deutschsprachige anarchistische Debatte einzubringen.

Als ob die Scheiße, die uns umgibt und die man uns aufzwingen will, nicht schon schlimm genug wäre, erleben wir seit einigen Monaten den Ausbruch eines weiteren Krieges zwischen Staaten. In diesem Fall zwischen Russland und der Ukraine (zumindest vorläufig) und den daraus resultierenden Machtspielen zwischen den verschiedenen Weltmächten, einschließlich eines globalen Aufrüstungswettlaufs, wirtschaftlicher Streitigkeiten, nuklearer Drohungen und opportunistischer Streitigkeiten um die Rohstoffversorgung. All dies natürlich auf Kosten der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Nach dem Aufkommen dieser Dynamik hielten wir es für sinnvoll, die Übersetzungen der in den letzten Ausgaben von Bezmotivny veröffentlichten Analysen über den Krieg, hinzuzufügen. Da es sich um eine Zeitung handelt, in der jedes anarchistische Individuum seinen eigenen Beitrag leisten kann und da es sich um Texte handelt, die von Individuen mit ihrem eigenen Gewissen und nicht von einem Redaktionsteam geschrieben wurden, halten wir es für unerlässlich, die lexikalischen Entscheidungen, die von den Verfasser:innen des Originaltextes schwarz auf weiß getroffen wurden, beizubehalten. Damit sollen die Entscheidungen, die individuell sind und bleiben, nicht überbewertet oder geschmälert werden. Wir beziehen uns dabei insbesondere auf die Genderisierung von Namen. Im Text findet ihr verschiedene lexikalische Entscheidungen, die die Vorlieben der Autor:innen widerspiegeln.

Darüber hinaus haben wir uns entschieden, den Horizont zu erweitern und die Rubriken „Schwarze Chronik“, „Knastkorrespondenz“, „Infos über die Inquisition“ nach der zehnten Ausgabe von Bezmotivny zu berücksichtigen. Außerdem hielten wir es für wichtig, einen Beitrag – einer von vielen – aufzunehmen, der in der 18. Ausgabe der italienischen Ausgabe erschienen ist und sich mit der Situation befasst, unter der wir schon viel zu lange im Zusammenhang mit dem so genannten „Gesundheitsnotstand“ leiden.Was wir anregen möchten, ist eine Reflexion über die Inhalte dieser Zeitung, um den Vergleich zwischen den vielen Realitäten, die das anarchistische Denken und Handeln beleben, lebendig zu halten. Die Übersetzer und Übersetzerinnen, fühlen sich denjenigen, die die Texte geschrieben haben, verbunden, aber teilen keine einheitlich Tendenz, die in der Rhetorik einen gemeinsamen Nenner findet.

 Für internationale Komplizenschaft.

Es lebe die Anarchie!

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[Es folgt eine Zusammenfassung der in den ersten drei Ausgaben von Bezmotivny in Italien veröffentlichten Beiträgen: Un giornale Senza Motivo (Jahr I, Sonderausgabe – 14. Dezember 2020); Un giornale internazionalista (Jahr I, Ausgabe 1 – 15. Februar 2021); Un giornale anarchico (Jahr I, Ausgabe 2 – 1. März 2021)]

   Der Name der Zeitschrift erinnert an die Bezmotivny-Anarchisten, die im Russland des frühen 19. Jahrhunderts den Angriff gegen die Bourgeoisie wählten, um den sozialen Frieden zu brechen und den Angriff auf den Staat zu radikalisieren. Den meisten erschien ein gewaltsamer Angriff damals als unprovoziert; das ist auch heute noch so. Das Ziel unserer Zeitung ist es vielmehr, die Momente eines andauernden Krieges zu sammeln, nicht der Resignation zu verfallen und dazu beizutragen, einen Grund aufzuzeigen, der existiert und immer existiert hat.

   Bezmotivny will ein vierzehntägiges Projekt sein – oder wagt es zu sein -, das sich vor allem mit dem befasst, was das Leben und die Existenz der Anarchisten selbst betrifft: die Praxis des Angriffs auf den Staat und seine Glieder und seine Repression. Deshalb werden auf diesen Seiten die subversiven Chroniken der Solidarität und Berichte über die Angriffe gegen unsere größten Feinde erscheinen – der Staat, das Kapital und all diejenigen, die ihre aufgeblähten Bäuche stopfen.

 Wir haben uns auch dafür entschieden, uns auf die Veröffentlichung von Texten inhaftierter Gefährten und Gefährtinnen auf der ganzen Welt zu konzentrieren, um zu betonen, wie wichtig es ist, die Debatte unter Anarchistinnen und Anarchisten zu fördern, ob sie nun im Gefängnis sitzen oder nicht. Die Macht versucht wie immer, mit infamen Methoden wie der Zensur, die Bindungen der Gefährten, die Geiseln des Staates sind, zu brechen; wir glauben, dass es wichtig ist, ihre Isolation nicht zuzulassen, sondern sicherzustellen, dass sie weiterhin am anarchistischen Krieg teilnehmen können. Schließlich werden wir die Updates der Prozesse, die Adressen der inhaftierten Anarchisten, von denen wir wissen, und deren Verlegungen veröffentlichen. Wir haben uns dafür entschieden, zusätzlich zu einer E-Mail-Adresse eine Postadresse einzurichten, an die sich alle GefährtInnen wenden können, um sowohl denjenigen, die inhaftiert sind, als auch denjenigen, die freiwillig oder gezwungenermaßen keine telematischen Geräte nutzen, die Möglichkeit zu geben, weiterhin zu schreiben und sich an der anarchistischen Debatte zu beteiligen. Darüber hinaus schlagen wir den GefährtInnen, die diese Annahmen teilen, vor, zu dem Projekt beizutragen, indem sie die Zeitung in mehreren Sprachen und mit der gleichen Periodizität herausgeben und so versuchen, die Idee der Internationalisierung des Wunsches, jede autoritäre Präsenz in der Welt zu zerstören, noch eindringlicher zu machen.

 Was den Staat betrifft, so scheint es uns klar zu sein, auch wenn es nicht unbedingt für jeden so ist, dass wir unseren Krieg, den anarchistischen Krieg, nicht auf ein einziges Land reduzieren können. Wenn die Repression gegen Subversive die Grenzen überschreitet, wenn die Staaten sich immer mehr zu Repressalien gegen Anarchisten zusammenschließen, ist es vielleicht gut, sich daran zu erinnern, dass der Feind, auch wenn er sich in vielen Formen zeigt, ein und derselbe ist und an jedem Ort angegriffen werden muss – und kann.

 Zunächst einmal erkennen wir als anarchistische Individuen weder Staaten noch Grenzen an. Nur Gefährten aus einem bestimmten Land als Bezugsgemeinschaft anzuerkennen, bedeutet in der Tat, sich den Unterscheidungen anzupassen, die der Menschheit von der Macht auferlegt werden, und die von den Regierungen vorgenommene Einteilung zu unterstützen, nach der es einen Unterschied macht, in einem Gebiet geboren zu sein, das von dem einen oder anderen Staat verwaltet wird. Unbestreitbar gibt es Unterschiede, die von der Regierung, der man untersteht, den spezifischen Gesetzen jedes Staates und dem Ausmaß der Repression, der man ausgesetzt ist, bestimmt werden. Aber im Grunde genommen werden wir überall, wo wir geboren werden oder aufwachsen, mit Polizisten, Richtern und Gefängnissen konfrontiert. Die Erkenntnis, dass die Substanz unseres Kampfes gegen das Bestehende dieselbe ist und es daher von grundlegender Bedeutung ist, gemeinsame Überlegungen anzustellen, kann die Debatte durch den Vergleich zwischen Gefährten mit unterschiedlicher Erfahrungen verstärkt und mit unterschiedlichen spezifischen Situationen konfrontiert werden. Die Vielfalt der Geschichten und Probleme, mit denen wir je nach dem Ort, an dem wir leben, konfrontiert sind, ist ein enormer Reichtum, der uns nur helfen kann, unsere Waffen gegen die spezifischen Formen zu schärfen, die die Macht an jedem Ort annimmt: gerade weil die Macht, die sich verändert, dieselbe bleibt und damit der Kampf gegen sie. Als Anarchisten sind wir notwendigerweise Internationalisten: dies zu vergessen bedeutet, von der Notwendigkeit der Befreiung jedes Lebewesens zur Notwendigkeit der Befreiung der „Völker“ überzugehen, ein Projekt, das in der Tat auf die Bildung neuer Staaten hinausläuft, d.h. neue Polizisten, neue Richter, neue Gefängnisse und Gefangene. Es gibt keine unterdrückten „Völker“, es gibt unterdrückte Individuen: Erstere führen Kriege für die Macht, letztere führen Kriege gegen die Macht.

 Darüber hinaus haben wir in den letzten Jahren – zumindest in Europa – eine zunehmende Zusammenarbeit zwischen den Repressionsapparaten der einzelnen Staaten beobachtet. Für das Kapital gibt es trotz der verschiedenen Nationalisierungs- und Internationalisierungsbestrebungen Grenzen, die je nach Bequemlichkeit bestehen oder nicht bestehen. Viele Unternehmen, ob groß oder klein, haben Beteiligungen, Investitionen, Vereinbarungen, Hauptsitze und assoziierte Unternehmen in verschiedenen Staaten. Angesichts der Gegebenheit, dass Polizisten und Waren keine Grenzen anerkennen, kann eine wirksame Antwort unsererseits nur aus einer breiteren Perspektive entstammen, als der der fiktiven Grenzen, die uns auferlegt wurden. Das heißt auch den Gesichtspunkt der Repression zu beachten, damit wir nicht von der Zusammenarbeit zwischen den Bullen überrascht werden, die Beachtung des wirtschaftlichen Aspekte der Unternehmen, die an verschiedenen Orten ihre Niederlassungen und Interessen haben. Aus dieser Perspektive sind sie nämlich den Angriffen der Revolutionäre stärker ausgesetzt.

 Diese Ideen sind im Anarchismus nicht neu: Seit dem neunzehnten Jahrhundert liegt der Schwerpunkt auf internationaler Solidarität und grenzüberschreitender Organisation bei gleichzeitiger Wahrung der Unabhängigkeit kleiner Gruppen.

 Auch in den letzten Jahren gab es einen Dialog in Wort und Tat zwischen Anarchisten und Anarchistinnen aus allen Kontinenten, unter anderem durch den brillanten Vorschlag der Schwarzen Internationale. Bezmotivny will eine internationalistische Zeitschrift sein, weil die Kenntnis des anarchistischen Denkens und Handelns in der Welt die Perspektive verändert: das Schweigen und die Zensur, die die Macht versucht, der anarchistischen Solidarität aufzuzwingen, verhindert nicht, dass beide da sind, aber die Möglichkeit, mehr und mehr zu reden und zu vergleichen, kann dazu führen, die Angriffe zu intensivieren und die Waffen zu schärfen. Überall auf der Welt gibt es einen heißen Seufzer, der Grenzen überschreitet und eine Lawine auslösen kann, die das Bestehende überwältigt. Gegen ihre Kollaboration mit dem Ziel, uns zu vernichten, kann unsere internationale Komplizenschaft eine wirksame Kraft sein, um die staatlichen Strukturen an der Schläfe zu treffen.

 Wir schlagen ein Werkzeug vor, das jedem Anarchisten zur Verfügung steht. Ein Instrument, das mit dem Ziel geschaffen wurde, Diskussionen und Konfrontationen – die, wie wir hoffen, manchmal sehr hitzig sein können – zwischen den verschiedenen Vorschlägen, die aus den vielen Arten, den Anarchismus zu verstehen und zu praktizieren, aus der ganzen Welt stammen, aufzunehmen und zu erleichtern. Doch ähnlich wie in der Kartographie die steilen Hänge der Berge und die bewaldeten Weiten der Täler auf die Landkarten projiziert werden, ist auch die Darstellung der komplexen und vielfältigen Welt der anarchistischen Angriffe auf den Staat auf dem Papier mit gewissen Schwierigkeiten verbunden und erfordert manchmal die Anwendung einiger Tricks in der Entwurfsphase. Um dem unmittelbaren Platzbedarf gerecht zu werden, der sich aus der Begrenzung unserer Zeitung auf acht Seiten ergibt, aber auch, um der Gefahr vorzubeugen, sich angesichts der Fülle des Materials zu verzetteln, ist es notwendig, einige grundlegende Kriterien für die Auswahl der zu veröffentlichenden Nachrichten festzulegen. Wir haben uns daher entschlossen, auf diesen Seiten nur über Aktualisierungen von eindeutig anarchistischen Aktionen zu berichten, die von irgendeiner Art von Bekennerschreiben begleitet werden oder die sich in bestimmte Kontexte oder Zeitrahmen einfügen – zum Beispiel Solidaritätsaufrufe oder Mobilisierungskampagnen -, die den Spielraum für Zweifel und die Schwierigkeit der Interpretation in Bezug auf die Natur und die Motivationen der Aktion selbst verringern. Diese Entscheidung entspricht in erster Linie dem Bedürfnis, nicht in den Fehler zu verfallen, für andere zu sprechen und ihnen im Nachhinein andere Bedeutungen und Interpretationen zuzuschreiben als diejenigen, die die Handlung zum Zeitpunkt ihrer Ausführung beabsichtigt und sich vorgestellt haben. Wir halten es für grundlegend, dass unter den Anarchisten jeder Einzelne das volle und ausschließliche Recht hat, selbst zu entscheiden, ob und in welcher Form er seinen Handlungen Nachdruck verleihen will, ohne dass andere von außen Interpretationen oder Interpretationsschlüssel vorlegen. Die Aufnahme einer Nachricht in eine anarchistische Zeitschrift stellt an sich schon eine sehr präzise Konnotation der Aktion selbst dar, so dass in Fällen, in denen diese Konnotation nicht sofort erkennbar ist, lieber auf eine Veröffentlichung verzichtet wird. Aus denselben Gründen werden wir in jeder Ausgabe versuchen, die Nachrichten über Aktionen und Bekennerschreiben so weit wie möglich nicht mit unserer eigenen redaktionellen Lesart zu überlagern.

 Wir wollen mit dieser Entscheidung keine grundsätzliche Ablehnung der Praxis von Aktionen ohne Bekennung implizieren: Anonymität oder Signaturen – gleich welcher Art – erscheinen uns nicht als gegensätzliche Entscheidungen, und wir sind nicht der Meinung, dass das eine automatisch das andere ausschließen sollte. Ob man sich für das eine oder das andere entscheidet, kann von vielen Faktoren abhängen, z. B. von bestimmten Kontexten oder spezifischen Wünschen. Was unsere redaktionelle Arbeit in dieser Zeitung betrifft, so würden wir lieber das Risiko eingehen, eine Aktion nicht zu veröffentlichen, die in die anarchistische Debatte einbezogen werden sollte, als das noch größere Risiko einzugehen, fälschlicherweise etwas hervorzuheben, das – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Auch wenn wir die Personalisierung von Handlungen nicht um jeden Preis unterstützen wollen, überzeugt uns das Kriterium, dass die Beweggründe und Ziele, mit denen eine bestimmte Handlung durchgeführt wird, nicht relevant sind, überhaupt nicht: Unabhängig davon, was man über die Existenz von Handlungen, die für sich selbst sprechen, denkt oder nicht, ist es schwer zu leugnen, dass einige Handlungen – wie das Anzünden einer Kirche oder die Zerstörung einer 5G-Antenne, um nur einige Beispiele zu nennen – in bestimmten Fällen aus sehr unterschiedlichen und divergierenden Gründen durchgeführt werden können. In Ermangelung von Elementen, die es erlauben würden, die Aktion eindeutig in den Kontext der anarchistischen Kriegsführung einzuordnen, werden wir es vorziehen, sie nicht zu veröffentlichen, auch um keine Verwirrung mit Szenarien zu stiften, die manchmal sehr weit von anarchistischem Gedankengut entfernt, wenn nicht sogar völlig unvereinbar sind. Und schließlich: Wie lässt sich allgemein festlegen, was anarchistisch ist? Um dieser komplizierten Frage gerecht zu werden, haben wir beschlossen, uns hauptsächlich auf das Kriterium der Selbstdefinition zu stützen, da dies die einzige Annahme ist, die alle Facetten einbeziehen und respektieren kann, aus denen sich die individuelle und einzigartige Art und Weise, Anarchismus zu leben, eines jeden zusammensetzt. Wer sich als Anarchist definiert, drückt bereits die Entscheidung aus, sich mit einer bestimmten Welt auseinanderzusetzen und an jede Individualität dieser Welt richtet sich diese Zeitung. Bezmotivny ist eine anarchistische Zeitung, denn sie wird von Anarchisten für andere Anarchisten gemacht. Der Weg, den wir mit dem Projekt dieser Zeitschrift eingeschlagen haben, ist wahrscheinlich nicht einmal der einfachste, aber wir glauben, dass es wichtig ist, so viel wie möglich dazu beizutragen, jeder anarchistischen Individualität einen sicheren und konstanten Raum für die vielen Formen der Diskussion unter Anarchisten zu bieten. Das ist es, was uns interessiert und nachdem wir dieses Bedürfnis geäußert haben, werden wir in dieser Richtung weiterarbeiten, solange diese Zeitung existiert.

Für Zusendungen von Beiträgen und/oder Kritiken und Bestellungen:

senzamotivo@riseup.net

oder schreiben an

Bezmotivny c/o

Casella Postale 59,

54033 Carrara (MS) – Italien

Redaktionsschluss ist immer am darauffolgenden Sonntag um 19:00, nach dem Erscheinungsdatum der letzten Ausgabe.

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