Primitivismus. Was ist das überhaupt? Und was zur Hölle meinen diese ganzen Spinner, die sich anti-civ-Anarchist*innen nennen? Das Buch Ursprünge, das sechs Essays des Anarchisten John Zerzan versammelt, könnte immerhin einige Aspekte dieser Fragen beantworten. Ob Patriarchat, Landwirtschaft, Sprache, Zahl, Zeit oder Städte, an all dem hat John Zerzan etwas auszusetzen. Ein Spinner eben. Oder vielleicht doch nicht? Wer dieses Buch gelesen hat, ist zumindest in der Lage sich darüber sein*ihr eigenes Bild zu machen. Und dann gibt es da ja noch ganz viele andere Anarchist*innen, die ebenfalls etwas an dieser Zivilisation auszusetzen haben. Greta Thunberg jedenfalls findet, dieses Buch sollte verboten werden, und Ewgeniy Kasakow ist von seiner theoretischen Armut überzeugt. Aber wer würde schon auf die Meinungen dieser beider Randgestalten etwas geben? Und wenn man schonmal die Datei eines Buches kostenlos im Internet ergattern kann, dann schlägt man doch erst recht zu, oder nicht?
Stimmen zum Buch
Antiaufklärerische Positionen und offen zur Schau gestellter Antikommunismus: Dieses Buch zeigt die theoretische Armut moderner anarchistischer Positionen auf, die, indem sie die Lehren des Marxismus verwerfen, glauben den Verlauf der Geschichte in die eigenen Hände nehmen zu können. Wer jedoch nicht die nötige Disziplin aufzubringen vermag, sich in die Reihen der Partei einzureihen und den ihm zugedachten Platz in der Geschichte einzunehmen, der wird schließlich auf Seiten der Verlierer stehen.
– Ewgeniy Kasakow
Man erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst, wenn man statt auf Investitionen in erneuerbare Energien und grüne Technologien auf die chaotische Zerstörung der Zivilisation setzt und in Worten und Taten die technologische Grundlage unseres zukünftigen Überlebens untergräbt. Dieses Buch gehört verboten.
– Greta Thunberg
Inhalt
Vorwort
Patriarchat, Zivilisation und die Ursprünge des Gender
Landwirtschaft
Sprache: Ursprung und Bedeutung
Zahl: Ihr Ursprung und ihre Evolution
Das Unbehagen der Zeit
Alleine Zusammen: Die Stadt und ihre Gefangenen
Quellen und Editorische Anmerkungen
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Vorwort der*des Herausgeber*in
Wer einmal jenseits der Bildschirmrealität einen Blick auf diese Welterhaschen konnte, und sei es auch nur für einen winzigen Moment, die*der kann sich kaum der Erkenntnis erwehren, dass die techno-industrielle Zivilisation, die unser Leben so fest mit ihrem eisernen Griff umklammert, nichts als todbringende Sklaverei für ihre Subjekte bedeutet. Während viele sich ob dieser Erkenntnis in die medial produzierte, digitale Scheinwelt flüchten, um sich von ihr abzulenken und sie schließlich wenigstens für eine kleine Weile wieder zu vergessen, entschließen sich einige wenige, den Kampf gegen diese Zivilisation aufzunehmen. Wo aber der Feind so durchdringend, so allumfassend, so übermächtig zu sein scheint, wo trotz zahlreicher identifizierter möglicher Angriffspunkte die Herrschaft des Feindes so total zu sein scheint, dass diese für sich genommen kaum geeignet scheinen, ihr nennenswerten Schaden zuzufügen, da stellt sich manch eine*r die Frage nach den Ursprüngen dieser Herrschaft. Wie konnte es der Herrschaft gelingen, sich dermaßen zu verfestigen? Wo nahm diese Entwicklung ihren Anfang? Wie haben vielleicht auch die Subjekte der Herrschaft dazu beigetragen, dass diese Entwicklung stattfinden konnte und wie lässt es sich vermeiden, heute, wo diese Entwicklung zwar nicht abgeschlossen, aber doch erheblich vorangeschritten ist, die gleichen Fehler zu begehen? Von den Antworten auf diese Fragen erhofft man sich dabei sowohl ein feineres Verständnis über die bis heute erhaltenen Funktionsmechanismen der Herrschaft zu erlangen, als auch bislang unerkannte und über die Jahrhunderte und Jahrtausende vielleicht in Vergessenheit geratenen Mechanismen zu entdecken, die der Herrschaft dabei helfen, sich zu reproduzieren.
Dieses Buch versammelt sechs Essays des in den USA lebenden Anarchisten John Zerzan, die allesamt spannende Perspektiven auf diese Frage nach den Ursprüngen von Zivilisation und Herrschaft werfen. Obwohl schon viele Jahre alt, wurde die Mehrzahl dieser Texte erst kürzlich ins Deutsche übersetzt. Mitunter mag das daran liegen, dass gerade sogenannte primitivistische Positionen wie sie unter anderem von John Zerzan vertreten werden, im hiesigen Kontext auf eine gewisse Abneigung
stoßen. Tatsächlich stehe ich einigen in dieser Tradition stehenden Ansichten selbst kritisch gegenüber. Kollapsistische Vorstellungen etwa, die nicht nur von einem unweigerlich bevorstehenden Zusammenbruch ausgehen, sondern in genau jenem Zusammenbruch auch automatisch die Chance zur Verwirklichung von nichtzivilisatorischen Lebensweisen wittern – und dabei andere Szenarien vernachlässigen, wie etwa eine ebenso wahrscheinliche globale Reorganisation der Herrschaftsbeziehungen –, scheinen mir nicht nur realitätsfern, sondern zugleich auch ein wirksamer Passivitätstreiber zu sein. Darauf zu warten, dass diese Zivilisation zusammenbricht, das erscheint mir wenig erstrebenswert. Ebensowenig taugt mir die utopische Vorstellung einer Rückkehr zu einer bestimmten, vorzivilisatorischen Lebensweise, denn auch wenn ich zweifelslos jene Lebensweise(n) der heutigen, standardisierten, sterilen, langweiligen und vor allem auf Ausbeutung und Herrschaft gründenden Lebensweise jederzeit vorziehen würde, so habe ich doch erhebliche Zweifel, dass es eine Rückkehr dorthin, wo auch immer man das verorten mag, geben kann. In einer verfallenen oder, was ich erstrebenswerter finde, zerstörten Trümmerlandschaft dieser Zivilisation wären wir einerseits mit einer tiefgreifend beschädigten Biosphäre konfrontiert, die uns sicherlich nicht jenen Überfluss zu bieten vermag, den sie einst intakt ihren Bewohner*innen aus grauer Vorzeit zu bieten vermochte, andererseits würden wir vermutlich durchaus Überreste der einstigen Zivilisation vorfinden, die sich mit etwas Kreativität und einer gesunden Vorsicht in unsere Lebensweisen integrieren ließen. [1]
Tatsächlich scheint mir die Überhöhung von durchaus vielfältigen Lebensweisen als Jäger*innen-/Sammler*innengemeinschaften zu einer Utopie vor allem Ausdruck davon zu sein, dass noch immer einem einzigen Bruchmoment, einer Revolution, als jenes singuläre Ereignis, das fortan ein Leben in Freiheit begründen müsse, nachgeeifert wird. Nach dieser Revolution … ja dann …, so fiebern jene diesem Ereignis entgegen, die selbst jedes Vertrauen in sich selbst und die eigenen Beziehungen aufgegeben haben, die sich nicht vorstellen können, hier und jetzt ein anderes Verhältnis zu der Welt einzunehmen, die sie so sehr verabscheuen. Aber wenn das so undenkbar ist, wie sollte dann jener revolutionäre Bruchmoment zustande kommen, in den so viel Hoffnung gesetzt wird? Wie käme es, dass selbst wenn ein solcher Moment aus irgendeinem Grund eintritt, die Energie der Menschen automatisch darauf gerichtet wäre, jene Verhältnisse zu begründen, die man sich selbst mit Müh und Not und in jahrzehntelanger Ausarbeitung vorzustellen vermag? Weder gibt es einen Weltgeist, der in solchen Bruchmomenten über die Menschen kommt, um ihnen den rechten Weg zu weisen, noch wäre irgendein Zustand, der das Prädikat Freiheit auch nur erahnen ließe, das unweigerliche Resultat eines solchen, revolutionären Bruchmoments, wie ein Blick auf die Revolutionen der Geschichte beweist. Die Revolution durch einen Kollaps zu ersetzen vermag da nur wenig Abhilfe zu schaffen. Wer nicht bereit ist, sein Schicksal hier und jetzt in die eigenen Hände zu nehmen, die*der braucht sich nicht wundern, wenn am Ende nichts bleibt als ein paar hübsche Theorien, die sich als untauglich herausstellen werden. Auch wenn John Zerzan anderswo einiges in diese Richtung schreibt, klingen kollapsistische Vorstellungen in den hier versammelten Texten höchstens am Rande an, weshalb das hier auch nicht in aller Ausführlichkeit kritisiert werden soll.
Bleibt die Frage Warum hier nur die Analysen von John Zerzan zusammengestellt wurden, warum nicht ergänzt durch eigene Analysen, die Analysen anderer Autor*innen, usw.? Ist es ein rein akademisches Interesse, das mit dieser Textsammlung verfolgt werden soll? Soll diese Textsammlung zu einer bestimmten Denkschule beitragen? Nichts wäre langweiliger als das. Ich denke vielmehr, dass die hier versammelten Texte auf ihre Weise an einigen der Grundfesten der Zivilisation rütteln und auch wenn es sich bei ihnen beinahe ausschließlich um Analysen handelt und gewissermaßen eine (aufständische) Perspektive fehlt, so denke ich doch, dass diese Textsammlung auch jenseits der heiligen Hallen der Akademie wertvolle Inspirationen liefern kann. Auf der Suche nach einer aufständischen Perspektive haben ganz verschiedene Individuen und Gruppen einige der hier formulierten Analysen (wenngleich nicht unbedingt genau diese) in den letzten Jahrzehnten weitergebracht, vertieft, diskutiert und dabei auch ganz unterschiedliche Praxen entwickelt. Daher habe ich am Ende dieses Buches auf einige, aus meiner Sicht besonders spannende, dieser Vertiefungen hingewiesen.
[1] Um das an dieser Stelle unmissverständlich klarzustellen: Ich denke nicht, dass Technologie etwas neutrales wäre, was sich ohne weiteres zu völlig anderen Zwecken, als sie einst entworfen wurde, nutzen lassen würde. Vielmehr glaube ich, dass eben auch die Überreste einer technologischen Welt auf grundsätzlich ähnliche Art und Weise genutzt werden können, wie auch natürlich in der Biospäre existente Dinge. Eine Wiederbelebung der technologischen Maschinerie jedoch würde meiner Meinung nach unweigerlich zu den selben Herrschaftsbeziehungen führen – inklusive ihres kolonialen und die Umwelt zerstörenden Charakters –, die
diese einst hervorgebracht hat und von denen sie selbst in ihrem Sinne optimiert wurde.
Bestellungen
Das Buch kursiert seit einigen Monaten in gedruckter Form. Einige letzte Exemplare können noch per E-Mail an schwarzerpfeil@riseup.net bestellt werden. Ansonsten wirst du vielleicht in der anarchistischen Bücherdealerei deines Vertrauens fündig.