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ANTISISTEMA – Zeit(ung) für Anarchie und leidenschaftliche Zerstörung

Dies ist die erste Ausgabe der von nun an unregelmäßig erscheinenden bilingualen anarchistischen Zeitung Antisistema. Die Zeitung bietet Raum für anarchistische Analysen, Diskussionen und Dokumentationen von Angriffen auf Herrschaftsstrukturen.
Wir werden die PDFs der Zeitung von nun an in deutsch und englisch online stellen und regen dazu an diese dezentral zu drucken, verbreiten und zu diskutieren.

Kontakt: anti-sistema at riseup.net
Blog: antisistema.blackblogs.org

Inhaltsverzeichnis:

– Editorial
– Für mehr fröhliche Tollkühnheit
– Für einen entschlossenen Kampf gegen die industrielle Zerstörung der Erde!
– Die Frage der sozialen Revolution mit der Frage der Ökologie zu verknüpfen
– Der beste Angriff ist nicht die Verteidigung
– Auf Worte folgen Taten

Editorial:

Das (Un-)Bewusstsein des Einzelnen und seine mehr oder weniger freiwillige Teilhabe an der Gesellschaft ist das Triebwerk derselben. Die unzähligen Fragen und Zweifel, die man sich im Laufe des Lebens stellt, können überwältigend sein, und es ist nur schwer vorstellbar, sich von der vorherrschenden Vernunft zu lösen. Die Ideologie des Bürgers verhindert jede Entfesselung von Freiheit. Sich von den vorgeschriebenen Wegen der autoritären Gesellschaft zu entfernen, kann eine Frage des eigenen Willens sein – ist aber auch immer durch äußere Faktoren bedingt wie der Erfahrung des einzelne Individuum an seiner eigenen Haut ausgebeutet, reglementiert und gezüchtigt zu werden. Die Rebellion gegen jede Autorität und Erniedrigung mag gedanklich und weltweit als logische Schlussfolgerung erscheinen – ist es aber meistens nicht. Denn jedes hierarchische System ist mit einem ideologischen Kern verwoben. Unsere vermeintliche Hochkultur soll der Gipfel der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen und auch ökologischen Entwicklung sein. Sie scheint jedoch ganz praktisch viel eher die Vernichtung allen Lebens auf diesem Planeten zu bedeuten. Nichts ist mehr für die Zerstörung der Erde verantwortlich als der Industriekapitalismus, seine Fortschrittsideologie und die fortschrittsbesessene Menschheit in ihrer ganzen Komplexität, mit all ihren ineinander verwobenen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Illusionen. Viele dieser Träume sollen nun durch die Doktrin der Technologie und Wissenschaft endgültig verwirklicht werden. Doch auf dem Weg zur fragwürdigen „Vollkommenheit“ wird sie eine Spur der langfristigen Verwüstung hinterlassen. Atommüll, Mikroplastik, Asbest, Krebs und ein umfassendes ökologisches Desaster sind die Folgen. Das herrschende industrielle System fabriziert tagtäglich die Zerstörung der Erde und des Lebens.

Innerhalb dieser Megamaschine gibt es kein lokal mehr, alles ist global – die Infrastruktur des und der Glaube an das kapitalistische Systems hält den gesamten Globus im Griff und die Strukturen des industriellen Systems werden sekündlich ausgebaut und zielen darauf ab die Gesamtheit des Lebens auf dem Planeten sowie unsere Körper und Gedanken zu kolonisieren. Die Strukturen des Daten- und Stromnetzes, der Transportwege von Waren und Rohstoffen, des Verkehrsnetzes, der Metropolen, der Fabriken, Gefängnisse und Technologietempel sind die Eckpfeiler und Adern des Systems, welches unser Überleben immer mehr in ein Schlafwandeln in digitalen Scheinwelten verwandelt und die Realität der Unterdrückung und Kolonisierung auf diesem Planeten in einem Wechselspiel aus Krieg, Ausnahmezustand und Katastrophe gefangen hält. Im Angesicht dessen wäre es lebensfeindlich, die Lethargie der Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen zu schüren, um Schuldgefühle im Sinne der herrschenden Politik zu erzeugen. Das System kann nicht verbessert werden, es muss zerstört werden. Andernfalls bleiben nur verschiedene Formen moralischer Selbstgeißelung und Heuchelei (grüner Kapitalismus, vermeintliche Bio-Lebensmittel, usw.).

Deswegen stellt die Anarchie von der wir reden, das Problem der Zerstörung in den Mittelpunkt: Zerstörung all dessen, was uns am leben hindert, was uns einschränkt, was der Freiheit im Wege steht, was uns auferlegt wird, uns unterdrückt, geißelt, klein macht und regieren und verwalten will. Die Zerstörung und die Angriffe auf die Adern und Eckpfeiler des herrschenden Systems, sind nicht nur von physischer Natur, sondern zielen ebenso auf die uns umgebenden sozialen Beziehungen und Ideologien. Die Kritik der sozialen Beziehungen also bewaffnet unseren Geist und der Werkzeugkasten der Sabotage bewaffnet unsere Hände – und in einem verstreuten Konflikt kommen wir mit anderen Individuen zusammen, die ebenso darauf setzen das zu zerstören, was ihrer Freiheit im Wege steht. Diese verstreute Kampfkonstellation – mal alleine, mal in kleinen Grüppchen, mal koordiniert oder zu vielen – betont die Notwendigkeit sich selbst zu organisieren, um zum einen den eigenen Ideen Ausdruck zu verleihen, als auch diese und die eigenen Beziehungen zu überprüfen und in Zusammenhang mit den eigenen Perspektiven zu diskutieren und in Verbindung zu setzen. Denn was dem überall präsenten und verletzlichen Netz des Systems Schaden zu fügt und Brüche in der sozialen Realität der Unterdrückung provozieren kann, ist weder eine zentralisierte „Gegenmacht“, noch eine „kritische öffentliche Debatte“ oder ein Reformismus in anarchistischer Rhetorik. Stattdessen können zahlreiche verstreute Individuen und Gruppen, die sich ihren eigenen Wünschen und Feindlichkeiten entsprechend zusammen tun, um zerstörerische Angriffe auf die Nervenbahnen des Systems zu wagen, die Lethargie und Fäulnis der Unterwürfigkeit hinwegschwemmen, die soziale Unordnung vermehren und die Stabilität und Funktionalität der Ordnung unterbrechen.

Ein befreiender Vorschlag zur Selbstverantwortung, zur Überwindung der Zwangsverhältnisse kann also der gewaltsame Aufstand gegen diese Verhältnisse sein, um einen unmissverständlichen Ausdruck des offensiven Handelns gegen das bestehende System vorzuschlagen und umzusetzen.

[Hamburg] Tracking-Technik an Motorroller entdeckt

Im Sitz eines Motorrollers wurde in den vergangenen Tagen ein sogenanntes „AirTag“ der Firma Apple gefunden. Der Roller wird genutzt von einer Hamburger Anarchistin, die in der Vergangenheit bereits von Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen betroffen war.

Das kleine, flache Gerät von einem ungefähren Durchmesser von 3 Zentimetern und einer Höhe von weniger als 1 Zentimeter wurde durch einen augenscheinlich mit einem Cuttermesser oder ähnlichem angebrachten Schlitz ins das Sitzpolster des Motorrollers gesteckt.
Die Vermutung, dass eine Ermittlungsbehörde oder der Verfassungsschutz für die Platzierung verantwortlich ist liegt nahe.

Apple vertreibt die AirTags ursprünglich zu dem Zweck, Gegenstände wie Schlüsselbund, Brieftasche oder ähnliches in der unmittelbaren Umgebung des eigenen Smartphones zu orten. Es funktioniert über Bluetooth und hat zunächst eine unmittelbare, maximale Reichweite von ungefähr 100 Metern im Freien.
Zum Instrument, die Bewegungen einer anderen Person nachzuvollziehen wird es erst über die sogenannte „Wo ist?“-Funktion von Apples iPhones.
Wird diese Funktion aktiviert, koppelt sich das „verlorene“ AirTag mit fremden iPhones oder iPads (mit aktivierter Bluetooth-Funktion) in der Umgebung und gibt den Standort über das „Wo ist?“-Netzwerk an das mit dem Tracker gekoppelte Apple-Gerät weiter – und bei der inflationären Benutzung von Apple-Produkten und Bluetooth-Kopfhörern zeichnen diese kleinen Geräte dann insbesondere im urbanen Raum ein potenziell ziemlich lückenloses Bewegungsprofil.
Die Batterien der AirTags haben eine Lebensdauer von ungefähr einem Jahr.

Laut Apple geben die Tracker im „Wo ist?“-Modus in regelmäßigen Abständen ein (leises) Piepen von sich – was z.B. durch die Polsterung des Rollersitzes ausreichend gedämpft gewesen sein dürfte.
Auch soll es möglich sein, mittels der „Wo ist?“-App in iPhones und der App „Airguard“ für Android „verloren“ gestellte AirTags zu identifizieren. Zu diesen Möglichkeiten gibt es z.B. auf der IT-Plattform golem.de einige Artikel, deren Lektüre wir empfehlen.
Die Seriennummer des AirTags lässt theoretisch zu, das ursprünglich mit ihm gekoppelte Gerät zu identifizieren – doch ist es schwer möglich an Daten zu kommen, über die der Apple-Konzern die Kontrolle hat.

AirTags kosten derzeit ungefähr 40 Euro pro Stück – und sind damit die mit Abstand günstigste Möglichkeit für Ermittlungsbehörden solche Geräte zur Überwachung zu benutzen. Eine gewisse Ausfallquote, Lücken in der Überwachung oder eine eingeschränkte Nutzbarkeit der Daten in Strafverfahren schätzen wir als damit für die Behörden unerhebliche Gründe ein, die Geräte nicht zu benutzen.
Also: checkt eure Autos, Roller, Fahrräder und so weiter.

Wir freuen uns über technische Ergänzungen oder eigene Erfahrungsberichte.
Und setzen wir der Paranoia unsere Wut, Entschlossenheit, Vorsicht und Solidarität entgegen.

Weiterführende Informationen:
https://www.golem.de/news/airguard-im-test-die-beste-app-um-airtags-unte…
https://suche.golem.de/search.php?l=10&q=airtag

Offener Brief an die Organisator*innen und Teilnehmer*innen des ABC-Fests Wiens

Oder: Warum wir dieses Jahr nicht auf das ABC-Fest fahren

Liebe Organisator*innen und Teilnehmer*innen des ABC-Fests Wiens 2023,

wir hätten in diesem Jahr eigentlich den Vortrag mit anschließender Diskussion “Zerstören wir den Leviathan – Über die Unvereinbarkeit von Anarchie und Zivilisation” gehalten, sehen uns jedoch kurzfristig veranlasst, diesen abzusagen und werden in diesem Jahr auch sonst nicht am ABC-Fest teilnehmen. Wir waren schockiert darüber, im Veranstaltungsprogramm zu lesen, dass “Aktivist*innen” des Netzwerks “Solidarity Collectives” auf einer explizit anarchistischen Veranstaltung eine Plattform geboten wird. Schockiert deshalb, weil trotz der Darstellung dieses Netzwerks als “antiautoritär” für uns eines klar ist: Anarchismus kann niemals irgendetwas damit zu tun haben, Nationalstaaten, Nationalismus und Militär mittel- oder unmittelbar zu unterstützen.

Nichts geringeres jedoch ist das erklärte und in zahlreichen Statements, Vorträgen und Taten von Mitgliedern der “Solidarity Collectives” untermauerte Selbstverständnis der eingeladenen “Aktivist*innen” und ihrer Unterstützer*innen. Unterstützung für (angeblich “anarchistische”) Teile des ukrainischen Militärs zu organisieren, die unverhohlen (und angesichts der Tatsache, dass Anarchist*innen realistisch gesehen schlicht nicht über die erforderlichen Mittel und Beziehungen verfügen, sogar geradezu lächerlich prahlerisch) von sich behauptet, Nachschub an die Front zu liefern (“provide the anti-authoritarian activists who joined military units with everything they needed.” Zitat von der Webseite der Solidarity Collectives) ist für uns mit anarchistischen Ideen unvereinbar! Dass das selbe Netzwerk dabei ganz offen einräumt Kriegspropaganda in anarchistischen Millieus betreiben zu wollen (“People discuss the “Ukrainian question” all over the world. Explaining why all anti-authoritarian forces, despite everything, should support the Ukrainian resistance movement is our primary task today. Therefore, we are always ready to take part in conferences, debates or share our vision with journalists.”) ist dabei bloß die Spitze des Eisbergs. Wir sind angewidert davon, dass seitens jener “Aktivist*innen” der “Solidarity Collectives”, denen hier auf dem ABC-Fest eine Plattform geboten werden soll, in Interviews, bei Veranstaltungen und vor allem in den Weiten des Internets wiederholt Stimmung gegen Deserteure gemacht wurde, nationalistische Positionen, die etwa Russ*innen zu legitimen Feind*innen erklärt und als solche direkt wie indirekt zum Abschuss freigegeben haben, verbreitet, der antimilitaristische Widerstand gegen den Krieg in Russland geleugnet wurde (was insbesondere zur Intensivierung dieser nationalistischen Ressentiments beiträgt), der militärische Schulterschluss mit extrem rechten, faschistischen ukrainischen Kräften relativiert und auch verteidigt wurde, sowohl die ukrainische Regierung, wie auch das Konglomerat an westlichen Regierungen, die unter dem Banner der NATO Konfliktpartei im Krieg auf dem ukrainischen Territorium sind, als geringeres Übel entschuldigt wurden, obwohl nicht zuletzt Anarchist*innen in diesen Staaten und von den selben Regierungen eingekerkert, gefoltert, verstümmelt und ermordet wurden und werden.

Wir sind der Ansicht, dass anarchistische Interventionen gegen den Krieg viele Formen annehmen kann. Sie kann von der Unterstützung von Deserteur*innen über (bewaffnete) Sabotagen gegen die Infrastrukturen des Krieges bis hin zu bewaffneten Kämpfen gegen alle staatlichen Mächte reichen, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Unverzichtbar dabei ist für uns jedoch immer, dass Bündnisse – und seien es auch bloß temporäre – mit allen Staaten rigoros abgelehnt werden, dass wir als Anarchist*innen an der Seite aller unterdrückter Bevölkerungen stehen und uns nicht von nationalistischer Propaganda gegen die Bevölkerungen anderer Länder aufwiegeln lassen – und diese schon gar nicht selbst betreiben – und unsere Aktivitäten ebensowenig wie in Friedenszeiten auf bloße humanistische/humanitäre Hilfsleistungen abzielen, die dem Staat und der Herrschaft eher nützen, anstatt diese zu zersetzen. Sich jedoch in die Reihen des Militärs zu begeben, nicht etwa um dort Meutereien anzuzetteln, die Praxis des Fraggings wiederzubeleben oder schlicht an Waffen zu gelangen, um mit diesen zu desertieren und sie fortan gegen alle Staaten zu richten, sondern um an der Verteidigung eines Territoriums zugunsten der vorherrschenden staatlichen Besatzungsmacht teilzuhaben, das kann unserer Auffassung nach nicht in Einklang mit anarchistischen Ideen gebracht werden und obendrein bestätigt die Geschichte aller Kriege (sowie eigentlich bereits der “gesunde Menschenverstand”), dass diese “Strategie” keinerlei Erfolgsaussichten hat.

Wir haben im vergangenen Jahr leider viel zu oft beobachtet, wie sich Anarchist*innen dennoch an dieser pro-nationalistischen Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland beteiligt haben. Wir haben zahlreiche Diskussionen mit den Verfechter*innen dieser “anarchistischen” Kriegstreiberei geführt und dabei festgestellt, dass es gemäß der erklärten Absicht der “Solidarity Collectives” gar nicht im Interesse dieser “anarchistischen” Kriegstreiber liegt, ihren Standpunkt zu diskutieren, sondern sie ausschließlich das Ziel verfolgen anti-autoritäre Kräfte dazu zu bringen, sie und damit den Krieg zu unterstützen (“Explaining why all anti-authoritarian forces, despite everything, should support the Ukrainian resistance movement is our primary task today.” – Webseite der “Solidarity Collectives”). In dem Wissen um diese Strategie und mit der Erfahrung vorangegangener Diskussionen sind wir der Überzeugung, dass diesen Leuten, die Anarchist*innen autoritäre Ideen (Kriegstreiberei) unterjubeln wollen, seitens von Anarchist*innen keine Plattform geboten werden sollte. Wer mit manipulativen Mitteln (z.B. einer Betroffenheits-Nicht-Betroffenheits-Rhetorik, selektiven und verdrehten Informationen, Bildern vom Elend des Krieges, die dann allerdings zur Rechtfertigung des Krieges selbst verwendet werden, sowie einem mehr als paradoxen “Privilegien”-Vorwurf gegen alle, die ihre Meinung nicht teilen) arbeitet, um Debatten abzuwürgen und dabei danach strebt Anarchist*innen in den Krieg zu mobilisieren, hat unserer Meinung nach auf einer anarchistischen Veranstaltung nichts zu suchen.

Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, unsere eigene Beteiligung am diesjährigen ABC-Fest abzusagen, weil wir dieser Dynamik (auch wenn sie zeitgleich in immer mehr angeblich anarchistischen Räumen stattfinden mag) keinerlei Vorschub leisten wollen.

Wir stehen an der Seite aller vom Krieg Betroffenen, egal von welchem Staat das Territorium besetzt ist, ob Ukraine oder Russland, sowie überall auf der Welt, und erklären uns solidarisch mit allen, die mit freiheitlichen Absichten gegen das Abschlachten im Interesse verschiedener kapitalistischer Herrschaftsfraktionen kämpfen, egal ob Anarchist*innen oder nicht!

Keine Solidarität mit jenen, die für ihr Vaterland, ihr „Volk“ oder das angeblich geringere demokratische Übel schlachten wollen, egal ob sie sich als „Anarchist*innen“ bezeichnen oder nicht!

Vegane Verirrungen

[Anm. d. Hrsg.: Dieser Text wurde uns nach einem anarchistischen Treffen zugespielt, bei dem es aufgrund eines Speiseangebots mit Nicht-Veganen Alternativen zu kontroversen Diskussionen um Ernährung und deren politische Korrektheit gekommen war.]

Warum die industrielle Lebensweise niemals ohne den Massenmord an Tieren funktionieren wird

oder

Ein Ausflug in die Welt des Ökofaschismus

Vielleicht gibt es gar nicht mehr besonders viel zum sogenannten Veganismus zu sagen, seit er dank der neuesten und möglicherweise letzten, “grünen” Phase des industriellen Todesmarschs zur staatlich und kapitalistisch verordneten Leitideologie geworden ist. Doch wie das mit subkulturellen und langjährig identitätsstiftenden Ideologemen innerhalb (vermeintlich) radikaler Szenen so ist, ist es nicht ganz so leicht, sich dieser wieder zu entledigen, wenn sie von der Herrschaft schließlich als zur Rekuperation tauglich angenommen werden. Haben sich erst einmal erfolgreich Identitäten rund um eine bestimmte Vorstellung kreiert, also in diesem Fall die des Veganers, müssen diese Vorstellungen mitsamt all ihrer fauligen Wurzeln herausgerissen werden und das ist ein nicht nur anstrengendes, sondern zuweilen auch schmerzhaftes Unterfangen.

Aber der Ökofaschismus ist in Deutschland bereits an der Macht und es gibt keine Zeit zu verlieren. Die Zeiten in denen man über die Politiker*innen einer Partei, die einst für die Abschaltung von Atomkraftwerken stand, sich heute jedoch für Atomenergie und dafür gegen Fleisch auf dem Speiseplan der armen Bevölkerung stark macht, nur herzlich lachen konnte, sind gewissermaßen vorbei. Nicht weil diese ihre Clownsmaske abgelegt hätten, sondern vielmehr weil ihre hässliche Fratze des Ökofaschismus den Ausgebeuteten heute von den Chefsesseln der Industrie und Regierung ins Gesicht grinst und alles darauf hindeutet, dass uns eben diese Fraktion der Herrschaft in den kommenden Jahren verstärkt gegenüberstehen wird. Aber es soll hier nicht der sehr gut vorhersehbare Werdegang jener Pseudo-Nonkonformisten verstanden werden, die einst mit Strickpullovern und Gummistiefeln in die Parlamente strömten, nur um heute Atomenergie, Windräder, Gasterminals, militärisches Gerät und eine Teuerung von Lebensmitteln zu verantworten und die hiesige Gesellschaft in einen Zustand einer beinahe Generalmobilmachung zu versetzen. Denn während bornierte Politiker*innenarschlöcher den Speiseplan in den Kantinen “ihrer” Lohnsklaven säubern, während diese selbstgefälligen Bonzen ihrer Verachtung für die ausgebeuteten Massen Luft machen, indem sie erklären, dass Lebensmittel ihrer Meinung nach zu billig sind und der dumme Michel durch Teuerungen von Fleischprodukten dazu gebracht werden soll, sich endlich verantwortungsbewusst zu ernähren, während all jene, die begeistert im Gleichschritt der Werbetrommeln dieser mittlerweile krawattetragenden Demagogen tanzen, sich wahlweise darin gefallen, ihren Müll zu trennen, im Biosupermarkt einzukaufen oder ein E-Auto zu fahren und eine Photovoltaikanlage auf dem Dach ihres Eigenheims oder gar ihrer Immobilienanlagen zu installieren, sind wir mit drängenderen Problemen konfrontiert. Denn wenn einem wohlgenährte, bio-gefütterte und aus historischen Gründen vielleicht nicht einmal allzu sehr atomar verstrahlte Bonzen das Fleischessen verbieten wollen, dann drängt sich eine simple Lösung dieses Problems förmlich auf: Eine bestimtme Form des sozialen Kanibalismus, nur eben spiegelverkehrt. Und die Chancen stehen gut, dass eine solche Lebensweise sogar gesünder sein könnte, als der Verzehr von Fleisch aus herkömmlicher industrieller Produktion, auch wenn die Auswirkungen gewisser medizinischer Vergiftungen, die sich solche Leute zumuten sicherlich ebenso in Betracht gezogen werden sollten, wie auch die schlechte Bekömmlichkeit und der störende Geschmack des diesem Nutztier eigenen Snobismus. Aber diese Lösung lässt sich schwerlich auf jene ausdehnen, die zwar vielleicht ein paar Ideologeme mit diesen Leuten teilen, jedoch weitestgehend davor zurückschrecken, diese in einen ausgewachsenen Ökofaschismus zu verwandeln. Man soll mir ja schließlich nicht nachsagen, ich würde es mir leicht machen.

Also widmen wir uns doch jenen, die heute noch die metaphorischen Strickpullover und Gummistiefel tragen, wenn sie die Manege des Streits um die politische Ordnung der neuen/befreiten Welt betreten und diese nicht längst gegen braune Hemden und grüne Armbinden eingetauscht haben. Was haben sie uns zu sagen?

Du sollst kein Fleisch und andere tierische Produkte essen.

Dies ist das zentrale Dogma des Veganismus, eine gewisse Variation von Gebot Nr. 5: Du sollst nicht töten. Wobei hier natürlich gleich der Einfluss der industriellen Gesellschaft deutlich wird. Während die archaische jüdische Gesellschaft bei aller Kritik an ihrer patriarchalen Verfasstheit und ihren vielen anderen autoritären Elementen das Individuum offensichtlich noch als jenseits von Konsumentscheidungen handelnd begriffen hat, liegt dem Veganer-Dogma die eigentlich absurde Vorstellung zugrunde, dass der Verzehr oder, präziser gesagt, der Konsum von Fleisch und anderen tierischen Produkten irgendwie mit dem Akt des Tötens oder der Versklavung von Tieren identisch wäre. Und noch absurder, dass nämlich umgekehrt, der Verzicht auf den Verzehr, bzw. Konsum von Fleisch bedeuten würde, dass Tiere nicht getötet oder versklavt werden würden. Kein Wunder, dass der Veganismus also vor allem unter jenen grassiert, die als Städter sowieso wenig bis gar keinen Bezug zu dem haben, was sie auf ihren Tellern wiederfinden, die um die Ironie perfekt zu machen, sich selbst in der relativen Eintönigkeit des Supermarkt-Gemüseregals ihres Smartphones bedienen müssen, um eine Artischocke von einer Bohne unterscheiden zu können. Man möge ihnen gemäß ihrer selbst gewählten biblischen Dogmensetzung also vergeben, denn sie wissen nicht, was sie tun? Nein, ich bin ja keine Paternalist*in.

Jaja, eigentlich finde ich es konsequent, dass diejenigen, die noch nie der Tötung eines Tieres beigewohnt haben, die noch nie einen Vogel gerupft haben, die nie erlebt haben, wie ein Fisch nach Betäubung durch einen Schlag auf den Kopf ein letztes Mal zuckt, wie ein Huhn steif wird, bevor man ihm mit einem Beil den Kopf abschlägt und sein Körper, während man ihn zum Ausbluten über einen Eimer hält, sich ein letztes Mal aufbäumt, wie man nach dem Schnitt durch den Hals einer Kuh binnen Sekunden beinahe Knöcheltief in Blut versinkt, wenn man es nicht mit dem Wasserschlauch wegspritzt, auch kein Fleisch essen. Genausogut finde ich es nachvollziehbar, dass jene, die einer solchen Schlachtung – und hier ist, wie der kundigen Leserin sicherlich aufgefallen sein wird, die Rede von Hausschlachtungen, nicht von industriellen Schlachtfabriken – einmal beigewohnt haben, fürs erste einmal kein Fleisch mehr essen wollen. Sowieso ist mir ja egal, was jemand isst, ich bin ja kein Ökofaschist. Ich denke außerdem, dass die Schlachtung genannte institutionalisierte Tötung von gefangen gehaltenen Tieren, nichts ist, das es zu romantisieren oder zu beschönigen gilt, sondern notwendigerweise immer auch die Widerwärtigkeit widerspiegelt, die auch der kleinbäuerlichen und heute, in Zeiten begrifflicher Verblödung als “artgerecht” verklärten Landwirtschaft und insbesondere Tierhaltung inne wohnt. Und doch wäre es absurd, nur weil sich der technologisch dressierte Mensch ein paar wenige Gefühlsregungen hinsichtlich der Abartigkeit der industriellen Todesmaschinerie, die seine Spezies stolz als “Errungenschaft” betrachtet, bewahrt hat, die angesichts des Anblicks einer Schlachtung als bloße Sentimentalitäten zutage treten, den nicht weniger abartigen Teil dessen, wovon die Tierhaltung eben bloß ein Element ist, zu vergessen. Der technologisch dressierte Mensch, er schreit auf, wenn er Blut sieht, je mehr, desto schlimmer, aber er ist gänzlich unempfänglich für die unsägliche Vernichtung von Leben, die im wahrsten Sinne des Wortes unblutig vonstatten geht oder deren Blutigkeit am anderen Ende der Welt, vor seinen Blicken verborgen, stattfindet.

Und aus dieser bestenfalls als halbgar oder auch medium raw zu bezeichnenden Analyse, die jene vor sich hertragen, die sich Veganer*innen nennen, resultiert zugleich eben auch die faktische Unterstützung der weniger offen – z.B. weil weniger blutig – zutagetretenden Vernichtung von Leben als “geringeres Übel”. Ich will hier der Kürze wegen und weil ich denke, dass mein Punkt dabei schon verstanden werden wird, grob schematisieren:

  • Landwirtschaft zur ausschließlichen Erzeugung von pflanzlichen Produkten wird gängigerweise als die Alternative einer Landwirtschaft mit Viehhaltung betrachtet. Dabei wird sich die kundige Leserin freilich unmittelbar fragen, wie das so universell funktionieren soll. Zumindest ohne dabei auf synthetisch hergestellte – und seit wann wären synthetische Produkte unabhängig von der Versklavung von Tieren, sei es zu experimentellen Zwecken oder weil der Herstellungsprozess auf tierisches Gewebe oder andere tierische Erzeugnisse angewiesen ist oder weil die zur Herstellung benötigte Maschinerie ohne die Versklavung von Tieren nicht denkbar wäre – Düngemittel zurückzugreifen, wie sie von der Agroindustrie für die industrielle Landwirtschaft vermarktet werden. Aber selbst wenn man diese Frage einmal beiseitelässt, ignoriert, dass von Demeter-Landwirtschaft bis hin zu selbst den meisten praktizierten Formen von Permakultur, immer auch die Gefangenschaft und Versklavung von Tieren integraler Bestandteil von eigentlich jeder Form nicht-industrieller Landwirtschaft ist, bleibt vor allem ein Makel: Landwirtschaft erfordert immer auch die Bekämpfung von tierischen “Schädlingen”, sprich von Tieren, die das was dort angebaut wird, auch gerne essen und die verhältnismäßige Futterdichte auf Feldern gerne für sich nutzen, sich dabei auch vermehren und schließlich regelrecht zur Plage für die Landwirte werden. Diese Bekämpfung findet heute unter anderem in Form von Insektiziden (die entweder bestimmte oder gar wahllos alle Insekten töten, die mit einer entsprechend behandelten Pflanze in Berührung kommen), dem Abschuss oder auch “der Entnahme” von Wild, das sich einen Bissen von den angebauten Leckereien gönnt, sowie der präventiven Regulierung des Wildbestands durch Jäger, Anwendung. Durch den Anbau von pflanzlichen Nahrungsmitteln werden also sowohl Millionen von Insekten getötet, als auch abertausende Tiere geschossen oder mithilfe von Fallen gejagt und getötet oder vergiftet und bis heute wurden zahlreiche Tierarten wegen ihrer “Schädlichkeit” für die Landwirtschaft ausgerottet oder an den Rand der Ausrottung gebracht bzw. lokal vollständig vernichtet, darunter nicht nur der Wolf und der Bär, die sogenannte “Nutztiere” reißen, sondern auch Fasane und Rebhühner, zahlreiche andere Vögel, regional Wildschweine, Feldhasen, Gämse, und viele mehr, allesamt Fresser von pflanzlichen Agrarprodukten. Auch lange ausgestorbene Arten wie wilde Rinderarten, z.B. Auerochsen, oder das so gut wie ausgestorbene Wiesent zählen zu den Opfern von Landwirtschaft. Neben dem gezielten Abschuss von Wildtieren, die landwirtschaftliche Erzeugnisse fressen trägt auch die Umwandlung von unbewirtschafteten oder weniger intensiv bewirtschafteten Flächen in Agrarland enorm dazu bei, dass ganze Tierarten aussterben, weil ihr Lebensraum vernichtet wird oder auf eine zu geringe Fläche zusammenschrumpft.
  • Technologische Innovationen auf dem Gebiet der Landwirtschaft, aber auch allgemein in der Lebensmittelindustrie sollen Tierhaltung angeblich unnötig machen. Das lässt natürlich – wie könnte es anders sein – außen vor, dass gerade auf dem Gebiet der Lebensmittelindustrie Tiere auch als Versuchsobjekte genutzt werden, um die Verträglichkeit eines Produkts oder eventuelle Langzeitfolgen von dessen Verzehr zu “testen”. Diese technologischen Innovationen sind also alles andere als unabhängig von der Versklavung und auch Ermordung von Tieren. Zudem werden durch technologische Innovationen auf dem Gebiet der Landwirtschaft nicht nur immer größere Teile der unbewirtschafteten Lebensräume von Tieren vernichtet, sei es durch deren Bewirtschaftung oder deren Vergiftung mittels Pestiziden, Düngemitteln, Verklappung von Industriemüll, usw., sondern allzu oft bestehen diese technologischen Innovationen auch darin, neue Methoden zur Vernichtung von Tieren, die als Schädlinge betrachtet werden, zu schaffen. Eine teilweise zur “leidfreien” Produktion von Fleisch auch von sogenannten Veganer*innen beworbene Methode besteht darin, dass das tierische Leben soweit weiter verstümmelt werden soll, dass das Steak in Zukunft gleich formgerecht in der Petrischale heranreifen soll, anstatt dass dafür erst ein Tier aufgezogen werden müsste. Wie man glauben kann, dass die biotechnologische Verstümmelung des Lebens weniger leidvoll sein soll, als selbst die niederträchtigste Versklavung eines gefangenen Tieres, müsste dabei eine*r der Fürsprecher*innen einer solchen Methode selbst beantworten; ich jedenfalls kann mir das nur mit der offensichtlich totalen Verblödung solcher Leute erklären.
  • Immer wieder und ständig wechselnd werden bestimmte Nahrungsmittel als Superfood entdeckt, die alle nicht leugnenbaren Probleme einer veganen Ernährung innerhalb der industriellen Nahrungsproduktion (Mängel, für die bspw. Vitamintabletten geschluckt werden müssen) – und natürlich heißt das nicht, dass eine nicht-vegane industrielle Ernährungsgrundlage nicht ebenfalls ihre Probleme hätte – angeblich aus der Welt schaffen würden oder die auch nur dem unerklärlicherweise vorhandenen1 Bedürfnis von vielen Veganer*innen nach Fleischersatzprodukten abhilfe verschaffen. Dadurch kommt es nicht selten zu regelrechten Umwälzungen der Landwirtschaft, aber selbstverständlich weniger in der westlichen Welt, sondern vor allem in den Kolonien des westlichen Ernährungssystems. Die dort errichteten Plantagen zum Anbau von sowohl exotischen Nahrungsmitteln, als auch von pflanzlichen Rohstoffen, die der industriellen Weiterverarbeitung zu Fleischersatzprodukten und ähnlichem dienen, werfen nicht nur schwerwiegende Umweltprobleme in diesen Regionen auf, darunter Zerstörung von Wäldern, Wassermangel, Umweltvergiftungen, usw., sondern auch soziale Probleme, die in Hunger, Kriegen, Völkerwanderungen und immer wieder auch in Genoziden enden. Sicher sind die spezifisch für Veganer*innen angebaute Nahrungsmittel nur einer von vielen Ursachen dafür, klar ist jedoch, dass auch derlei Folgen des um sich greifenden Veganismus nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden können und die allgemein vorherrschende Ignoranz von Veganer*innen diesem Leid von Menschen gegenüber als völlig widersprüchlich zu deren seltsam humanistisch anmutenden Interesse am Leid von Tieren betrachtet werden muss.

Mal angenommen die Versklavung von Tieren würde tatsächlich abhängig sein, von einer Konsumentscheidung, wie es die Veganer*innen letztlich theoretisieren – was ich angesichts der zahlreichen alternativen Verwertungsmöglichkeiten von Tieren und angesichts dessen, dass sich Tierbestände in der Viehhaltung schon heute nicht nach der Nachfrage danach richten, erheblich bezweifeln würde, aber darum soll es hier nicht gehen –, so wäre die moralistische Haltung eine vegane Lebensweise würde weniger Tierleid erzeugen – und sei daher ein allgemein anzustrebendes Ideal – alleine aus oben genannten Gründen vollkommen verlogen und heuchlerisch. Denn die Millionen und Milliarden Tiere, die infolge der Landwirtschaft pflanzlicher Nahrungsmittel getötet und verstümmelt, ausgerottet, vertrieben, an den Rand ihrer Fortexistenz und in ihrem Bestand kontrolliert werden, werden bei einer solchen Behauptung schlicht unterschlagen. Das ist insofern kaum verwunderlich, als dass sich schon bei einer Betrachtung dessen, wer sich dazu entscheidet Veganer*in zu werden, offenbart, um was für eine Art von Ideologie es sich hier handelt. Neben einer guten Hand voll politischer Wirrköpfe für die immerhin zutrifft, dass sie sich zu einem nicht geringen Anteil an den Akademien selbst herumtreiben oder aber im Dunstkreis derjenigen, die dies vornehmlich tun, handelt es sich bei der Mehrzahl der Veganer*innen um Angehörige wohlhabender Bevölkerungsschichten. Es ist im Grunde das gleiche Klientel, das seit einiger Zeit damit auffällt, dass es nicht nur Bio-Lebensmittel mit Vorliebe kauft, sondern auch andere Leute, denen das Geld fehlt, dieser Vorliebe nachzugehen, dafür beschämt. Jenes Klientel, das angesichts der dramatischen ökologischen und sozialen Auswirkungen eines Systems zu deren Kollaborateur*innen sie sich zählen müssen, Zuflucht bei “ökologischen”, “fairen”, “plastikfreien”, “biologischen”, “nachhaltigen” Konsumentscheidungen sucht. Kein Wunder. Denn das System jenseits solch (bestenfalls) reformistischen Quarks zu hinterfragen würde auch bedeuten, der behaglichen Sphäre des konformistischen (Bildungs-)bürgertums zu entsagen und nach wahrhaft konfrontativen Wegen zu suchen, die Herrschaft anzugreifen.

Die einzige Möglichkeit Veganismus vor diesem Hintergrund einer Ideologie des immer weiter um sich greifenden Ökofaschismus zu entziehen, bestünde meines Erachtens darin, ihn gegen das industrielle System selbst, zumindest aber gegen dessen kommerzielle Sphäre zu richten. Das kann niemals durch eine Kaufentscheidung gegen dieses, jedoch für jenes Produkt funktionieren, sondern nur durch den totalen Boykott des industriellen Systems selbst. Eine Möglichkeit dies zu erreichen wären beispielsweise Plünderungen von Lebensmitteln und deren (Ver-)teilung. Bio-Ernährung für alle, sozusagen. Kostenlos. Allerdings wäre dabei irrelevant, ob es sich bei den geplünderten Lebensmitteln um vegane oder nicht-vegane Lebensmittel handelt. Eine andere und gleichzeitige Möglichkeit wäre der aufrichtige Auszug aus diesem industriellen System, der nicht darin bestehen kann, aufgrund des Eigentums an Land irgendeine Nische innerhalb dieses Systems für sich zu finden, sondern ausschließlich in der auch gegen Eigentum gerichteten individuellen und kollektiven Aneignung des Territoriums bestehen könnte, also in der Besetzung von Land, auf dem dann ein nicht-landwirtschaftlicher, nicht-kommerzieller Anbau oder auch eine andere Lebensweise verfolgt werden kann, während dieses Territorium dem industriellen System dauerhaft entzogen bleibt, d.h. gegen die staatliche Rückeroberung verteidigt. Sicherlich sind auch andere Möglichkeiten denkbar … Veganer*innen jedoch, die keine derartigen radikalen (Auf-)Brüche vorzuschlagen haben, sondern allen Widersprüchen zum Trotz daran festhalten, die individuellen Handlungsmöglichkeiten auf Konsumentscheidungen einzuengen und als einzige Perspektive folglich die soziale (und oft auch repressive) Erzwingung der veganen Ernährung der Bevölkerung haben, sind ebenso reformistisch wie jene Politiker*innen, die uns mit ihrem Ökofaschismus in den kommenden Jahren noch den letzten Rest an Appetit vermiesen werden – und der Massenmord an Tieren, Menschen und Lebewesen im Allgemeinen wird obendrein unverändert weitergehen.

Begriffserklärungen

Es ergibt sich zwar aus der (insbesondere) wiederholten Verwendung im Text, aber um Missverständnisse zu vermeiden, seien hier drei Begriffe noch einmal präzisiert:

Veganismus

Eine zur “Lebensweise” erhobene Ernährungsweise innerhalb des Industriellen Systems und folglich eine Ideologie, die darauf basiert, auf tierische Produkte (im Bereich Nahrungsmittel und oft auch in ein paar wenigen anderen Bereichen wie Kosmetik, Haushalt, Bekleidung) dogmatisch zu verzichten. Die Definitionen des Umfangs dieses Verzichts variieren zum Teil stark, können aber bei genauerer Betrachtung eigentlich niemals Geltung für sich beanspruchen.

Veganer*in

Eine*r, die kein Fleisch und keine anderen Produkte, die unmittelbar aus Tierhaltung resultieren (eigentlich niemals ohne Ausnahmen, dafür oft gepaart mit der offensichtlich verlogenen Behauptung auch auf mittelbare Produkte aus Tierhaltung zu verzichten) verzehrt und daraus eine gewisse Obsession macht, die weit über ein informatorisch relevantes (z.B. weil jemand so freundlich ist, für diese Person mitzukochen und dabei Rücksicht auf deren Essgewohnheiten zu nehmen), sowie kommunikativ übliches Maß hinaus Bestandteil von Gesprächen dieser Person wird. Wesentlicher Beweggrund für den Produkt-Verzicht von Veganer*innen ist die moralische und leider auch irrtümliche Vorstellung, dass die eigenen Kauf-, bzw. Nicht-Kauf-Entscheidungen eine relevante Auswirkung darauf hätten, ob Tiere innerhalb des industriellen Systems versklavt werden oder nicht. Veganer*innen sind in der Regel missionarisch, d.h. sie versuchen direkt und indirekt andere davon zu überzeugen, sich der Ideologie des Veganismus (siehe oben) anzuschließen.

Ökofaschismus

Die politische Überzeugung, dass ganz bestimmte, industrielle und vor allem nur vermeintliche Lösungen für vom industriellen System verursachte ökologische Probleme, anderen mit autoritären Mitteln gegen ihren Willen aufgezwungen werden müssen, wenn diese nicht freiwillig aus eigenem Antrieb auf die gleichen “Lösungen” setzen. Eine wichtige Ökofaschistische Partei im deutschen Bundestag sind die Grünen. Beispiele für ökofaschistische Projekte sind die diversen CO2-Einsparungsverordnungen, die Mülltrennung in Deutschland, sowie der staatlich subventionierte und geförderte Veganismus.

Anmerkungen

1 Ganz so unerklärlich ist dieses Bedürfnis natürlich nicht. Es wird nicht nur aktiv von einer sich diversivizierenden Fleischindustrie geweckt, sondern dürfte mitunter auch aus Mängeln, die sich eben möglicherweise als Lust auf Fleisch einen Weg ins Unterbewusstsein bahnen, sowie kulturellen Essgewohnheiten und -gebräuchen resultieren.

Aktualisierte Neuauflage der Broschüre „Erhobenen Hauptes, Flammenden Herzens“

Letzten September erschien eine Broschüre in Solidarität mit dem Anarchisten Boris, der viele Texte rund um seinen Fall sowie Texte zum Kampf gegen Digitalisierung und technologische Herrschaft, an dem auch Boris Teil hat und der ihn in die Fänge der Repression brachte, versammelt. Nun gibt es eine aktualisierte Neuauflage, da kürzlich ein erneuter Aufruf zu seiner Unterstützung verbreitet wurde, zum am Bildschirm Lesen oder selbst Ausdrucken.

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CSRC Bulletin Nr. 1

Dies ist die erste Ausgabe einer unregelmäßig erscheinenden Publikation des Counter-surveillance resource center, eine Datenbank von Hilfsmitteln zur Umgehung zielgerichteter Überwachung.

Internationale Koordination gegen zielgerichtete Überwachung

Wir sind Anarchist·innen. Wir glauben an eine internationale Koordination informeller anarchistischer Gruppen, um dem Kampf gegen jegliche Formen der Herrschaft nachzugehen. Wir glauben, dass das gegenseitige Teilen von Kenntnis über Fähigkeiten und Taktiken unserer Feind·innen einen bedeutenden Teil dieser Koordination bilden sollte. Die Kenntnis ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Begrenzung der Aussichten gefasst zu werden, damit wir weiter angreifen können.

Unsere Feind·innen sind im Besitz von außerordentlichen Einsatzmöglichkeiten und perfektionierten Taktiken. Auf ihrer Seite steht die Polizei und das Justizsystem, die Wissenschaftler·innen und Technokrat·innen, und in manchen Fällen die Unterstützung der allgemeinen Bevölkerung. Sie kontrollieren riesige Infrastrukturnetze. Sie haben unendliche Erinnerungsvermögen, Archive und DNA-Datenbanken.

Auf unserer Seite befindet sich das informelle und dezentrale Wesen unserer Organisationen, Schatten, in denen wir uns verstecken, und Solidarität, mit der wir einander in schwierigen Zeiten helfen, damit die Kämpfe von Gefährt·innen weitergeführt werden, wenn diese selbst es nicht mehr tun können.

Egal was passiert, wir machen Fehler und uns werden auch weiterhin im Kampf gegen solch starke unterdrückerische Mechanismen Fehler unterlaufen. Fehler, die uns immer mehr „kosten“ werden, im Vergleich zu den Fehlern der Bullerei, die „neutralisiert“ werden. Wir müssen geschehene Situationen wieder prüfen und sicherstellen, dass die Fehler, die einmal passiert sind, ganz einfach nicht wieder vorkommen können. Wir müssen die angesammelten Erfahrungen von so vielen Jahren studieren und wertschätzen, unter der Beachtung der Tendenz, sich für bereits stattgefundene Kämpfe vorzubereiten; anstatt für jene, die noch kommen werden. Seien wir vorbereitet und möge Glück auf unserer Seite sein…

Anarchistische Gefährt·innen aus Griechenland, aus einem Text aus dem Jahr 2013, der ausführlich über die Überwachung berichtet, die zu ihren Verhaftungen geführt hatte.

Unsere Feind·innen organisieren sich bereits auf einem internationalen Niveau: Sie teilen Informationen, Taktiken, und technologische und wissenschaftliche Entwicklungen. Das ist bedauerlich, aber es bedeutet auch, dass ein Bericht von Gefährt·innen in einem Land – über, sagen wir mal, eine gute Art und Weise im Umgang mit DNA-Spuren, oder eine gefundene Wanze in einem besetzten Haus, oder ein billiges Werkzeug für das Abschießen einer Drohne der Polizei – anderen irgendwo sonst auf der Welt helfen könnte.

Gewiss sollte nicht alles öffentlich geteilt werden. Manchmal sollten Informationen, die unseren Feind·innen noch unbekannt sind, mit der Grundlage einer spezifischen Strategie oder eines bestimmten Planes geheim bleiben. Aber im Übrigen: Lasst uns die Kenntnis und die Erfahrungen teilen, und uns selbst organisieren!

Ankündigung: Die Bedrohungsbibliothek

Das Ziel der neulich herausgegebenen Bedrohungsbibliothek [Threat Library] des Counter-Surveillance Ressource Centers ist einfach: Den Blick auf die staatliche Aufstellung der repressiven Techniken richten, mit dem Zweck, diese durch geschicktes Manövrieren zu überlisten. Die Bibliothek dokumentiert zwei Dutzend verschiedene Überwachungs- und Kontrollmethoden, aufgeteilt in drei Taktiken (Abschreckung [Deterrence], Belastung [Incrimination] und Verhaftung [Arrest]) und offeriert potenzielle Abschwächung, das heißt, Arten und Weisen der Schadensbegrenzung, für jede·n Einzelne·n. Sie verbindet zudem Methoden mit spezifischen repressiven Operationen, die vom Staat gegen Anarchist·innen in den letzten paar Jahrzehnten ausgeführt wurden.

Die Bedrohungsbibliothek ist dafür gedacht, dir beim Erstellen eines Bedrohungsmodells Hilfe zu leisten, ein Prozess, durch den du versuchst zu verstehen, was für Arten von Maßnahmen der Staat voraussichtlich gegen dich ausführen wird, damit du dich auf diese vorbereiten kannst. Es wird am besten gemeinschaftlich mit den Gefährt·innen erstellt, mit denen du an einem bestimmten Projekt zusammenarbeitest. Ein gutes Bedrohungsmodell kann Angst oder Paranoia zu Mut umwandeln, indem es uns eine genaue Vorstellung über das liefert, was wir bekämpfen, und wir somit Schutzmaßnahmen treffen können. Mit anderen Worten hilft es uns, über angemessene Operative Sicherheit (OpSec) zu entscheiden.

Das CSRC empfiehlt die Bedrohungsbibliothek auf eine Weise zu verwenden, mit der „Angriffsbäume“ erstellt werden können. „Angriffsbäume sind ein Werkzeug, das eine kollektive Ideensammlung darüber vereinfacht, wie ein·e Gegner·in einen erfolgreichen Angriff auf dich innerhalb eines gegebenen Kontexts auf verschiedene Arten und Weisen ausführen könnte, indem die Angriffe mit der Struktur eines Baumes dargestellt werden“. Schau in der Anleitung [Tutorial] zur Bedrohungsbibliothek für einen Schritt-für-Schritt-Leitfaden nach.

Die Bedrohungsbibliothek kann auch zur Navigation von Hilfsmitteln außerhalb der Erstellung eines Bedrohungsmodells verwendet werden. Nehmen wir an, dass Anarchist·innen in meiner Umgebung eine Geschichte von Spion·innen und Informant·innen teilen, die zur Zerschlagung unserer Organisierung zum Einsatz kommen. Auf der Webseite wähle ich in der Bedrohungsbibliothek in der Spalte „Belastungen“ [Incrimination] das Thema „Spion·innen“ [infiltrators] aus. Mit weniger als 300 Wörtern teilt der Eintrag in fünf hauptsächliche Typen von Spion·innen auf, und offeriert drei mögliche Formen der Abschwächung (Angriff [Attack], Need-to-know-Prinzip, d.h. „Kenntnis nur, wenn nötig“, und Netzwerkvisualisierung [Network map exercise]). Wenn ich auf die Schaltfläche „Thema Spion·innen“ [infiltrators topic] klicke, erhalte ich eine Liste von 27 Texten, geschrieben von Anarchist·innen, die von Spion·innen in deren Netzwerken handeln. Meine Angst vor Spion·innen wird gelindert, indem ich einerseits die genauen Anzeichen kenne, nach denen ich Ausschau halten sollte und andererseits praktische Werkzeuge zur Stärkung meiner Vertrauensnetzwerke kenne.

Mit Themen, die von Türeklopfen über Hausdurchsuchungen bis zu Spurensicherungen reichen, zielt die Bedrohungsbibliothek darauf ab, umfassend und zugleich kurz und prägnant zu sein. Das CSRC bietet eine riesige Menge an Informationen zu Repression und wie damit Umgegangen werden kann, und die Bedrohungsbibliothek fasst sie alle für dich zusammen und sortiert sie, damit diese auf praktische und einfache Art und Weise analysiert werden können. Die Bedrohungsbibliothek ist im Broschürenformat für einfaches lesen und verteilen erhältlich.

Gibt es eine Methode, eine Abwehrstrategie oder eine repressive Operation, von der du denkst, dass sie fehlt? Möchtest du einen derzeitig aufgelisteten Eintrag editieren? Um etwas hinzuzufügen, zu verbessern, und Kritik oder Feedback zur Bedrohungsbibliothek mit uns zu teilen, nimm mit uns Kontakt auf, via csrc@riseup.net.

Eine Grundlage, auf der wir stehen können: Die Unterscheidung zwischen OpSec und Sicherheitskultur

Manchmal werden verwandte Begriffe zu Synonymen, und manchmal kann das auch in Ordnung sein.

Aber manchmal, wenn wir es uns erlauben den Unterschied zwischen Begriffen zu verlieren, dann veranlasst dies uns auch dazu, ein nützliches Stück an Bedeutung zu verlieren. Operative Sicherheit (OpSec) und Sicherheitskultur sind zwei Begriffe, die ähnliche aber unterschiedliche Bedeutungen in sich tragen, und beide sind notwendige Teile einer anarchistischen Sicherheitspraxis gegen Repression.

OpSec verweist auf die spezifische Praxis, die genutzt wird, um es zu vermeiden, bei einer bestimmten Aktion oder einem bestimmten Projekt erwischt zu werden. Einige OpSec-Vorgehensweisen beinhalten das Tragen von Handschuhen und Masken, die Verwendung von unterschiedlichen Schuhen, die Maßnahmen, die es verhindern DNA-Spuren zu hinterlassen, Schwarzerblock-Kleidung, die Verwendung von Tails für den anonymen Zugriff auf das Internet, und so weiter. OpSec bewegt sich auf dem Niveau der Aktion oder des Projekts. Diese Vorgehensweisen können beigebracht werden, aber letztlich müssen bloß die Menschen, die sich dazu entscheiden gemeinsam ein bestimmtes Projekt umzusetzen, sich darauf einigen, welche OpSec-Vorgehensweisen sie nutzen wollen.

Gemäss Confidence Courage Connection Trust1 verweist die Sicherheitskultur „auf eine Reihe von entwickelten Vorgehensweisen, die zur Beurteilung von Risiken, zur Kontrolle des Informationsflusses durch deine Netzwerke, und zur Schaffung von soliden organisierenden Beziehungen dienen.“ Die Sicherheitskultur ereignet sich auf dem Niveau der Beziehung oder des Netzwerks. Damit sie effizient sind, sollten diese Vorgehensweisen so weit verbreitet werden, wie möglich.

Auf den ersten Blick mag OpSec als wichtiger erscheinen. Wenn wir die Praxis haben, die wir zur Sicherheit benötigen, so die Überlegung, was spielt es dann für eine Rolle, was andere Menschen im Milieu anstellen? Viele Anarchist·innen stehen Milieus (zu Recht) skeptisch gegenüber, und verstehen sich selbst nicht damit verbunden oder angewiesen auf Menschen, mit denen sie keine enge Affinität teilen. Innerhalb des anarchistischen Raums geht viel Energie in die Perfektionierung von OpSec, was als angemessen erscheint, da es vorzuziehen ist, nicht erwischt zu werden, wenn du eine offensive Aktion umsetzen willst.

Allerdings ist auch die Sicherheitskultur wichtig, und gutes OpSec ist kein Ersatz dafür. Sie stellt den sozialen Kontext zur Verfügung – die Grundlage – auf der all unsere Aktivitäten aufgebaut sind. Denn ob es dir nun gefällt oder nicht, wir sind alle in Netzwerke eingebettet, und der Preis, den du für das komplette Abtrennen davon bezahlst, ist hoch. Ohne eine stabile Grundlage ist es viel schwieriger auf sichere Art und Weise zu handeln.

Um auf „Confidence Courage Connection Trust“ zurückzukommen: Die Autor·innen schreiben, dass es bei Sicherheitskultur nicht darum geht, sich zu verschließen, sondern Wege zu finden, die es erlauben auf sichere Art und Weise gegenüber Verbindungen mit anderen offen zu bleiben. Dies beinhaltet ehrliche Gespräche über Risiken und das Festlegen von grundsätzlichen Normen mit breiteren Netzwerken als bloß den Menschen, mit denen wir beabsichtigen zu handeln. Sicherheitskultur stagniert nicht – sie ist nicht bloß eine Reihe von Regeln, die Menschen in „radikalen“ Subkulturen kennen sollten. Sie muss dynamisch sein, auf der Grundlage von andauernden Gesprächen und unseren besten Analysen über gegenwärtige Respressionsmuster.

Vorgehensweisen wie das Bürgen für eine Person, die Netzwerkvisualisierung, und Hintergrundüberprüfungen könnten den Eindruck erwecken, sie seien Teil der OpSec, und sie mögen einen wichtigen Teil innerhalb einer Planung von bestimmten Aktionen darstellen, aber sie entspringen der Sicherheitskultur. Die Sicherheitskultur beinhaltet die Frage „Was würde es für mich bedeuten, dir zu vertrauen?“. Das bedeutet nicht, dass du für alle, die du kennst bürgen musst oder dass du keine Zeit mit den Menschen verbringst, für die du nicht deine Hand ins Feuer legen würdest. Es geht darum, dass du dir dabei sicher bist, wem du wofür vertraust, und weshalb, und dass du Mechanismen hast, mit denen du lernst, neuen Menschen auf sichere Art und Weise zu vertrauen.

Kein Maß an guten Gewohnheiten, wie du über Aktionen sprichst, die in deiner Stadt auftreten (Sicherheitskultur), werden dich schützen, wenn du deine DNA am Handlungsort hinterlässt (OpSec), und keine Anzahl an aufgedeckter physischer Überwachung (OpSec) wird dich vor einer verdeckt ermittelnden Bullenschaft schützen, wenn diese sich mit deiner mitbewohnenden Person anfreundet, um näher an dich heranzukommen (Sicherheitskultur). Die Vorgehensweisen von OpSec und Sicherheitskultur sind unterschiedlich, und das eine ist kein Ersatz für das andere. Mit dem Entwickeln von umfassenderen Verständnissen beider Rahmenbedingungen können wir versuchen uns selbst und einander aus dem Gefängnis herauszuhalten, während wir den Aufbau von Verbindungen fortführen und informelle Netzwerke und Affinität vergrößern.

Bruchstücke gegen Überwachung

In diesem Abschnitt möchten wir kurze Notizen teilen, die sich innerhalb des Rahmens des CSRC bewegen aber nicht für einen eigenen Eintrag auf der Webseite genügten. Du kannst uns solche Notizen zuschicken, wenn du sie in der nächsten Ausgabe veröffentlicht haben möchtest.

Im Zuge von Brandstiftung an Fahrzeugen von Enedis (verantwortlich für die Verwaltung des Elektrizitäts-Vertriebsnetzes in Frankreich) und an einem bedeutenden Füllsender, wurden 2021 mehrere Menschen in Frankreich verhaftet. Ein Text auf Französisch berichtet ausführlich über die interessante Reichweite von Überwachungsmethoden, die ihrer Verhaftung vorangingen: Beschattung, die DNA-Sicherung an einem Autotürgriff während dessen Besitzer·in einkaufen war, das nächtliche Eindringen in eine Wohnung, um einen Keylogger auf einem Computer zu installieren, die Aufforderung an Enedis, eine Liste jener Menschen bereitzustellen, die die Installation des neuen „smarten“ Elektrizitätszählers verweigerten, den sie überall installieren, und die Aufforderung an eine lokale Zeitung, jene IP-Adressen zur Verfügung zu stellen, die sich Zugang zu ihrem Artikel zur Brandstiftung verschafft haben.

Im Jahr 2022 wurden zwei Anarchist·innen in Italien verhaftet und mit dem Vorwurf der Herstellung und des Besitzes von Sprengstoff angeklagt. Ein Text erklärt, dass die Ermittlung, die zur Verhaftung führte, zu dem Zeitpunkt anfing, als eine „unbekannte Person“ Sprengstoff, Elektromaterialien und andere Vorrichtungen im Juni 2021 in einem Wald gefunden hatte. Danach stellten die Bullen Foto/Video-Fallen auf, um all diejenigen zu „fangen“, die sich in die Nähe des Gebietes bewegten. Später wurde eine Person von hinten, in der Nähe der Stelle fotografiert, und die Polizei behauptete anschließend diese erkannt und identifiziert zu haben.

Zum Schluss dieses Abschnitts gibt es hier ein hoffnungsvolles Zitat aus einem Kommuniqué, das behauptet, für die Brandstiftung an einem Bürogebäude des Bauunternehmens eines Knastbaus in Deutschland verantwortlich zu sein:

Um auf den Überwachungskameras keine guten Bilder zu produzieren, trugen wir Regenponchos, die für eine Verschleierung von Körperform und Gangart sorgen. Um unsere Kopfform unkenntlich zu machen, benutzten wir Hüte. Die Weiterentwicklung der Videoauswertung bereitet vielen Genoss·innen Sorge, wir wollen mit diesem Einblick Möglichkeiten aufzeigen, sich gegen diese Überwachungstechnik zu wehren.

Trag deinen Teil zu CSRC bei!

Wir schlagen die Nutzung der CSRC-Webseite vor, um die Kenntnis und die Erfahrungen zu den Themen der zielgerichteten Überwachung unter Gefährt·innen auf erleichterte Art und Weise zu teilen.

Schau dich innerhalb der 180+ Hilfsmittel auf csrc.link um, die Seite ist auch via Tor Browser mit einer .onion Adresse aufrufbar.

Drucke unsere brandneuen Aufkleber aus und verteile sie.

Wirke mit, indem du uns eine E-Mail an csrc@riseup.net sendest – wenn du verschlüsseln möchtest, dann findest du unseren PGP key hier.

Zehn Tipps für die Zerstörung eines Telefons

  1. Steck dein Telefon in Brand
  2. Wirf dein Telefon in den Kanal
  3. Wirf die Telefone deiner Freund·innen in ein noch größeres Feuer
  4. Wirf alle Telefone in den Kanal
  5. Bring nicht immer dein Telefon mit (irgendwer könnte es ins Feuer werfen)
  6. Sprecht miteinander, nicht mit euren Bildschirmen
  7. Zerstöre Beweismittel (zurück zum Tipp 1 und 2) und lass nicht zu, dass Andere Beweismittel erstellen (zurück zu Tipp 3 und 4)
  8. Mach den Gebrauch von Telefonen zum Thema
  9. Sei über das Telefon unerreichbar, sei sozial
  10. Scheiß auf Technologie

Rumoer n°5, „Ten tips to trash telephones“

Ein Rollstuhl für Boris!

April 2020

Zwei Funkmasten erleuchten die nächtliche Ausgangssperre

Während die Hälfte der Weltbevölkerung sich freiwillig oder erzwungenermaßen zuhause einsperrte, schwang sich ein Anarchist aus Besançon auf sein Fahrrad um sich zum Mont Poupet im Jura zu begeben. Am Gipfel seiner steilen Abhänge entfachte Boris in der Nacht des 10. April zwei große Funkmasten mit den Flammen der Subversion: die den vier [französischen] Mobilfunkanbietern gehörten, aber auch der Polizei und der Gendarmerie, was etwa 100 000 Euro Schäden hinterließ.

Nachdem sie ihn mittels einer vor Ort gefundenen DNA-Spur identifizierten, wurde der Gefährte im Gefängnis von Nancy inhaftiert und im April 2021 zu vier Jahren Knast verurteilt, davon zwei auf Bewährung. In einem im Knast verfassten öffentlichen Brief verteidigte er seine Handlungen mit dem Willen, sich mittels der direkten Aktion gegen die wachsende Digitalisierung unseres Lebens, sowie die ganze Kontrolle, die Umweltzerstörungen und die sozialen Verheerungen, die diese mit sich bringt, zur Wehr zu setzen. Unglücklicherweise, während er auf seinen Berufungsprozess wartete, wurde der Gefährte im August in einem Zellenbrand schwer verletzt, dessen Ursprung und die Eile der Schließer ihn ersticken zu lassen bis heute noch nicht geklärt sind, und wo Ermittlungen bis heute nicht abgeschlossen sind. Seit nun mehr als eineinhalb Jahren ist Boris also mit der medizinischen Macht konfrontiert.

August 2021-Juli 2022

Die medizinische Macht am Werk

Während er von der Station für schwere Brandverletzungen im Krankenhaus von Metz an die Reha- und schließlich die Palliativstation des Krankenhauses von Besançon weitergereicht wurde, war Boris regelmäßig mit den Feindlichkeiten der hohen Tiere im Weißkittel konfrontiert, so offensichtlich war es für sie, dass ein nunmehr vom Hals abwärts gelähmter Anarchist und Ex-Knacki nicht den geringsten selbstständigen Willen, welche Behandlung er gerne hätte, zum Ausdruck bringen könne. So konnte Boris seinen erbitterten Willen zu überleben nur protestierend und indem er Briefe schreiben ließ hörbar machen und so ein Minimum an aktiver Behandlung durchsetzen. Er hatte auch lange gegen die Weigerung des Krankenhauses kämpfen müssen, ihm seine Patientenakte zu übergeben, oder dass ihm nahestehende Personen, die keine Familienangehörigen sind, mit den Ärzten über seine Situation sprechen können.

In Reaktion darauf entschied Madame Elisabeth Batit, die in der Palliativstation für Boris zuständige Ärztin, im Juni 2022, einen weiteren Schritt zu tun in ihrer Unternehmung, den Gefährten als Individuum zu zerstören: sie machte bei der Staatsanwaltschaft von Besançon Meldung, um ein Prozedere der „juristischen Unterschutzstellung“ in Gang zu bringen, unter dem Vorwand ihn vor seinen eigenen Entscheidungen „schützen“ zu wollen! Eine Vormundschaftsrichterin folgte anschließend ihren Empfehlungen und ernannte einen Familienverein, die UDAF, als juristische Bevollmächtigte zum Schutz Volljähriger (MJPM), die die gesamte Post, die Konten und zukünftigen Einkünfte (wie beispielsweise das Sozialgeld für erwachsene Behinderte) des Gefährten verwalten soll.

August 2022

Solidarität und Besuchsverbot

Außerhalb des Krankenhauses ließ daraufhin die Verbreitung eines Aufrufs gegen die Schikanen der juristischen und ärztlichen Autoritäten gegen Boris nicht lange auf sich warten, was sich ab August durch mehrere dem gewidmete Solidaritätsaktionen konkretisierte: farbenfrohe Besuche an den Mauern der Büroräume der UDAF in Poitiers und Caen; Brandangriffe auf Ladestationen für E-Autos und auf ein Fahrzeug von Scopelec in Toulouse; Glasbruch bei einer Bank oder beim Sitz des Knastbauers Eiffage in derselben Stadt; Brandstiftung an einem 5G-Funkmast in Barcelona und einer Bullenkarre in Cochabamba (Bolivien)…

Vor Ort, in Besançon, während wütende Flyer auf den Besucher- und Personalparkplätzen des Krankenhauses verteilt wurden, entschied sein Direktor über eine drastische Maßnahme gegen den Gefährten: ein Besuchsverbot für jeden nichtfamiliären Besuch für Boris ab dem 19. August 2022 auf unbestimmte Zeit, solange die Bullen nicht die Urheber des Flugblatts, das zur Solidarität mit dem Gefährten aufrief, identifiziert haben. Dieses mehr oder weniger allgemeine Besuchsverbot wurde kraft der Befugnisse der internen Polizei der Einrichtung offiziell ausgesprochen, mit der Begründung, dass „[Boris] regelmäßig von Freunden besucht wird, die möglicherweise mit der Bewegung in Verbindung stehen, die Urheberin des Flugblatts ist“. Eine Maßnahme, die das Krankenhaus streng durchsetzen ließ und dabei so weit ging, dass Besucher, die vor den verschlossenen Türen der Palliativstation protestierten, in der der Gefährte untergebracht war, mithilfe von Wachen hinausgeworfen wurden. Mitten in diesem Hitzesommer war Boris neben seinen körperlichen Schwierigkeiten nunmehr mit vier verschiedenen Verfahren konfrontiert: Berufungsprozess in Nancy für den Angriff auf zwei Funkmasten (immer noch angesichts seines Gesundheitszustands auf unbestimmte Zeit verschoben), (weiterhin) offene Ermittlungen in Nancy infolge des Zellenbrands, Einspruch in Besançon gegen seine Entmündigung durch die UDAF… und nun ein Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht um das Besuchsverbot für die Gesamtheit aller nahestehenden Personen aufzuheben!

Diese Episode wird schließlich zwei Wochen später enden, zum großen Missfallen der Uniklinik von Besançon, die vor dem Gericht am 5. September noch einen letzten Schachzug gewagt hatte… indem sie den unwürdigen Vorschlag vorbrachte, dass die Personen mit Besuchsverbot Besuche doch übers Telefon durchführen könnten (trotz der Querschnittslähmung und dem Luftröhrenschnitt des Gefährten). An jenem Tag hat man nicht nur erfahren, dass die berüchtigte Elisabeth Batit – Chefärztin, die Boris an den Staatsanwalt versnitcht und sich seinen Anträgen in den Weg gestellt hatte – sich für einen Monat krank gemeldet hatte, weil sie sich von der anarchistischen Prosa „bedroht“ fühlte, sondern auch dass ein neuer Flyer desselben Kalibers vor dem Krankenhaus verteilt worden war, noch ehe die Entscheidung des Gerichts bekannt geworden war. Entscheidung, die sich am Ende des Tages als für den Gefährten vorteilhaft herausstellte: „die Entscheidung des Uniklinikdirektors von Besançon, die Besuche des Antragstellers auf die Mitglieder seiner Familie zu beschränken, muss, unter den derartigen Umständen, als eine gewichtige und offensichtich illegale Einschränkung der Rechte, der Würde und des Privatlebens von M. X angesehen werden, dessen Isolation sich aufgrund seiner Erkrankung davon stark verstärkt sieht“…

Was die polizeiliche Seite bezüglich dieses Flugblatts betrifft, gegen den das Krankenhaus Anzeige wegen „Verleumdung“ erstattet hatte, wollen wir präzisieren, dass die Situation von Boris drei Tage nach der Wiederaufnahme der Besuche auf der Tagesordnung eines Hygiene- und Sicherheitskomitees des Krankenhauses stand, um „die Entlassung des Patienten in Betracht zu ziehen“; dass zwei Gewerkschafter-Hobbybullen, die bei der Uniklinik arbeiten (einer von Sud-Santé und einer der CGT/NPA [Sud-Santé, CGT: zwei linke französische Gewerkschaften, NPA: Nouveau Parti Anticapitaliste, antikapitalistische Partei]), Parallelermittlungen in den anarchistischen Milieus von Besançon führten und ein bisschen überall herumfragten, wer den Flyer geschrieben und verteilt haben könnte, unter dem Vorwand, dass sie von der vorgebrachten Kritik, die gegen ihre noble Institution vorgebracht worden war, „traumatisiert“ worden seien; dass der Kommunikationsservice des Krankenhauses sich für das Gerichtsurteil kleinlich rächte, indem er drei Wochen später den Journalist:innen von L‘Est républicain einen weinerlichen Abriss der Geschehnisse zukommen ließ, was diesen eine halbe Seite wert war mit dem Titel „Die Freunde eines Ex-Häftlings von Nancy im Krieg mit der Uniklinik von Besançon“, in dem man nebenbei erfährt, dass „die Angelegenheit inzwischen in den Händen der Präfektur vom Doubs und der regionalen Gesundheitsbehörde liegt“. Und endlich, Anfang Januar 2023, wurden ein anarchistischer Gefährte und eine Gefährtin aufgrund des Vorwurfs der „Diffamierung mittels Flugblatt“ (immer noch dasselbe) ins Kommissariat von Besançon bestellt: sie haben sich hinbegeben, nichts ausgesagt, und bisher folgte nichts aus diesem x-ten Versuch der Autoritäten Druck auszuüben.

Januar 2023

Im Readapationszentrum

Infolge der warmen Solidarität, die sich infolge der Agitation vor Ort gezeigt hat, und insbesondere infolge der Entschlossenheit von Boris den ärztlichen Autoritäten nicht nachzugeben, hat die Situation ab Herbst letztlich angefangen sich zu entspannen. Im Oktober hat der Gefährte endlich (nach mehr als acht Monaten) seine Patientenakte in Papierform und auf sein Zimmer erhalten. Mitte Dezember hat er endlich seine Verlegung in eine neue Gesundheitseinrichtung genehmigt bekommen, weit weg von der Palliativstation von Besançon, wo sie versucht hatten ihn zu begraben und wo er niemals hätte sein dürfen, dieses Mal in einem anderen Département von Franche-Comté. In diesem Readaptionszentrum für neurologische Tetraplegie hat er zum ersten Mal seit anderthalb Jahren duschen können, wird er versorgt mit Krankengymnastik für die Atmung und die Aufrichtung, arbeitet ein Ergotherapeut daran einen Rollstuhl an seine Bedürfnisse anzupassen… und eine Entlassung aus dem krankenhäuslichen Rahmen zeichnet sich ab. Außerdem wurde bei einer Anhörung zu den Modalitäten der „juristischen Unterschutzstellung“ von Boris, die von einer Vormundschaftsrichterin erlassen worden war, die UDAF, die alle Konten und die Post des Gefährten verwaltet hatte, in Erwartung einer gründlichen Anhörung im März entlassen.

Nun wo Boris konkret damit beginnen kann eine Rückkehr gen Straße und Sonne, weit weg vom Bett und den Apparaten, an die er schon viel zu lange unter den Neonröhren eines Krankenhauszimmers gefesselt ist, ins Auge zu fassen, stellt sich die Frage nach finanzieller Unterstützung. Der unmittelbare Bedarf, der mit ihm und der medizinischen Truppe des Readapationszentrums besprochen worden ist, ist der Kauf eines maßgeschneiderten und auf seine Bedürfnisse ausgerichteten, aufrichtenden elektrischen Rollstuhls, den er mit einer unter seinem Kinn platzierten Kugel selbst bedienen kann, ebenso wie andere, in ihre Struktur integrierte smarte Befehle (wie das Öffnen von Türen). Neben der momentanen Readaptionsbehandlung in der neuen Einrichtung, die eine Entlassung des Gefährten unter sechs Monaten vorsieht, neben den technisch-administrativen Kämpfen mit der Staatsbürokratie um an Finanzierungen zu kommen, ist es klar, dass man trotzdem eine beachtliche Summe auftreiben muss. Das Ziel ist, dass Boris dank eines derartigen maßgeschneiderten elektrischen Rollstuhls Selbstständigkeit mit der größtmöglichen Mobilität wiedererlangt.

Ein Rollstuhl für Boris“

In Besançon und in Paris werden sich gerade verschiedene Initiativen ausgedacht um Fonds zu sammeln und an der Operation „Ein Rollstuhl für Boris“ teilzunehmen. Jedes antiautoritäre Individuum und Kollektiv, das selbst auf dezentralisierte Art und Weise ein Konzert, ein Soliessen, ein Kartenturnier, eine Diskussion oder andere Festivitäten organisieren möchte um einen Beitrag zu dieser Operation beizutragen ist natürlich willkommen!

Der Gefährte hat sich mit zwei Orten koordiniert um die Kohle zu sammeln. Sie kann entweder per Scheck oder Überweisung geschickt werden (schreibt an retourausoleil@riseup.net), oder an folgenden Orten hinterlassen werden:

Bibliothèque Libertad – 19 rue Burnouf – 75019 Paris

Librairie Autodidacte – 5 rue Marulaz – 25000 Besançon

Im Laufe all dieser Prüfungen hat Boris nie aufgehört mit den Mitteln zu kämpfen, die ihm zur Verfügung standen, während er weiterhin seine anarchistischen Ideen verteidigt. Nach 11 Monaten Knast, 18 Monaten schwerer Hospitalisierung und 3 Verfahren am Hals (für die Funkmasten, den Brand im Knast, die Entmündigung) ist ein kleines Licht am Ende des Tunnels sichtbar: damit er wieder mit uns den Mond anheulen kann, helfen wir dem Gefährten sich diesen Superrollstuhl zu gönnen…

Solidarische Anarchisten und Komplizen von Boris

März 2023

Aktueller Gesundheitszustand von Alfredo Cospito am 99. Tag seines Hungerstreiks bis zum bitteren Ende (26. Januar 2023)

Mit der Veröffentlichung des folgenden Berichts – dem gestrigen Update vom 26. Januar und den zwei Auszügen von Radio-Interviews mit der Leibärztin, die auf den 26. und 19. Januar zurückgehen – informieren wir über den aktuellen ernsten Gesundheitszustand des anarchistischen Gefährten Alfredo Cospito 100 Tage nach Beginn seines Hungerstreiks.

Der Vernichtungsversuch an Alfredo wurde vom Staat im Juli und Dezember letzten Jahres ratifiziert. Zu erst kam die Neueinstufung eines Anklagepunktes im Scripta-Manent-Verfahren (durch den Kassationsgerichtshof) als „politischer Massenmord“, dann folgte der Beschluss (durch das Überwachungsgericht in Rom), der seine Inhaftierung im 41bis, dem schlimmsten Haftregime in den italienischen Gefängnissen, bestätigte, in das Alfredo am 5. Mai verlegt wurde.

Angesichts dieses Vernichtungsversuchs ist es von größter Wichtigkeit, dass die Ideen, Taten und Beiträge des Gefährten nicht in Vergessenheit geraten. Denn sie wurden zum Vergessen verurteilt, wie es die Repressionsapparate mit dem „Scripta-Manent“-Prozess, der „Operation Sibilla“ und der Überführung in das 41-bis-Regime versucht hatten. Der Isolierung und Zensur des Staates und seiner Gefängnisse setzen wir heute wie gestern die Hartnäckigkeit und Konsequenz unserer Ideen und Praktiken entgegen.

Erlaubt mir, mit ein wenig Stolz zu sagen, dass mein Leben (wie das Leben eines jeden Anarchisten und jeder Anarchistin, der/die diesen Namen verdient) von dem Versuch geprägt ist, Theorie und Aktion aufeinanderprallen zu lassen. Den DienerInnen der Macht sage ich nur eines: Ihr könnt mich für den Rest meines Lebens ins Gefängnis stecken, aber es wird euch nicht gelingen, mir meine Kohärenz und meine Selbstachtung zu nehmen, geschweige denn die Lust und den Wunsch, euch zu bekämpfen.“

(Alfredo Cospito, „Zur Operation Sibilla“, 2021)

Ein Update zu seinem aktuellen Gesundheitszustand: Der Gefährte hatte einen Kreislaufzusammenbruch, die Folterer haben ihn ins Krankenhaus gebracht und dann wieder in das 41bis

Schlechte Nachrichten kommen aus dem Gefängnis von Bancali, wo Alfredo Cospito seit 99 Tagen im Hungerstreik ist. Unser Gefährte bewegt sich jetzt im Rollstuhl, er hat besorgniserregende Blutwerte, zu dem hat er ernsthafte Probleme mit der Thermoregulation, das heißt, ihm wird immer kälter, auch wenn er sich mehrere Pullover und Hosen anzieht.

Vielleicht um sich aufzuwärmen, beschloss er gestern Abend gegen 23.30 Uhr zu duschen. Dort soll Alfredo einen Kreislaufzusammenbruch erlitten haben. Er soll gestürzt sein und sich die Nase dabei gebrochen haben und zwar auf unschöne Weise. Außerdem begann er aufgrund der niedrigen Thrombozytenzahl, viel Blut zu verlieren. Aus diesem Grund wurde er in das Krankenhaus von Sassari eingeliefert. Nach der ersten Behandlung brachten ihn die Mörder der Gefängnispolizei zurück ins Gefängnis.

Wenige Stunden zuvor, gestern [25. Januar], lehnte der Justizminister die Verlegung von Alfredo in ein Gefängnis mit Krankenstation ab: Laut dem Justizminister Nordio ist Cospito „bei bester Gesundheit“…

Der Gesundheitszustand des Gefährten am 99. Tag seines Hungerstreiks

Am 26. Januar, dem 99. Tag des Hungerstreiks bis zum bitteren Ende gegen das 41bis-Regime und lebenslange Haft, sendete der widerständige Radiosender Radio Onda d’Urto ein fünftes Interview mit der Leibärztin, die den Gefährten Alfredo Cospito regelmäßig besucht. Wie bei den Updates zum 71. (29. Dezember), 78. (5. Januar) und 85. (12. Januar) Tag des Hungerstreiks veröffentlichen wir einen Auszug des Interviews:

„Also […], ich fand ihn in ganz schlechter, einer wirklich schlechten Verfassung, weil die Thermoregulation praktisch weg ist, das heißt, sein Körper kann sich nicht mehr thermoregulieren, er hat vier Pullover und drei Hosen an, aber ihm ist trotzdem immer kalt. Als ob das noch nicht genug wäre, kam er gestern Abend, um sich aufzuwärmen, gegen 23.30 Uhr auf die Idee, zu duschen. Dabei stürzte er unglücklich zu Boden, bedingt durch einen Kreislaufzusammenbruch, so dass er mit dem Gesicht auf die Duschwanne prallte und einen Nasenbeinbruch erlitt. Er musste daher in die Notaufnahme gebracht werden, wo man den Bruch behandelte, um ihn im Anschluss wieder zurück ins Gefängnis zu schicken. Gerade hat er keine Schmerzen mehr, die Blutungen sind insgesamt zurückgegangen. Wichtig zu erwähnen ist, dass insbesondere das weiße Blutbild zurückgegangen ist. Es mangelt an Lymphozyten und den Leukozyten, also all den Blutkörperchen, die der Infektionsbekämpfung dienen sollen. Und die Thrombozyten haben sich auch verringert, weshalb er wahrscheinlich mehr Blut verloren hat, als er hätte verlieren sollen; sein Hemd war den ganzen Tag über noch voll mit Blut, denn nach dem Sturz hat er sich wieder ins Bett gelegt, dabei hat sehr wenig geschlafen. Er fängt langsam an Schlaflosigkeit zu leiden, der Elektrolytenmangel hält weiter an, es geht also insgesamt eher ergab mit ihm. […] Die Problematik ist, dass sich sein Zustand von einem Moment auf den anderen verschlimmern kann. Es hängt davon ab, wie lange sein Organismus noch in der Lage ist, die körpereigene Proteine nicht abzubauen und vorrerst zu verschonen, davon hängen wiederum die Albumine und schließlich das Blutbild ab. […] In dem Moment, wosein Stoffwechsel nur noch zu 50 Prozent arbeitet, wird er in akuter Lebensgefahr sein. […] Meiner Meinung nach, kann ja, die Situation jeden Moment lebensbedrohlich werden. […] Er hat weitere 2 kg abgenommen, alles in allem nicht sehr viel, dies auch weil er letzten Woche schon mehr abgenommen hatte. Er ist weiterhin gelaufen während seinem Hofgang [wovon ihm abgeraten wurde]. Da es keine Möglichkeit der Nahrungsaufnahme gab, also keine Energieproduktion, hat er aus den Muskeln geschöpft, daher hatte er in der letzten Woche einen bedeutsamen Muskelabbau.

Die Verwarnung der Strafvollzugsbehörde an die Leibärztin und der Gesundheitszustand des Gefährten am 92. Tag des Hungerstreiks

Am 23. Januar erhielt der Anwalt des Gefährten von der Leitung des Bancali-Gefängnisses die Genehmigung für den Besuch der Leibärztin für den folgenden 26. Januar und gleichzeitig eine an die Ärztin selbst gerichtete Verwarnung, in der sie ermahnt wird, keine Interviews mehr für das „Radio Onda d’Urto“ zu geben, „um die Ziele des Regimes gemäß dem ex Artikel 41bis o. p. nicht zu vereiteln. Weitere Interviews und ähnliche Äußerungen können die Gefägnisleitung dazu verleiten, die Genehmigung zum Betreten der Vollzugsanstalt zu widerrufen“. Eine Drohung, die umso schwerwiegender ist, da sie genau in den Tagen erfolgt, in denen sich der Zustand des Gefährten ernsthaft verschlechtert hat. Einmal mehr wird der ganze Willen der Isolation zum Ausdruck gebracht, den die StaatsbeamtInnen dem Gefährten und seinem Zustand auferlegen wollen.

Um ein möglichst vollständiges Bild von der schwerwiegenden Verschlechterung seines körperlichen Zustands in der letzten Woche zu vermitteln, zitieren wir auch einen Auszug von dem vierten Interview mit der Leibärztin auf „Radio Onda d’Urto“(vom 19. Januar, dem 92. Tag des Hungerstreiks)

„[…] Trotz des weiteren Gewichtsverlustes – denn heute wog er 87 kg, wobei wir am 90. Tag des Hungerstreiks sind. Bis dato hat er etwa 40 kg abgenommen, von einem Ausgangsgewicht von 115 kg – ist sein Gesundheitszustand insgesamt stabil. Sagen wir, dass wir die Grenze dessen erreicht haben, was eine Zuspitung seines prekären Zustands sein kann, in dem er jetzt lebt, denn alle Glykosereserven sind praktisch erschöpft, er hat kein Fett mehr, er steuert auf den Muskelkatabolismus zu, seine Muskeln sind im Volumen stark reduziert. Er ist aber immer noch bei Bewusstsein, er nimmt immer den üblichen Honig, wenn er Phasen der Übelkeit hat, aber alles in allem kann ich nicht sagen, dass es ihm heute schlecht ging, alles in allem geht es ihm ganz gut. Wir befinden uns in einer Situation, von der ich vor einem Monat noch sagen konnte, dass es einen guten Spielraum gibt, bevor sich die Situation zuspitzt, jetzt ist dieser große Spielraum nicht mehr vorhanden. […] Also, nein, er ist nicht krank. Ich wollte sagen, dass das, was seine Situation gewesen war, wo man noch etwas Zeit hatte, einiges an Zeit, bevor es kritisch wird, sich nun jeden Moment zuspitzen kann. […] Wir befinden uns auf einem schmalen Grat, bei dem eine Kleinigkeit genügen kann, sogar emotionalen Stress… Zum Beispiel hat er mich gefragt, ob es für ihn in Ordnung sei, in seiner Freizeit spazieren zu gehen, weil er mit den anderen drei Leuten, mit denen er seine Freizeit teilt, ein bisschen Spaß hatte. Nun ist es klar, dass ein Spaziergang mit einem anderen „Patienten“ gut sein kann, eine gute Sache, denn es ist immer gut, sich zu bewegen; in Alfredos Fall ist dies jedoch ein weiterer Energieverbrauch, da es keine Möglichkeit gibt, diese verlorenen Energien wieder zuzuführen. Ich habe ihm daher gesagt: “Geh so wenig wie möglich spazieren, gehe an die Luft, das ja, aber ich rate dir ab dies als sportliche Aktivität zu tun […]“.

[Veröffentlicht auf Italienisch unter https://lanemesi.noblogs.org/post/2023/01/27/aggiornamento-sulle-condizioni-di-salute-di-alfredo-cospito-al-99esimo-giorno-di-sciopero-della-fame-ad-oltranza-26-gennaio-2023/]

[HH] Haftantritt für einen anarchistischen Gefährten in Hamburg

Über ein halbes Jahr nach dem Urteilen gegen zwei der drei Anarchist*innen rechtskräftig wurden, die im sogenannten Parkbankverfahren verurteilt wurden, ist nun für den ersten Gefährten der Brief für den Haftantritt am 27.1. gekommen. Er muss jetzt seine letzten 6 Monate absitzen. Der zweite Gefährte wartet noch auf seinen Haftantrittstermin und für die dritte Gefährtin erwarten wir das endgültige Urteil im März.

Ihr erreicht den nun inhaftierten Gefährten per Post mit seiner Buchnummer und unter der Adresse:

Buchnummer: 108/23/2
JVA Billwerder
Dweerlandweg 100
22113 Hamburg

Wenn ihr nicht von zu Hause schreiben wollt, wendet euch doch gern an die Infoläden, anarchistischen Bibliotheken eures Vertrauens in eueren Städten. In Hamburg könnt ihr gerne auch das LiZ als Absendeadresse mit eurem Alias verwenden und Post dann zu den Öffnungszeiten der anarchistischen Bibliothek Sturmflut (Mittwochs 18-21:00, Samstags 16-19:00) abholen.

Schickt tausende Briefe! Zeigt euch solidarisch!

Feuer und Flamme für alle Knäste!

Freiheit und Glück!

Der Fotzenknecht – Männermagazin gegen Patriarchat und kritische Männlichkeit Jg. 1 / Nr. 1

Ein neues anarchistisches Magazin hat im Januar 2023 das Licht der Welt erblickt. Es nennt sich „Der Fotzenknecht“ und setzt sich zum Ziel, ausgehend von einer Kritik an einigen derzeit zu beobachtenden Ansätzen Kritischer Männlichkeit eine Analyse des Patriarchats aus Männersicht oder zumindest auch aus Männersicht zu entwickeln. Ein must read für alle, Männer wie Frauen (und queere Geister), die nicht beim ersten Anzeichen von political incorrectness die Nerven verlieren.

Das Magazin kann per E-Mail an fotzenknecht@riseup.net bestellt werden.

Inhalt

  • Editorial
  • Ich bin privilegiert, und du?
  • Widerwillige Patriarchen
  • Vergewaltigungskultur reloaded
  • Die Awareness-Mafia
  • Das Chamäleon des Frauenwahlrechts
  • Männliche Zurichtung und Desertation aus der patriarchalen Ordnung
  • Notizen zu einer neuen Analyse der Institutionen der Herrschaft
  • Antipatriarchale Kämpfe gegen die Kathedralen der Männlichkeit
  • Anhang: „Gibt es politisch korrekten Sex …“?

Editorial

Ahoi ihr Männer!

und natürlich auch Ahoi ihr Frauen, die ihr hier heimlich mitlest; und natürlich auch Ahoi ihr queeren Geister, die ihr selbstverständlich auf die eine oder andere Art immer mitgemeint seid

Ich habe das Gefühl, wir müssen uns mal unterhalten. Über Patriarchat, über unsere Rolle darin, die Männerrolle, und darüber, wie wir dieser nicht bloß entfliehen, sondern dabei auch einen radikalen Kampf gegen das Patriarchat selbst führen können. Denn das wollen wir doch, das Patriarchat zerstören, oder?

Tatsächlich muss ich sagen, ich habe nicht den Eindruck, dass das Patriarchat zerstören tatsächlich eine allgemeine und aufrichtig gemeinte Perspektive selbst unter anarchistischen Männern ist, auch wenn es heutzutage sozusagen zum guten Ton gehört, allzeit ein paar radikale Phrasen (auch) in diese Richtung zu dreschen. Aber wie erklärt es sich sonst, dass heute weniger noch, als vor bald einem halben Jahrhundert und obwohl wieder eine bestimmte Form seperatistischer Organisierung vorherrschend zu sein scheint, gerade wenn es thematisch spezifisch um Patriarchat geht, kaum eine belastbare Analyse des Patriarchats aus Männersicht existiert? Wie erklärt es sich, dass diejenigen, die sich etwa mit ihrer Männlichkeit auseinandersetzen, die kritischen Männer unter uns sozusagen, so gut wie ausschließlich einen selbstmitleidigen Täterdiskurs zu führen scheinen und selbst was die spezifische Zurichtung von Männern im Patriarchat betrifft, Feministinnen das vorbeten müssen, was dann in den Echokammern der kritischen Männlichkeit bis zum Erbrechen wiederholt wird. Natürlich ist das eine zugespitzte Polemik, aber gibt es wirklich jemanden, der das Gesagte grundsätzlich anzweifeln würde?

Die Position der kritischen Männer ist also mehr oder weniger das, was der Volksmund so treffend einen Fotzenknecht zu nennen pflegt. Eine Position also, in der das eigene Denken an der Gaderobe abgegeben wird und – oft auf eine vollkommen banalisierte und verstümmelte Art und Weise – die Denke der Frauen, in diesem Fall die der Feministinnen, nachgeplappert wird. Und tatsächlich scheint mit dabei durchaus nicht selten auch jene sexuelle Komponente vorzuherrschen, die der Volksmund mit dieser Bezeichnung unterstellt; dass nämlich die kritischen Männer vorrangig vorzugeben scheinen, sich gebessert zu haben, um nicht als Chauvischweine vom Fleischmarkt der Lust und der Liebe gänzlich verdrängt zu werden. Zumindest sagen das böse Zungen so …

Meiner Meinung nach sind es drei wesentliche Einflüsse, die sämtliche Anstrengungen dessen, was heute unter kritischer Männlichkeit firmiert, derart vergiften, dass dabei bestenfalls eine Wischi-Waschi-Analyse männlicher Privilegien und schlechtestenfalls eben jene vordergründige Anpassung an den herrschenden Style des kritischen Mannes herauskommt:

  1. Die Privilegientheorie, also die Theorie, dass Männer, Weiße, heterosexuelle, cis-geschlechtliche, able-bodied Menschen, usw. im allgemeinen privilegiert gegenüber den ihnen jeweils gegenübergestellten Kategorien, also Frauen/FLINTA*, Schwarze/PoC, homosexuelle/bisexuelle, trans-geschlechtliche/queere, be_hinderte Menschen, usw. wären, hat sich ausgehend von einem Werkzeug zum Verständnis von Diskriminierung(en) in den Gefilden der Privilegierten selbst, der Akademie, zu einer universellen und exklusiven Analysemethode von Herrschaft entwickelt und ist als solche auch in das Denken von (anarchistischen) kritischen Männern tief eingeschrieben. Als solche dient diese Theorie jedoch vielmehr der Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen, als zu deren Verständnis beizutragen. Denn während die mithilfe der Privilegientheorie aufgedeckten Vorteile davon, zu einer der privilegierten Kategorien zu gehören, vielleicht sehr wohl die (heimliche) Komplizenschaft einiger Handlanger mit der Herrschaft zu erklären vermag, muss sie schließlich daran scheitern, die tatsächlichen materiellen und repressiven Prozesse greifbar zu machen, die sämtliche auf die eine oder andere Art und Weise unterdrückten Subjektivitäten hervorbringen und die Menschen in diese hineinzwängen, ebenso wie sie in dem Moment, in dem Menschen den ihnen zwangsweise zugewiesenen Kategorien entfliehen, jegliches analytische Potential zunichte macht, indem sie mehr oder weniger darauf beharrt, dass diese Menschen diese kategoriale Rollen weiterhin mit sich herumtragen würden, selbst wenn dies ganz offensichtlich nicht so ist.
  2. Der therapeutische Ansatz, der im Zuge von kritischer Männlichkeit vorzuherrschen scheint, erklärt sich möglicherweise zu einem bestimmten Teil aus einer solchen Sichtweise. Denn wenn es keine Möglichkeit gibt, dem Mannsein, also der männlichen Rolle, wie sie von der Herrschaft konstituiert wird, auf einer materiellen Ebene zu entfliehen – was natürlich nicht stimmt –, so verspricht einzig die psychische, bzw. vielmehr psychologische Kurierung dieser Krankheit einen Ausweg. Ein anderer Faktor, der diesen therapeutischen Ansatz erklären mag, könnte in einem Missverständnis von Domestizierung (bzw. Sozialisierung) begründet sein: In Tradition Freuds wird dieser Prozess häufig als eine einmalig durchgeführte und schließlich abgeschlossene Sache betrachtet, die folgerichtig hauptsächlich in der Kindheit stattfindet. Natürlich wurden wir auch in unserer Kindheit zu Männern im Sinne eines patriarchalen Rollenverständnisses abgerichtet, das heißt jedoch nicht, dass wir deshalb nun grundlegend verdorben wären und nicht auch beständig weiter als Männer zugerichtet werden müssten. Natürlich macht es Sinn, den Ursachen von männlichen Verhaltensweisen auf den Grund zu gehen, allerdings wäre es absurd dazu eben jene Kaste an Leuten zu Hilfe oder deren Theorien zum Vorbild zu nehmen, die sich vielmehr darauf konzentrieren, diese Verhaltensweisen zu naturalisieren und/oder im Sinne des Patriarchats herzustellen. Dies ist jedoch genau die Tendenz des therapeutischen Ansatzes, der die patriarchalen Verhaltensweisen von Männern auf irgendwelche Kindheitstraumata zurückführen und somit als natürliche Reaktionen zu entschuldigen versucht.
  3. Vermutlich aus beidem resultierend: (angestrebte) antipatriarchale Kämpfe von Männern verfolgen kein Eigeninteresse mehr. Während Männer von der kritischen Männlichkeit so gut wie ausschließlich als Frauen unterdrückende Subjekte, die von diesem Prozess profitieren (Privilegien gewinnen), begriffen werden, richtet sich der therapeutische Versuch die eigene Männlichkeit wegzutherapieren (eine Art Exorzismus) folgerichtig gegen das eigene Ich der kritischen Männer. Das heißt jedoch, das die kritischen Männer anstatt gegen die materiellen, repressiven Verhältnisse, die sie in ihre patriarchale männliche Identität zwängen, vielmehr einen Kampf gegen sich selbst führen. Einen Kampf der, so er überhaupt ernst gemeint ist, ausschließlich zugunsten der Frauen/FLINTA geführt wird und gar nicht anders begriffen werden kann. Es ist also, selbst wenn sich dieser Kampf auf die Bekämpfung des eigenen, männlichen Ichs richtet, ein bevormundender Kampf im Namen einer fremden, unterdrückten Subjektivität. Das erklärt vermutlich die zahlreichen Phänomene, dass es gerade die kritischen Exemplare unter den Männern sind, die Frauen oft als bloße Opfer männlichen Handelns begreifen.

Ausgehend von diesen Kritikpunkten an kritischer Männlichkeit, so wie ich sie wahrnehme, widmen sich die folgenden Seiten der Frage danach, was die männliche Rolle innerhalb heutiger patriarchaler Gesellschaft ist und wie antipatriarchale Kämpfe, die sich spezifisch um diese männliche Rolle drehen, stattdessen aussehen (könnten). Auch wenn nicht als zusammenhängender Text verfasst, bilden die versammelten Texte dabei in ihrer Anordnung einen gewissen Spannungsbogen und es macht durchaus Sinn, sie im Zusammenhang zu lesen. Ein Großteil der Texte wurde dabei speziell für dieses Projekt verfasst, ergänzt wird das Ganze jedoch auch durch eine Reihe an Übersetzungen aus anderen Kontexten und Perioden.

Mir ist natürlich bewusst, dass vieles hier Präsentierte eine ganze Reihe weiterführender Fragen aufwirft und auch, dass es wahrscheinlich auch im Hinblick auf die ausgeführten Kritiken eine Menge Diskussionsbedarf geben wird. Für derlei Diskussionen, ebenso wie Vertiefungen von sich herauskristallisierenden Fragen werden mögliche zukünftige Ausgaben dieses Magazins selbstverständlich zur Verfügung stehen. Ihr erreicht mich – sofern wir uns nicht ohnehin kennen – dazu auch per E-Mail an fotzenknecht@riseup.net.